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Editorial 5 Essay GILBERT MOLINIER Der (un)aufhaltsame Aufstieg des...? Aspekte der ideologischen Konjunktur in Frankreich 7 Wissenschaft in der DDR CLEMENS BURRICHTER/ GERD-RÜDIGER STEPHAN Zur Theorie einer Analyse der Wissenschaftsentwicklung in der DDR 22 HUBERT LAITKO Wissenschaftlich-technische Revolution: Akzente des Konzepts in Wissenschaft und Ideologie der DDR 33 BERND FLORATH Verpaßte Möglichkeiten? DDR-Historiker in den sechziger Jahren 51 WOLFGANG KÜTTLER Formationstheorie zwischen Dogma und Wissenschaft Kulturforum KULTURFORUM DER PDS KERSTIN STUTTERHEIM/ NILS BOLBRINKER Bilder eines Industriereviers Standorte HERBERT NIEMANN Ist der Kapitalismus unumkehrbar am Ende? Die Zinsfalle hat zugeschnappt RONALD LÖTZSCH Südamerikanische Hochkultur der Inkas germanischen Ursprungs? In diesem Heft

Transcript of In diesem Heft - Rosa Luxemburg Foundation€¦ · Tinissima – Der Lebensroman der Tina Modotti,...

Editorial 5

Essay

GILBERT MOLINIER

Der (un)aufhaltsame Aufstieg des...?Aspekte der ideologischen Konjunktur in Frankreich 7

Wissenschaft in der DDR

CLEMENS BURRICHTER/ GERD-RÜDIGER STEPHAN

Zur Theorie einer Analyse der Wissenschaftsentwicklung in der DDR 22HUBERT LAITKO

Wissenschaftlich-technische Revolution: Akzente des Konzepts in Wissenschaft und Ideologie der DDR 33BERND FLORATH

Verpaßte Möglichkeiten? DDR-Historiker in den sechziger Jahren 51WOLFGANG KÜTTLER

Formationstheorie zwischen Dogma und Wissenschaft

Kulturforum

KULTURFORUM DER PDSKERSTIN STUTTERHEIM/ NILS BOLBRINKER

Bilder eines Industriereviers

Standorte

HERBERT NIEMANN

Ist der Kapitalismus unumkehrbar am Ende?Die Zinsfalle hat zugeschnapptRONALD LÖTZSCH

Südamerikanische Hochkultur der Inkasgermanischen Ursprungs?

In diesem Heft

Interview

DENIS GOLDBERG

»Südafrika steht vor großen Herausforderungen –aber ich bin sehr optimistisch«

Antworten an Manfred Kapluck

HERBERT MAYER

Nachdenken über die KPD. Anmerkungen zu einem InterviewWOLFGANG GEHRCKE

Geschichtslosigkeit führt zu Gesichtslosigkeit! Die kommunistische Linke in der BRD

Lesenswert

GERD KAISER

»dzis« heißt »heute«STEFAN BOLLINGER

Heißer Frieden. Eine LiteraturanalyseRONALD SASSNING

Vom Nazikerker in Stalins Archivverlies. Was Thälmann den »Freunden« mitzuteilen versuchte

In memoriam

HELMUT STEINER

Heinz Jung (1935-1996) – ein marxistischer und »gesamt-deutscher« Wissenschaftler aus der Nachkriegs-Generation

Briefe an die Redaktion

ÁNDRE BRIE

Zum Artikel von Michael BenjaminSÁNDOR KURTÁN

Rákosi im Verhör. Einige Ergänzungen

Festplatte

WOLFGANG SABATH

Die Wochen im Rückstau

Bücher & Zeitschriften

Søren Bald/ Peter la Cour/ Steen Nepper Larsen (Redaktion): Demokrati – 40 indlæg, forlaget Krogerup Humlebæk 1996(MARKO HOFFMANN)

Elena Poniatowska:Tinissima – Der Lebensroman der Tina Modotti,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996(SIEGFREID BRESLER)

Mohsen Massarrat:Endlichkeit der Natur und Überfluß in der Marktökonomie.Schritte zum Gleichgewicht, Metropolis-Verlag Marburg 1993(REINHARD GRIENIG)

Herbert Brücker:Privatisierung in Ostdeutschland. Eine institutionen-ökonomische Analyse, Campus Verlag Frankfurt/New York 1995(ULRICH BUSCH)

Alister Sparks: Morgen ist ein anderes Land.Südafrikas geheime Revolution, aus dem Englischen von Malte Friedrich,Berlin Verlag Berlin 1995(STEFAN BOLLINGER)

Susanne Miller: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hrsg. von Bernd Faulenbach, Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger Bonn 1995

Marlies Buchholz/ Bernd Rother: Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933-1940, Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger Bonn 1995(ULLA PLENER)

Hans-Joachim Krusch:Irrweg oder Alternative?Vereinigungsbestrebungen der Arbeiterparteien 1945/46 und gesellschaftliche Forderungen, Pahl Rugenstein Nachfolger Bonn 1996(STEFAN DOERNBERG)

Siegfried F. Franke:(IR)RATIONALE POLITIK? Grundzüge und politische Anwendungender »Ökonomischen Theorie der Politik«,Metropolis-Verlag Marburg 1996(ARNDT HOPFMANN)

Hinweise an unsere Autorinnen und AutorenImpressum

Auch wenn der bevorstehende Winter für viele Menschen in denReformländern des Ostens mit Sicherheit nicht nur Freude an tiefverschneiten Landschaften und ski-sportlichen Aktivitäten aufkom-men läßt, sondern auch Mangel an Einkommen und Heizmaterialsowie steigende Energie- und Lebensmittelpreise bringen wird, sodürfen sich doch einige wenige Regierungen im »Transformations-gebiet« selbstgefällig auf die Schultern klopfen. Gerade nochrechtzeitig zum Jahreswechsel hat ihnen die Weltbank ein dickesLob beschert und ihnen die baldige Mitgliedschaft im exklusivenKlub der »ganz normalen« Industrieländer in Aussicht gestellt.Vorbei sind dann die schier unendlichen Mühen des Elitenwech-sels, der Neuverteilung von Anrechten, Vermögen und Eigentum,der Abschmelzung von »Geldüberhängen« bei der werktätigenBevölkerung mittels Inflation, der De-Industrialisierung und derReallohnsenkungen. Was die neuen »Normalstaaten« erwartet,sind die Segnungen der modernen Marktwirtschaft – hohe und stei-gende Arbeitslosigkeit, vermeintlich überhöhte Lohnnebenkosten,viel zu teure Gesundheitssysteme und unbezahlbare Rentenan-sprüche. Mit anderen Worten: »Die Länder werden ihren Transfor-mationsprozeß erst dann abgeschlossen haben, wenn ihre Proble-me und weiteren Reformmaßnahmen sich denen der festetabliertenMarktwirtschaften auf ähnlichen Einkommensniveaus annähern« –läßt die Weltbank im 1996er Weltentwicklungsbericht verbreiten.Aus der Traum vom Wohlfahrtsstaat! Welch hehre Reformillusion –nicht dieser wird das Ergebnis gelingender (!!!) Transformationsein, sondern der weltmarktgetriebene »Wettbewerbsstaat«. Nochbevor er überhaupt in seiner marktwirtschaftlich verfaßten Formentstanden ist, dürfen die Transformationsländer im Osten gleichvon der Abschaffung des realsozialistischen Sozialsystems zum»Umbau des Sozialstaats« übergehen – der Reform zu Marktwirt-schaft und Konkurrenzdemokratie folgt die »Gesundheitsreform«und der Zwang zur Senkung der Lohnnebenkosten auf dem Fuße.»Das scheint überhaupt die Logik des Neoliberalismus zu sein: je›gesünder‹ die ›Ökonomie‹, desto kranker und ärmer die Bevölke-rung« (Robert Kurz). Und wenn dadurch dann endlich beschleu-nigtes – »soziales« – Wachstum der »Wirtschaftsleistung und derProduktivität« in die Gänge kommt, liegt allerdings immer nochein langer Marsch vor ihnen. Denn selbst für die Avantgardeder Reformländer, die Visegrád-Staaten, schätzt die Weltbank, daßetwa zwanzig weitere Jahre mit den gegenwärtigen Wachstums-

Editorial

raten erforderlich wären, um das durchschnittliche Einkommens-niveau der EU-Länder im Jahre 1994 zu erreichen.

Was angesichts der bekannten Problemlagen in der OECD-Welt am neusten Weltentwicklungsbericht wirklich beeindruckt,ist seine absolute Visionslosigkeit. Transformation darf – wennes nach der Weltbank geht – offenbar nur noch als Imitation dervermeintlich »besten aller realexistierenden Welten« gedachtwerden. Die Beschwörungsformeln dafür heißen »Liberalisie-rung«, »Stabilisierung«, »Privatisierung« und »institutionelleReform«; die Verheißung trägt den Namen »aufblühendes oderbeschleunigtes Wachstum«. Daß den Obergutachtern in SachenTransformation offenbar nichts Neues einfällt, heißt nun jedochnoch lange nicht, daß die Transformationsgesellschaften desOstens nolens volens nicht doch noch als Ideenspender für dieeine oder andere »sozialstaatliche Innovation« im Westen gut seinkönnten. Wenn sich erst herausstellt, daß zum Beispiel das Niveauder ostdeutschen Löhne auch die Reproduktion des bundesdeut-schen »Normalarbeiters« hinreichend sichert oder daß die Orga-nisation der Arbeitslosenversicherung in Polen oder Ungarnwesentlich kostengünstiger ist – und daß vielleicht etwas mehr»Mafia« und Korruption die Profitrate noch um ein erheblicheszu steigern vermögen, dann kann es durchaus noch zum»Institutionentransfer« in Ost-West-Richtung kommen. Dannstellt sich möglicherweise heraus, daß der Osten bereits heute»moderner« ist als der Westen – moderner vielleicht, aber auchzukunftsfähiger?

Nein, alles deutet darauf hin, daß die bürgerlich-kapitalistischeGesellschaft des Westens wirklich kein Modell mehr ist, dem essich heute noch beizutreten lohnt – tendenziell asozial, umwelt-gefährdend und systemisch borniert.

Demgegenüber hat sich »UTOPIE kreativ« auch 1997 weiterder zukunftsorientierten Nachdenklichkeit verschrieben – imNamen der Redaktion wünsche ich allen Autoren, Lesern undall denen, die das eine oder andere bald noch werden wollen,ein an sinnvollen Maßstäben gemessen erfolgreiches, aber vorallem gesundes und kreatives Jahr 1997.

ARNDT HOPFMANN

»Das Denken wird vom Faschismus als ein Verhaltenbehandelt. Als solches ist es (neu!) eine juristische, eventuell kriminelle Handlung und wird mit entspre-chenden Maßnahmen beantwortet.«1

Berlin von Paris aus gesehen. Seit mehr als 15 Jahren verbringe ichfast all meine Ferien in Berlin. Ich weiß, das ist eine eigenartigeIdee, aber es ist so. Ich liebe weder das Meer noch die Berge nochdas Land, ich bevorzuge die großen Städte. Seit 1989 hat sichBerlin sehr verändert. In verschiedener Hinsicht ist es wiedergeworden, was es war. Wie für Menschen, die sich nach langerTrennung wiedergefunden haben, scheint auch für diese Stadtzu gelten: Man erkennt das Beste und das Schlimmste wieder,darunter Dinge, die unruhig werden lassen. So sah ich den »ge-wöhnlichen« Rassismus im Galopp zurückkehren, den Antisemitis-mus, die Fremdenfeindlichkeit und sogar sehr oft kriminelleHandlungen, von Neonazis begangen.

In Frankreich herrscht die starke Tendenz, glauben zu machen,daß dies isolierte Akte seien; ich weiß, daß das falsch ist; damitdiese Gruppen agieren können, ist es nötig, daß sie ermutigtwerden, und sei es auch nur durch stille Zustimmung. In Frankreichwird oft, sehr oft versucht, glauben zu machen, daß dies das trauri-ge Privileg des Erbes der deutschen Geschichte sei und bleibe;ich weiß, daß es falsch ist; es ist eine Art, sich auf billige Weise zuberuhigen. Auch in Frankreich entstehen sonderbare Sachen.

Paris von Paris aus gesehen. In Frankreich ist das politischeLeben mehr und mehr vergiftet durch das, was man beschönigend»Affären« nennt. In dieser ideologischen Atmosphäre fällt dasAtmen immer schwerer. Kürzlich schrieb Jean-Francois Kahn ineinem Leitartikel von L’Evénement du jeudi mit Blick auf dieNegationisten – das sind diejenigen, die in Frankreich die Existenzdes Holocaust negieren – :»Es geht heute nicht mehr darum, derFront national Hindernisse in den Weg zu legen, sondern dasWasser versiegen zu lassen, in dem der gefährliche Fisch badet undsich tummelt.«2 Der Inhalt dieses Textes klingt wie ein Notruf.

Faschisten in potenzia, davon hat Frankreich die Schubladenvoll. Da sind einmal diese anerkannten, karikaturenhaften Nazis;doch sie machen zur Zeit eine ganz kleine Minderheit aus. Und dasjuristische Arsenal in Frankreich ist ausreichend stark, um sie inihren Aktivitäten zu hindern. Wenn sie weiter agieren können, ist es

Gilbert Molinier – Jg. 1950,Lehrer für Philosophie,Veröffentlichung von Artikelnüber Deutschland und überMedien in Frankreich;Übersetzungen von PeterRuben, Christoph Hein undHeiner Müller.

1 B. Brecht: Schriften zurPolitik und Gesellschaft,Gesammelte Werke, Band20, Frankfurt am Main 1967,S. 130.

2 J.-F. Kahn in: L‘Evéne-ment du jeudi, n° 1601,27.6. – 3.7.1996.

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg7

GILBERT MOLINIER

Der (un)aufhaltsame Aufstieg des...?Aspekte der ideologischenKonjunktur in Frankreich

nur möglich, weil sie implizit ermutigt sind durch diese immergrößer werdende Masse, gefährlich größer werdende Masse derGutgläubigen, Devoten, Bigotten, Scheinheiligen, die das intellek-tuelle Leben und ganz einfach das Leben vergiften. Wie ich selbstkann jeder im Umfeld seiner Arbeit, im Kreis seiner Nachbar-schaft, unter Bekannten derer schon viel mehr finden, als es Fingeran einer Hand gibt; und insbesondere dort, wo man sie am wenig-sten erwartet. Ohne daß sie es beabsichtigen, bereiten sie denschlammigen Boden vor und waten darin.

Aus Anlaß einer PressekampagneHören Sie die folgende Geschichte, die sehr bezeichnend istfür das, was im Begriff ist, in Frankreich zu geschehen. JedesDetail dieser Geschichte hat seine Bedeutung. Begonnen hat sie imJuni in einem Gymnasium in Maurepas, einer kleinen Stadt derPariser Umgebung. Im letzten Februar hatte eine Lehrerin für Phy-sik einer 9. Klasse folgende Aufgabe gestellt:

»Hitler hat die Juden getötet, indem er sie in Lastwagen ein-schloß, deren Auspuffrohre nach innen führten. Welches VolumenKohlenmonoxid muß ausströmen, um eine tödliche Dosis CO von5 ‰ zu erreichen, wenn das Volumen eines Lastwagens 50 m3 hat?Welches Volumen Kohlenmonoxid produzierte der Motor proStunde, wenn man weiß, daß die Menschen im Durchschnitt 20 Mi-nuten brauchten, um zu sterben?«

Diese Aufgabe wurde von der gleichen Lehrerin seit Jahren inder 9. Klasse gestellt – als eine Demonstration dafür, mit welchermathematischen Nüchternheit die Gelehrten an den schlimmstenUnternehmungen der Vernichtung mitwirken können, ohne zuprotestieren; als eine ganz unmittelbare Erinnerung daran, wieWissenschaftler an der Vernichtung der Juden während der Zeit desNazismus teilgenommen haben. Die Lehrerin stellt diese Aufgaberegelmäßig während der Zeit des Andenkens an den Aufstand imWarschauer Ghetto. Sie ist mit einem Juden verheiratet und heißtSchulmann.

Einige Monate später, während die Medien die Negationistenzum Thema machten, kamen einige Eltern3 der Schüler diesesGymnasiums zu der Auffassung, daß diese Übung nur die Tat einerNegationistin sein könne, und sie wendeten sich an einen Radio-sender, Radio Shalom, der, sehr wahrscheinlich ohne die geringsteVerifikation der »Informationen« vorgenommen zu haben, diese»Informationen« über seinen Sender verbreitete. Am darauf fol-genden Tag bemächtigten sich die ganze Presse von France-Soirbis L‘Humanité sowie alle Fernseh- und Radiosender des Ereig-nisses, um den Charakter dieser Aufgabe zu denunzieren. Manstürzte sich auf die Lehrerin, entrüstete sich laut über sie, eineTageszeitung publizierte ihr Photo auf der ersten Seite.

Nicht ohne Ekel kann man »diese journalistische Rhetorik, Kilovon Tugend, Eseleien von Philistern, in dichten Scheiben gelie-fert«4 wieder lesen. »Die Fabriken des Journalismus« haben imEinverständnis »ihre klebrige Vermittlungsschicht«5 ausgegossen;die Alchemie des Konsens funktioniert wunderbar, ein Horror!Diese Art und Weise von Einstimmigkeit ist das sichere Zeichen

3 Inzwischen habe ich er-fahren, daß Frau Schul-mann auch durch einigeKollegen denunziert wurde.

4 A. Brossat: Fetes sauva-ges de la démocratie, Paris1996, S. 45.

5 F. Nietzsche: Ueber dieZukunft unserer Bildungsan-stalten, in: Kritische Studien-ausgabe, München 1988,S. 671.

8MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

des Auftauchens der »democrassie«.6 »In zunehmendem Maßestrebt heute die Demokratie des Konsens danach, die Sammlungdurch die Verklebung zu produzieren. (...) Sie setzt Strategien vonVermeidung, von Neutralisierung oder von Anästhesie des Kon-flikts in Bewegung, die auf Gefühle und Evidenzen eines pseudosensus-communis abzielen. Die Vereinigung durch eine fusionelleAggregation rund um ein Spektakel, ein starkes Moment – Opferoder monumentale Zeremonie – ist dieses Element, das die unde-mokratischen Regime gemeinsam haben und das die Tendenz hat,immer massiver in die erschöpften oder verfälschten Demokratieneinzusickern.«7 Man stelle sich die Bigotten vor: »Mein Gott! Wasmachen die Lehrer mit unseren Kindern!«, »Wie kann man solcheSachen in den Klassen erzählen?«, »Mein armes Kind, wie böse istdeine Lehrerin.«...

Einen Tag später suspendierten die Behörden die Lehrerin – mitdem Segen des Ministers. Sie hatte also nicht mehr das Recht zuunterrichten. Ihr wurde von Amts wegen die Versetzung angedroht.So werden heute »Monster« hergestellt. Die Lektüre der scharfenAnalyse von Alain Brossat ist hochinteressant: »Allerdings, wieder Sündenbock definiert sich das Monster in erster Linie als eineRolle, eine Funktion, ›ein Platz einnehmen‹ und nicht wie eine Na-tur oder ein Wesen. Man kommt nicht als Monster auf die Welt, sowie man auch nicht als Sündenbock geboren wird, man wird esoder man wird es nicht, gemäß der Bestimmung einer politischenGestaltung, der Bedürfnisse einer Krise, der Besonderheiten einerkollektiven Trance. Die Wahl des Monsters (so wie die des Sün-denbocks) hat einen fundamentalen konventionellen Charakter,was nicht bedeutet, im Gegenteil weit entfernt davon ist, daß siezufällig entstehen. (...) Das Monster braucht spezifische ›Eigen-schaften‹; es muß allein, dezentriert, sichtbar sein.«8

In dieser Sache ist niemand auf die Idee gekommen, die Faktenzu prüfen. Wie Alfredo Bauer sagt: »Die Journalisten sind völligunabhängig, völlig unabhängig von der Wahrheit.«9 Keiner hat dar-auf hingewiesen, daß die Schüler ihrer Klasse auf dem Hof derSchule gestreikt haben mit dem Ruf »Schulmann! Schulmann!«,um ihre Unterstützung für sie zu bezeugen – welcher Art vonDruck von seiten der Behörden, der Eltern usw. diese Schüler aus-gesetzt waren, kann man sich leicht vorstellen. Man fragt sichauch, ob ein Journalist die berufliche Neugier gehabt hat, diesePhysik-Aufgabe zu lesen oder sie gar zu lösen.

Was für ein Vorgang: Jemand, der die Existenz des Holocaustbejaht, wurde des Negationismus beschuldigt! Von einem phäno-menologischen Standpunkt aus ist sehr interessant die Serie vonVerschiebungen – Umkippungen, die diese Geschichte strukturie-ren; allerdings scheint jeder der Protagonisten das Gegenteil vondem zu sein, der er ist: der Lehrer, der den Nazismus denunziertund seine Arbeit als Mensch und Bürger macht, wird das negatio-nistische »Monster«; die Journalisten, die Bigotten als Geburtshel-fer des »Monsters« stellen sich als Garant der Moral dar; und dieNegationisten, die echten, bekommen die Werbung, das Sprung-brett, das sie sich erhoffen, d.h. man wird gezwungen sein, sich aufihr Terrain zu begeben.

6 Unübersetzbares Wort-spiel des Autors, crasse be-deutet auf französisch Dreck.

7 A. Brossat, ibid., S. 137f.

8 Ibid., S. 61.

9 Alfredo Bauer: Le faiseurdes temps d’enfer. Unveröf-fentlichter Text.

GILBERT MOLINIER

Professeur de philosophie

Madame NOELLE SCHULMANN

Professeur de physique

Sehr geehrte Frau NoelleSchulmann,ich kenne Sie nicht, undtrotzdem kenne ich Sieschon seit langem. Wirhaben den gleichen Beruf,schwere und spannendeArbeit, insbesondere, wennman diese wie Sie mit »derLeidenschaft des Kopfes«ausübt. Deshalb hatten SieSchwierigkeiten mit der

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg9

Wir sehen hier die Schauspieler eines Dramas versammelt, dasriskiert, die Tragödie von morgen zu werden – wenn wir es laufenlassen. Auf der einen Seite finden sich die Eltern der Schüler, diepolitischen Autoritäten, die Behörden und die Medien; auf der an-deren finden sich die Schüler und die Lehrer. Zwischen den beidenstehen die Wahrheit und das Gedächtnis, die Gegenwart und dieZukunft in Frage. In dieser Affäre agiert jeder gemäß seiner Über-zeugung.

Wie kann man diese Fakten analysieren? Wie kann man erklären,daß das Hauptthema und das Thema, das alle aktuellen politischenund ideologischen Tendenzen eint, d.h. diese Referenz an den Ho-locaust, in diesem Fall derart sanktioniert wird? Aus meiner Sicht,und es ist das, was ich versuchen werde zu demonstrieren, ist die-se Affäre beispielhaft. Gewiß ist ein neuer Schritt in RichtungSchrecken vollzogen, ein neuer Schritt in Richtung Barbarei.

Aber eine Analyse drängt sich auf, und sie kann auf verschiede-nen Ebenen gemacht werden. Hier werden drei wesentliche Aspek-te bearbeitet. Einer bezieht sich auf die Funktion der Medien in derfranzösischen Gesellschaft als »modernes« Äquivalent der Inquisi-tion und als moralische und normalisierende Instanz; ein andererbezieht sich auf den neuen Platz, den die Schule als Verbreiter desWissens und der Kenntnisse besetzt. Es scheint, als ob man dieLehrer »auf Vordermann« bringen und die Vermittlung des Wissensauf ihre technische Dimension reduzieren will. Zuletzt bezieht sichein anderer Aspekt auf die ganz besondere Rolle, die der Holocaustin der Auffassung der konsensuellen Demokratie spielt. Wie jederweiß: Wenn man anfängt, etwas von bestimmten historischen undsozialen Phänomenen zu begreifen, ist es schon fast zu spät.

Neutralität und ObjektivitätIch habe schon mit zahlreichen Menschen über diese Physik-Auf-gabe gesprochen und mußte feststellen, daß ihr Inhalt auch Men-schen, die gutwillig sind, stark verunsichert. Deshalb muß zunächstdiese Verunsicherung erklärt werden. Aus meiner Sicht geht sie aufein doppeltes Mißverständnis zurück: Es betrifft zum einen diesenUnterricht und insbesondere die Unterrichtung der Wissenschaftund zum anderen die Rolle der Wissenschaften in der Gesellschaft.Eine Betrachtungsweise mit langer Tradition behauptet, daß Unter-richt neutral sei und sein müsse. Dies träfe gleichfalls auf die Wis-senschaften selbst zu.

Es geht hier um einen zweifachen Irrtum. Als staatliche Institu-tion kann die Schule, gleich welche, nicht neutral sein – und dasper Definition. Das hieße letztlich, daß der Staat als politische In-stanz neutral sei. Das wäre ein Widerspruch in sich.

Was die Neutralität der Wissenschaften betrifft, würde es nichtschwer sein zu zeigen, daß dieses Vorurteil genauso prägnant undfalsch ist wie das erste. Erinnert sei einfach daran, was BertoltBrecht zwischen 1933 und 1939 in seinen Aufsätzen über denFaschismus, nachdenkend über die Widerstandsfähigkeit derVernunft, schrieb: »Der Physiker muß imstande sein, für denKrieg optische Apparate zu konstruieren, die eine sehr weiteSicht gewähren, zugleich muß er imstande sein, Vorgänge für ihn

Behörde. Diesmal mischtensich die »Wächter der Ord-nung« ein. Ich weiß, weil iches oft erlebt habe, daß esnicht so einfach ist, alleingegen alle zu sein, insbe-sondere wenn man etwasmacht, was ermutigend seinsollte. Was mich angeht,betrachte ich Sie als jeman-den, der die Ehre des Unter-richts rettet. Was kann ichanderes sagen, außer daßich im Laufe meiner Schul-zeit gern mehr Lehrer wieSie getroffen hätte.Verzeihen Sie mir, wenn ichSie an etwas erinnere, wasSie schon wissen. In einemsehr wenig bekannten Ro-man, Z. Marcas, schriebHonoré de Balzac:»Zwischen den Fakten desLebens und den Namen derMenschen gibt es geheimeund ungeklärte Beziehun-gen (...) die überraschen;oft ferne Konkordanzen,aber gewichtige, dieWirkung zeigen. Und derGlobus ist voll, alles wirddadurch zusammengehal-ten.« Auf Deutsch bedeutetIhr Name – Der Mann derSchule –, das heißt, wennich mich nicht irre – derRabbi – auf Jiddisch ...Alles, was Sie als Mißach-tung und Demütigung erlebthaben, ist nicht nur unge-recht, und allein das würdegenügen, um Ihre Richter zudiskreditieren, sondern esbeweist noch mehr, wie tiefdie Zerrüttung und wie ver-fault der Zustand der franzö-sischen Gesellschaft ist.Was Ihnen passiert ist, for-dert uns zum Nachdenken.Unglücklicherweise geht esimmer zu langsam, wennich es versuche, deshalbbekommen Sie diesen Briefmit einer gewissen Verspä-tung, und ich bitte Sie, mirdas nachzusehen. WennSie diesen Text lesen,werden Sie die Gelegenheithaben zu sehen, daß Sie

10MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

gefährlichster Art in seiner nächsten Nähe, sagen wir an seinerUniversität, nicht zu sehen. Er hat Schutzvorrichtungen zu kon-struieren gegen die Angriffe fremder Nationen, aber er darf nichtdarüber nachdenken, was zu machen ist gegen die Angriffe auf ihnvon seiten der eigenen Behörden. Der Arzt in seiner Klinik suchtein Mittel gegen den Krebs, der seinen Patienten bedroht; aber erdarf nicht das Mittel suchen gegen das Gelbkreuzgas und die Flie-gerbomben, die ihn selbst in seiner Klinik bedrohen. Denn das ein-zige Mittel gegen die Vergasung wäre ein Mittel gegen den Krieg.Die Kopfarbeiter müssen ihre logischen Fähigkeiten ständig aus-bilden, um ihre Einzelgebiete bearbeiten zu können, aber sie müs-sen fähig sein, diese logischen Fähigkeiten nicht an Hauptgebieteheranzubringen.«10

Daß man Physik unterrichten kann, selbst und insbesondereAnfängern, ohne daß die Lehrer das Recht haben, ihren Schülernzu zeigen, daß Wissenschaften äußerliche Objekte einer Totalität,die man Gesellschaft nennt, sind, das sollte ein Skandal sein undnicht das Gegenteil.11

Affektive Identifikation und kritische DistanzierungAus meiner Sicht aber sind wir hier in einen Rahmen gestellt, derweit den einer einfachen Ignoranz überschreitet. Haben zahlreicheMenschen, die ich traf, eine gewisse Verunsicherung ausgedrückt,so haben andere, nicht weniger zahlreich, diese Physik-Aufgabemit einem gewissen Erschrecken aufgenommen. Auch hier geht esdarum, die Ursachen zu verstehen.

Diese Übung zu machen, setzt voraus, daß man sich in Gedan-ken an die Stelle der Täter und nicht an die der Opfer setzt. Es istdiese intellektuelle Operation, die den einfachen Rahmen dermathematischen Übung überschreitet und die einen kritischen undreflexiven Wert beinhaltet. Nur diese Operation ist es jedoch, diedas mentale Funktionieren des Täters zu verstehen erlaubt, d.h.ermöglicht, ihn zu bekämpfen.

A contrario ist das Erschrecken der Ausdruck einer affektivenIdentifikation mit den Opfern, Moment eines sentimentalen See-lenbündnisses. Diejenigen, die erschrocken sind, befinden sichauf der Ebene eines infantilen Verhaltens. Sie unterscheiden nichtmehr zwischen intellektueller Anforderung und affektiver Identi-fikation. Kritische Distanzierung setzt voraus, aus sich selbstherauszugehen, sich damit in Gedanken an die Stelle eines anderenzu versetzen, um die Dynamik des Tuns des anderen verstehen zukönnen. Im Gegensatz dazu beansprucht das Subjekt bei affektiverIdentifikation nur seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe und lehntzugleich eine andere ab.

Es ist ungefähr die intellektuelle Ebene, auf die sich das Fernse-hen stellt: Man fordert den Zuschauer auf, sich mit dem Helden(notwendigerweise gut) zu identifizieren und den Täter (notwendi-gerweise böse) zu verwerfen. Durch die Fata Morganen der Bildergefesselt, seinen Verstand anästhesierend, ist der Zuschauerunfähig, diese zwei Register, das intellektuelle und das affektive,zu unterscheiden.

nie allein waren. Es ist vielbesser, auf der Seite vonSpinoza, Brecht ... zu seinals auf der Seite derjenigen,die Pablo Neruda»Hurensöhne« nannte.

Mit herzlichen Grüßen

10 B. Brecht, ibid., S. 253.

11 Es ist beispielsweisedas, was das letzte Buchvon Jean-Paul Jouary zeigt:Enseigner la vérité, Essaisur les sciences et leursreprésentations, Paris 1996.

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg11

Verneinung und TabuAber das ist nicht alles. Sich intellektuell auf den Platz des Täterszu stellen setzt voraus, daß man dieser Täter sein könnte, das heißtin diesem Fall anzuerkennen, daß der Genozid nicht von nicht-menschlichen Monstern gemacht wurde, und daß die Täter nichtDämonen waren, von denen man nicht weiß, woher sie kamen,sondern ganz normale Menschen. Auch ich könnte dieser Tätersein. D.h. das, was damals entstanden ist, kann sich heute sehrwohl wiederholen, wenn die historischen Bedingungen gegebensind. Wie Jacques Rancière das erklärt: »Es gibt nichts in der Mon-strosität des Holocaust, was jenseits des Denkbaren ist, nichts, wasdie gesamten Kapazitäten der Grausamkeit und der Schändlichkeitder modernen Staaten übersteigt, wenn sie zugleich alle Mittel derMacht zu Verfügung haben.«12 Alle wissen, daß wir noch nicht andiesem Punkt angekommen sind, zumindest in Frankreich, ich be-tone: noch nicht, aber keiner kann negieren, daß es heute einegewisse faschistische Gewalt gibt.

Diese Physik-Aufgabe und ihre Autorin zu verurteilen heißteinerseits, den Faschismus zu isolieren, d.h. daraus ein ahistori-sches Phänomen zu machen (der gleiche Mechanismus der Auf-spaltung von Schulfächern [Physik – Politik] findet sich hier unterder Form der Aufspaltung historischer Epochen). Andererseitsbedeutet eine Verurteilung, die Existenz des Faschismus in uns undin der Welt heute zu verneinen. Genauer gesagt, gibt es hier einungeheures Paradoxon, das Alain Badiou analysiert: »Die Vernich-tung und die Nazis sind sowohl unvorstellbar, unaussprechlich,ohne denkbare Vorgänger oder Nachkommen, sie sind als dieabsolute Form des Bösen benannt; und trotzdem sind sie ständigevoziert, verglichen in irgendwelchen Umständen, in denen man inder Gesellschaft eine Wirkung des Bewußtseins des Bösen produ-zieren möchte; denn im Allgemeinen gibt es nur eine Öffnung desBösen unter der historischen Bedingung des radikalen Bösen. (...)Es muß so sein, daß alles, was Maßstab ist, nicht meßbar und trotz-dem immer wieder Maßstab ist.«13

Um aus dem Nazismus ein total äußeres Phänomen zu machen,das sich jeder Genese, jeder Abstammung entzieht, um daraus eineArt von purer Monstrosität zu machen, muß jede historische undpolitische Erklärung des Nazismus beseitigt werden. Es wird einTabu geschaffen.

Oder: Wie es der Bildungsminister mit atemberaubender Offen-heit ausdrückte, als er Frau Schulmann suspendierte: »Man hatversucht, wissenschaftlich den schlimmsten Horror zu behandeln,so als ob er ein Fakt wäre, auf den ganz normale Kriterien ange-wendet werden könnten. Der Holocaust verdient, behandelt zuwerden als Sache, die ein heiliges Horrorgefühl inspiriert.«14 Allesist gesagt: Der Boden der Wissenschaft, der Rationalität mußverlassen werden, und man muß Zuflucht auf dem heiligen undreligiösen Boden suchen. Wir werden aufgefordert, auf das Terrainder religiösen Verdummung auszuweichen. Die Frage, die hiergestellt (und gelöst) ist durch den sehr katholischen Minister, isthoch wichtig. Alles passiert so, als ob er seine Funktion als Mini-ster vergessen habe, Minister einer weltlichen Schule, um sich als

12 J. Rancière: La Mésen-tente, Politique et Philoso-phie, Paris 1995, S. 180.

13 Alain Badiou: L’éthique,Essai sur la conscience duMal, Paris 1994, S. 56f.

14 F. Bayrou in: Le Monde,5.6.1996.

12MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

Großinquisitor darzustellen. Gegen die Lehrer und die Unterrich-tung vertritt er ganz genau die gleiche Position, die die Theologengegen Spinoza nach der Veröffentlichung des Theologisch – politi-schen Traktats eingenommen haben: die Position des Zensors. Un-terrichtet man noch in einer weltlichen Schule? Hat man noch dasRecht, als Lehrer die historischen Ereignisse als historische Phä-nomene zu studieren? Gehört der Holocaust zum Gebiet einesweltlichen Studiums oder muß man ihn in die Schublade des Denk-verbots einordnen? Wie die Analyse von Jacques Rancière es zeigt,scheint es so, daß man heute einen Punkt erreicht hat, wo »dasDenken der Vernichtung das ist, was das Denken der Unwürdigkeitstraft und die Politik verbietet.«15

Ein neuer Schritt in Richtung der politischen Ablehnung des Ver-stehens des Nazismus als politisches Phänomen wird damit getan.Schon Theodor W. Adorno zeigte, daß die Reduzierung des Nazis-mus auf ein psychopathologisches Phänomen absurd ist: »VieleErkenntnisse sind außer Proportion mit der Kräfteverteilung nich-tig, mögen sie auch formal zutreffen. Wenn der ausgewanderte Arztsagt: ›Für mich ist Adolf Hitler ein pathologischer Fall.‹, so magihm der klinische Befund am Ende seine Aussage bestätigen, aberderen Mißverhältnis zu dem objektiven Unheil, das im Namen desParanoikers über die Welt geht, macht die Diagnose lächerlich, inder bloß der Diagnostiker sich aufplustert.«16 Von einem rationellenStandpunkt ist der Rückgriff auf die vulgäre Psychologie genausowenig relevant wie die Berufung auf Heiliges, wenn man erklärenoder verstehen will, was der Nazismus ist. Es werden also zugleichpraktische und theoretische Sackgassen geschaffen.

Der Holocaust wird geheiligt, weil man ihn letzten Endes entpo-litisieren will. Warum will man aus dem Holocaust eine Art vonaußer-politischem und außer-historischem Monster machen, wennnicht, um ihn zu entpolitisieren? Die ungeheure Medienmaschine-rie arbeitet nicht, um historische Fakten darzulegen oder wieder-herzustellen, sie agiert für die Befriedigung der Bedürfnisse derheutigen Epoche.

Das Gedächtnis und das VergessenIndem die Medien den Nazismus entpolitisieren, versuchen sievergessen zu machen, daß der Nazismus ein ganz normalesProdukt einer entwickelten kapitalistischen und normal europäi-schen Gesellschaft war, daß der Holocaust das Werk ganz norma-ler Menschen dieser ganz normalen Gesellschaft war – ein Unter-nehmen, das in Frankreich von Managern der Industrie, vonBankiers und Ministern, Richtern, Journalisten, Intellektuellen,Polizisten, Präfekten, Bischöfen, Arbeitern, Gewerkschaftsführern(Doriot) ... unterstützt wurde. Es ist, woran Heiner Müller erinnert(was für Deutschland gültig ist, gilt auch für Frankreich und um-gekehrt, mit den Unterschieden, die man kennt, und im Grobengenügt es, die Namen auszutauschen): »Das Gas für die Gaskam-mern haben nicht die Leute erfunden, die es dann angewendet ha-ben. Das hat die deutsche Industrie geliefert. Die wußten, wofür siees liefern. Das waren Leute, die heute entweder in Pension sindoder immer noch in hohen Positionen in der deutschen Industrie ...

15 J. Rancière, ibid., S. 173.

16 T. W. Adorno: MinimaMoralia, Frankfurt am Main1993, S. 66.

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg13

Die Konzentrationslager waren große Unternehmen der deutschenIndustrie, die hat die Technik zur Verfügung gestellt und auspro-biert.«17

Diese normalen Menschen existieren heute wie gestern, dieseganz normale kapitalistische Gesellschaft ist noch da, und die Kri-se ist da, ja, auch sie. Auch die Rückkehr des Schlimmsten ist zufürchten. Es ist ganz genau das, was die Medien verstecken wollen.

Wir sind noch nicht fertig damit, erschöpfend zu behandeln, wasHeiner Müllers kritische Gedanken zum Thema bedeuten. In demgleichen Text, Auschwitz kein Ende, schrieb er: »Auschwitz ist dasModell dieses Jahrhunderts und seines Prinzips der Selektion ...Das Erschreckendste an den Krawallen in Rostock und Hoyers-werda ist, daß es zu dieser Gesellschaft gehört, daß es eben keinbarbarischer Auswuchs ist, ebensowenig wie der Faschismus, derja nur die Konsequenz der Marktwirtschaft bedeutet.«

Die Medien stellen sich wie ein kolossales Unternehmen dar, dasdarauf abzielt, jede Vermittlung an die folgenden Generationen,materiell und symbolisch, abzubrechen.

Alle Kinder haben in der Schule Goethes Erlkönig gelernt,der mit den Zeilen endet:

Den Vater grauset’s, er reitet geschwind,Er hält in den Armen das ächzende Kind,Erreicht den Hof mit Müh und Not;In seinem Armen das Kind war tot.«

Testament? Heiner Müller hat in seiner letzten Inszenierung,Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, versucht klarzumachen,daß wir in einer Epoche leben, in der die Generation der Väter imBegriff ist, ihre Kinder zu belügen. So lange wir das nicht wirklichbegriffen haben, bleibt eine Schuld gegenüber Müller. Unsere Epo-che ist im Begriff, genau das Gegenteil von dem zu machen, waswünschenswert wäre. Müller selbst war es, der vor nicht so langerZeit in einem Interview mit dem Focus sagte: »Ohne Vatermordpassiert nichts.«18 Man findet es wieder in der Inszenierung desStückes von Bertolt Brecht: Heiner Müller läßt den Erlkönig amAnfang singen. Dem guten Zuhörer schickt man seinen Gruß!Heute ist die doppelte Frage der Vermittlung der Wahrheit und desGedächtnisses ganz genau so, wie Nietzsche sie gestellt hat: »›Wasist das eigentlich, was ich thue? Und was will gerade ich damit?‹ –das ist die Frage der Wahrheit, welche bei unserer jetzigen ArtBildung nicht gelehrt und folglich nicht gefragt wird, für sie giebtes keine Zeit. Dagegen mit Kindern von Possen zu reden und nichtvon der Wahrheit, mit Frauen, die später Mütter werden sollen,Artigkeiten zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Jünglingenvon ihrer Zukunft und ihrem Vergnügen zu reden und nicht vonder Wahrheit, – dafür ist immer Zeit und Lust da!«19

Man will ein Gedächtnis herstellen, aber eine Art und Weise vontotem Gedächtnis, ein Gedächtnis, das den Holocaust als ahistori-sche Ausnahme festschreibt, beispiellos in der Geschichte derMenschheit, der zur Vergangenheit gehört. Aber von solcher Art,daß es in der Gegenwart als Ort des Konsens funktioniert. Dieser

17 H. Müller: Auschwitzkein Ende, Drucksache 16,Berliner Ensemble GmbH1995.

18 H. Müller in: Focus,1995, H. 40.

19 F. Nietzsche: Morgenrö-te, München, 1988, S. 170.

14MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

Gebrauch des Holocaust ist Mißbrauch des Holocaust, er ist nichtpolitisch, sondern politischer Betrug, er erfüllt nicht die Funktiondes Wissens, sondern eine ganz »einfache« ideologische Funktion.Er wird instrumentalisiert. »Daß die Politik durch diese sogenann-ten ›bürgerlichen‹ Übungen, die sie begleiten, verlorengeht, ist das,was wir ganz klar wahrnehmen im Laufe dieser homogenen undleeren Gedächtnisfeiern, gewidmet der Erinnerung an Extreme.Die radikale Elision des Streits ist das, was einem Präsidenten derRepublik ›von links‹, einem ›liberalen‹ Premierminister und einem›konservativen‹ Bürgermeister von Paris erlaubt, rigoros identischeReden zu halten, beispielsweise, als ein Tag der Erinnerung andie Massenverhaftung der Vel’ d’Hiv institutionalisiert wurde. Erist das, was dem großen Freund von René Bousquet,20 einer dereffizienten Judenjäger der Kollaboration, erlaubt hat zu verkünden:

»(Die Shoa) darf mit keiner anderen verglichen werden: die frei-willige Vernichtung und Zerstörung eines Volkes, einer Geschich-te; der Haß, der sich als Folter und Tod verwirklicht; die Barbarei,die sich als Wissenschaft darstellt, kurz, der Holocaust.«21

Und es ist ganz genau der Grund, weshalb Frau Schulmann sank-tioniert wurde: nicht weil sie sich magisch auf den Holocaust be-rief, sondern weil sie sich wirklich auf den Holocaust berief. Siehat ihn nicht als Todesobjekt in einem staatlichen Sinn behandelt,sondern als lebendiges Objekt, mögliches Objekt der Kenntnis undder Praxis für heute. Sie ist Lehrerin, wirklich Lehrerin. Sie bear-beitet die Vergangenheit, sie arbeitet mit der Vergangenheit, aber esist, um die Gegenwart besser zu verstehen und mögliche Zukunftzu antizipieren. Vergessen wir nicht eine Sekunde, daß Frau Schul-mann Lehrerin ist, sie weiß, daß sie Schüler unter ihrer Verantwor-tung hat, d.h. die Zukunft. Sie hat nicht die Funktion als Knechtdes Konsens. Sie hat die Funktion zu unterrichten. Alles in diesergewaltigen Reaktion der Journalisten zeigt, daß es in dieser Übungetwas gibt, das an Nietzsches Begriff der Erziehung erinnert, der-jenige, der in bezug auf die Unterrichtung der Geschichte schrieb:»...wir brauchen sie zum Leben und zur That, nicht zur bequemenAbkehr vom Leben und von der That ...«22

Wenn die Medien versuchen, die Schule am Arbeiten zu hindern,geschieht dies aus einem bestimmten Grund: Die Funktion derMedien ist es, das Gedächtnis zu stehlen, den Sinn zu stehlen, dieVermittlung zu verhindern, um danach eventuell Brocken von offi-ziellem Gedächtnis unter der Form von abergläubischen Tabusaufdrängen zu können. Im Gegensatz dazu ist ein Unterricht, derzugleich Kontinuität, Organisation eines Fortschritts und selbstver-ständlich Wiederholung impliziert, unerträglich für denjenigen, fürden der Skandal das alltägliche Brot ist. Die Schule, wie sie ist,trotz ihrer Mängel, ist eines der letzten Bollwerke gegen den Auf-stieg des Faschismus. Man muß sie also jedweder Art von gesell-schaftlicher Effizienz berauben. In diesem Sinne ist die Geschichtedieser Lehrerin beispielhaft.

»Entweder ... oder« oder »weder ... noch«Ein kolossales Unternehmen, um jede Vermittlung von dem zuverhindern, was in der Geschichte wirklich geschah, ist in der

20 Der Leser, der gut infor-miert ist, weiß, daß der»große Freund« FrançoisMitterand heißt.

21 A. Brossat: L’épreuvedu désastre, Le XX° siècleet les camps, Paris 1996,S. 459.

22 F. Nietzsche: Unzeit-gemässe Betrachtungen,München 1988, S. 246.

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg15

französischen Gesellschaft am Werk. In einer neuen Studie zeigtMichel Clouscard, wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und mitBeschleunigung nach den siebziger Jahren der Kapitalismus »einenbeispiellosen ökonomischen Terror (betrieben hat): die Vernich-tung des Klassenfeindes durch die Vernichtung seines Berufes«.23

Die Berufe zu vernichten heißt gleichzeitig, den sozialen Raumumzuformen, die Zeitrythmen zu zerstören, die vielfältigen undkomplexen Beziehungen, die die Menschen mit den Gegenständen,mit anderen Menschen und insbesondere ihren Kindern haben ...Ein Unternehmen zum Abbau des Lehrerberufes läuft schon undfunktioniert. Um die Vermittlung der Kulturen, der Kenntnisse, derFähigkeiten abbrechen zu können, muß die reflexive und kritischeAnnäherung, die schulische Annäherung durch das religiöse Tabuersetzt werden. Religiöse Tabus lassen sich im Bedarfsfall leichtzerbrechen – dafür genügt Gewalt. Denn nichts ist schwächer alsdas religiöse Tabu, weil es auf der Hemmung beruht. Wenn man dieHemmung aufhebt, bricht das Tabu zusammen, erhält die vernei-nende Gewalt freien Lauf. Wir befinden uns also in einem Zustand,den man beschönigend als Verunsicherung bezeichnen könnte.

Man kann sich fragen, warum die Medien in Frankreich so sehrihre Negationisten brauchen, warum jede Gelegenheit gut ist, umdie Negationisten zu inszenieren (wie kürzlich l’abbé Pierre, RogerGaraudy ...) und warum sie sich sogar gezwungen sehen, sie zukonstruieren, wenn es gar keine gibt (zum Beispiel Frau Schul-mann)?

Dafür sehe ich drei Gründe. Der erste ist: Die Medien wollen unszwingen, in dem Rahmen zu »denken«, den sie selbst vorgeben:»Entweder bist du Negationist oder du betrachtest den Holocaustals Tabu.« Ohne die aktive Teilnahme der Medien würde derNegationismus in Frankreich ein nebensächliches Phänomen sein.Wenn es also so präsent in den Sendern und in der Presse ist, heißtdas, daß sowohl die einen als auch die anderen es benötigen.In Wirklichkeit sind sie die zwei Backen derselben Kneifzange.Wir müssen also zugleich sowohl das eine als auch das andereablehnen. D.h. weder das eine noch das andere annehmen undbeispielsweise ... Heiner Müller lesen.

Das einstimmige Urteil über den Holocaust ist das Paradigmaaller Urteile: Es ist das absolute Böse, Punkt! Jedes Urteil muß aufseinen einfachsten Ausdruck reduziert sein, d.h. entweder als das,was man unter Meinung, unter Eindruck oder Gefühl einordnet.Die Ebene der einfachen »Kommunikation« darf nie überstiegenwerden. Jeder diskursive Prozeß, der »lange Ketten von Gründen«(Descartes) ins Werk setzt, jede Bemühung um eine Analyse, dienicht »ohne große Mühe« gemacht werden kann (Spinoza), jedekritische Arbeit »lang und schwer« (Hegel) und jede Überlegung,die die »steilen Pfade erklimmt« (Marx), müssen unbedingt zer-stört werden. Frau Schulmann hat diese exzellente Idee in Fragegestellt, nicht ein einfaches Urteil, eine Sache, eine einfache Ab-straktion, den Holocaust, sondern eine Beziehung (Wissenschaft/Politik), deren Terme nicht unmittelbar verständlich sind. Diesstellt zugleich eine Reihe von mittelbaren Beziehungen in Frage:beispielsweise die Wissenschaften in bezug auf die moralische

23 M. Clouscard: LesMétamorphoses de la luttedes classes, Paris 1996,S. 23.

16MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

Verantwortung der Forscher; die der Wissenschaften und derTechnik (d.h. die der Wissenschaftler und der Arbeiter), die derGeschichte und der Gedächtnispflicht, aber insbesondere ihre mög-lichen Inhalte, lebendiges Gedächtnis/totes Gedächtnis, die derGegenwart als Spannung zwischen der Vergangenheit und derZukunft. Die Journalisten, die nicht daran gewöhnt sind, sowohleine richtige Schularbeit als auch eine richtige intellektuelle Arbeitauszuführen, sind in diesem Fall »natürlich« in die Falle der Vor-urteile (Descartes) und des Aberglaubens (Spinoza) gefallen. DieseVorurteile sind die Substanz selbst ihres Berufes, zumindest desBerufes, wie sie ihn heute ausüben. Darüber hinaus wird manbemerken, daß die Frage, die Frau Schulmann gestellt hat, eineAntwort auf eine andere Frage fordert. Diese Frage betrifft ganzdirekt die Journalisten: »Sag mir, wer Dich bezahlt, und ich sageDir, wer Du bist!«

Der zweite Grund ergibt sich aus der Tatsache, daß der katastro-phale Zustand, in dem sich Frankreich heute befindet, insbesonde-re die Armut so vieler Menschen, versteckt werden muß. Es gehtdabei um eine partielle Ablenkung. Die politische Leere ist so tief(grausame Abwesenheit politischer Entwürfe, Krise der Politik,Zerstörung des sozialen Rechts, Abschaffung der Arbeitsplätze, dasGanze von Korruptionen und politisch-finanziellen Skandalenbegleitet usw.), daß etwas gemacht werden muß. Der falscheKampf zwischen den neuen Priestern (den Journalisten) und denDämonen (den Negationisten) will diese Leere künstlich ausfüllen,und je mehr sie es versuchen, desto größer wird diese Leere.

Letzlich wissen wir alle, daß die französische Bourgeoisie seitder französischen Revolution gezwungen ist, in Unruhe zu leben.Heutzutage sind der Schaden für die Menschen, den die ökonomi-sche Politik dieser Bourgeoisie verursacht, und der Grad derVerkommenheit des politischen Lebens so groß, daß sich die Fragestellt: »Kann ein Desaster diesen Ausmaßes ohne Gegenwehrhingenommen werden?«24 Wir befinden uns in einer Art vonNotzustand und vor einer radikalen Alternative. Einerseits hältbeispielsweise Ignacio Ramonet im Leitartikel von Le Mondediplomatique einen »Roten September« für möglich und schreibt:»Wird es möglich sein, eine große Umwälzung zu vermeiden? ...Wie werden die von der Krise Betroffenen ihrem Zorn Ausdruckverleihen? Jacques Chirac – wird er, wie einige Soziologen esvoraussehen, der erste Präsident der Republik sein, der unter demDruck des Volkes gezwungen sein wird, aufzugeben?«

Andererseits zieht die Bourgeoisie alle möglichen Ersatzlösun-gen in Betracht, auch die schlimmste – so wie schon einmal in dendreißiger Jahren. Guy Debord hat diese Epoche folgendermaßenanalysiert: »Der Faschismus war eine extreme Verteidigung derbürgerlichen Ökonomie, bedroht durch die Krise und die proletari-sche Subversion, der Notzustand in der kapitalistischen Gesell-schaft, durch den sich diese Gesellschaft rettet.«25 Eine Art undWeise von Faschismus, die an unsere Epoche angepaßt sein wird,ist eine der möglichen Lösungen. Um eine Verirrung zu vermeiden,muß auch klar sein, daß unsere Epoche ihre eigene Lösung ver-wirklichen wird. Keiner kann behaupten, daß er schon einen

24 I. Ramonet: »Septem-bre rouge«, Leitartikel in: LeMonde diplomatique, August1996.

25 G. Debord: La Sociétédu Spectacle, Paris 1995,S. 80.

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg17

Begriff von dieser Lösung hat. Die Geschichte kann nur nachträg-lich geschrieben werden. Aber, insofern ich mir eine Prognosevorstellen kann, scheint mittelfristig das folgende wahrscheinli-cher: Es gibt einen ideologischen Konsens, der schon in Betrieb ist,der sich täglich vertieft, der die politischen Kräfte zu einigen The-men vereint.26 Dieser ideologische Konsens kann sich wohl alspolitische Allianz verwirklichen, wenn die Verhältnisse es ermög-lichen. So werden die klassischen Parteien eine Form von »heiligerEinigung« oder »nationaler Einigung« oder sogar ... eine nationa-le Front gegen den Front national stellen. Kurzfristig versucht sichzugleich jede Partei gegen die andere zu profilieren, aber diese»Konfrontation« ist völlig künstlich. Sie stoßen immer wieder aufdie Realität (bspw. die Vertiefung der Krise, Steigerung derArbeitslosigkeit, unendliche Kette von »Affären«...) und diesvergrößert, vertieft und verstärkt ihre Schwierigkeiten, weil sienicht imstande sind, irgend etwas »presentable«, »überzeugend« zuverteidigen und vorzuschlagen. Die rechten Parteien versuchen ander Macht zu bleiben unter dem Etikett der Moderne – aber unterdiesem Etikett »Moderne« versteckt sich der rechte Inhalt. Die PSerklärt sich bereit zur Machtübernahme unter dem Etikett vonLinks – aber unter diesem Etikett von »Links« versteckt sich wie-der der rechte Inhalt. Jenseits dieser verbalen Spielereien, dieserlinguistischen Kniffe sind Chirac und Jospin einverstanden: Siewollen zunächst die Bourgeoisie retten. Gegebenenfalls werden siediese Allianz – als letzte Lösung – unter dem Motto »Zur Rettungder Demokratie« gegen »den (Un) Aufhaltsamen Aufstieg des...«zulassen. Diese Allianz wäre die Beerdigung der Demokratie, oderwas davon übrig geblieben ist ... So sieht man, daß sie die richtigenTotengräber der Demokratie sind. Es wird nur eine Alternativebleiben: Front national gegen Front républicain, außer wenn dasVolk – vor allem die Jugend – dieses Spinnennetz zerreißt.

Über die Widerstandsfähigkeit der VernunftTraurige Allianz! Heilige Allianz! Gefährliche Allianz, auf demVorposten der politischen Reaktion finden sich diejenigen mitpolitischen Interessen (die Medien), diejenigen mit sozialerVerzweiflung (die Eltern der Schüler), diejenigen mit interessier-tem Opportunismus (das Rektorat) – ungeheure Kräfte.

Für die Medien und den Staat ist die Schule zu einem unerträgli-chen Konkurrenten geworden. Die Schule, Ort des Aufbaus desGedächtnisses, wird deshalb genötigt zu schweigen – durch Kräf-te, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Vergessen zu orga-nisieren. Die Schule, Ort des Unterrichts der wissenschaftlichenRationalitäten, sieht sich gegenüber dem Irrationalen als Tugend.Der Schule, Ort der Unterrichtung der Wahrheiten, stellt man dieRigiditäten des Dogmatismus gegenüber. Weltlicher Ort, man willihm den Charme des Heiligen aufdrücken.

Die Göttin mit den hundert Mündern spricht mit einer einzigenStimme. Wie schon Balzac sagte: »Heute gibt es keine Meinungenmehr, es gibt nur Interessen.« Die Medien kümmern sich einenDreck um Informationen. Ihre Art und Weise einer Inszenierung,die dann auch noch »Information« genannt wird, hat die wesentli-

26 Diese breite Palettereicht vom rechtem Flügelder RPR (Chirac) über dieUDF (Giscard D’Estaing)und die PS (Jospin) bis hinzu den Reformisten und denstalinistischen Tendenzen inder FKP. Dieser ideologi-sche Konsens kann auchmit gewerkschaftlichen Kräf-ten (bspw. CFDT, CGC,CFTC...) rechnen.

18MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

che Funktion, die politische Landschaft und das Imaginäre zustrukturieren und insbesondere jede Art von Denken zu zerstören.Sie konstruieren und demontieren den Ruf gemäß der Mode, heutediejenigen in den Himmel zu heben, die sie morgen verbrennenwerden. Sie benehmen sich und funktionieren so wie die Kirche imMittelalter. Sie drängen uns auf, was wir zu empfinden haben, weildenken nicht in Frage kommen darf. Falsch wäre es zu glauben,daß in dieser Sache die französischen Medien ganz zufällig soagiert hätten – nein; das ist ihre ganz typische Art zu funktionieren,die sie uns aufdrängen: Sie sind überzeugt, daß sie niemandemRechenschaft schuldig sind, was sie auch sagen, in welcher Weiseauch immer sie es sagen. Sich selbst schätzen sie als hinreichendgenial ein, um jedweden Menschen zwingen zu dürfen, ihnengegenüber Rechenschaft zu geben. Es ist das, was Kant einst»le ton grand seigneur« nannte.

Auch die Verwaltung des Bildungsministeriums hat ihr Feldgewählt, es scheint so zu sein, daß sie jede Ambition aufgegebenhat, durch den Unterricht den Schülern einen kritischen Geist zuvermitteln. Es handelt sich für sie mehr darum, »konforme Men-schen« zu produzieren, wie Nietzsche sagte, d.h. Konformierte,Konformisten, »Formatierte«.27 Das zeigen die Analysen von Her-vé Boillot und Michel Le Du: »Heutzutage sind wir mit einem ech-ten pädagogischen ›Darwinismus‹ konfrontiert, der die Anpassungdes Schulsystems an die ›Welt von heute‹ vollzieht, die die Bedin-gung für sein Überleben ist. Solchen Konzeptionen fehlt es nicht anKümmerlichkeit ...«28 Ihr Ziel ist es, die Schüler ganz einfach denGesetzen des kapitalistischen Marktes anzupassen.

Es hat eine Zeit gegeben, in der die Eltern die Lehrer bei ihrerArbeit unterstützten, d.h. diejenigen, die die Pflicht haben, denKindern Wissen zu vermitteln. Damals wurden das Wissen und dieWahrheit als Werte geachtet. Heute unterliegen die Eltern immermehr der Tendenz, die Verwaltung zu unterstützen, d.h. die Ord-nung, eine gewisse Ordnung zu stabilisieren. Wie schon Musilsagte: »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlagüber.«

Die Lehrer, wenn sie noch nicht aufgegeben haben, fahren fort zuversuchen, positive Werte zu lehren, denn sie meinen, es sei besser,zu wissen als zu ignorieren. Noch haben sie die Sorge um dieWahrheit. Es scheint aber schon heute ungebührlich, ja unerträglichzu sein, daß Frauen und Männer verschiedener politischer oderreligiöser Richtung darauf beharren, sich einig zu sein, daß zweiplus zwei vier sind. Diese normative Instanz, die alle in Überein-stimmung bringt, nennt man Vernunft.

Heutzutage werden die Rechte des Gefühls und der Empfindungaufgewertet. Heute müssen wir mehr als jemals zuvor daranerinnern, was Hegel schrieb: »Das Widermenschliche, das Tieri-sche besteht darin, im Gefühl stehen zu bleiben und nur durchdieses sich mitteilen zu können.«29

Welche Vernunft wollen sie also produzieren? ... Eine verkrüp-pelte Vernunft. »Sie muß verkrüppelt sein. Es muß eine regulierba-re, jeweils mehr oder weniger mechanisch vergrößer- oder ver-kleinerbare Vernunft sein. Sie muß weit und schnell laufen können,

27 H. Boillot et M. Le Du:La pédagogie du vide,Paris 1993.

28 Ibid., S. 16.

29 G.F.W. Hegel: Phäno-menologie des Geistes,Hamburg 1988, S. 51.

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg19

aber zurückpfeifbar sein. Sie muß imstande sein, sich selberzurückzupfeifen, gegen sich selber einzuschreiten, sich selber zudestruieren.«30

Heute wird auf die Lehrer von verschiedenen Seiten Druckausgeübt: von den Eltern, die sich in Denunziation üben; vonder Presse, die versucht, unter den Lehrern Angst zu verbreiten;von der Verwaltung, die die Lehrer mit Sanktionen schikaniert;letzten Endes von der gesamten Gesellschaft, die die Lehrer unterfast vollkommene Überwachung stellt. Heute werden Eltern vonoffizieller Seite ermutigt, beliebig Lehrer zu denunzieren – obberechtigt oder unberechtigt, ist dabei oft uninteressant –, und sieerhalten dabei die massive Unterstützung der Medien als auch derBehörden. Es ist zu fürchten, daß diese Art von »sanftem«Faschismus, der von überall her kriecht, noch einmal »harteMuskeln und rosa Wangen« zeigen wird.

Wir befinden uns in einem dramatischen Zustand, in dem estendenziell unmöglich ist zu unterrichten. Aber ... jeder muß mitseinen Widersprüchen leben. Die Medien sind eine ungeheuredestruktive Maschine des Gedächtnisses. Diese Funktion auf sichnehmend, die einst die Kirche erfüllte, sind die Medien zugleichgezwungen, deren »Amtspflichten« zu übernehmen. Eine vondiesen, und keine kleine, besteht in der Vermittlung der Tradition,d.h. dem Gedächtnis. Sowohl der Staat als auch die große Bourge-oisie müssen notwendigerweise die Schule destruieren, oder siezumindest auf technische Aufgaben beschränken; aber gleichzeitigbrauchen sie unbedingt die Schule als Ort der Vermittlung des Wis-sens. Hier tun sich riesige Widersprüche auf, wie schon Brecht ge-zeigt hat: »Schon die gewaltige Ausbreitung der Vernunft durch dieEinführung der Volksschulen hat außer der Hebung der Industrieauch zu einer außerordentlichen Hebung der Ansprüche breitesterVolksmassen in jeder Hinsicht geführt; deren Herrschaftsanspruchist dadurch fest untermauert worden. Man kann hier einen Lehrsatzaufstellen: Die herrschenden Schichten brauchen zum Zweck derUnterdrückung und Ausbeutung der breiten Massen so großeQuanten von Vernunft in so hoher Qualität bei diesen Massen, daßUnterdrückung und Ausbeutung dadurch bedroht sind. Durchkühle Überlegungen dieser Art kann man zu dem Schluß kommen,daß die Attacken auf die Vernunft, welche von den faschistischenRegierungen geritten werden, sich noch einmal als Donquichotte-rien erweisen werden. Sie sind gezwungen, große QuantitätenVernunft bestehen zu lassen, ja selber auszubilden. Sie mögen dieVernunft beschimpfen, wie sie wollen. Sie mögen sie als eineKrankheit darstellen, sie mögen den Intellekt als bestialisch denun-zieren, selbst für diese Reden benötigen sie Radioapparate, welchenur der Vernunft ihre Entstehung verdanken. Sie benötigen zurAufrechterhaltung ihrer Herrschaft ebensoviel Vernunft bei denMassen, als zur Beseitigung dieser Herrschaft nötig ist.«31 Hütenwir uns vor einem Optimismus, der entmutigend sein würde. In sei-nem letzten Theaterstück, Germania 3, bezieht sich Heiner Müllerauf das berühmte Stück von Brecht, Leben des Galilei, er läßt eineseiner Figuren des Stückes (Palitzsch) sagen: »Der kleine Mönchhat recht, nicht Galilei.«32

30 B. Brecht, ibid., S. 253.

31 B. Brecht, ibid., S. 255.

32 H. Müller: Germania 3.Gespenster am toten Mann,Köln 1996, S. 54.

20MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg

Letzte Neuigkeit. Meine Kollegin ist »abgemahnt« worden –sonderbar abgemahnt. Das Rektorat hat eine Blâme (mittlere Stufein der Hierarchie der Strafmaßnahmen) verhängt, ihr gleichzeitigjedoch Unterstützung in ihrer juristischen Verteidigung gegen dieDiffamierung zugesagt, deren Opfer sie in der Presse war.

Es ist wohl so, wie ein schönes Chanson von Jean Ferrat sagt:»Jesus Maria. Welche Dekadenz. Etwas ist faul in meinemKönigreich Frankreich.«

PS: Jetzt ist Ende Oktober, die Schule hat längst wieder begonnen.Wenn ich die Art und Weise beobachte, in der sich die Verhältnissein meinem Gymnasium und anderswo entwickeln, muß ich Ihnen,Frau Schulmann sagen, daß ich leider kein Wort zurücknehmenkann davon, was ich im Sommer geschrieben habe, im Gegenteil.Aber wie Konstantin Wecker singt: haben wir das Recht »in diesesBordell, das die Zukunft heißt« einzutreten, ohne zu widerstehen?

MOLINIER (Un)aufhaltsamer Aufstieg21

Die Herausforderungen der »Produktivkraft Wissenschaft« in derOrientierungskrise der DDRIn der DDR-Industriegesellschaft hatten Wissenschaft, Forschungund Technologie – wie in allen hochentwickelten Gesellschaften –für die Entwicklung einen ökonomisch und gesamtgesellschaftlichhohen Stellenwert. Das wurde auch von der Parteielite so gesehen,freilich technokratisch-machtpolitisch verkürzt. Der Zentralismusund der marxistisch-leninistische Dogmatismus der Parteiführungsetzten allerdings der notwendigen Wissenschaftsentwicklung undder Entfaltung ihrer Kreativität deutliche Grenzen und verursach-ten bedenkliche Verwerfungen.

Dennoch fand Wissenschaft statt und erbrachte Ergebnisse, diezum Wissensfundus unseres Landes weiterhin zu zählen sind. Dasmeint nicht nur – phänomenologisch betrachtet –, daß es in derDDR Wissenschaftsakteure gab, die diese Bezeichnung hatten undpflegten; und es meint auch nicht, daß es dort Institutionen gab,die dieses Etikett am Türschild und auf dem Briefkopf führten,sondern damit ist auch und ganz besonders gemeint, daß von die-sen Wissenschaftlern in diesen wissenschaftlichen Einrichtungenauf der Grundlage eines bestimmten theoretischen Vorwissenssystematisch entwickeltes neues Wissen kreiert wurde. Die heutigeIgnoranz gegenüber den zu DDR-Zeiten nicht nur in den Natur-und Technikwissenschaften – erzeugten Wissensbeständen ist nachden wissenstheoretischen Kriterien unzulässig. Damit werden zudemgesellschaftliche (Wissens-) Ressourcen – allemal knapp – vergeudet.

Eine Zeitgeschichtsforschung, welche die Wissenschaftsent-wicklung in der DDR zu untersuchen beabsichtigt, hat sich dem-nach auf die Erkenntnisprodukte der DDR-Wissenschaften zukonzentrieren und diese kritisch zu analysieren.

Dieser Hinweis erscheint notwendig, weil der zeitgeschichtliche»main stream« bei der Beschäftigung mit den DDR-Wissenschaf-ten sich bisher vornehmlich auf die personale und die institutio-nelle Ebene konzentriert hat und die kognitive Ebene als Bestand-teil des gesellschaftlichen Wissensfundus vernachlässigte. Evaluierungs-und Strukturkommissionen sahen ihre Aufgaben vor allem darin, daswissenschaftliche Personal auf seine Weiterbeschäftigung nach demstrukturellen Transformationsprozeß in der neuen Wissenschafts- undForschungslandschaft zu beurteilen. Der wissenschaftliche Wissensfun-dus der DDR als solcher blieb dagegen bisher – disziplinär mal mehr,mal weniger – in Forschung und Lehre weitgehend ausgeblendet.

22BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft

CLEMENS BURRICHTER

GERD-RÜDIGER STEPHAN

Zur Theorie einer Analyseder Wissenschaftsentwicklungin der DDR

Clemens Burrichter –Jg. 1932, Prof. Dr.,Soziologe, Studium derSoziologie, Philosophie undPsychologie in Münster undBerlin (Technische Univer-sität), 1975-1993 Direktordes Instituts für Gesell-schaft und Wissenschaft(IGW) an der UniversitätErlangen-Nürnberg; Unter-suchungen, Publikationenund laufende Forschungenzur Wissenschaftsentwick-lung in der DDR und densozialistischen Ländern.

Freilich kann dieser Wissensfundus nach dem gesellschaftstheo-retischen Paradigmawechsel in Deutschland nach der Wende nichteinfach übernommen und in den fortlaufenden wissenschaftlichenDiskurs eingebracht werden, sondern es bedarf dazu einer kriti-schen, zugleich wissenschafts- und gesellschaftstheoretischenRezeption. Eine solche kritische Rezeption wird wohl ganze Publi-kationsreihen aussondern, für den weiteren wissenschaftlichenDiskurs als ungenügend und irrelevant verwerfen müssen; aber eswird auch Relevantes auf diese Weise erkannt werden, und darumgeht es hier.

Das alles verweist auf ein ganz wesentliches methodologischesProblem der heutigen Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland.Wenn zeitgeschichtliche DDR-Forschung sich als Sozial- oder Ge-sellschaftsgeschichte begreift und sich nicht nur mit personalenund institutionellen Phänomenen beschäftigt, ist eine systemati-sche und theoriegeleitete Analyse unabdingbar. Eine Sozial- oderGesellschaftsgeschichte der DDR – die diesen Namen verdient –kann ohne den Rückgriff auf die theoretischen Offerten der Sozial-wissenschaften nicht auskommen. Es reicht dann nicht aus, sichvon Fall zu Fall und je nach Untersuchungsgegenstand flüchtigkundig zu machen, das sozialwissenschaftliche Theorievokabularals methodologischen »Persilschein« zu benutzen, um dann mit alt-bewährter Methodik an’s Werk zu gehen. Eine zeitgeschichtlicheDDR-Forschung in dem hier gemeinten Sinne ist nur als Histori-sche Sozialforschung (Hans-Ulrich Wehler) zu verstehen.1 Diessoll durch einige grundlegende Überlegungen zu einer Zeitge-schichte der Wissenschaftsentwicklung verdeutlicht werden.2

Wissenschaft und GesellschaftNicht erst seit Max Weber, seitdem aber sehr konsequent und sy-stematisch, wissen wir, daß handelnde Individuen und die Hand-lungszusammenhänge (Interaktionen) zwischen ihnen die Gesell-schaft recht eigentlich konstituieren und dementsprechend auchnur über die gesellschaftlichen Handlungsprozesse wahrnehmbarsind. Gesellschaftswissenschaften sind Handlungswissenschaften.

Das gilt für die Wissenschaft wie für alle anderen Teilsystemeder Gesellschaft. In ihnen handeln Individuen und diese für sie.Von daher erklärt sich die eigentümliche Dialektik von Autonomieund Heteronomie im wissenschaftlichen Handeln, über deren je-weils historische Auflösung seit Beginn der modernen Wissen-schaft ständig gestritten wird.3

Wissenschaft – so besehen – ist stets eine gesellschaftliche Ver-anstaltung, weil sie (wesentlicher) Teil im gesellschaftlichen Hand-lungszusammenhang ist und für die problematischen Handlungs-prozesse systematisch neues Wissen – Problemlösungswissen –produziert. Um Wissenschaftsentwicklungen verstehen und er-klären zu können, ist somit der Grad ihrer Vergesellschaftung zuberücksichtigen.

Für die DDR meint das, neben dem Grad ihrer Politisierung auchdas Maß der von den Wissenschaftlern wahrgenommenen gesell-schaftlichen Verantwortung offenzulegen. Denn – so wird hier ver-mutet – ihre Grenzen fanden die totalitären Zugriffsversuche der

Der vorliegende Beitrag unddie nachfolgenden drei Arti-kel wurden auf einer inter-disziplinären Arbeitstagungzu aktuellen Problemen undAufgaben der zeitgeschicht-lichen DDR-Forschung alsHistorische Sozialwissen-schaft am 14./15. Juni 1996in Leipzig vorgetragen. Da-mit wurde eine lose Veran-staltungsreihe fortgesetzt,die ihren Ausgangspunkt imNovember 1995 am Werbel-linsee genommen hatte.Diese Aktivitäten wurdenvom Stifterverband für dieDeutsche Wissenschaft,Essen unterstützt. Zur Ta-gung am Werbellinsee vgl.Manfred Jäger: DDR-For-schung als historische Sozi-alforschung, in: DeutschlandArchiv, H. 3/1996, S. 460ff.

BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft23

Gert-Rüdiger Stephan –Jg. 1961, Historiker,Studium an der UniversitätLeipzig, 1988-1990 Aspiran-tur an der Akademie fürGesellschaftswissenschaf-ten, 1991-1994 am Institutfür zeitgeschichtliche Ju-gendforschung, z.Z. Stipen-diat des Stifterverbandes fürdie deutsche Wissenschaft;Buch- und Zeitschriften-publikationen zur Geschich-te der DDR, der FDJ sowieder deutsch-deutschenBeziehungen.

Politik dort, wo im wissenschaftlichen Selbstverständnis derAkteure die gesellschaftliche Verantwortung mit den dogmatischenpolitischen Erwartungen in Widerspruch geriet und dieser themati-siert wurde.

Das strukturelle und funktionale Eingebundensein der Wissen-schaften in die gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge unddie daraus abgeleitete (normative) Rede von ihrer genuinen Verge-sellschaftung macht es notwendig, die soziale Verfassung dieserGesellschaft zu ermitteln. Wenn es die gesellschaftliche Funktionder Wissenschaften ist, neues Wissen – Problemlösungswissen – zuproduzieren, dann stellt sich die Frage nach der Wissensbedürftig-keit der Gesellschaft. Erst vor dem Hintergrund einer solchen wis-senssoziologischen Zustandsbeschreibung läßt sich die allgemeineFunktionsbeschreibung – Wissensproduzent – weiter präzisieren.

Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen RevolutionAuf die seit Beginn der fünfziger Jahre in den westlichen Demo-kratien geführten gesellschaftstheoretischen Diskussionen zu denHerausforderungen der Industrialisierung, Hochindustrialisierungund schließlich ihrer Technologisierung (erste, zweite und dritte in-dustrielle Revolution; »Postmoderne«) reagierten die Theoretikerin den realsozialistischen Gesellschaften mit dem Konzept der»wissenschaftlich-technischen Revolution« (WTR).4 Die Möglich-keiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« – so wurdevorgegeben – seien mit den »Vorzügen des Sozialismus« möglichstoptimal zu verknüpfen. Es wäre jedoch zu wenig differenziert (kru-der Totalitarismus), davon auszugehen, diese dogmatischen Vorga-ben seien jeweils expressis verbis und mit totalitärer Gründlichkeitvon der Politik an die Wissenschaften herangetragen worden.Dabei würde die spezifische politische Sozialisation der DDR-Wissenschaftler außer acht gelassen. Was Günter Benser inzwi-schen für die Geschichtswissenschaften konstatierte, darf wohlhypothetisch – verallgemeinert werden: »Es war dies ein theoreti-sches Koordinationssystem der Geschichtswissenschaft, das diemeisten Historiker so verinnerlicht hatten, daß es ihnen nicht vonaußen her abverlangt werden mußte.«5

Konstant zu halten war in den WTR-Diskussionen die von derSED-Politbürokratie verbindlich vorgegebene »marxistisch-lenini-stische Sozialismustheorie«, die gegebenenfalls höchstens »weiter-entwickelt« werden sollte (horizontale Theorieproduktion). Dieseit den fünfziger Jahren immer wieder von Gesellschaftswissen-schaftlern angeregten »Widerspruchs«Diskussionen verdeutlichen,daß eine paradigmatische Weiterentwicklung (vertikale Theorie-produktion; auch in den »realsozialistischen Gesellschaften« gäbees demnach im Gefolge der WTR »antagonistische Wider-sprüche«) ex cathedra verhindert wurde – zumindest jede öffentli-che Diskussion zu dieser Problematik.

Bis zum Ende der DDR galt – unbeschadet von interessantenhorizontalen Ausdifferenzierungen – das, was Hartmut Zimmer-mann schon Anfang der achtziger Jahre festgestellt hatte, nämlichdie mit dem Wirksamwerden der WTR aufkommenden gesell-schaftstheoretischen Grundsatzfragen: »Gibt es einen [antagonisti-

1 Vgl. Clemens Burrichter,Gerd-Rüdiger Stephan: DieDDR als Untersuchungsge-genstand einer HistorischenSozialforschung. Ergebnis-se, Defizite und Perspekti-ven, in: Ebenda, S. 444ff.

2 Um einigen defensivenMißverständnissen zu be-gegnen, sei darauf verwie-sen, daß die Anmahnung ei-ner Historischen Sozialfor-schung innerhalb der zeitge-schichtlichen DDR-Forschung nicht meint, dieEreignisgeschichte und an-dere historiographische Me-thodiken seien überflüssig –sie sind durchaus notwen-dig, aber nicht hinreichend.

3 Letztes Beispiel dieserwissenschaftstheoretischenGrundsatzdiskussion ist das»Plädoyer für bessere Rah-menbedingungen der For-schung in Deutschland« derDeutschen Forschungsge-meinschaft (Weinheim u. a.1996), in dem eine eigenwil-lige zweistufige Heterono-mie entwickelt und gefordertwird: Autonomie für die For-schung, die vom Staat je-doch Schutz erwartet (He-teronomie), wenn gesell-schaftliche Forderungen lä-stig werden.

4 Vgl. u. a. Hartmut Zim-mermann: Wissenschaftlich-technische Revolution in derDDR. Studien zur Entwick-lungs- und Problemge-schichte des gesellschaftli-chen Konzepts der SED seitMitte der fünfziger Jahre.Dissertation, Berlin 1981(Manuskript).

5 Günter Benser: Zusam-menschluß von KPD undSPD 1945. Erklärungsversu-che jenseits von Jubel undVerdammnis (hefte zur ddr-geschichte 27), Berlin 1995,S. 19.

24BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft

schen – d. A.] Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklungund Produktionsverhältnissen trotz geänderter Eigentumsordnung,liegt das eigentlich gesellschaftsverändernde Element in den Pro-duktivkräften? Sind Veränderungen in den Produktionsverhältnis-sen spontanen Zwängen der WTR geschuldet und letztlich nichtdem planenden, bewußten Eingriff der Partei? Auf diese Fragen hates bis heute keine eindeutige Antwort gegeben.«6

Innerhalb der modernisierungs-theoretischen Offerten – und wirbeziehen uns hier auf die verschiedenen Varianten einer »reflexivenModernisierung« (Ulrich Beck, Helga Nowotny u.a.) – werdendiese Fragen als Indikatoren für das Vorhandensein von Orientie-rungsdefiziten interpretiert. Diese Orientierungsdefizite sind je-doch nicht durch politische Willens- und Machtakte aufzulösen,sondern vor allem durch die »radikale« Reflexion und Diskussionneuer normativer Handlungsorientierungen. Gemeint ist damit eindiskursiver Paradigmawechsel auf der gesellschaftstheoretischenEbene. Solche Diagnosen zeigen damit eine Orientierungskrise derWTR-Gesellschaften an, übrigens schon in den achtziger Jahren alseine analoge Herausforderung für die antagonistischen Gesell-schaften in Ost und West.

Typen des theoretischen DenkensWir konstatieren vor dem Hintergrund dieser Gesellschaftsanaly-sen einen Wissensbedarf an Orientierungswissen und schlußfol-gern daraus, daß eine im oben aufgezeigten Sinne vergesellschaf-tete (Gesellschafts-)Wissenschaft sich diesen Herausforderungenzu stellen hat. Inwieweit sie diese Aufgabe erkannt und ange-nommen hat, läßt sich schlüssig über die Theorieproduktion und-diskussion analysieren. Auf die Gesellschaftswissenschaften derDDR gewendet bedeutet dies allerdings, über das theoretischeDenken unter den Bedingungen einer totalitär verfaßten Gesell-schaft nachzudenken.

Gesellschaftliches Orientierungswissen ist von den gelten-den und akzeptierten Normen und Werten her operationalisiertesWissen um die individuellen und kollektiven Handlungsziele.Orientierungswissen für das wissenschaftliche Handeln ist die denWissenschaftler in seinem Erkenntnisinteresse leitende Theorie,unabhängig von ihrer Konsistenz. Auch das von den Gesellschafts-wissenschaftlern in den öffentlichen, außerwissenschaftlichenNormen- und Wertediskurs eingebrachte Orientierungswissen istzunächst theoretischer Natur – was nicht selten zu Verständigungs-schwierigkeiten führt.

Seit Thomas S. Kuhns Arbeiten zur »Struktur wissenschaftlicherRevolutionen« wissen wir, daß der Umgang mit Theorien (Para-digmata) sehr unterschiedlich sein kann. Selbst die Feststellungvon Antinomien kann die Anhänger einer Theorie nicht schonzum Paradigmawechsel veranlassen. Das theoretische Denken istvergleichsweise konservativ. Selbst progressive Querdenker sind inaller Regel auf der Theorieebene auch gegenüber Widersprüchenbeharrlich. Theorien sind aus sich heraus nicht lernfähig in demSinne, daß sie sich selbst grundsätzlich in Frage stellen. Und dochzeigt die Wissenschafts- und Theoriegeschichte, daß aufgrund von

6 Hartmut Zimmermann(vgl. Anm. 5), S. 201.

BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft25

Erfahrung und Empirie das theoretische Denken aus seinen an sichkonservativen Bahnen geworfen wird. Die Schlüsselfrage ist, obtheoretisches Denken aufgrund empirisch belegter theoretischerAntinomien sein kognitives Beharrungsvermögen überwindenkann. Diese Frage ist auch an die Theoriediskussionen in denGesellschaftswissenschaften der DDR zu stellen.

Dabei wollen wir drei (Ideal-) Typen theoretischen Denkensunterscheiden, Typen, die u. E. auch in den bürgerlichen Wissen-schaften anzutreffen sind – freilich unter anderen gesellschaftli-chen und politischen Rahmenbedingungen (Pluralismus).

Weiterhin gehen wir davon aus, daß Denkstrukturen neben derindividuellen mentalen Disposition im Verlauf der beruflichen –hier: wissenschaftlichen – Sozialisation vom gesellschaftlichenund politischen Umfeld geprägt werden. Ohne die systematischeAbleitung der hier vorgeschlagenen Denktypen im einzelnenaufzuzeigen, sei lediglich darauf verwiesen, daß wir für die Analy-se der DDR–Wissenschaften folgendes vorschlagen:

Für die Konstituierungsphase (bis Ende der fünfziger Jahre)zeichnet sich – bestätigt durch bisherige Archivstudien – ein Denk-typus ab, den wir als antagonistische Theoriereproduktion bezeich-nen. Es dominiert die äußerst polemische Auseinandersetzung mitden »bürgerlichen« Wissenschaften ohne einen eigenen theoreti-schen Beitrag zur Weiterentwicklung der marxistischen Wissen-schaftstheorie.

In der Konsolidierungsphase (bis Anfang der siebziger Jahre)bietet sich folgendes Bild: Seit Anfang der sechziger Jahre bildetsich in den DDR-Wissenschaften ein neues, anderes Selbst-und Rollenverständnis heraus, das sich zunehmend deutlichervom traditionellen, »bürgerlichen« Wissenschaftsverständnisabhebt und in dem »Parteilichkeit« durchaus nicht als rigoroseUnterordnung unter eine totalitär verfaßte Politik verstanden wird.Wir registrieren Ansätze zu einem Wissenschaftsethos mit hetero-nomem Normensegment. Man weiß sich gegenüber gesellschaftli-chen Problemen verantwortlich – z. T. auch gegen die realitätsfer-ne Problemwahrnehmung der Politik. Wir bezeichnen diesen Typusals komplementäre Theorieproduktion; gemeint ist damit ein Pro-blemlösungsdenken, das sich stärker an den DDR-internen gesell-schaftlichen Herausforderungen ausrichtet. Es kommen Diskussio-nen auf, in denen die Ursachen der gravierenden Probleme in derDDR-Gesellschaft nicht allein als »imperialistischer« Import abge-hakt werden. Innerhalb dieser Theoriediskussion, die sich fastdurchgängig als marxistische versteht, werden sehr unterschiedli-che Theorieofferten herausgebildet.

In der Phase der Orientierungskrise (etwa ab Mitte der siebzigerJahre) zeigen die Theoriediskussionen eine neue Variante. Es wer-den alternative Theorieofferten gedacht und vorgestellt. In derRegel handelt es sich um Partialtheorien, die freilich auf der Basisentsprechender Analysen ein oder mehrere normative Essentialsder offiziösen SED-Theorie in Frage stellen. Wir bezeichnen diesenTypus als alternative Theorieproduktion.

Natürlich lassen sich die so ermittelten Denktypen nicht eindeu-tig der jeweiligen Phase zuordnen. Die Grenzen verlaufen fließend.

26BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft

So lassen sich auch Denkstrukturen in der Schlußphase der DDRaufzeigen, die an der antagonistischen Theoriereproduktion fest-halten. Ebenso ist in der Phase der Orientierungskrise das komple-mentäre Theoriedenken verbreitet.

Die Gesamtuntersuchung zur DDR-Wissenschaftsentwicklungsoll sich im Kern auf ausgewählte Bereiche der zentralen wissen-schaftlichen Einrichtungen konzentrieren. Als Untersuchungsfel-der sind u. a. vorgesehen:

Erstens: Für den Bereich der Gesellschaftswissenschaften solldie Entwicklung eines Instituts der Akademie der Wissenschaftender DDR (AdW) von seiner Gründung bis 1989 untersucht werden(z. B. Institut für Wirtschaftsgeschichte).

Zweitens: Für den Bereich der Naturwissenschaften ist vorgese-hen, das Zentralinstitut der AdW für Genetik und Kulturplanzen-forschung in Gatersleben über den Gesamtzeitraum zu untersu-chen.

Drittens: Des weiteren soll eine Analyse der wissenschaftstheo-retischen Diskussionen in der DDR vorgenommen werden, wie sievornehmlich am AdW-Institut für Wissenschaftstheorie und -orga-nisation bearbeitet wurde.

Viertens: Für den Zeitraum der achtziger Jahre ist eine Analysedes Verhältnisses von Gesellschaftswissenschaften und SED-Poli-tik auf der Basis von Fallstudien, welche die zentralen Schwer-punkte der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung in der DDRbetreffen, geplant.

Der hier vorgestellte Forschungsansatz soll im weiteren anhanddes Konzeptes zur Bearbeitung des letztgenannten Themas näherdargestellt werden.

Zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der DDR im Kon-text von Reformüberlegungen für das realsozialistische SystemIn einer Analyse des Verhältnisses von DDR-Gesellschaftswissen-schaften und SED-Politik in den achtziger Jahren sollen dietheoretischen Ansätze zur »reflexiven Modernisierung« auf dieDDR-Gesellschaft – trotz deren partieller technologischer Rück-ständigkeit – angewandt werden. Dabei ist zu klären, inwieweitin den Gesellschaftswissenschaften der DDR die Orientierungs-krise reflektiert und die Notwendigkeit von neuem Orientierungs-wissen erkannt wurde. Weiterhin gilt es nachzufragen, welcheReaktionen es seitens der Politik auf solche Ansätze gab.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich der gesellschaftstheoreti-sche Diskurs im Kontext der marxistisch-leninistischen Theoriebewegte. Unser Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf die Krea-tion und Diskussion von notwendigem Wissen für die Gesellschaftdurch die DDR-Gesellschaftswissenschaften. Die Untersuchungwird versuchen herauszufinden, inwieweit theoretische »Grenz-überschreitungen« diskutiert wurden (u.a. hinsichtlich der WTR).

Unsere forschungsleitende Hypothese ist, daß in den theoretischorientierten Gesellschaftswissenschaften in der DDR weiterführen-de, »revisionistische« Vorstellungen entwickelt wurden, die dasPolitbüro und die entsprechenden Abteilungen des ZK entwedernicht zur Kenntnis nahmen oder negierten. D.h. die Realitätsferne

BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft27

und Politikunfähigkeit der SED-Führungskader kontrastierte mitvereinzelten wissenschaftsinternen Ansätzen zu einer paradigmati-schen Weiterentwicklung in den Gesellschaftswissenschaften.

Das systemspezifische, interdependente Verhältnis zwischenWissenschaft und Politik in der realsozialistischen DDR-Gesell-schaft soll für die Zeit vom Ende der siebziger bis zum Ende derachtziger Jahre bearbeitet werden. Es wird davon ausgegangen,daß der totalitäre Charakter des politischen Systems seine Grenzenin der relativen Selbständigkeit (Autonomie) des wissenschaftli-chen Handelns fand. Die Untersuchung beabsichtigt u. a., das span-nungsreiche und sich wandelnde Verhältnis zwischen politischerTheorie (totalitärer Anspruch der Partei) und Realität (faktischesForschungshandeln der Gesellschaftswissenschaftler) über einenZeitraum von über zehn Jahren zu analysieren.

Ausdrücklich versteht sich die Untersuchung im Rahmen einerzeitgeschichtlichen DDR-Forschung als Historischer Sozialfor-schung. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen Entwicklungsprozes-se im Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in derDDR durch theoriegeleitete Analyse erklären helfen.

Wissenschaft als ProblemlösungsinstanzNeben anderen gesellschaftlichen Wissensproduzenten, wie Kunst,Kultur, Religion, Alltag und Politik, ist die systematische Wissens-produktion von Wissenschaft immer auch im Kontext der jeweili-gen gesellschaftlichen Verhältnisse zu sehen. Das meint, daß aucheine totalitär verfaßte Politik nicht in der Lage ist, den wissen-schaftlichen Erkenntnisprozeß an den gesellschaftlichen undden spezifisch wissenschaftlichen Wissensbedürfnissen (Problem-feldern) vorbei nur auf ihre dogmatischen Problemsichten hinzu verengen, allemal wenn die politische Problemwahrnehmungzunehmend unrealistischer wird. Das schließt die Frage ein, welcheKonflikte mit der Politik durch eine realistische Sichtweise derWissenschaft auftraten.

Unter Bezug auf die oben dargestellte WTR-Diskussion sollenunter Rückgriff auf handlungs- und problemtheoretische Ansätzeund deren Operationalisierung auf die Situation in der DDRfolgende Wissenstypen unterschieden werden:

Orientierungswissen meint die normativen Bewußtseinsinhalte,die den Handelnden wissen lassen, was er erreichen will;

Strategiewissen besagt, auf welchem Wege – wie – er das an-gestrebte Ziel erreicht; und mit

Ressourcenwissen ist gemeint, welche Mittel notwendig sind–womit –, um das Ziel über den Strategieweg zu erreichen.

Die Wissenschaftspolitik in der DDR galt als ein »organischerBestandteil« der SED-Gesellschaftspolitik. Die Parteiführungerhob den Anspruch, selbst die oberste wissenschaftliche Instanz ingrundlegenden theoretischen Fragen zu sein, durch Parteibeschlüs-se den Marxismus-Leninismus als allein gültige Theorie zu inter-pretieren und über die »Reinheit der Lehre« zu wachen. Politikwurde so mit Wissenschaft gleichgesetzt. Von der Kopplung des»Wahrheitsmonopols« mit dem Machtmonopol leitete die SED ihreLeitungsstrategie gegenüber den Gesellschaftswissenschaften her.7

7 Vgl. Gregor Schirmer:Sisyphos im Gipfelsturm.Wissenschafts- und Hoch-schulpolitik der SED, in:Hans Modrow (Hrsg.): DasGroße Haus. Insider berich-

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Von den Gesellschaftswissenschaften in der DDR wurde allen-falls strategisches und Ressourcenwissen erwartet, das für daspolitische System technokratisch zur Effektivierung des ordnungs-politischen status quo genutzt werden konnte.

Der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß kann durch totalitäreZugriffsversuche der Politik allerdings nicht auf die Produktionvon Strategie- und Ressourcenwissen verkürzt werden, insbeson-dere dann nicht, wenn die zu untersuchenden gesellschaftlichenProblemstellungen grundsätzlich theorierelevant sind und auf die-ser normativen Ebene Defizite oder Antinomien aufzeigen.

Wie kompliziert die Gratwanderung der Politik hinsichtlichder Gesellschaftswissenschaften war, demonstriert z. B., daß vonHonecker im Bericht des ZK der SED an den X. Parteitag 1981Rahmenbedingungen und Anforderungen an die DDR-Gesell-schaftswissenschaftler formuliert wurden, in denen trotz ortho-doxer Marxismus-Rezeption gewisse Denkspielräume für dasTheoretisieren angezeigt waren.8

Wir gehen – wie bereits ausführlicher dargestellt – von der An-nahme aus, daß sich seit den sechziger Jahren und in den siebzigerJahren in der DDR ein verändertes Wissenschaftsverständnisentwickelt hat. Dieses bedeutete eben nicht, daß sich die »Partei-lichkeit« des DDR-Wissenschaftlers als alleinige Unterordnungunter das Diktat einer vom Anspruch totalitären Politik verstand.Vielmehr entwickelte sich ein neues, noch genauer zu charakteri-sierendes Wissenschaftlerethos.

Die Untersuchung soll das spannungsreiche Verhältnis zwischenPolitik und Gesellschaftswissenschaften anhand von Fallstudiendiachron analysieren.9 Dabei steht die Frage im Vordergrund, wieeinerseits die Politik und andererseits die Gesellschaftswissen-schaften die Probleme der DDR-Gesellschaft erkannt, artikuliert,diskutiert, verdrängt, ignoriert bzw. analysiert haben.

Methodologische MatrixVon unserem handlungstheoretischen Untersuchungsansatz herwird die Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft jeweilsdurch das Selbst- und Fremdverständnis voneinander geprägt. Dasmeint konkret: Sowohl Politik wie Wissenschaft agieren mit einemspezifischen Selbstverständnis. Dieses Selbstverständnis wird inkonkreten Handlungssituationen durch das Fremdverständnis vomGegenüber modifiziert und präzisiert.

ten aus dem ZK der SED,Berlin 1994, S.124 f.8 Vgl. den Bericht in: Pro-tokoll der Verhandlungendes X. Parteitages der So-zialistischen EinheitsparteiDeutschlands im Palast derRepublik in Berlin, 11. bis16. April 1981. Bd. 1, Berlin1981, S. 28ff. Darin hieß esu. a.: »Wir fordern unsereGesellschaftswissenschaft-ler auf, durch neue wissen-schaftliche Erkenntnisse zurLösung der in den achtzigerJahren heranreifenden Pro-bleme der Gestaltung derentwickelten sozialistischenGesellschaft beizutragen.Dabei wird eine wesentlicheAufgabe sein, den Sozialis-mus als realen Humanismusunserer Epoche überzeu-gend theoretisch zu begrün-den, seine Gesetzmäßigkei-ten und Triebkräfte, seineVorzüge und Werte tiefgrün-dig zu untersuchen undnoch überzeugender darzu-legen.« (Ebenda, S. 99.)

9 Eine Fallstudie hat die»zentralen Forschungspläneder marxistisch-leninisti-schen Gesellschaftswissen-schaften« (1981-1985 sowie1986-1990) zum Gegen-stand, eine weitere widmetsich den Studien, die durchdie zentralen DDR-Wissen-schaftsinstitutionen in Vor-bereitung der SED-Partei-tage von 1986 und 1990zu vorgegebenen gesell-schaftspolitischen Proble-men ausgearbeitet wurden.

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Kommunikations-raum

Selbstverständnisder Wissenschaft

Politikverständnisder Wissenschaft(Fremdverständnis)

Selbstverständnisder Politik

Wissenschaftsver-ständnis der Politik(Fremdverständnis)

Die Wissenschaft traf dabei mit ihrem Selbstverständnis vonWissenschaft und einem Fremdverständnis von Politik auf diePolitik der SED-Führung. Das Politbüro besaß ein Selbstverständ-nis von Politik und begegnete den Wissenschaften mit einemFremdverständnis von Wissenschaften. Entscheidend wirkte sichnun aus, in welcher Weise Fremdverständnis und Selbstverständnisjeweils in Übereinstimmung zu bringen waren, und außerdem, wiesich die Akteure mit ihren jeweiligen Auffassungen begegnetenund austauschten.

Die Veränderungen, die sich kognitiv und zeitlich innerhalb derGesellschaftswissenschaften vollzogen, stehen für uns im Vorder-grund. U.a. soll eine Einteilung verschiedener Typen von Sozial-wissenschaftlern in der DDR entwickelt werden. Entscheidungs-kriterium soll sein, wie der Wissenschaftler sein Verständnis vonWissenschaft und sein Verhältnis zur Politik definiert. Die Skalareicht vom Wissenschaftler als »Parteiarbeiter« bis zum theorie-orientierten »Querdenker«.

Außerdem gilt es herauszufinden, welcher Wandel sich in denpolitischen und wissenschaftlichen Selbst- und Fremdverständnis-sen vollzogen hat. Eine statische Analyse ist nicht möglich.

Das Verhältnis von SED-Politik und den unmittelbar oder mittel-bar von der Partei gesteuerten Gesellschaftswissenschaften vollzogsich auf drei Ebenen,

der Makroebene (gesellschaftliche Realität in der DDR unter denBedingungen eines gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses,wie z. B. der WTR),

der Mesoebene (Reaktion auf diese Herausforderungen in Politikund Wissenschaft),

der Mikroebene (konkrete Forschungen bzw. Forschungsergeb-nisse zu den erkannten Problemen).

Wenn man die »gesamtgesellschaftliche« Situation in der DDRin den achtziger Jahren zugrunde legt, kann von einer Orientie-rungskrise des realsozialistischen Systems im Osten Deutschlandsausgegangen werden. Dieser fundamentalen Erschütterung mußtensich Politik und Gesellschaftswissenschaften stellen. Wir habendarauf hingewiesen, daß die postindustriell bzw. postmodern ent-wickelten Industriegesellschaften, zu denen die DDR zu rechnenist, an der Schwelle zu den achtziger Jahren Orientierungswissenbenötigen, um den rasanten Veränderungen auf den entscheidendengesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Ebenen undStrukturen entsprechen zu können.

Zunächst wäre also zu analysieren, ob im Bereich von Politikund Gesellschaftswissenschaften den handelnden Personen bzw.Personengruppen die von uns diagnostizierte Orientierungskrisebewußt geworden ist. An die vorliegenden Quellen muß dement-sprechend die Frage gestellt werden, inwieweit sich Zweifel an denGrundprinzipien der realsozialistischen Machtausübung (»Diktaturdes Proletariats«, führende Rolle der Partei, staatliches Eigentum,Prinzipien der Planwirtschaft, Ideologie des Marxismus-Leninis-mus, Prinzipien des demokratischen Zentralismus, »proletari-scher/sozialistischer Internationalismus«) geäußert bzw. inwieweitsolche Zweifel artikuliert wurden.

30BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft

Die Problemstellung schließt ein, die Rolle der Gesellschafts-wissenschaften im realsozialistischen System einzuschätzen. Fürdie achtziger Jahre soll analysiert werden, ob dieser Bereich in dieLage versetzt wurde, ob die Gesellschaftswissenschaftler die Not-wendigkeit der Produktion von Orientierungswissen erkannten. Istdies seitens der politischen Führung angefordert worden? Wie wur-de die Gesellschaftswissenschaft also den objektiven Anforderun-gen und darüber hinaus ihren eigenen subjektiven Ansprüchen ge-recht?

Aus dem oben skizzierten Ansatz ergibt sich weiterhin eine not-wendige Konzentration auf das theoretische Denken und auf dieUnterscheidung der oben skizzierten verschiedenen Denktypen(antagonistische Theorieproduzenten, komplementäre Theoriepro-duzenten, alternative Theorieproduzenten).

Gesellschaftliche Anforderungen der achtziger JahreBereits im Zusammenhang mit der Vorbereitung des X. SED-Parteitages 1981 soll untersucht werden, wie sich die SED-Führung beraten ließ? Dabei stellt sich die Frage nach der Rolle derWissenschaft, insbesondere der Gesellschaftswissenschaften, imrealsozialistischen System. Welche Funktion nahm die Wissen-schaft in einer Gesellschaft wie der DDR wahr?

Auf einer Konferenz 1981 in Berlin verwies der Präsident derAkademie der Wissenschaften der DDR, Werner Scheler, auf den»Kern des Problems«: »Welche gesellschaftlichen Bedingungenerfordert bzw. erzwingt die wissenschaftliche Revolution, verstan-den als Prozeß qualitativer Wandlungen im System der Produktiv-kräfte? Wie also müssen wir die gesellschaftliche Ordnung – imweitesten Sinne gemeint – gestalten, um die Existenzfragen derMenschheit mit Hilfe von Wissenschaft und Technik zu lösen?«10

Dabei wurde von durchaus realistischen Einschätzungen zurSituation am Ende der siebziger Jahre ausgegangen. Z. B. konntedie Weltwirtschaftskrise mit ihren Auswirkungen recht präziseerfaßt werden. Gewissermaßen in Erwiderung auf die postindustri-elle Entwicklung im Westen sollten sich die Anstrengungen dersozialistischen Staaten auf die Entwicklung der Hochtechnologien(Mikroelektronik u.a.) konzentrieren. Eine Analyse der »Bedürf-nisgestaltung« war eine wichtige Aufgabe der Gesellschaftswis-senschaften. Vor allem schälte sich in der Diskussion die Möglich-keit der sogenannten intensiv erweiterten Reproduktion als Aus-weg aus dem Dilemma der versiegenden extensiven Wachstums-quellen heraus. Hier gab es offenbar eine gewisse Korrespondenzzwischen wissenschaftlichem Forschungsinteresse und dem vonder SED postulierten Erkenntnisauftrag.

Die eine Seite war also das Wissen um die Veränderung derGrundlagen und Umstände, auch das Wissen um notwendige struk-turelle Veränderungen, die andere Seite war die Reaktion der Poli-tik. Da blieb eine beabsichtigte Verbindung der sogenannten Vor-züge des Sozialismus mit den »Errungenschaften« der wissen-schaftlich-technischen Revolution im Grunde ein Schlagwort,weil diese Formulierung in der praktischen Politik nicht untersetztwurde. Hier offenbart sich ein technokratisches Wissenschafts-

10 Vgl. P. N. Fedoseev,W. Kalweit, G. Kröber(Hrsg.): Sozialismus undwissenschaftlich-technischeRevolution. Teil 1,Berlin 1983, S. 6.

BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft31

verständnis. Die ideologische Vermittlung konzentrierte sich aufzehn Punkte einer ökonomischen Strategie, wie sie auf dem X. Par-teitag definiert worden waren.11 Für dieses Vorgehen gab es sicher-lich mehrere Gründe. Vor allem: Die politische Führung wollte(und konnte) die Prinzipien des sowjetischen Grundmodells desSozialismus, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht in Frage stellen,auch nicht partiell.

Allerdings war in der DDR bereits Ende der siebziger Jahre einesehr komplizierte gesellschaftliche Situation entstanden. Es ist zukonstatieren, daß für die Führung der SED beträchtliche Orientie-rungsprobleme auftraten, d. h., daß sie entsprechend der realengesamtgesellschaftlichen Situation, unter dem Druck von objekti-ven Erfordernissen vor allem im Rahmen des Systemwettstreits, indie Verlegenheit geraten war, nicht zu wissen, was sie genau woll-te (Werte und Normen), wie sie ihre Ziele erreichen und mit wel-chen Mitteln sie das gesetzte Ziel über eine entsprechende Strate-gie anstreben konnte.12 Insoweit ist die damalige Lage als einegesellschaftliche Orientierungskrise mit grundsätzlichen Strategie-problemen und Ressourcendefiziten zu bezeichnen.

Die laufenden Forschungen zur Entwicklung der DDR-Wissen-schaft und ihres Verhältnisses zur Politik werden näheren Auf-schluß über die hier dargelegten Problemfelder geben.

11 Vgl. Protokoll der Ver-handlungen des X. Partei-tages der SozialistischenEinheitspartei Deutschlandsim Palast der Republik inBerlin. 11. bis 16. April 1981.Bd. 1, Berlin 1981, S. 64ff.

12 Vgl. Clemens Burrich-ter: Zur Kontingenz ideologi-scher Reformation im wis-senschaftlichen Zeitalter.Die Funktion der Wissen-schaften bei der Reparaturdes beschädigten marxi-stisch-leninistischen Orien-tierungssystems in der DDR,in: Ideologie und gesell-schaftliche Entwicklung inder DDR. 18. Tagung zumStand der DDR-Forschungin der BundesrepublikDeutschland, 28. bis 31. Mai1985, Köln 1985, S. 51.

32BURRICHTER, STEPHAN Wissenschaft

Ein Schlüsselbegriff des SystemwettstreitsSolange in der DDR noch ernsthaft damit gerechnet und daraufhingearbeitet wurde, in historisch absehbarer Frist im wirtschaftli-chen Wettstreit der Systeme die Oberhand zu gewinnen, gründetensich diese Hoffnungen auf einen epochalen Wandel in der techno-logischen Basis des gesellschaftlichen Lebens, über den unter derBezeichnung »wissenschaftlich-technische Revolution« (WTR)reflektiert wurde. Auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967proklamierte Walter Ulbricht die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution als grundlegende Aufgabe der DDR1. Auchnach dem Übergang von der Ära Ulbricht zur Ära Honecker bliebdieser Terminus im Zentrum der Parteisprache. Der VIII. Parteitagder SED 1971 verkündete in seiner Entschließung die Notwendig-keit, »die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischenRevolution organisch mit den Vorzügen des sozialistischen Wirt-schaftssystems zu vereinigen und in größerem Umfang als bisherdem Sozialismus eigene Formen des Zusammenschlusses der Wis-senschaft mit der Produktion zu entwickeln«2. Diese Aufforderung,zum Schema erstarrt, zog sich durch die Dokumente der SED biszum Ende der DDR. Auch im Bericht des Zentralkomitees an denletzten – den elften – Parteitag der SED 1986 erklärte ErichHonecker wiederum, es käme darauf an, »die Vorzüge des Sozia-lismus noch wirksamer mit den Errungenschaften der wissen-schaftlich-technischen Revolution zu verbinden...«3. Kurt Hagerführte den Begriff der WTR mit großem Nachdruck in die Partei-propaganda ein. Er referierte im Juni 1972 vor »leitenden Kadern«zum Problemkreis »Sozialismus und wissenschaftlich-technischeRevolution«4 und kam auch in den Folgejahren immer wieder aufdiesen Topos zurück.

Die Situationsdiagnose und strategische Intention, die dieseDenkfigur zum Ausdruck bringen sollte, war die folgende. Esbesteht eine weltweite Herausforderung zu sozialem Wandel, her-vorgerufen durch die technischen Konsequenzen des Übergangsvon der klassischen zur modernen Naturwissenschaft. Auf dieseHerausforderung – das war die zentrale Behauptung – können sichsozialistische Gesellschaften besser einstellen als kapitalistische,wenn sie ihre spezifischen soziostrukturellen Potenzen (»Vorzügedes Sozialismus«) dafür aktiv mobilisieren. Tun sie dies, dann sindsie imstande, die unleugbare Unterlegenheit gegenüber dem Pro-duktions- und Produktivitätsniveau der kapitalistischen Länder

Hubert Laitko – Jg. 1935,Wissenschaftshistoriker,Berlin.

1 W. Ulbricht: Die gesell-schaftliche Entwicklung inder DDR bis zur Vollendungdes Sozialismus, Berlin1967, S. 99.

2 Protokoll der Verhand-lungen des VIII. Parteitagesder Sozialistischen Einheits-partei Deutschlands. Bd. 2,Berlin 1971, S. 302.

3 Bericht des Zentralkomi-tees der Sozialistischen Ein-heitspartei Deutschlands anden XI. Parteitag der SED.Berichterstatter: GenosseErich Honecker, Berlin 1986,S. 49.

4 K. Hager: Sozialismusund wissenschaftlich-techni-sche Revolution. Auszugaus seinem Vortrag: Zutheoretischen Grundproble-men der Politik der Parteiund des Kampfes für die

LAITKO WTR in der DDR33

HUBERT LAITKO

Wissenschaftlich-technischeRevolution:Akzente des Konzepts inWissenschaft und Ideologie der DDR

durch einen intensiven Auf- und Überholprozeß in Überlegenheitzu verkehren.

Diese Strategie erschien durchaus rational. Es wäre kaum mög-lich gewesen, eine grundsätzlich andere zu konzipieren, wenn dieDDR nicht von vornherein aus dem Systemwettstreit aussteigenwollte – eine Option, die ihr angesichts ihrer Einbindung in densowjetisch dominierten Staatenblock realpolitisch gar nicht zuGebote stand. Der neuralgische Punkt dieses Strategieentwurfssteckte in der Bestimmung der ideologisch als »Vorzüge desSozialismus« bezeichneten Potenzen. Nur einmal in der Geschich-te der DDR gab es einen seriösen Versuch, einen Wirtschaftsme-chanismus zu entwerfen und praktisch zu erproben, der auf dieHervorbringung und Verwertung von Innovationen angelegt war:das Neue Ökonomische System der sechziger Jahre5. Wenn dieserVersuch hier seriös genannt wird, so ist damit nicht gemeint, daß erauch hinreichend war. Aber er war ein Anfang, der in einem krea-tiven Wechselspiel von praktischer Erfahrung, wirtschaftswissen-schaftlicher Theorie und praktischer Programmatik durchaus ent-wicklungsfähig gewesen wäre; weitergehende gesellschaftlicheVeränderungen hätten sich an ihn anschließen können. Es ist nichtohne weiteres zu sagen, welche Chancen dieser Entwicklungspfaderöffnet hätte, wenn ihm eine ungehinderte Entfaltung beschiedengewesen wäre; tatsächlich ist er mit dem Sturz Ulbrichts abgebro-chen worden6. Späterhin bezeichnete die ideologische Formel»Verbindung der Errungenschaften der WTR mit den Vorzügen desSozialismus« keine realistische Strategie mehr, obwohl sie auf diein der DDR praktizierte Wissenschafts- und Wirtschaftspolitikbis zum Schluß die gravierendsten Auswirkungen hatte, beispiels-weise in Gestalt des Mikroelektronikprogramms7.

Der duale Charakter des WTR-KonzeptsAus der Sicht des Endes könnte man versucht sein, das ganze Kon-zept der WTR als eine ideologische Schablone ohne kognitivenWert zu betrachten und zu verwerfen. Man befände sich dann imSchlepptau einer modischen, aber perspektivlosen Attitüde, diehistorische DDR-Kritik durch platte Negativität ersetzt. Es ist janicht zu bestreiten, daß nach der dem Zweiten Weltkrieg folgendenWiederaufbau- und Erholungsphase ein von Wissenschaft undTechnik herkommender fundamentaler Wandel der menschlichenLebensgrundlagen begann, dessen ganzes Ausmaß zwar auch heu-te noch nicht absehbar ist, dessen revolutionäre Qualität aber mitt-lerweile außer Frage steht. Autoren, die in der Vorstellungsweltbürgerlicher Demokratien dachten, hatten lange Zeit Skrupel, denRevolutionsbegriff auf rezente Vorgänge in ihren eigenen Gesell-schaften anzuwenden, während umgekehrt in marxistischen Tradi-tionen denkende Autoren prononciert nach Revolutionen suchten,die über den Kapitalismus hinausführen könnten. In den achtzigerund neunziger Jahren wurde – nicht zuletzt unter dem Eindruck derfortgesetzten Publikationen des Club of Rome – schon verbreitetzugestanden, daß sich die Menschheit in einem alle Seiten desLebens erfassenden revolutionären Umbruch befindet – ganzgleich, ob man etwa mit Rolf Kreibich von der High-Tech-

Einheit und Geschlossenheitder kommunistischen undArbeiterbewegung, gehaltenvor leitenden Kadern derSED am 20. Juni 1972 ander Parteihochschule »KarlMarx«, in: K. Hager:Wissenschaft und Wissen-schaftspolitik im Sozialis-mus. Vorträge 1972 bis1987.

5 J. Roesler: Das NeueÖkonomische System –Dekorations- oder Paradig-menwechsel? Forscher-und Diskussionskreis DDR-Geschichte: hefte zur ddr-geschichte, H. 3,Berlin 1993.

6 N. Podewin: »...derBitte des Genossen WalterUlbricht zu entsprechen«.Hintergründe und Modalitä-ten eines Führungswech-sels. Forscher- und Diskus-sionskreis DDR-Geschichte:hefte zur ddr-geschichte,H. 33, Berlin 1996.

7 E. Wittich: DDR-Mikro-elektronik – vom Hoff-nungsträger zum Beschleu-niger des Niedergangs,in: UTOPIE kreativ, H. 9,Mai 1991, S. 81-87.

34LAITKO WTR in der DDR

Revolution8 oder mit Alexander King und Bertrand Schneider vonder ersten globalen Revolution9 spricht. Nicht auf den Terminuskommt es an, sondern auf die Anerkennung des revolutionärenCharakters der Veränderungen. Aber die Proliferation der Termini– von »Postmoderne« bis »Informationsgesellschaft« – ist einSymptom dafür, daß es sich um einen ungeheuer vielschichtigenProzeß handeln muß, dessen kompakte und konsistente theoreti-sche Erfassung auch am Ende dieses Jahrhunderts noch nicht ge-lingt. Daher erscheint es vernünftig, sich die Frage zu stellen, obdas Konzept der WTR nicht Eigenständiges und Wichtiges zurAnnäherung an das Verständnis des epochalen Wandels beigetra-gen hat – jenes Wandels, der die »realsozialistischen« Ordnungenvon innen her aufgelöst hat, von dem wir aber auch nicht wissen,ob die gegenwärtig dominierenden Gesellschaftssysteme seineMeister oder vielleicht seine Gefangenen und Opfer sein werden.

Als eine brauchbare Arbeitshypothese zur Beschäftigung mit die-ser Begrifflichkeit betrachte ich die Annahme vom dualen Charak-ter des WTR-Konzepts. Als Moment des Selbstverständnisses undder politischen Herrschaftsdoktrin realsozialistischer Gesellschaf-ten hatte es unbestreitbar ideologische Züge, indem es als Grund-lage für die Zukunftsgewißheit dieser Gesellschaften in Anspruchgenommen und mit entsprechenden Hoffnungen und Erwartungenbefrachtet wurde. Zugleich hatte dieses Konzept aber auch einenbedeutenden kognitiven Gehalt: Es diagnostizierte – und zwarbereits sehr früh – wesentliche Momente eines einsetzenden epo-chalen Wandels und prognostizierte Tendenzen seines weiterenVerlaufs. Gerade wegen seiner kognitiven Stärke konnte das WTR-Konzept auch ideologisch wirksam sein. Zwischen der Wissen-schaftsauffassung, die hinter der offiziellen Wissenschaftspolitikder SED stand, und dem intuitiven Wissenschaftsverständnis derWissenschaftler in der DDR gab es gewiß viele Reibflächen. Dochvieles spricht für die Vermutung, daß das WTR-Konzept den Ortmaximaler Annäherung zwischen beiden bezeichnet – deshalb,weil es der Wissenschaft und damit auch den Wissenschaftlerneine exponierte gesellschaftliche Position zusprach, und deshalb,weil es verhieß, daß viele der Defizite und Beschränkungen, unterdenen der Wissenschaftsbetrieb aktuell zu leiden hatte, künftigüberwunden werden würden.

Bernal und die FolgenDer Terminus »wissenschaftlich-technische Revolution« (scienti-fic-technological revolution) ist, wie Helmut Steiner noch einmalbestätigt hat10, von John Desmond Bernal in seinem einflußreichenWerk »Science in History« geprägt worden, dessen von LudwigBoll geleistete kongeniale Übersetzung 1961 in der DDR publiziertwurde11. Daß diese Prägung aus Bernals Bemühen resultierte, vorseinen Augen ablaufende Entwicklungen auf den Begriff zu brin-gen, wird durch den Umstand belegt, daß der Terminus in der er-sten englischen Auflage des Werkes (London 1954) noch nicht vor-handen war und erst in einer Anmerkung auftauchte, die für diezweite Auflage (London 1956) hinzugefügt wurde. Im ursprüngli-chen Text heißt es, man könne »mit einigem Recht von einer zwei-

8 R. Kreibich: Die Wissen-schaftsgesellschaft. VonGalilei zur High-Tech-Revo-lution, Frankfurt a.M. 1986.

9 A. King, B. Schneider:Die erste globale Revolu-tion. Ein Bericht des Ratesdes Club of Rome,Frankfurt a.M. 1992.

10 H. Steiner: Als BernalsErben: Wissenschaft undGesellschaft, in: J.D. Ber-nal’s The Social Function ofScience. 1939-1989. Hrsg.von H. Steiner, Berlin 1989,S. 28.

11 J.D. Bernal: Die Wis-senschaft in der Geschichte,Berlin 1961.

LAITKO WTR in der DDR35

ten Revolution in der Wissenschaft im 20. Jahrhundert sprechen«12.Im weiteren wird dann erläuternd bemerkt: »Die technischen Ent-wicklungen des 20. Jahrhunderts deuten bereits darauf hin, daß wireine zweite oder vielleicht eine dritte große industrielle Revolutionerleben. Dieser Vergleich kann allerdings die Tatsache verschlei-ern, daß es sich dabei um eine Revolution neuer Art handelt, eineRevolution, in der geplante wissenschaftliche Forschung mehr undmehr an die Stelle individuellen, mechanischen Erfindungsgeistestritt. Während die große industrielle Revolution im wesentlichendie Erzeugung und die Umwandlung von Kraft betraf und denMenschen zumindest im Prinzip von schwerer körperlicher Arbeitbefreite, geht es bei der Revolution des 20. Jahrhunderts im we-sentlichen darum, die Handfertigkeit des Arbeiters durch Maschi-nen oder elektronengesteuerte Vorrichtungen zu ersetzen und denMenschen schließlich von der Last monotoner Arbeit im Büro undbei der Beaufsichtigung von Maschinen zu befreien«13. In der2. englischen Auflage gab Bernal seiner These von einer zweitenwissenschaftlichen Revolution eine Anmerkung bei, in der er sichgegen Kritiker wandte, die es für unmöglich hielten, von einerwissenschaftlichen Revolution im 20. Jahrhundert zu sprechen,da es etwas mit dem Kontinuitätsbruch zwischen Antike undRenaissance Vergleichbares hier nicht gegeben habe: »Dennochkönnte der Einwand, daß beide Revolutionen nicht vergleichbarseien, in anderer Beziehung zutreffen... Der neue revolutionäreCharakter des 20. Jahrhunderts kann nicht auf die Wissenschaftbeschränkt bleiben; er kommt noch stärker in der Tatsache zumAusdruck, daß erst in unserer Zeit die Wissenschaft Industrie undLandwirtschaft zu beherrschen beginnt. Die Revolution solltevielleicht richtiger die erste wissenschaftlich-technische Revolu-tion genannt werden«14.

Man muß dieser Wortprägung keine übertriebene Bedeutungbeimessen. Sie zeigt einfach, wie Bernal – der mit Begriffen wie»wissenschaftliche Revolution«, »technische Revolution« und»industrielle Revolution«, die sämtlich schon über eine längeretheoriegeschichtliche Tradition verfügten, ganz unbefangen ope-rierte – darum bemüht war, einem sich gerade erst andeutendenPhänomen von neuer Qualität mit einer Kombination vertrauterBegriffe näherzukommen. Vielleicht hat er den hier vorgeschla-genen Terminus nicht einmal für den passendsten gehalten. Aufdem von der Weltföderation der Wissenschaftler im September1962 – also sechs Jahre nach der zweiten englischen Auflage von»Science in History« – in Moskau veranstalteten InternationalenSymposium über Hochschulbildung, dessen Beiträge in der DDR1963 vom Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft indeutscher Übersetzung herausgegeben wurden, sprach er in seinemReferat »Wissenschaft und Technik in der Welt der Zukunft«von der zweiten wissenschaftlich-industriellen Revolution:»...was sich jetzt ereignet, wird voll und ganz als eine der größtenUmwälzungen im menschlichen Leben angesehen. Wir nennensie die zweite wissenschaftlich-industrielle Revolution, welchedie materielle und in hohem Grade die geistige Situation derMenschheit in einem nie gekannten Tempo verändert«15.

12 Ebenda, S. 487.

13 Ebenda, S. 493.

14 Ebenda, S. 903.

15 J.D. Bernal: Wissen-schaft und Technik in derWelt der Zukunft, in:Internationales Symposiumüber Hochschulbildung.Moskau im September1962. Hrsg. vom FDGB-ZVder Gewerkschaft Wissen-schaft, Berlin 1963, S. 53.

36LAITKO WTR in der DDR

Nichtsdestoweniger setzte sich in der DDR und in anderenstaatssozialistischen Ländern der Terminus »wissenschaftlich-technische Revolution« durch. Anfangs waren noch gewisseSchwankungen in der Terminologie zu verzeichnen. So veröffent-lichte Kurt Teßmann 1962 ein kleines Buch unter dem Titel»Probleme der technisch-wissenschaftlichen Revolution«16. Derhier verwendete Terminus war offenbar eine Eigenschöpfung desAutors. Keine der Arbeiten, auf die er verwies, enthielt das Wort»wissenschaftlich-technische Revolution« oder »technisch-wissen-schaftliche Revolution« im Titel. Das damals gerade in deutscherÜbersetzung erschienene Buch von Bernal war Teßmann bekannt,er zitierte es auch mehrfach, indes nur dort, wo es um denallgemeinen Begriff der Technik ging, Bernals Ausführungen überdie »Revolution neuer Art« oder die »wissenschaftlich-technischeRevolution« waren ihm entweder nicht aufgefallen oder nichtbemerkenswert erschienen. Der im April 1965 in Berlin veranstal-tete philosophische Kongreß der DDR stand unter dem Thema»Die marxistisch-leninistische Philosophie und die technischeRevolution«17. Hier dominierte noch der Terminus »technischeRevolution«, nur Teßmann gab seinem Referat den Titel »Zueinigen Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftlich-technischen Re-volution«. Wenig später aber wurde der Terminus »WTR« unddamit auch die Autorschaft Bernals kanonisiert. In seinem 1974erstatteten Verlagsgutachten zu Jürgen Kuczynskis Buch »VierRevolutionen der Produktivkräfte« bemerkte Rolf Sonnemanndenn auch ganz selbstverständlich, der von Bernal eingeführteBegriff habe sich inzwischen überall eingebürgert und werde, vonwenigen Ausnahmen abgesehen, auch überall im gleichen Sinneverstanden18.

Kognitiver Gehalt und Konnotationen des WTR-KonzeptsDie am meisten allgemeine und konsensfähige Bedeutung desTerminus »Revolution« dürfte es sein, darunter einen qualitativenÜbergang im Rahmen eines irreversibel fortschreitenden Entwick-lungsprozesses zu verstehen. In diesem Sinne sprach man vonwissenschaftlichen und von technischen Revolutionen. Eine wis-senschaftliche Revolution19 erschien als ein Wandel der Denkwei-se, von Thomas S. Kuhn spezifiziert und präzisiert als Paradig-menwechsel20. So aufgefaßt, waren Revolutionen in allen Berei-chen der Wissenschaft möglich – man nahm das Wort aber meistnur für besonders großräumige und folgenreiche Wandlungen inAnspruch (etwa für den Übergang von der klassischen zur nicht-klassischen Physik oder für den Übergang von der phlogistischenzur antiphlogistischen Chemie). Eine technische Revolution wurdeals Entstehung, Einführung und Durchsetzung eines neuen, vondem bis dahin gebräuchlichen qualitativ unterscheidbaren techni-schen, Wirkprinzips verstanden, nach dem ganze Klassen oderFamilien technischer Mittel funktionierten, also etwa des Prinzipsder Wärmekraftmaschine oder des dynamoelektrischen Prinzips21.Der Begriff der WTR, wie ihn Bernal formulierte, ist nichtunmittelbar auf bestimmte, durch ihren paradigmatischen Gehaltspezifizierte wissenschaftliche oder technische Revolutionen

16 K. Teßmann: Problemeder technisch-wissenschaft-lichen Revolution,Berlin 1962.

17 Die marxistisch-lenini-stische Philosophie und dietechnische Revolution.Deutsche Zeitschrift für Phi-losophie. Sonderheft 1966.

18 Abgedruckt in: J. Ku-czynski: Vier Revolutionender Produktivkräfte. Theorieund Vergleiche, Berlin 1975,S. 186.

19 Wissenschaftsgeschich-te und wissenschaftlicheRevolution. Hrsg. vonK. Bayertz, Köln 1981;U. Röseberg: Szenariumeiner Revolution. Nichtrelati-vistische Quantenmechanikund philosophische Wider-spruchsproblematik, Berlin1984; Revolution in Scien-ces – Sciences in Revolu-tion. Ed. J. Janko,Prague 1989.

20 Th.S. Kuhn: Die Struk-tur wissenschaftlicher Revo-lutionen, 2. Aufl., Frankfurta.M. 1979; K. Bayertz: Wis-senschaftstheorie und Para-digmabegriff, Stuttgart 1981.

21 K.-D. Wüstneck: ZurBestimmung der techni-schen Revolution durch denhistorischen Materialismus,in: Deutsche Zeitschrift fürPhilosophie, H. 10/1967.22 J. Kuczynski, VierRevolutionen (wie Anm. 18),S. 33-89.

LAITKO WTR in der DDR37

bezogen; man darf ihn daher auch nicht, wie die Wortgestalt nahe-zulegen scheint, als ein Kompositum der beiden Revolutions-begriffe ansehen.

Zunächst und vor allem ist bei Bernal der WTR-Begriff in einerklaren und definitiven Parallele zum Begriff der industriellenRevolution gebildet worden. Dieser aus der Marxschen Analyseder Genese des Kapitalismus stammende Begriff22 ist bekanntlich,von der marxistischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung ausstrah-lend, schon vor Jahrzehnten zum Gemeingut der Wirtschaftshisto-riographie geworden23. Im marxistischen Sprachgebrauch war dieindustrielle Revolution jener qualitative Wandel der technologi-schen Produktionsweise, der den Übergang vom Manufakturkapi-talismus zum Industriekapitalismus ermöglichte. Unter einer tech-nologischen Produktionsweise verstand Marx die Art und Weiseder Kopplung von personellen und sachlichen Produktionsfaktorenund die Verteilung der technologischen Funktionen zwischenihnen24. Im Manufakturkapitalismus war der hauptsächliche Opera-teur – oft auch zugleich der Lieferant der Antriebsenergie – destechnologischen Prozesses der arbeitende Mensch, der einfacheoder zusammengesetzte Werkzeuge manuell führte. Marx insistier-te darauf, daß die Einführung der Werkzeugmaschine den Kern-prozeß der industriellen Revolution bilde (erinnert sei an den weit-verzweigten Streit darüber, ob tatsächlich das Aufkommen vonWerkzeugmaschinen oder nicht vielmehr der Einsatz von Dampf-maschinen, der die energetischen Grenzen aller bisherigen Techno-logie sprengte, als der zentrale Vorgang der industriellen Revolu-tion anzusehen sei). Der Übergang der Funktion des Operateurs imtechnologischen System vom Menschen auf technische Mittel istdefinitiv ein qualitativer Wandel der technologischen Produktions-weise, und wenn der Begriff der industriellen Revolution auf die-sen Wandel bezogen wird, dann hat man es mit einer klaren, präzi-sen Begrifflichkeit zu tun.

Parallel dazu stellte Bernal als Charakteristikum der WTR denEinsatz technischer (elektronischer) Steuerungssysteme heraus, diedie laufende Steuerung des technologischen Prozesses übernehmenund diesen Prozeß nunmehr auch steuerungsseitig von den manu-ellen und sensorischen Möglichkeiten des Menschen emanzipie-ren. Sofort wird man dabei an Marx’ visionäre Sicht auf den allge-meinen Trend der Produktivkraftentwicklung aus den »Grundris-sen der Kritik der Politischen Ökonomie« erinnert – an jene Passa-ge, in der er von einem kommenden Zustand schrieb, in dem derMensch »neben den Produktionsprozeß« tritt, »statt sein Haupt-agent zu sein«25. Wiederum ist damit ein qualitativer Wandel dertechnologischen Produktionsweise bestimmt, und zwar im glei-chen theoretischen Schema, in dem die eigentliche industrielleRevolution beschrieben worden ist. Damit fand der zunächst eherad hoc – zur Beschreibung auffälliger Phänomene der Gegenwart –gebildete Begriff der WTR Anschluß an das konzeptuale Arsenaldes Marxismus.

Es versteht sich, daß der idealtypische Charakter dieser Begriffs-bildungen nicht gegen ihre Legitimität spricht. In einer hochme-chanisierten Fabrik steht nicht jeder an einer Werkzeugmaschine,

23 A. Musson, B. Robin-son: Science and Technolo-gy in the Industrial Revoluti-on, Manchester 1969;Industrielle Revolution.Wirtschaftliche Aspekte.Hrsg. von R. Braun,W. Fischer, H. Großkreuzund H. Volkmann,Köln-Berlin 1972.

24 G.N. Wolkow: Sozio-logie der Wissenschaft.Studien zur Erforschung vonWissenschaft und Technik,Berlin 1970, S. 76-103.

25 K. Marx: Grundrisseder Kritik der PolitischenÖkonomie (Rohentwurf).1857-1858. Berlin 1953,S. 593.

38LAITKO WTR in der DDR

es kommen noch zahlreiche Tätigkeiten eigentlich präindustriellenCharakters vor; die Einführung elektronischer Steuerungen schafftnicht sämtliche Aufgaben unmittelbarer Prozeßkontrolle durch le-bendige Arbeit ab usw. – aber die Begriffe bezeichnen zentraleTrends, die sich in der Fülle der Ereignisse durchsetzen, ohne jedeseinzelne Ereignis unmittelbar zu bestimmen.

Die Wahl geeigneter Termini für diese Begriffe ist gegenüber ih-rer inhaltlichen Bestimmung eine abgeleitete Frage; dennoch ist sienicht unwichtig, denn jeder Terminus ist mit anderen konnotiert,und sein Gebrauch weckt gewisse Assoziationen und unterdrücktandere.

Wenn von der zweiten industriellen Revolution gesprochen wird,dann betont man die – für den Theorieanschluß maßgebende –Analogie zur eigentlichen industriellen Revolution, die damit alserste industrielle Revolution in eine Reihe strukturanaloger histori-scher Übergänge gestellt wird. Der Terminus, der auch bei Bernalgebraucht wurde, erfreute sich zeitweise besonders in der Bundes-republik und hier vorzugsweise im Umfeld der Sozialdemokratiegroßer Beliebtheit26; auch in die politische Programmatik fand erEingang, so in das Godesberger Programm der SPD von 1959. Dieerste industrielle Revolution führte aber in das Industriezeitalterhinein, während die WTR aus ihm heraus führt; zum Ausdruck die-ses Umstandes ist das Wort »zweite industrielle Revolution« nichtgut geeignet.

Doch auch der Terminus »WTR« hat pragmatische Nachteile.Er hebt zwar auf jene Züge ab, in denen der von ihm bezeichneteVorgang von der ursprünglichen industriellen Revolution unter-schieden ist, aber er stellt verbal Wissenschaft und Technik in denVordergrund und benennt nicht, daß es eigentlich gar nicht um Wis-senschaft und Technik für sich genommen geht, sondern um wis-senschaftlich- technisch induzierten Wandel des Produktionssy-stems der Gesellschaft, also um Wirtschaftswandel. Dieses Kern-stück des Begriffsinhalts mußte immer zusätzlich erläutert werden,weil der Terminus selbst es nicht unmittelbar signalisiert.

Der Terminus »WTR«, wie ihn Bernal eingeführt hat, bezeichnetjedoch noch einen zweiten qualitativen Wandel, der mit der Verän-derung der technologischen Produktionsweise nicht identisch ist:den Eintritt der Wissenschaft in die Funktion der hauptsächlichen,obligatorischen und permanenten Quelle der technischen undtechnologischen Neuerungen und damit auch der auf diesen basie-renden wirtschaftlichen Innovationen. Dafür gab es einen auf Marxzurückgehenden Terminus, nämlich den des Werdens der Wissen-schaft zu einer unmittelbaren Produktivkraft27. Dieser Terminuswurde – nach einer Zeit unfruchtbarer, scholastischer Erörterungenin der UdSSR darüber, wie denn die Wissenschaft als ein geistigesPhänomen auf die materiellen Produktivkräfte einwirken könne –in den fünfziger Jahren in einer separaten Linie von Veröffentli-chungen wieder aufgenommen, zunächst unabhängig von denDebatten über die wissenschaftlich-technische Revolution, bis diepartielle Konvergenz der beiden Gedankenströme deutlich wurde.

Pionier der Wiederaufnahme dieses Motivs war Gerhard Kosel,Präsident der Bauakademie der DDR. Er hatte 1951 – also noch zu

26 L. Brandt, C. Schmid:Mensch und Technik.Referate über die techni-schen, sozialen und kulturel-len Probleme im Zeitalterder zweiten industriellenRevolution, gehalten am12. Juli 1956 auf dem Par-teitag der SPD in München,Hannover 1956; Mobilisie-rung des Geistes. UnsereAufgaben in der zweitenindustriellen Revolution.Materialien der Konferenzam 7./8. Dezember 1956 inDüsseldorf, Bonn 1957.

27 H. Seickert: Produktiv-kraft Wissenschaft imSozialismus, Berlin 1973.

LAITKO WTR in der DDR39

Lebzeiten Stalins – in Moskau eine auf einschlägige Marx-Texterekurrierende Monographie vorgelegt, deren deutsche Übersetzungdas Akademieinstitut für Theorie, Geschichte und Organisationder Wissenschaft (ITW) 1987 in seiner Reihe »Studien undForschungsberichte« in deutscher Übersetzung herausbrachte28.Kosel selbst verarbeitete nach seiner Rückkehr in die DDR seineUntersuchungen zu der 1957 erschienenen Monographie »Produk-tivkraft Wissenschaft«29, dem ersten zu dieser Thematik in derDDR erschienenen Buch, das indes zu einer Zeit auf den Marktkam, als das zu seiner Rezeption notwendige Problembewußtseinnoch wenig entwickelt war; ein Versuch, diese frühen Überlegun-gen in der Wissenschaftsforschung aufzugreifen, wurde erst aufeinem Kolloquium des ITW im Jahre 1981 unternommen30.

Es ist hier nicht möglich, den weitgefächerten Diskussionsstrang,der unter dem Stichwort »Produktivkraft Wissenschaft« stand, undseine Verflechtungen mit dem WTR-Konzept im einzelnen zuverfolgen. Aufmerksam zu machen ist jedoch auf die Ambiguität,die aus der Verkoppelung zweier unterschiedlicher (wenngleichnicht beziehungsloser) qualitativer Wandlungen in einem Begriffresultiert. Der Übergang zur teil- oder vollautomatischen Steue-rung technologischer Prozesse ist im allgemeinen nicht allein mitauf praktische Erfahrung gegründetem Ingenium zu bewältigen,sondern bedarf des Rückgriffs auf Forschung. Insofern ist dermoderne Wandel der technologischen Produktionsweise an dasWerden der Wissenschaft zur Produktivkraft gekoppelt. Dennochsind diese beiden Veränderungen nicht einfach zwei Seiten ein unddesselben Prozesses. Sie sind extensional nicht deckungsgleich.Das Produktivkraftwerden der Wissenschaft zielt nicht nur auf dieTechnisierung der Steuer- und Regelfunktionen, sondern auf dietechnologische Seite der Produktion im ganzen – also auf die Roh-stoffe, die Verfahren, die Produkte, die infrastrukturelle Vernetzungusw.; sie hat auch, besonders in den neuen wissenschaftsbasiertenIndustriezweigen (Elektrotechnik, Chemie, Feinmechanik undOptik), schon zu einer Zeit eingesetzt, als von einem Heraustretendes Menschen aus den technologischen Prozessen noch nicht ernst-lich die Rede sein konnte.

Bernals Anmerkung, daß erst in unserer Zeit die WissenschaftIndustrie und Landwirtschaft zu beherrschen beginne, kann aufzwei direkt konträre Weisen gedeutet werden. Die traditionelleDeutung war die, daß die Wissenschaft sich autonom entwickeltund auf dieser Grundlage über ihre Produktivkraftfunktion aktivdie Entwicklungsrichtungen oder zumindest die Entwicklungs-möglichkeiten von Technik und Produktion determiniert. Dienichttraditionelle Deutung lief umgekehrt darauf hinaus, daß dieWissenschaft mit dem Instrument der Planung auf die erwünschtenNutzungsrichtungen hin zu »finalisieren« sei und daß ihr Produk-tivkraftstatus eine autonome Entwicklung nicht mehr zulasse oder,moderater formuliert, daß die Autonomie der Wissenschaft durchihre an Schwerpunkten der Praxis orientierte Steuerung zurückzu-drängen und zu begrenzen sei. Das WTR-Konzept enthieltbeide Deutungsmöglichkeiten und präferierte von sich aus keine.Für beide sprachen gute Gründe, beide konnten auch in der DDR

28 G. Kosel: Die Naturwis-senschaft als Potenz dergesellschaftlichen Produkti-on. Akademie der Wissen-schaften (AdW) der DDR.Institut für Theorie,Geschichte und Organisati-on der Wissenschaft (ITW).Studien und Forschungsbe-richte, H. 25, Berlin 1987.

29 G. Kosel: ProduktivkraftWissenschaft, Berlin 1957.

30 H. Laitko: TechnischeBedürfnisse als Triebkraftdes Erkenntnisfortschrittsund die Konsequenz diesesZusammenhangs für dasVerständnis der Wissen-schaft. Ein zu Unrechtvergessener Ansatz, in:ITW-Kolloquien, H. 25,Berlin 1981, S. 67-79.

40LAITKO WTR in der DDR

unter dem unbestrittenen Motto »gesellschaftliche Verantwortungdes Wissenschaftlers« geltend gemacht werden. Ein großer Teil desWTR-Diskurses lief darauf hinaus, eine Vermittlung (eine dialekti-sche Lösung) für das Problem des Verhältnisses von interner undexterner Orientierung der durch ihren Produktivkraftstatus ingrößeren gesellschaftlichen Zusammenhängen funktionell gebun-denen Wissenschaft zu finden – und zwar auf theoretischer ebensowie auf praktisch-wissenschaftspolitischer Ebene. Dieses Vermitt-lungsproblem äußerte sich unter DDR-Verhältnissen besonders inder Praxis der Wissenschaftsplanung; es ist von Peter Hanke undseinen Mitarbeitern eingehend untersucht worden31.

In der wissenschaftstheoretischen Debatte setzte sich in densiebziger Jahren die Ansicht durch, daß die Entgegensetzung derextremen Konzepte »Externalismus« und »Internalismus« eineScheinkontroverse sei32 und daß gegenüber der Außensteuerung derWissenschaft ihre Eigengesetzlichkeit, gegenüber ihrer Eigenge-setzlichkeit aber ihr Bezug auf Entwicklungserfordernisse dergesellschaftlichen Praxis geltend gemacht werden müsse33. Diewissenschaftstheoretische Offerte, die diesem Vermittlungsan-spruch am weitesten entgegenkam, war eine Tätigkeitsauffassungder Wissenschaft, eingebettet in ein an Marx orientiertes Repro-duktionskonzept34.

Die praktische Lösung, in der ein depersonalisiert ausgedrückterund deshalb nicht unmittelbar als solcher erkennbarer Interessen-gegensatz seine Bewegungsform fand, war eine Aufteilung derForschung in Kategorien, für die jeweils unterschiedliche Pla-nungsmodi galten und die schließlich in eine – theoretisch uninter-essante, aber strapaziös zu handhabende – Stufennomenklaturgegossen wurde. Von der Grundlagenforschung zur (technischen)Entwicklung nahmen in der Folge der Nomenklaturstufen dieFreiräume ab, während die Konkretheit und Rigidität der Planungund die Verbindlichkeit der praxisbezogenen Vorgaben zunah-men35. Die Grundlagenforschung galt als jene Sphäre der For-schung, in der die Selbstbestimmung der Wissenschaft dasvergleichsweise größte Gewicht hatte. Die Freiräume waren abernicht etwa ein für allemal gesichert; die Grundlagenforschung spal-tete sich wiederum auf in gezielte Grundlagenforschung, für dieder Bezug auf große aktuelle oder perspektivische Praxisfelder dieOrientierung lieferte, und erkundende Grundlagenforschung, diesich im Vorfeld möglicher Praxen bewegen konnte und sollte.Der Widerspruch zwischen Innen- und Außenbestimmtheit derWissenschaft trat in der Wissenschaftspolitik (oder Wissenschafts-verwaltung) in einer Proliferation der Forschungsarten in Erschei-nung, zwischen denen planungspraktisch unterschieden wurde.

Das umfangreiche Werk Bernals wurde in der DDR nur langsamrezipiert, und es wirkte auch eher auf Wissenschafts- und Wirt-schaftshistoriker als auf Philosophen und Ökonomen. Daraus istder nicht unerhebliche Zeitverzug zwischen dem Vorliegen derdeutschen Übersetzung des Buches und der Einbürgerung desTerminus »WTR« zu erklären, obwohl inhaltlich auf verschiedenenWegen in dieser Richtung gedacht wurde. Deshalb sprach, wiebereits erwähnt, der DDR-Philosophiekongreß 1965 – der das neue

31 P. Hanke: Planungspro-bleme in der Grundlagenfor-schung, Berlin 1975;Autorenkollektiv unter Lei-tung von P. Hanke: Gesetz-mäßigkeiten und Planungder Forschung. Beiträge zurMethodologie der Planungder Grundlagenforschung,Berlin 1977.

32 S. R. Mikulinskij:Scheinkontroversen undreale Probleme einer Theo-rie der Wissenschaftsent-wicklung, in: Sowjetwissen-schaft. Gesellschaftswissen-schaftliche Beiträge,H. 7/1978.

33 R. Mocek: Gedankenüber die Wissenschaft. DieWissenschaft als Gegen-stand der Philosophie,Berlin 1980, S. 163-169.

34 H. Laitko: Wissenschaftals allgemeine Arbeit. Zurbegrifflichen Grundlegungder Wissenschaftswissen-schaft, Berlin 1979;L. Läsker: Die Vermittlungder Wissenschaftsentwick-lung im gesellschaftlichenReproduktionsprozeß, in:Wissenschaft. Das Problemihrer Entwicklung. Bd. 2:Komplementäre Studien zurmarxistisch-leninistischenWissenschaftstheorie.Hrsg. von G. Kröber, Berlin1988, S. 137-154.

35 Probleme der Plankon-trolle in der Grundlagenfor-schung. ITW-Kolloquien,H.17, Berlin 1977.

LAITKO WTR in der DDR41

Verhältnis von Wissenschaft und Technik im Zeichen der Kyberne-tikwelle und des mit dem Neuen Ökonomischen System begonne-nen Reformaufbruchs reflektierte – noch überwiegend von »tech-nischer Revolution«, während in Moskau bereits 1964 eine Konfe-renz zu Problemen der modernen WTR stattgefunden hatte. Ausdieser Konferenz ging ein Buch hervor, das 1972 auch in deutscherÜbersetzung erschien36. Die Leistung dieses Buches war dieEntfaltung einer begrifflichen Schematik, in die das Phänomeneingeordnet werden sollte, insbesondere die Unterscheidung undVerknüpfung von wissenschaftlicher Revolution, technischerRevolution und Produktionsrevolution. Überhaupt scheint es, daßdie DDR im großen und ganzen eher an der Peripherie derBemühungen geblieben ist, eine abgerundete Theorie der WTRzu schaffen. Das WTR-Konzept hatte in der DDR besonders starkausgeprägte Züge eines wirtschaftlichen und politischen Aktivis-mus, eines Pathos der Machbarkeit, die von der Konfrontation mitder Bundesrepublik Deutschland diktiert waren, während sich derAusbau der deskriptiven und erklärenden Grundlagen des Kon-zepts einer weitaus geringeren Aufmerksamkeit erfreute. Davonzeugte schon die Frist von fünf Jahren, die zwischen dem Erschei-nen des genannten, vorwiegend auf die historisch-empirischen undbegrifflichen Fundamente orientierten Buches in Moskau und demVorliegen seiner deutschen Fassung verstrich.

Das Zentrum der systematischen Bemühungen lag in der AchsePrag – Moskau, ihre wichtigste Gestalt war Radovan Richta, derdamalige Direktor des Instituts für Philosophie und Soziologie derTschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, der in densechziger Jahren die einschlägigen Bücher »Mensch und Technikin der Revolution unserer Tage«37 und – gemeinsam mit anderentschechischen und slowakischen Autoren – »Die Zivilisation amScheideweg. Gesellschaftliche und menschliche Zusammenhängeder wissenschaftlich–technischen Revolution«38 vorgelegt hatte.Richta war sich mehr als viele andere über diese Thematik publi-zierende Autoren darüber im klaren, daß die WTR eine Herausfor-derung für die »realsozialistischen« Gesellschaften darstellte, derdiese nur dann entsprechen konnten, wenn sie sich selbst flexibili-sierten und dynamisierten und ihren starren Zentralismus überwan-den. In dieser Richtung konnte sich Richta, zumal nach derNiederschlagung des »Prager Frühlings«, stets nur zurückhaltendund auf hoher Abstraktionsstufe äußern – unter seinen im Ostenveröffentlichten Schriften vielleicht am deutlichsten in einer 1977erschienenen kleineren Arbeit39 –, aber wer die Mühe nicht scheu-te, sich in die von ihm entwickelten Abstraktionen zu vertiefen, derverstand auch ihren kritischen Gehalt. Auf sowjetischer Seitewaren die hauptsächlichen Partner dieser Arbeiten die beidenAkademieinstitute für Philosophie und für Geschichte derNaturwissenschaft und Technik. Das war ein solides Potential, demdie DDR in den sechziger Jahren noch wenig an die Seite stellenkonnte.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begann man mitder Veranstaltung gemeinsamer tschechoslowakisch-sowjetischerSymposien zu diesem Themenkreis. Auf dem 3. Symposium 1970

36 Autorenkollektiv: Diegegenwärtige wissenschaft-lich-technische Revolution.Eine historische Untersu-chung, Berlin 1972.

37 R. Richta: Clovek atechnika v revoluci nasichdnu, Praha 1963.

38 R. Richta et al.: Civiliza-ce na rozcesti. Spolecenskéa lidské souvislosti vedecko-technické revoluce, Praha1966.

39 R. Richta: Is There aNew Type of Science Emer-ging? In: Teorie rozvojevedy – Theory of ScienceDevelopment I/4, Praha1977, S. 7-44.

42LAITKO WTR in der DDR

in Smolenice wurde vereinbart, den Stand der Diskussion in einemBuch niederzulegen. Dieses Buch – eine fast 400 Seiten umfassen-de Monographie – lag 1973 vor40. Die teilnehmenden Autoren wer-den darin nicht namentlich ausgewiesen, nur die beteiligten Insti-tute sind genannt. Aus der Flut der in den sozialistischen Ländernzur WTR-Thematik publizierten Literatur ragt dieses Buch durchseine luzide Struktur, seinen theoretischen Tiefgang und seinenweitgehenden Verzicht auf Verdünnung durch konventionellesideologisches Gerede heraus. Aus der DDR waren es ganze dreiVeröffentlichungen, die in dem umfangreichen Anmerkungsteil desBuches je einmal genannt wurden41. Die DDR-Abstinenz dürfteweder auf Unkenntnis noch gar auf bewußte Ignoranz zurück-zuführen gewesen sein; sie war einfach eine angemessene Reak-tion auf die Tatsache, daß die meisten einschlägigen Texte aus derDDR zumindest damals durch ein zu hohes Maß an oberflächlicherpolitischer Pragmatik gekennzeichnet waren.

An zwei Beispielen sollen die in der DDR geläufigen Argumen-tationen zur WTR stichprobenartig etwas näher dargestellt werden.Das erste stammt vom Beginn der Beschäftigung mit dem WTR-Komplex, das zweite von seinem Ende.

Sechziger Jahre: Die großen ErwartungenFür die sechziger Jahre mag hier das kleine Buch des RostockerPhilosophen Kurt Teßmann stehen. Die Termini »technisch-wissenschaftliche Revolution« (im Buchtitel) und »WTR« (in derÜberschrift des ersten Kapitels) hielt er anscheinend für austausch-bar. Gegen die Verwendung der (in Deutschland wesentlich sozial-demokratisch besetzten) Prägung »zweite industrielle Revolution«wandte er sich allerdings aus ideologischen Gründen ganzentschieden. Der Teßmann-Text besticht durch seine Grobschläch-tigkeit, seine Naivität und seinen himmelstürmenden Optimismus;da waren noch keine normierten Gemeinplätze eingeschliffen,es wird spürbar, daß sich da jemand, mit der ganzen Ungehobelt-heit des frühen DDR-Marxismus, einem für ihn vollkommenneuen Phänomen näherte. Sogleich wurden Fragen allergrößterDimension aufgeworfen, aber auch direkt mit dem Individuum undseinem Alltag kurzgeschlossen. Es war überhaupt charakteristischfür die gesellschaftswissenschaftlichen Texte jener Zeit, daß siehäufig zwischen dem Individuum mit seinem Mikromilieu unddem Sozium eine unmittelbare Beziehung herstellten und die da-zwischenliegende Vielfalt der Vermittlungen kaum im Ansatzberührten. So meinte Teßmann, die elektronischen Rechenmaschi-nen könnten die fortschrittlichen Arbeitserfahrungen der damalsso beliebten Brigaden in diversen Betrieben aufnehmen, sievergleichend analysieren und aus ihnen ganz neuartige, hocheffek-tive Arbeitsverfahren kombinieren, die dann wiederum in derganzen Gesellschaft verbreitet würden. Ausgangs- und Bezugs-punkt waren aber epochale Fragen folgender Art: »Wie weit gehendie Möglichkeiten der Technik und worin besteht das Wesen derspezifisch menschlichen schöpferischen lenkenden und leitendenTätigkeit? Der kommunistische Mensch wird die Technik beherr-schen, aber wo hört die technische Funktion auf und wo beginnt

40 Man – Science – Tech-nology. A Marxist Analysisof the Scientific-Technolo-gical Revolution, Moscow-Prague 1973.

41 K. Teßmann: Probleme(wie Anm.16); H. Edeling:Prognostik und Sozialismus,Berlin 1968; Philosophieund Prognostik, Berlin 1971.

LAITKO WTR in der DDR43

die menschliche Arbeit? In welcher Richtung muß der technischeFortschritt entwickelt werden, um die schöpferische Aktivität desMenschen nicht einzuschränken, sondern bewußt zu entwickeln?«Ähnliche Fragen wurden bezüglich der Beziehungen zwischenWissenschaft und Technik gestellt. Teßmann räumte aber ein, beiihrer Beantwortung noch ganz am Anfang zu stehen: »Man erwar-te in diesem Taschenbuch keine erschöpfenden Antworten auf diegestellten Fragen. Für ihre wissenschaftliche Analyse – frei vom›allgemein-marxistischen über-den-Nagel-peilen‹ – fehlen einfachnoch die Voraussetzungen bei der Präzisierung der gesellschafts-wissenschaftlichen Termini, dem Handwerkszeug unserer For-schung«42.

Die eigentliche Argumentation ist schlicht und linear. DieHauptrichtung des produktionstechnischen Fortschritts ist nachTeßmann der Übergang von der diskontinuierlichen zur kontinuier-lichen Produktion. Dem wird insbesondere die Automatisierunggerecht, die mittels umfassenden Einsatzes von Steuer- und Regel-technik und dabei der Anwendung elektronischer Rechengeräte(computer technology) verwirklicht wird. Die Automatisierungschreitet in zwei Dimensionen voran – der Automatisierungsgradder Produktionsprozesse nimmt immer weiter zu (von der partiel-len zur Vollautomatisierung, von dieser zur Komplexautomatisie-rung), und die als ganze automatisch gesteuerten Bereiche werdenimmer größer (Automatisierung einzelner Produktionsvorgänge,ganzer Betriebe, ganzer Wirtschaftszweige, schließlich der Volks-wirtschaft insgesamt). Die höchsten Stufen bilden die materiell-technische Basis der kommunistischen Gesellschaft. Im Einklangmit dem euphorischen Ton der KPdSU-Dokumente rechneteTeßmann damit, daß die UdSSR um die Jahrtausendwende dieKomplexautomatisierung der gesamten Volkswirtschaft erreichthaben würde. Das bedeutet jedoch nicht etwa ein Ende der Ent-wicklung; die komplexautomatische Produktion sei »die – soweitjetzt absehbar – höchste und in sich selbst zur beständigen unend-lichen Vervollkommnung fähige Stufe der gesellschaftlichenArbeit«43. Teßmann skizzierte den Ausblick auf eine künftigemaschinenlose Technik, bei der es immer schwerer werde, dieGrenze zwischen natürlichen und technischen Prozessen zuziehen44. Für den Übergang zur Komplexautomatisierung werdendie folgenden Desiderate genannt: »Eine weitgehende Automati-sierung setzt die Beseitigung der aus der Zeit der kapitalistischenIndustrialisierung übernommenen und durch den kapitalistischenKonkurrenzkampf hervorgerufenen Zersplitterung der Produktionund der Sortimente in der gesamten Volkswirtschaft voraus, eben-so wie die Überwindung der Warenhausprogramme in einzelnenBetrieben... Durch den Übergang zur Massenfließfertigung und zurGroßserienproduktion, durch Klassifizierung und Kombination derFertigungsprozesse und durch vereinfachende Gruppenfertigungwird der Übergang zur kontinuierlichen Produktion vorbereitet undvollzogen«45.

Damals wurde unter Marxisten – so auch bei Teßmann – ge-meinhin angenommen, daß dieser Prozeß in einer ganz einfachen,kausal zwingenden Beziehung zur Ablösung des Kapitalismus

42 K. Teßmann: Probleme(wie Anm.16), S. 10.

43 Ebenda, S. 50.

44 Ebenda, S. 53.

45 Ebenda, S. 20f.

44LAITKO WTR in der DDR

durch den Sozialismus stände. Die fortschreitende Automatisie-rung bringe den Kapitalismus zwangsläufig ins Hintertreffen, weildieser aufgrund seiner Produktionsverhältnisse außerstande sei,ganze Wirtschaftszweige einheitlich zu steuern. Der kapitalistischeMarkt könne nur eine begrenzte Anzahl von Erzeugnissen, beson-ders Massenbedarfsartikel, in großen Serien aufnehmen: »Diekapitalistische Produktion muß in der Lage sein, sich den ständigund anarchisch wechselnden Bedürfnissen des Marktes anzupassenund den Fertigungsprozeß rasch auf die Produktion anderer Güterumzustellen. Ausdruck dieser Gesetzmäßigkeit sind die kapitalisti-schen Warenhausprogramme. Dieser Wesenszug der kapitalisti-schen Produktion ist unvereinbar mit den Prinzipien der Vollauto-matisierung«46. – »Die komplexautomatische Lenkung ganzerVolkswirtschaftszweige ist im Kapitalismus unmöglich, weil ihrdie kapitalistische Anarchie der Produktion unüberwindliche Hin-dernisse in den Weg stellt«47. Einerseits erscheine der Kapitalismusals Schranke für die Entfaltung der neuen Technik, denn diese»bietet umfassendere Möglichkeiten, als für die Aufrechterhaltungder kapitalistischen Ordnung nötig und zuträglich sind«48. Anderer-seits stürze die Entwicklung dieser Technik den Kapitalismus inimmer größere Schwierigkeiten, aus denen er – systembedingt –keinen Ausweg finde: »So wird der Konflikt zwischen der tech-nisch unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeit der Automatisierungeinerseits und dem begrenzten kapitalistischen Markt andererseitszum entscheidenden Problem, das zur revolutionären Verschärfungaller Widersprüche im Kapitalismus führt«49.

Das war zweifellos die zeittypische Argumentationsart; doch esist aufschlußreich, sie gerade in dieser extremen, holzschnittartigenVerkürzung zu bedenken. Was hier geschildert wird, ist Vernetzungund Effektivierung von Massenproduktion mit stabilen Sortimen-ten – also jener Produktionsform, die später Fordismus genanntwurde. Wenn unterstellt wird, daß die Effektivität der Produktionpositiv mit der Größe der integriert gesteuerten Einheiten korre-liert, daß alle Innovationen nur in Richtung dieses Korrelations-prinzips wirken und daß ferner innovationsbedingte Umstrukturie-rungen in plankonformen Zeithorizonten ablaufen, dann ist dieseArgumentation, so vorzeitlich sie heute auch anmutet, in sich stim-mig und der auf sie gegründete Optimismus gerechtfertigt! Ohneweiteres wäre es möglich gewesen, sie zu verfeinern und ihr denAnschein von Simplizität zu nehmen. Sozialistische Verhältnissegegeben, war letztlich alles nur eine Frage des Leistungsvermögensder informationsverarbeitenden Technik – und gerade hier durfteTeßmann, wie wir heute wissen, zu Recht hochgespannte Erwar-tungen hegen. Es war der nicht vorhergesehene Umstand, daß dieTechnisierung der informationsverarbeitenden Prozesse selbst dasPrinzip der Massenproduktion und der ökonomischen Favorisie-rung riesiger Einheiten untergrub, der die bis dahin akzeptiertenPrämissen für die optimistische Sicht, die WTR sei das Werkzeugder Geschichte zur Überwindung des Kapitalismus, einschneidendveränderte. Man hat den Eindruck, daß dieser einst so plausibelbegründete Optimismus noch lange erhalten blieb, während die Be-gründung, auf der er aufruhte, schon längst obsolet geworden war.

46 Ebenda, S. 27.

47 Ebenda, S. 25.

48 Ebenda, S. 25f.

49 Ebenda, S. 27.

LAITKO WTR in der DDR45

Achtziger Jahre: Professioneller PragmatismusEin Blick in die Literatur der achtziger Jahre offenbart nun einenKontrast, wie er größer kaum gedacht werden kann. Das ist oftschon beim Durchblättern zu erkennen – die Texte entbehren weit-gehend des Pathos, sie wirken professionell, oft sogar technisch,und viele sind mit Diagrammen, Statistiken und Gleichungen an-gefüllt. Viele Autoren legten sich über den Ernst der Lage und dieGröße der Herausforderung in aller Nüchternheit Rechenschaft ab.Freilich war im ideologischen Klima der DDR eine direkte Kritikder bestehenden Verhältnisse unter der Perspektive dieser Heraus-forderung nur in dem bescheidenen Maße möglich, in dem siesystemkonform (als »Kritik im Vorwärtsschreiten« nach dem Mot-to »das Erreichte ist nicht das Erreichbare«) formuliert werdenkonnte. Um so kräftiger bediente man sich einer in der DDR oftgebrauchten Methode indirekter Kritik, die einen Konflikt mit denApparaten der politischen Macht vermied und sogar auf die Unter-stützung realistisch denkender Vertreter dieser Apparate rechnenkonnte: der Formulierung anspruchsvoller Zukunftsaufgaben.

Der Kontrast zwischen dem intendierten Künftigen und demaktuell Bestehenden war offenkundig; mit etwas Nachdenkenkonnte der Leser solcher Texte verstehen, in welchem Ausmaß dasBestehende verändert werden mußte, wenn es gelingen sollte, jeneZukunftsaufgaben zu lösen.

In der Rhetorik der Parteidokumente wurde der Topos der WTRrituell weiterverwendet, mit den gleichen oder fast den gleichenWorten wie schon ein Jahrzehnt zuvor. Auf dem X. Parteitag derSED 1981 forderte Honecker wie üblich, »einen neuen Schritt beider Verbindung der Vorzüge des Sozialismus mit den Errungen-schaften der wissenschaftlich-technischen Revolution zu tun«50.Für einschlägige Forschungsprogramme war es immer von Nutzen,wenn sie sich auf solche autoritativen Formeln berufen konnten.Man zitierte sie überall, doch eher als legitimatorische Pflicht-übung, um möglichst schnell zur Sache zu kommen.

Das alles läßt sich gut an einem aussagekräftigen Beispiel nach-lesen – dem im September 1982 vom Präsidium der Akademie derWissenschaften der DDR bestätigten und bis zum Ende der DDRweitergeführten interdisziplinären Forschungsprogramm »Wissen-schaftlich-technische Revolution, sozialer Fortschritt und geistigeAuseinandersetzung«, über dessen weitgefächerte Thematik dasProtokoll einer im September 1984 durchgeführten KonferenzAuskunft gibt51. Federführung und Organisation oblag demAkademieinstitut für Theorie, Geschichte und Organisation derWissenschaft (ITW), beteiligt waren zahlreiche Akademieinstitute,Hochschulsektionen und Einrichtungen der Kombinats- und Res-sortforschung. Zugleich war das Programm international integriert,und zwar sowohl im Rahmen des RGW – beispielsweise fand imApril 1984 in Berlin eine gemeinsam mit dem InternationalenInstitut für Probleme der Leitung (Moskau) veranstaltete Konfe-renz über Theorie und Praxis wissenschaftlich-technischerNeuerungsprozesse statt52 – als auch intersystemar. Als Vermittlerdes letztgenannten Bezuges fungierte das Institut für AngewandteSystemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien, an dem die USA,

50 Bericht des Zentral-komitees der SED an denX. Parteitag. Berichter-statter: Genosse ErichHonecker, Berlin 1981,S. 49.

51 Wissenschaftlich-tech-nische Revolution, sozialerFortschritt und geistige Aus-einandersetzung. ITW-Kollo-quien, H. 43/1 bis 43/5,Berlin 1985.

52 Theorie und Praxiswissenschaftlich-technischerNeuerungsprozesse. ITW-

46LAITKO WTR in der DDR

die UdSSR, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR betei-ligt waren. Mit dem IIASA fanden gemeinsame Seminare statt, bei-spielsweise 1982 über »Flexible Automatisierung« und 1983 über»Nationale und globale Probleme der Entwicklung des Energiesy-stems«. Das Programm startete mit den drei polyinstitutionell undmultidisziplinär aufgebauten Projektgruppen »Energie und WTR«,»Mikroelektronik und flexible Automatisierung« und »ModerneBiotechnologien«. Auf allen drei Gebieten wurde eine umfangrei-che und hochspezialisierte Literatur produziert – hier sei stellver-tretend für zahlreiche andere lediglich auf zwei Veröffentlichungenzur flexiblen Automatisierung hingewiesen53. Das theoretisch-methodologische Gerüst der Arbeiten lieferten die Grundgedankender an das Marxsche Ökonomieverständnis adaptierten modernenInnovationstheorien54, methodisches Werkzeug bildete vorzugswei-se die rechnergestützt eingesetzte angewandte Systemanalyse.In diesem Rahmen wurde ein systemdynamisches Computermodellder DDR-Volkswirtschaft entwickelt, das es ermöglichte, dievoraussichtlichen Wirkungen verschiedener Innovationen zuerkunden und die Effekte unterschiedlicher Entscheidungsvarian-ten durchzuspielen. Die ausgedehnte Sacharbeit, die in diesemProgramm geleistet wurde (und die zumindest teilweise auch nachdem Untergang der DDR von aktuellem Interesse bleibt), hatte sichweit von den politisch-ideologischen Schlagworten und Schablo-nen entfernt. Günter Kröber bestätigte dies, als er auf der 1984erKonferenz nach einem eindrucksvollen Bericht über die handfestenResultate die (bis zum Ende der DDR unverändert gültige) Fest-stellung treffen mußte, die Auseinandersetzung mit den verschie-densten Erscheinungsformen der bürgerlichen Ideologie zu Proble-men des wissenschaftlich- technischen Fortschritts und den Bezie-hungen von Wissenschaft und Gesellschaft habe bisher »einerelativ und absolut zu geringe Rolle gespielt«55. Der große gesell-schaftstheoretische Anspruch, der mit dem WTR-Konzeptursprünglich verbunden war, schien sich allmählich aufzulösen.An seine Stelle trat, nur noch äußerlich mit ideologischen Versatz-stücken garniert, pragmatische Sacharbeit.

Wenn man aus heutiger Sicht die Texte aus den Anfängen desInterdisziplinären Forschungsprogramms betrachtet, dann wirdsichtbar, daß darin in den frühen achtziger Jahren ganz deutlichausgesprochen worden ist, was erforderlich gewesen wäre, um daswirtschaftliche Überleben der DDR zu sichern. Harry Maier arbei-tete 1984 in seinem Konferenzreferat unmißverständlich drei neu-ralgische Punkte heraus. Erstens plädierte er anstelle des üblichenDenkens in festen Strukturen für ein evolutionäres Denken, das dieWahl optimaler Zeitpunkte und Realisierungsfristen für Innovatio-nen in den Mittelpunkt stellte: »Dieselben wissenschaftlich-techni-schen Anstrengungen und Problemlösungen, die gleichen mate-riell-technischen Vorleistungen werden nur einen Bruchteil desmöglichen Effektivitätszuwachses erzielen, wenn der für die Ent-wicklung der dynamischen Effektivität günstigste Zeitpunkt undZeitraum verfehlt wird«56. Zweitens betonte er die Notwendigkeitder Selektion innovativer Lösungen durch Wettbewerb: »Da es un-möglich ist, von vornherein zu sagen, welche wissenschaftlich-

Kolloquien, H. 49, Berlin1985.

53 H.-D. Haustein, H. Mai-er: Flexible Automatisierung– Entwicklungstendenzen,Probleme, Perspektiven.ITW-Kolloquien, H. 45,Berlin 1984; Softwarestrate-gien der flexiblen Automati-sierung. Kolloquium vom10. - 14.April 1989 inMirow/Neubrandenburg.ITW-Kollo- quien H. 71,Berlin 1989.

54 M. Wölfling: Innovationund Arbeitsprozeß. ITW.Studien und Forschungsbe-richte, H. 26, Berlin 1988;Gesellschaft und Innovation.Ansatzpunkte und Frageninterdisziplinärer Innova-tionsforschung. ITW-Studienund Forschungsberichte,H. 29, Berlin 1989;Expertensysteme undwissensbasierte Planspielein Wissenschaft undTechnik. Kolloquium vom28.-30. März 1989 inMirow/Neubrandenburg.ITW-Kolloquien, H. 72,Berlin 1989.

55 G. Kröber: Ergebnisseund Aufgaben des Interdiszi-plinären Forschungspro-gramms »Wissenschaftlich-technische Revolution, so-zialer Fortschritt und geisti-ge Auseinandersetzung«, in:ITW-Kolloquien, H. 43/1(wie Anm. 51), S. 18.

56 H. Maier: Wissenschaft-lich-technische Revolutionund intensiv erweiterte

LAITKO WTR in der DDR47

technische Problemlösung zur Trägerin einer ›ausnahmsweisenProduktivkraft‹ zu werden vermag, ist der Wettbewerb zwischenverschiedenen wissenschaftlich-technischen Varianten die einzigeMöglichkeit, um sich darüber Gewißheit zu verschaffen«57. DieseAussage steht zweifellos im Gegensatz zu Doktrin und Praxis eineradministrativen, kommandowirtschaftlichen Planung. Drittensschließlich verwies Maier immer wieder auf die Zyklizität desInnovationsprozesses, die in jeder Phase eine andere Verhaltens-weise gebietet, zog aus dem Vierphasen-Standardmodell der Inno-vation umfassende Konsequenzen und riet, in den verschiedenenPhasen wesentlich unterschiedliche Organisationsformen zu prak-tizieren. In der Einführungsphase empfehle sich die Schaffungverschiedener kleiner Produktionseinheiten und eine insgesamt in-formelle Produktionsstruktur, in der Phase des schnellen Wachs-tums eine stark expandierende Struktur (am besten eine Matrix-struktur), deren Wachsen unmittelbar an ihren ökonomischenErfolg gekoppelt werden sollte. »Erst in der Saturationsphase isteine streng hierarchisch gegliederte Organisationsstruktur sinnvoll,wo standardisierte Massenprodukte erzeugt werden, daher nur klei-ne Produkt- und Prozeßinnovationen möglich sind, die problemlossich in die gegebene Struktur einfügen müssen. Dies bedeutet, daßsich der demokratische Zentralismus bei der Hervorbringung,Durchsetzung und Ausbreitung von wissenschaftlich technischenNeuerungsprozessen in unterschiedlichen Formen verwirklichenmuß«58. Die Ironie in dieser Formulierung ist unverkennbar, derdemokratische Zentralismus wurde ja in der DDR mit größterSelbstverständlichkeit eben mit streng hierarchisch gegliedertenOrganisationsstrukturen identifiziert. Zieht man diese Texte inBetracht, dann wird man der DDR-Wissenschaft der achtzigerJahre Einsicht in die wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Landeskaum absprechen können. Die rationellen Überlegungen wurdenjedoch nur in unzulänglichem Maße Realität. In welchem Maßedazu die Knappheit der Ressourcen, die Starrheit der Strukturenund die Uneinsichtigkeit von Funktionären jeweils beitrugen, maghier dahingestellt bleiben.

FazitAbschließend möchte ich ein sehr vorsichtiges Trendresümee derEntwicklung von den sechziger bis zu den achtziger Jahren ziehen.

Erstens: Am Anfang erscheint die WTR als ein definitiver histo-rischer Prozeß, in den eine Gesellschaft eintritt, aus dem sie aberauch wieder herauskommt; die Charakteristik dieses Prozesses istarm, aber im großen und ganzen konsistent. Je mehr die Reflexionins Detail geht, um so mehr löst sich die Geschlossenheit desBildes auf. Die WTR zeigt sich nun als ein Bündel von Basisinno-vationen oder Innovationsrichtungen; man stellt sich darauf ein,daß jederzeit Innovationen vergleichbaren Ranges neu auftretenkönnen, so daß ein Ende der WTR nicht absehbar ist.

Zweitens: Zunächst wird die feste Überzeugung artikuliert, daßdie WTR im Kapitalismus allenfalls beginnen, keineswegs abervollendet werden kann. Die Argumentation, innerhalb derer dieseÜberzeugung plausibel ist, unterstellt eine fordistische Produk-

Reproduktion, in: ITW-Kollo-quien H. 43/1 (wie Anm.51),S. 36.

57 Ebenda, S. 38.

58 Ebenda, S. 43.

48LAITKO WTR in der DDR

tionsform und sieht – jedenfalls stillschweigend – den Kapitalis-mus an diese Produktionsform gebunden. Danach verschärft jederFortschritt der WTR die existentiellen Widersprüche des Kapitalis-mus; daß dem Kapitalismus umgekehrt aus solchen Fortschrittenneue Potentiale zuwachsen können, wird für ausgeschlossen gehal-ten. Der Sozialismus, der einen ganzen Wirtschaftszweig oder gareine ganze Volkswirtschaft wie einen einzigen Riesenbetrieb hand-haben kann, gilt als die einzig adäquate Wirtschafts- und Gesell-schaftsform, in der sich die WTR umfassend zu entfalten vermag.Die WTR ist zwar in den Systemkonflikt einbezogen, aber dessenAusgang ist a priori entschieden; Offenheit der Geschichte trittnicht auf, soweit es die Gesellschaftsordnungen betrifft. Diesestrikte Ausgangsposition wird sukzessiv von beiden Seiten ero-diert. Die dogmatische Überzeugung, daß die WTR im Kapitalis-mus nicht durchgeführt werden könne, verblaßt und verschwindetschließlich. Die Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit des Kapita-lismus wird in Betracht gezogen, man geht schließlich mehr oderweniger selbstverständlich davon aus, daß die WTR in beiden Sy-stemen verläuft. Die Anerkennung dieser Tatsache wird zum Mo-tiv, das friedliche Koexistenz und intersystemare Kooperation legi-timiert. Andererseits kehrt sich die den Sozialismus betreffendeArgumentationsrichtung unmerklich um; an die Stelle der Versi-cherung, daß die WTR den Sozialismus braucht, um sich zu entfal-ten, tritt immer mehr die These, daß der Sozialismus die WTR mei-stern müsse, um entwicklungsfähig zu bleiben. Im Maße dieserUmkehr erscheint die WTR immer weniger als eine sichere Bankund immer mehr als eine mit Risiken verbundene Herausforderung.

Drittens: Auch die am wenigsten dogmatischen Deutungengehen nicht so weit, die Gesellschaft als durch die WTR bestimmtzu denken und Sozialismus und Kapitalismus als Varianten vonWTR-Gesellschaften anzusehen, die durch einen übergreifendenBasisprozeß in den Produktivkräften in ein kompetitives und in derPerspektive auch kooperatives Verhältnis zueinander gezwungenwerden. An der herkömmlichen marxistischen Position, den Ge-sellschaftstyp nach den herrschenden Produktionsverhältnissen zuidentifizieren, wird festgehalten. An die Stelle der ursprünglichenGewißheitsgarantie für den Ausgang des Systemkonflikts unterWTR-Bedingungen treten zwar immer höhere Anforderungen angestalterische Aktivität; zugleich aber wird bis zum Schluß inkeiner Weise bezweifelt, daß es in den sozialistischen Gesellschaf-ten jederzeit möglich sein wird, diese Aktivität im erforderlichenAusmaß zu mobilisieren. Anscheinend wurden die Konsequenzenaus der fortschreitenden Auflösung der fordistischen Produktions-form niemals so weit durchdacht, daß die prinzipielle historischeOffenheit des Systemkonflikts in das Blickfeld rückte. EinZukunftsrisiko erblickte man allenfalls in einem nuklearen Welt-krieg oder einem globalökologischen Kollaps; die WTR selbsterschien traditionell für den Sozialismus als ein Benefizium undnicht als ein Existenzrisiko.

Viertens: In den sechziger Jahren war der Begriff der WTR –auch wenn seine Explikationen mit viel ideologischer Phraseologieumgeben waren – auf dem Weg, zu einer synthetischen Kategorie

LAITKO WTR in der DDR49

der marxistischen Gesellschaftswissenschaften von hohem Integra-tionsvermögen zu werden. Mit der Konkretisierung dieses Be-griffs, die ihn mit einem Übermaß an Kontexten konnotierte, gingjedoch eine schleichende Pragmatisierung einher, deren Kehrseiteder Verlust des großen gesellschaftstheoretischen Anspruchs war.Die WTR-Forschung tendierte dazu, zur Strategieforschung für dieInnovationspolitik der DDR zu werden, und rüstete sich mit demArsenal der dafür nötigen Instrumentarien auf, während die her-kömmlichen gesellschaftstheoretischen Positionen zwar repetiertwurden, aber zu der Rolle rituellen ideologischen Beiwerks herab-sanken, ohne selbst noch produktiv zu sein.

Alles in allem ist der Begriff der WTR meines Erachtens ein sehrgeeigneter Ausgangspunkt, um die Diskurse zu analysieren undzu deuten, in denen in der DDR zwischen 1960 und 1990 Wissen-schaft und Gesellschaft zusammengedacht wurden. Indes bewegtesich der WTR-Begriff in einem so umfangreichen, heterogenzusammengesetzten und sich vielfältig wandelnden Netzwerkanderer Begriffe, daß eine seriöse Studie, die mehr bieten willals ein paar Stichproben, das Niveau einer Habilitationsschriftanstreben und mit dem dafür erforderlichen Arbeitsaufwandrechnen müßte. Eine solche Studie wäre aber auch unerläßlich, umaus der Fülle bedruckten Papiers jene Gedanken zu selektieren, dieim Arsenal der geistigen Mittel zum Begreifen des gegenwärtigenglobalen Wandels weiterhin auf Brauchbarkeit Anspruch erhebenkönnen.

50LAITKO WTR in der DDR

Zunächst ist es notwendig, (auch sich selbst) Rechenschaft zugeben über die heutigen lebenswirklichen Interessen, aus denenheraus der Blick zurück gerichtet wird. Die streitbare RezensionAlexander Fischers zum Band »Nach dem Erdbeben« endete mitder wohl kaum zu bezweifelnden Feststellung, daß »die inzwischenoffenbar als unstrittig empfundene‚ notwendige Selbsterneuerungder ostdeutschen Geschichtswissenschaft in den Jahren 1989/90eben nicht stattgefunden hat«.1 Polemik gegen Unstrittiges scheintunnötig, dennoch polemisierte Fischer. Doch er tat dies nicht zurBekräftigung der Notwendigkeit der Erneuerung der ostdeutschenGeschichtswissenschaft, sondern um den Umstand der Kritik zuentziehen, daß diese Erneuerung von westdeutschen Historikern(ohne großes I) vollzogen wurde. Seine Polemik unterstellt indes,daß Kritik an letztgenanntem Umstand nur von erneuerungsunfähi-gen oder -unwilligen ostdeutschen Historikern geäußert worden seibzw. auf »Vorurteile(n) von amerikanischer Seite« beruhe. Sieübersieht, daß Kritik an dieser Einseitigkeit gleichfalls von densich (lediglich) »zur Denunziation« eignenden2 Historikern aus derDDR vorgebracht wurde, die selbst die Forderung nach grundsätz-licher Erneuerung 1989/90 vorgebracht hatten.3 Fischer polemi-sierte mit einer Unwirschheit, die sich wahrscheinlich erklärt ausder Vermischung zweier Interessen an der Übernahme ostdeutscherOrdinariate durch westdeutsche Historiker: dem an der (Re-)Kon-struktion der Geschichtswissenschaft in Ostdeutschland und deman der Versorgung stellungsuchender Kollegen des Westens imOsten. Nach der Legitimität des einen wie des anderen Interessessoll hier nicht weiter gefragt werden. Interessant daran ist für mei-ne Betrachtungen die unaufgelöste Vermengung zweier Aspekte,die aus methodisch zu unterscheidenden Kontexten stammen: ei-nem lebenswirklich sozialen und politischen einerseits und einemwissenschaftsinternen und -organisatorischen.

Die Diskussion um die DDR-Geschichtswissenschaft leidet aneiner ganz ähnlichen Doppelgesichtigkeit, die zudem belastet istdurch die je verschiedenen moralischen Qualifizierungen jenerWirklichkeit der Erneuerung der Geschichtswissenschaft in Ost-deutschland, deren Interessenmelange bei Fischer so schön un-durchsichtig blieb:

Einerseits steht hier die Frage nach der Qualität von Geschichts-wissenschaft in der DDR, andererseits die nach der Qualität derHistoriker, d.h. ihres Verhaltens als Bürger eines Gemeinwesens

Bernd Florath – Jg. 1954,1975-81 Studium derGeschichte an der Hum-boldt-Universität zu Berlin,davon 1977-78 drei Seme-ster zur »Bewährung in derProduktion« wegen zueigenwilliger Bemerkungenzur Biermann-Ausbürge-rung, dennoch 1986-90SED-Mitglied bis zumScheitern des Versuchs,diese aufzulösen;1991-93 einer der Sprecherdes NEUEN FORUM;Promotion 1987 über KarlAugust Wittfogel, Veröffentli-chungen zur Theorieent-wicklung in der deutschenSozialdemokratie vor demersten Weltkrieg.In UTOPIE kreativ:Rückantworten der »Haupt-verwaltung Ewige Wahrhei-ten«. Wolfgang Harich ohneSchwierigkeiten mit derWahrheit (1994, Heft 47/48,S. 58-73).

FLORATH Verpaßte Möglichkeiten51

BERND FLORATH

Verpaßte Möglichkeiten?DDR-Historiker in den sechziger Jahren

namens DDR und drittens nach dem Verhältnis dieses Verhaltenszur Qualität ihrer professionellen Arbeit. Um also Geschichts-wissenschaft der DDR zu untersuchen, sind zumindest diese dreiFragestellungen abzuklopfen, will man vermeiden, in einer unauf-löslichen Dichotomie zu verharren. Darin wird entweder der Rufeiner untergegangenen Landschaft zu retten getrachtet, indem aufjene unzweifelhaft vorhandenen Leistungen verwiesen wird, diehier nur mit den immer wieder zitierten Werken Ernst Engelbergs,4

Fritz Kleins,5 Hartmut Zwahrs6 u. a. markiert sein sollen.7 Oder eswird der Wert derselben Wissenschaft geleugnet, indem auf diemangelnde bürgerliche Qualität der Subjekte der Geschichtswis-senschaft verwiesen wird, sei es, daß sie das Ohr des Geheimdien-stes als Denunzianten bedienten, Kollegen politisch denunziertenoder selbst maßregelten, sei es, daß sie den Herrschenden bereit-willig jede Legitimationsideologie lieferten, selbst auf Kosten derRegeln der Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit.

Auch methodische Innovation scheint als Bewertungskrite-rium der DDR-Geschichtswissenschaft nicht zu greifen, insofernes wohl ohnehin keine nationale Geschichtswissenschaft gibt, diesich gänzlich durch unausgesetzte methodische Innovation bzw.deren vollkommene Abwesenheit auszeichnet. Vielmehr findensich in unterschiedlichem Maße Innovationen neben konservativerFortschreibung herkömmlicher Methoden, was, insofern Historio-graphie immer auch die Masse deskriptiver Aufbereitung vonQuellenmaterial heischt, gleichermaßen das Futter bereitet, vondem sich Innovation nicht zuletzt nährt. Der 1990/91 auf die abzu-wickelnde DDR-Akademie gerichtete evaluatorische Blick, derbohrend nach auffälligen innovatorischen Ansätzen fragte, schienmitunter eine Normalität von permanenter methodischer Umwäl-zung zu suggerieren, vor der die Akademie der Wissenschaften zubestehen hätte. Indes sind sie und ihre Institute nicht aufgelöst wor-den, weil sie diesem hohen Maßstab nicht genügten, sondern docheher umgekehrt: Sie wurden – weil als unpassend in der westdeut-sche Wissenschaftslandschaft – liquidiert, und die Evaluatoren hat-ten allenfalls die Aufgabe, aus den abzureißenden Gebäuden nochall jenes zu bergen, was im eigenen, tatsächlich moderneren Ge-bäude fehlte, paßte oder als sinnvolle Ergänzung und/oder Verbes-serung erschien. Die Normativität der Evaluierung war selbst einedoppelte, wie es den Beteiligten z.T. indes erst angesichts des Re-sultats in aller Deutlichkeit bewußt wurde: Einerseits maß sie dieDDR-Wissenschaft an einem außerordentlich anspruchsvollenMaße, an dem sich wohl die konzeptiven Kollegen des Evaluato-renteams maßen und messen lassen konnten, dem aber wohl kaumder Schnitt, der Normalzustand der westdeutschen Zunft entspre-chen dürfte.8 Andererseits hing das Resultat gerade nicht von die-ser höchst revolutionär gedachten Messung ab (ich vernachlässigehier die letztlich alles unwiderruflich in Grenzen haltende Strapa-zierung des Budgets, das seinerzeit ohne jegliche steuerlicheAufstockung sämtliche Anschlußfolgekosten zu decken in der La-ge sein sollte), sondern von wissenschaftspolitischen Struktur-vorstellungen verantwortlicher Politiker, die nur in den Kategoriendes wissenschaftlichen Normalalltags zu denken fähig waren,

1 Alexander Fischer:Rezension zu: Konrad H.Jarausch/ Matthias Middell(Hrsg.): Nach dem Erdbe-ben. (Re-)Konstruktion ost-deutscher Geschichte undGeschichtswissenschaft, in:Historische Zeitschrift, 261(1995), S. 656.

2 So eine gewisse Felici-tas Walka (Halle): Werschreibt DDR-Geschichte?,in: Neues Deutschland,18. 3. 1994; wieder abge-druckt in: Wer schreibtDDR-Geschichte? EinHistorikerstreit um Stellen,Strukturen, Finanzen undDeutungskompetenzen.Tagung der EvangelischenAkademie Berlin-Branden-burg vom 18.–20. 3. 1994in Zusammenarbeit mit demUnabhängigen Historiker-verband im Adam-von-Trott-Haus in Berlin-Wannsee,hrsg. v. Rainer Eckert, Ilko-Sascha Kowalczuk u. UlrikePoppe, Berlin 1995 (Nach-Lese, 9/94), S. 133.

3 Vgl. u. a. Erklärung zurUmgestaltung des Institutsfür Geschichtswissenschaftder Humboldt-Universität zuBerlin (21. Dezember 1990);Erklärung zur Entscheidungdes Oberverwaltungsgerich-tes Berlin zur Abwicklungvon Fachbereichen derHumboldt-Universität zuBerlin (18. Juni 1991), in:Hure oder Muse? Klio in derDDR. Dokumente und Mate-rialien des UnabhängigenHistoriker-Verbandes,Berlin 1994, S. 39–41.

4 Bismarck. Urpeuße undReichsgründer, Berlin 1985;derselbe: Bismarck. DasReich in der Mitte Europas,Berlin 1989.

5 Deutschland im erstenWeltkrieg, 3 Bde., Berlin1968.

52FLORATH Verpaßte Möglichkeiten

Innovation, qualitative Sprünge (deren Notwendigkeit für daswestdeutsche Wissenschaftssystem seinerzeit als offenkundig an-gesehen wurde) gar nicht antizipieren konnten. Dies würde Politikin ihrem Realzustand, d.h. außerhalb politikwissenschaftlicherSeminare, auch überfordern.

Wendet man nun den Blick auf die DDR-Geschichtswissenschaftzurück, ohne gleichermaßen die Abrißbirne mitzudenken, und fragtnach deren Wert wie nach dem ihrer Protagonisten, so scheint derVergleich mit anderen (darunter der westdeutschen) Geschichts-wissenschaften eher in dem Sinne sinnvoll, als Normalitätenverglichen werden, ohne zugleich eine von ihnen als Maß zu un-terstellen. Das Maß des Vergleichs zu generieren, bleibt eher einezu lösende Aufgabe, der sich in dieser vagen Annäherung zu wid-men wäre. Wenn im folgenden von DDR-Geschichtswissenschaftdie Rede ist, so vor allem im Sinne einer idealtypischen Konstruk-tion, d.h. einer Historiographie, die sich an den ideologischenGrundsätzen des Marxismus-Leninismus orientiert, womit Grie-wank und Winckelmann zu ihrer Erleichterung aus der Betrachtungentlassen wären.

Bei der Rückschau auf die sechziger Jahre muß als Ausgangsbe-dingung unterstellt werden, daß die DDR-Geschichtswissenschaftneben einigen bereits vor 1945 ausgebildeten Historikern, die ausder politischen Linken kamen und nach 1945 deren Gründungsvä-ter darstellten (Karl Bittel, Ernst Engelberg, Jürgen Kuczynski,Walter Markov, Alfred Meusel, Karl Obermann, Leo Stern, der zu-meist vergessene Joseph Winternitz u. a.), durch eine Generationrepräsentiert wurde, die nach 1945 ihre wissenschaftliche Lauf-bahn begann und sich selbst die Etablierung einer neuartigen, mitder Tradition deutscher akademischer Historiographie brechendenWissenschaft zur Aufgabe gemacht hatte.9 Abstrahiert man von die-sem vollzogenen Bruch – auf die Bedeutung dieser Abstraktionmuß allerdings zurückgekommen werden – und nimmt das Gewor-dene als Teil einer gedachten einheitlichen Geschichtswissenschaftin Deutschland, dann ergänzen diese Versuche bisherige For-schungslinien um eine Betrachtung, die in den Mittelpunkt derpolitischen Geschichte nicht mehr den Staat, sondern die politischeBewegung der nicht herrschenden sozialen Schichten, Bewegun-gen und Parteien stellt. Dieser Aspekt zwingt die Historiker,Geschichte gegen den Strich zu bürsten, unterstellt ein anderes na-tionales Selbstverständnis, indem sie den Erfolg einer staatlichsanktionierten Politik nicht mehr ohne weiteres als dem nationalenInteresse entsprechend, sondern entgegengesetzt gerade bestimmteAkte staatlicher Politik in Deutschland als den Interessen derNation entgegengesetzt oder, wie es der zeitgenössische Jargon for-mulierte, als antinationale Politik ansieht. Interessanterweise wur-de so die Identifizierung von nationalem Interesse und Staat zwargrundsätzlicher Kritik unterzogen, gleichwohl blieb nationalesInteresse eine als objektivierbar angesehene Kategorie, nur daßes nunmehr an die jeweiligen Interessen der Unterschichten (we-nigstens im Postulat des Marxismus-Leninismus) bzw. an diejeweiligen Sonderinteressen der – sich als den Unterschichtenzugerechneten politischen Avantgarde ansehenden – politischen

6 Zur Konstitutierung desProletariats als Klasse.Strukturuntersuchung überdas Leipziger Proletariatwährend der industriellenRevolution, Berlin 1978.

7 Warum erwähnt eigent-lich niemand Karl Griewank(Der neuzeitliche Revoluti-onsbegriff. Enstehung undWirkung, Weimar 1955)oder Friedhelm Winckel-mann (Byzantinische Rang-und Ämterstruktur im 8. und9. Jahrhundert. Faktorenund Tendenzen ihrer Ent-wicklung, Berlin 1985[Berliner ByzantinistischeArbeiten; 53])? Was beiWinckelmann scheinbarnoch durch die Randstellungdes Themas motivierbarwäre, wirft im Falle Grie-wanks unvermeidbar bereitsdie Frage danach auf, waseigentlich DDR-Geschichts-wissenschaft sei: Eine Fra-ge, die an die sinnreichewie hochkomplizierte Unter-scheidung zwischen russi-schen und sowjetischenSchriftstellern erinnert. EineFrage, auf die bislang nurIlko-Sascha Kowalczuk hin-wies, obwohl die von ihmskizzierte Antwort mir zukurz zu greifen scheint. –Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk:Die Durchsetzung des Mar-xismus-Leninismus in derGeschichtswissenschaft derDDR (1945–1961), in: Histo-rische Forschung und sozia-listische Diktatur. Beiträgezur Geschichtswissenschaftder DDR, hrsg. v. MartinSabrow und Peter Th.Walther, Leipzig 1995(Beiträge zur Universalge-schichte und vergleichendenGesellschaftsforschung; 13),S. 37f.

8 Daß die Mehrheit derpraktizierenden Historikerder metawissenschaftlichenReflexion der eigenen Arbeitbestenfalls mit rezeptiver

FLORATH Verpaßte Möglichkeiten53

Parteien gebunden wurde. Methodisch war dieser Aspektwechselkeineswegs so innovativ, wie es den Beteiligten schien, insofern ernur die Partei, die das nationale Interesse definierte, auswechselte.Allenfalls in seiner Konsequenz, d.h. durch die mittelbar von ihmaufgeworfenen Fragen, hatte er die Potenz, methodische Innovati-on herauszufordern.

Die methodischen Konsequenzen einer Geschichtsbetrachtung(die aparte Kulturwerte zum Ausgangspunkt nimmt) für den Um-gang mit dem Rohstoff blieben weitgehend uneingelöst, obzwarindirekt heftig um sie gestritten wurde. Die Debatte über Partei-lichkeit und Objektivität der fünfziger Jahre verwarf gerade jenenWeberschen Ansatz der Wertfreiheit (im Sinne der Wahlfreiheit derWerte und nicht, wie mißverständlich häufig unterstellt wurde, imSinne einer imaginären Abwesenheit von Werten) als irrationali-stisch, der als Voraussetzung hätte dienen können für die Herstel-lung der Diskursivität von Forschungsresultaten unterschiedlicher,ja gegensätzlicher Ausgangsaspekte. In ihrem Buch »Historikerund historische Wahrheit« versuchte Celina Bobinska 1964 diesesProblem an der Problematik des historischen Fakts in sozialhistori-schen Untersuchungen zu erörtern. Eingehend unterstrich sie dieVielfalt der Aspekte in der Betrachtung ein und desselben histori-schen Vorgangs, ironisierte, so deutlich dies in einem Buch, dessendeutschsprachige Ausgabe im Ostberliner Dietz Verlag erschien,möglich war, die Fragwürdigkeit so beliebter eindeutiger Wertka-tegorien des Marxismus-Leninismus wie der »›Fortschrittlichkeit‚‹oder ›Nichtfortschrittlichkeit‹« von Produktivkräften.10 Ihre theore-tischen Überlegungen fanden indes kaum Niederschlag in konkre-ten Studien.

Insofern nämlich die Historiker in der DDR es als ihre vornehm-liche Aufgabe ansahen, das überlieferte Geschichtsbild einergrundsätzlichen Revision im Sinne des Aspektwechsels zu unter-ziehen, reichte es hin, methodisch weitestgehend konservativ zuarbeiten. So vollzog sich der wesentliche Streit mit den Vertreternder herkömmlichen historischen Zunft Deutschlands im wesentli-chen auf der Ebene dieser Aspektgebundenheit und -gegensätzlich-keit, blieb mithin politische Auseinandersetzung um Kulturwerte –wobei dieser Streit mit einer Unversöhnlichkeit ausgetragen wur-de, die die Tatsache mit sich brachte, daß die jeweiligen Aspektenicht als Aspekte einer Geschichte betrachtet wurden, die Differenzder Resultate der Forschungen also auch nicht als Ergebnisse je-weils verschiedener ihnen zu Grunde liegender Kulturwerte, son-dern der jeweilige Aspekt als objektiv und exklusiv gültiger ange-sehen wurde. Demzufolge konnten auch nur die Resultate der For-schung, die unter dem gleichen Aspekt angestellt wurde, als histo-rische Wahrheit akzeptiert werden; alle anderen galten als Klitte-rung, bestenfalls als Irrtum. Besonders auf DDR-Seite unterlagdem Vorgehen die Auffassung, historische Erkenntnis sei Wider-spiegelung objektiver Realität, mithin eine, d.h. genau eine wahreReflexion möglich. Aussagen von Historikern konnten nur wahroder falsch im Sinne mathematischer Aussagenlogik sein. Dialek-tik – im Sinne des universalen Zusammenhangs aller Phänomene,ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, mithin nur wechselseitig, relativ

Aufmerksamkeit für diehierüber geführten Debattengegenübersteht, ist einerder harten Fakten, derensich die an dieser DebatteBeteiligten längst bewußtsind. – Vgl. Jerzy Topolski:Methodology of History,Warszawa/Dordrecht/Boston 1976, S. 1.

9 Vgl. Ilko-Sascha Kowal-czuk: »Wo gehobelt wird,da fallen Späne«. Zur Ent-wicklung der DDR-Ge-schichtswissenschaft bis indie späten fünfziger Jahre,in: Zeitschrift für Geschichts-wissenschaft, 42 (1994) 4,S. 302–318.

10 Vgl. Celina Bobinska:Historiker und historischeWahrheit. Zu erkenntnis-theoretischen Problemender Geschichtswissenschaft,Berlin 1967, S. 7ff., ZitatS. 14.

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bestimmbaren Wertigkeit – spielte in der Praxis der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft scheinbar paradoxerweisegar keine Rolle.

Selbst bei äußerster Skepsis kritischer Denker unterlag ihr Vor-gehen einem Verfahren, das in der Tendenz die Herstellung einesumfassenden, objektiv wahren Bildes der Vergangenheit möglicherscheinen ließ. Bertolt Brecht schrieb in seinem »Lob des Zwei-fels« von dem Menschen, der den endlich gefundenen Lehrsatz»eines Tages in das Merkbuch des Wissens ein[schrieb]« und spä-ter, »mag es geschehn, daß ein Argwohn entsteht, denn neue Er-fahrung/ Bringt den Satz in Verdacht. Der Zweifel erhebt sich./Und eines anderen Tages streicht ein Mensch im Merkbuch desWissens/ Bedächtig den Satz durch.«11 Erkenntnisfortschritt ist ge-prägt durch die Vorstellung genaueren, tieferen Durchdringens ein-mal gegebenen, passiven Materials, der quantitativen Mehrung desWissens, kaum als Entwicklung der Methoden der Wissensgewin-nung. Vorbild des Erkenntnisvorganges bleibt die klassischePhysik, auf die im Notfall immer wieder zurückgegriffen wird.12

Pikanterweise wird gerade von den Vertretern einer Ideologie, diesowohl politische Verantwortung des Wissenschaftlers als auchpolitische Wirksamkeit seiner Arbeitsresultate zur Achse desSelbstverständnisses machen, Erkenntnis selbst nicht als Interak-tion zwischen Betrachter und Betrachtetem, sondern als bloßeBeobachtung eines unbeweglichen und unveränderbaren Objektesgedacht. Diese mechanistische Vorstellung wissenschaftlicher Er-kenntnis im dialektischen und historischen Materialismus erfüllteimmerhin den der Geschichtswissenschaft gestellten Zweck, daspolitische und historische Selbstverständnis der in der DDR Agie-renden zu untermauern: historische Legitimation der SED aus derGeschichte als einer Geschichte des nicht nur moralisch berechtig-ten Kampfes der Unterschichten um politische und menschlicheEmanzipation, sondern auch aus der Geschichte jener politischenPartei, die sich als einzig berechtigten, weil erfolgreichen Vor-kämpfer dieses Emanzipationskampfes ansah; die SED (zumindestfür deutsche Verhältnisse) als Träger des historischen Fortschritts,wobei objektive Logik des historischen Prozesses und politischeProgrammatik der Partei in eins fielen. Alternativen hatten in einersolchen Konzeption freilich keinen Platz, es sei denn als besondershinterhältige Versuche des alles verneinenden Geistes, den Sieg desobjektiv Notwendigen zu verhindern oder zu verzögern. Diese Ab-solutheit des Wahrheitsanspruches nicht schlechthin eines ver-schrobenen Wissenschaftlers oder – und die Bezeichnung wärewohl treffender – Messias verengte zwangsläufig den Raum deswissenschaftlichen Diskurses, stellte die Abweichung unter politi-schen Verdacht, der allenfalls gemildert werden konnte durch dieMöglichkeit des individuellen Irrtums. Wo sich das Individuum inseinem Irrtum verfestigt, gar diesen Irrtum überindividuell zu ver-fechten sucht, schwindet die Verzeihlichkeit des subjektiven Fehl-verhaltens, entartet es zu einem Politikum, dem zuletzt politischoder polizeilich beizukommen ist.

Um die Vielfältigkeit der für dieses Vorgehen maßgeblichen Mo-tivationen ebenso wie die Unmöglichkeit, sie aus einer bestimmten

11 Bertolt Brecht: Lob desZweifels, in: Derselbe: Vonder Freundlichkeit der Welt.Gedichte, hrsg. v. HubertWitt, Leipzig 1970, S. 115f.

12 Vgl. Ernst Engelberg:Betrachtungen überGegenstand und Ziel derGeschichtswissenschaft, in:Derselbe: Theorie, Empirieund Methode in der Ge-schichtswissenschaft. Ge-sammelte Aufsätze, hrsg. v.Wolfgang Küttler u. GustavSeeber, Vaduz 1980, S. 7(Hervorhebung – B. F.):»So entscheidend wichtigdie hier von Marx angedeu-tete Dialektik von objektivengesellschaftlichen Gesetzenund den subjektiven Trieb-kräften ihrer Verwirklichungauch ist, so haben wir denersten Teil der MarxschenAussage allseitig zu über-denken und uns zu Herzenzu nehmen, um einen allent-halben vernachlässigtenForschungskomplex syste-matisch in Angriff zu neh-men und eine diesem Kom-plex entsprechende speziel-le Methodik, die tatsächlich›naturwissenschaftlich treu‹zu konstatieren vermag,ausarbeiten zu können.«(Darin Zitat: Karl Marx:Zur Kritik der PolitischenÖkonomie. Vorwort, in: KarlMarx/Friedrich Engels: Wer-ke, Berlin 1958–68,[im folgenden: MEW],Bd. 13, S. 9.)

FLORATH Verpaßte Möglichkeiten55

Vita heraus in Frage zu stellen anzudeuten, eine Episode: Ein nichtunmaßgeblicher Vertreter der DDR-Geschichtswissenschaft er-zählte mir weiland geradezu verzweifelt verständnisheischend diePraxis eines derartigen Vorganges. Er habe bei einem Kollegenfalsche (weil »unmarxistische«) Ausführungen in einem Artikel inder »Einheit« bemängelt. Der Kollege, er war zu der Zeit wohl ander Leipziger oder Hallenser Universität beschäftigt, wurde dar-aufhin disziplinarisch gemaßregelt, was der Erzähler selbst damalsnicht wußte, nicht beabsichtigte und wohl auch nicht veranlaßt hät-te. Aber da die Auffassungen falsch waren, mußte, so erklärte ermir, dies auch im Interesse des wissenschaftlichen Erkenntnisfort-schritts öffentlich denunziert werden. Einige Jahre später – derGemaßregelte hatte sich anscheinend wieder rehabilitiert – traf erdiesen auf einer Tagung, wollte ihn begrüßen, doch der weigertesich, ihm auch nur die Hand zu geben. Er konnte dies nicht verste-hen, konnte keinerlei Verfehlung seinerseits sehen und bat mich,dem er selbst gerade einige Monate zuvor zur politischen Be-währung außerhalb der Universität verholfen hatte, zu helfen, ihmdieses ihm völlig unbegreifliche Verhalten zu erklären. Doch wiehätte ihm Ende der siebziger Jahre verdeutlicht werden können,daß sein eigenes Identisch-Setzen von Wissenschaft und Politikihm den Weg zu einer anderen Wertung des Vorgangs verschloß,ohne seine (ihm durch Gestapo-Folter in der Prinz-Albrecht-Straßeerhärteten) politischen Grundüberzeugungen ins Wanken zu bringen?

Die Legitimationsideologie, die zu schaffen Beruf der Historikerder DDR als konzeptiver Ideologen13 der SED war, drückte sich invielfältiger Form aus. Vorzeigbar scheinen mir noch immer dieachtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,14 die Mi-nol-Reihe,15 die Geschichte des ersten Weltkrieges16 zu sein, inso-fern sie tatsächlich – unter dem Aspekt, daß die objektive Logik derdeutschen Geschichte gewissermaßen ein Telos hat, das Walter Ul-bricht heißt – das überlieferte Material ordnend interpretierte undein entsprechendes Bild (re-)konstruierte. Die daran arbeitendenHistoriker taten im wesentlichen nichts anderes als andere Histori-ker auch, wie diese wählten auch sie aus dem Material aus, was ih-nen unter ihrem Aspekt relevant erschien, nur daß der Diskurs, derdieser Relevanz resp. der Irrelevanz ausgesparten Materials, aus-gesparter Probleme erst hätte intersubjektive und aspektübergrei-fende Geltung verschaffen können, unterbunden blieb. Insofern istdas von Martin Sabrow rekonstruierte Abenteuer Fritz Kleins Mit-te der sechziger Jahre, einen Diskurs mit westdeutschen Kollegenzu (re-)etablieren, ebenso wie die verhindernde Skepsis ErnstEngelbergs17 mehr als nur ein Problem der unterschiedlichenEinschätzungen der politischen Verhältnisse. Es ist ein zweifels-ohne nicht als solcher reflektierter Versuch wissenschaftlicherFundierung der eigenen Arbeit, ergo ein Problem nicht allein derpolitischen Geschichte der Historiker der DDR, sondern auch derWissenschaftsgeschichte.

Mit den Ulbrichtschen Reformversuchen der sechziger Jahrewurden an die Wissenschaft weitergehende Forderungen gestellt,als die bloße kritische Hinterfragung des überlieferten Weltbildesund die Entwicklung eines der Politik der SED entsprechenden.

13 Der »konzeptive Ideolo-ge« ist eine Charaktermas-ke aus Marxens »DeutscherIdeologie« und meint Intelli-genzler, »welche die Ausbil-dung der Illusion dieser[herrschenden] Klasse übersich selbst zu ihrem Haupt-nahrungszweige machen«(MEW, 3, 46). Marx hattesicherlich dabei auch wirkli-che Personen vor Augen,vorstellbar wären Gentzoder Savigny und – vorallem: Hegel, wobei letzterersowohl als preußischerStaatsphilosoph konzeptiverIdeologe ist, indes auchdank dialektischer Methodeein subversives Elementin den geistigen Prozeß ein-führt, das zugleich staats-erhaltend wie staatszerset-zend wirkt.

14 Berlin 1966.

15 Lehrbuch der deut-schen Geschichte(Beiträge), 12 Bde.,Berlin 1959–69.

16 Deutschland im erstenWeltkrieg, 3 Bde., Berlin1968.

17 Vgl. Martin Sabrow:Der »ehrliche Meinungs-streit« und die Grenzen derKritik. Mechanismen derDiskurskontrolle in derGeschichtswissenschaft derDDR, in: Die Mauern derGeschichte. Historiographiein Europa zwischen Diktaturund Demokratie, hrsg. v.Gustavo Corni und MartinSabrow, Leipzig 1996,S. 79–117; vgl. auch dersel-be: Geschichte als Herr-schaftsdiskurs. Der FallGünter Paulus, in:Berliner Debatte. Initial,1995, 51–67.

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Insbesondere natürlich von den Natur- und Sozialwissenschaftenwurde operationalisierbares Wissen gefordert; Wissenschaft galtals unmittelbare Produktivkraft,18 sollte nicht allein produktive Pro-zesse im unmittelbaren Sinne rationalisieren, sondern auch Organi-sation, Verwaltung, Leitung und selbst Politik. Direkte Folge wardie Etablierung von – vormals als bürgerliche Scheinwissenschaf-ten verfemten – Disziplinen und Methoden wie Soziologie, Kyber-netik, Demographie. Soziologische und kybernetische Methodenstanden mehr und mehr im Mittelpunkt auch theoretisch-methodologischer Erörterungen in den Sozial- und Geisteswissen-schaften. Die Geschichtswissenschaft als Teil der als Gesamtheitverstandenen Gesellschaftswissenschaft suchte einerseits ihrenStandort innerhalb der mehr und mehr nach Systematisierung ru-fenden Diskussion, andererseits nach den eigenen Fragestellungen,die über die Legitimation, historisches Selbstverständnis und -be-wußtsein produzierende Kontemplation hinausreichten. Die imKontext des Marxismus-Leninismus ohnehin gestellte Fragenach Gesetzmäßigkeiten rückte ausdrücklich in den Vordergrund.Bislang waren es eher die den konkreten historischen Abläufenunterstellten allgemeinen gesellschaftlichen Gesetze vor allemökonomischer Natur sowie die zur Gesetzmäßigkeit stilisierte Stu-fenfolge der Gesellschaftsformationen, wie sie – noch immer gül-tig, wenn auch nicht mehr fraglos hingenommen – von Stalin indem ihm zugeschriebenen Abschnitt über dialektischen und histo-rischen Materialismus des »Kurzen Lehrgangs« formuliert wordenwar.19 (Es sei an dieser Stelle nur an die Revolution der Sklavenund Kolonen erinnert, um auf den gleichermaßen abstrakten wiededuktiven Charakter dieses Schemas hinzuweisen.) In einem viel-diskutierten Versuch näherer Bestimmung wies Peter Bollhagender Geschichte den Charakter der »allgemeinsten nichtsystemati-schen Einzelwissenschaft von der Gesellschaft« zu.20 Dies leuchte-te insofern ein, als diese Bestimmung dem individuellen Charakterdes konkret-historischen Verlaufs entgegenkam.

Bollhagens Vorstoß ließ indes ein Manko sichtbar werden, was inden folgenden Jahre dazu führte, daß innerhalb der DDR-Ge-schichtswissenschaft Forschungen zur Methodologie und Theorieder eigenen Wissenschaft an Gewicht gewannen und sich auch in-stitutionell in eigenen Forschungsgruppen verselbständigten.21

Ausschlaggebend für diesen Vorstoß dürfte nicht zuletzt gewesensein, daß die methodologische Genügsamkeit, mit der sich DDR-Historiker auf die allgemeintheoretischen und -methodologischenVorgaben der Philosophen verließen, in dem Augenblick fragilwurde, in dem jene in der Philosophie wieder mehr zu sehenbegannen als die unausschöpfliche Vertiefung und Ausgestaltungeiner allgemeinsoziologischen Theorie des Marxismus-Leninis-mus, die in ihrer konzeptionellen Form indes längst festge-schrieben sei. Der kanonisierte Marxismus-Leninismus war diestrukturelle Bedingung für einen Zustand, in dem kommunistischeKaderphilosophie22 sich zur Theologie erhob, der gegenüber alleanderen Wissenschaften zu Mägden degradiert wurden, in derPhilosophie – wie 1956 Robert Havemann, eine FormulierungWolfgang Harichs nutzend, meinte – als »Hauptverwaltung ›Ewige

18 Prägend für dieseÜberlegung waren dieÜberlegungen des Architek-ten Gerhard Kosel: Produk-tivkraft Wissenschaft, Berlin1957; derselbe: Unterneh-men Wissenschaft. Die Wie-derentdeckung einer Idee.Erinnerungen, Berlin 1989.

19 Vgl. Geschichte derKommunistischen Partei derSowjetunion (Bolschewiki).Kurzer Lehrgang, Berlin1946, S. 126–160.

20 Peter Bollhagen:Soziologie und Geschichte,Berlin 1966, S. 117ff.

21 Vgl. Ralf Possekel:Strategien im Umgangmit dem Dogma: Die ge-schichtstheoretische Diskus-sion in der DDR, in: BerlinerDebatte. Initial, 1991,S. 170–178;Wolfgang Küttler: Das Histo-rismus-Problem in der Ge-schichtswissenschaft derDDR, in: Historismus, hrsg.v. O. G. Oexle und Jörn Rü-sen, Graz/Köln/Weimar1996; derselbe: Geschichts-theorie und -methodologiein der DDR, in: Zeitschrift fürGeschichtswissenschaft (imfolgenden: ZfG), 42 (1994),S. 8–20.

22 Vgl. Peter Ruben: Vonden Chancen, Kaderphilo-soph zu werden. Erläuterun-gen für Außenstehende, in:Innenansichten ostdeut-scher Philosophen, hrsg. v.

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Wahrheiten‹« fungierte, die die letzte Instanz des Urteils überWahrheit und Unwahrheit in den Ergebnissen der Einzelwissen-schaften war.23 Es lag ein Hauch emanzipatorischen Bestrebens imUnbehagen der Historiker über die Tatsache, daß »Probleme …,die die Diskussion geschichtstheoretischer und -methodologischerFragen belebt haben«, von Philosophen aufgeworfen wurden.24 DieDiskussion über (spezifisch) historische Gesetze entzog die Ge-schichtswissenschaft partiell dem Wächteramt der als Ideologenfungierenden Philosophen, die bislang die Zuständigkeit für verall-gemeinernde Aussagen über die Logik gesellschaftlicher Entwick-lungsprozesse weitestgehend monopolisiert hatten. Die nach 1970erfolgte Gründung einer eigenen Forschungsstelle für systemati-sche Fragen der Geschichtswissenschaft war in gewisser Hinsichtauch ein Akt der Emanzipation der Historiker aus der Klammer derFachleute des HistMat. Andererseits brachte diese Emanzipationvon philosophischer Vormundschaft in konzeptionellen Fragenauch die souveräne Ignoranz zum Ausdruck, die praktizierendeHistoriker für gewöhnlich gegenüber metawissenschaftlichen Fra-gestellungen an den Tag legen. Die allgemeine weltanschaulicheund politische Selbstdefinition war schlechthin leichter reprodu-zierbar in ideologischen Einleitungen und Vorworten zur Rolle undBedeutung des Gegenstandes als der Nachvollzug eines anspruchs-vollen methodologischen Diskurses.

Bollhagens Thesen hinterließen zugleich Unbehagen, insofernein naturwissenschaftlich geprägter Gesetzesbegriff einerseits unddie Abhängigkeit der Bestimmung der Wissenschaftlichkeit vonder nomothetischen Arbeit des Wissenschaftlers dazu führten, daßHistoriker fürchten mußten, gewissermaßen in die nichtsystemati-sche Ecke am Rande der Wissenschaftlichkeit verbannt zu werden.Dies schmälerte den politischen Stellenwert der Geschichtswissen-schaft in einer Atmosphäre, die Operationalisierbarkeit heischte.Gangbarer Ausweg aus dieser Enge war eine Fragestellung nachStrukturgeschichte, die methodisch darüber hinaus ging, von Phi-losophen, Ökonomen oder Soziologen konstatierte soziale Gesetzein der konkreten Geschichte wiederzufinden bzw., wie es zeit-genössisch hieß: »anzuwenden«. Was in der Geschichtswissen-schaft der Bundesrepublik mit der historischen Sozialwissenschaftim annähernd gleichen Zeitraum in Angriff genommen wurde,stellte für Historiker in der DDR die Diskussion nach strukturellenEigenheiten der sozialökonomischen Formationen dar.

Im Grunde wurden Fragen aufgeworfen, die die traditionelle Ge-schichtswissenschaft ebenfalls in eine historische Sozialwissen-schaft verwandeln konnten, Fragen nach spezifischen ökonomi-schen und sozialen Strukturen historischer Gesellschaften, derÜberlagerung abstrakter ökonomischer und sozialer Systeme in je-weils konkreten Gemeinwesen, der Wirkungsweise notwendigerZusammenhänge unabhängig von der Erkenntnis der konkretenagierenden Individuen. Die Frage nach den gesellschaftlichen Ge-setzen in der Geschichte, ihrer Durchsetzung mittels des spontanenHandelns der Individuen, gleichermaßen als Resultante eines Kräf-teparallelogramms, um eine – natürlich naturwissenschaftliche –Metapher von Friedrich Engels aufzugreifen,25 hatte die Potenz,

Norbert Kapferer, Darmstadt1994, S. 7–29.23 Vgl. Robert Havemann:Rückantworten an dieHauptverwaltung »EwigeWahrheiten« [Sonntag,28. 10. 1956], in: Derselbe:Rückantworten an dieHauptverwaltung »EwigeWahrheiten«, hrsg. v. Hart-mut Jäckel, München 1971,S. 42; derselbe: Meinungs-streit fördert die Wissen-schaften [Neues Deutsch-land, 8. Juli 1956], in:Ebenda, S. 16 f.; vgl. BerndFlorath: Rückantworten andie »Hauptverwaltung EwigeWahrheiten«. WolfgangHarich ohne Schwierigkeitenmit der Wahrheit, in: UTO-PIE kreativ, 1994, 47/48, S.59ff.; derselbe: Vom Zweifelzum Dissens, in: Die Entlas-sung. Robert Havemannund die Akademie der Wis-senschaften 1965/66, hrsg.v. Silvia Müller und BerndFlorath, Berlin 1996 (Schrif-tenreihe des Robert-Have-mann-Archivs; 1), S. 15ff.

24 Günter Katsch, AlfredLoesdau, Hans Schleier:Forschungen zur Geschich-te der Geschichtsschrei-bung, -theorie und -metho-dologie, in: HistorischeForschungen in der DDR1960–1970. Analysen undBerichte (ZfG. Sonderband,23[1970]), S. 34, Fn. 10.

25 Vgl. Friedrich Engelsan Joseph Bloch, 21./22. 9.1890, in: MEW, Bd. 37,S. 464.

58FLORATH Verpaßte Möglichkeiten

die Geschichte zu einer wirklichen Sozialwissenschaft werden zulassen – mit Implikationen für die Analyse der Wirklichkeit derDDR, deren Sprengkraft den Historikern zumindest die Stellungvon Intellektuellen innerhalb der Intelligenzia zurückerobert hätte.Dies hätte jedoch zumindest erfordert, das sich eröffnende analyti-sche Instrumentarium nicht allein in der Untersuchung altorientali-scher, antiker oder feudaler Gemeinwesen in Bewegung zu setzen,sondern vor allem die Geschichte des eigenen Staates, des eigenenSystems auf den Seziertisch sozialhistorischer Analyse zu legen.Die Herausforderungen hierfür waren vorhanden, das Instrumenta-rium im Enstehen, selbst die Bedürfnisse von Politik, vor allemaber der Ökonomie sprachen in diese Richtung.

Die Überlegungen, die im Kontext der Wirtschaftsreformen desNeuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volks-wirtschaft (NÖS) dazu angestellt wurden, warfen in dieser Rich-tung eine ganze Palette von Problemen auf, die sich unmittelbar anHistoriker richteten. Insofern die Reformökonomie auf den trei-benden Wettbewerb der sich über den (zweifelsohne regulierten)Markt realisierenden und ausgleichenden Interessen der einzelnen(volkseigenen) Betriebe und Vereinigungen von Betrieben abzielte,wurde zwangsläufig die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnisdie Enteignung der Bourgeoisie unmittelbar nach 1945 zur Eta-blierung sozialistischer ökonomischer Verhältnisse stand. 1962verwies Ota Sik nachdrücklich auf die wissenschaftliche (undpraktische) Unzulänglichkeit bisheriger Definitionen des sozialisti-schen Eigentums, auf ihren tautologischen Charakter. Er hätte sichdabei immerhin unmittelbar auf das »Kommunistische Manifest«berufen können: »Wenn … nach Erlaß der Nationalisierungsdekre-te die Produktionsweise, die Verteilungs- und Austauschweise inder Gesellschaft nicht verändert würden, bliebe die Nationalisie-rung eine bloße rechtliche Erklärung ohne ökonomischen Inhalt,die bloße unrealisierte Willensäußerung der revolutionären Klas-se.«26 Die Brisanz der Fragestellung fällt ins Auge, denn wenn dieNationalisierung der Produktionsmittel nicht identisch mit der Her-stellung sozialistischer Eigentumsverhältnisse war, so mußtezwangsläufig geklärt werden, welche Verhältnisse der »despotischeEingriff« der Nachkriegszeit etabliert hatte und welches die zu ent-wickelnden Formen waren, die tatsächlich neue Verhältnisse zuetablieren in der Lage gewesen wären. Sik wirft weiter die Fragepartieller Interessen innerhalb der sozialistischen Ökonomie auf,die im NÖS als wirtschaftspolitische Steuerungsfrage wiederkehrtmit dem Impuls, die divergierenden Interessen materieller Naturals mobilisierendes Moment zu konzeptualisieren. Eine ganze Wel-le von wissenschaftstheoretischen Grundlagenforschungen werdeninitiiert, um Steuerungs- und Regelungsprozessen ihren Platz in-nerhalb der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaf-ten zuzuweisen. Die Antwort der DDR-Historiker bleibt verhalten.Sie verstehen sich nicht als Analytiker von Gesellschaft, sondernals Ingenieure der Seele, als Bewußtseinsproduzenten, verharren inder Rolle des Ideologen.

Dank einer sinnreichen Überlegung bleibt ihnen das Schicksalder tschechoslowakischen Intellektuellen von 1968, der Budapester

26 Ota Sik: Ökonomie –Interesse – Politik, Berlin1966, S. 298–302. In demvon Otto Reinhold seinerzeitpersönlich betreuten Buchberuft sich der tschechischeReformer indes nicht aufdas »Manifest«, wohl aberauf analoge Aussagen vonLenin (Über »linke« Kinde-reien und über Kleinbürger-lichkeit, in: Derselbe: Werke,Bd. 27, S. 326; derselbe:Die nächsten Aufgaben derSowjetmacht, in: Ebenda,S. 231), die in der Substanzaber nichts anderes darstel-len als die aus der Realitätder in den nachrevolu-tionären Monaten in Sowjet-rußland gewonnene prakti-sche Wiederholung der Anti-zipationen des »Manifests«über den Gang der proletari-schen Revolution: »DasProletariat wird seine politi-sche Herrschaft dazu benut-zen, der Bourgeoisie nachund nach alles Kapital zuentreißen, alle Produktions-instrumente in den Händendes Staats, d.h. des alsherrschende Klasse organi-sierten Proletariats, zu zen-tralisieren … Es kann diesnatürlich zunächst nur ge-schehn vermittelst despoti-scher Eingriffe in das Eigen-tumsrecht und in die bürger-lichen Produktionsverhält-nisse, durch Maßregeln al-so, die ökonomisch unzu-reichend und unhaltbar er-scheinen«. Karl Marx/Friedrich Engels:Manifest der Kommunisti-schen Partei, in: MEW,Bd. 4, S. 481(Hervorhebungen – B. F.).

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Schule der Philosophie, der Charta 77 und der Solidarnosc-Historikererspart. Mit der »zweiten Etappe des NÖS«, diesem Ergebnis derKapitulation Ulbrichts vor den Doktrinären im Politbüro auf dem11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, wurde der politi-schen Konsequenz der Wirtschaftsreform, der Demokratisierungder Gesellschaft, wie sie die Kommunisten der CSSR 1968 mutigeinleiteten, vorbeugend die Garotte an den Hals gesetzt.27

Georg Klaus und Hans Schulze versuchten, die Historiker nochvon der Produktivität jener analytischen Verfahren zu überzeugen,ihnen zu zeigen, »daß schon relativ elementare Einsichten der ky-bernetischen Modell- bzw. Systemtheorie ausreichen, um be-stimmte methodologische Schwierigkeiten, die bis jetzt bestanden,zu beseitigen«. Die Antipathien der Historiker gegen diese Verfah-ren waren ihnen bekannt. Ihre Darlegungen füllten ein ganzesBuch, angeschrieben gegen die Behauptung, »die Benutzung derkybernetischen Denkweise brächte nichts anderes zuwege als das,was an sich schon völlig bekannt ist, mit Hilfe neuer Fachaus-drücke wiederzugeben«.28 Bezogen auf zeithistorische Untersu-chungen entwickelten sie Analysemodelle von Handlungen, die aufgesellschaftliche Veränderungen abzielen. Die für Historiker rele-vanten Fragen, die sich aus den freilich abstrakten kybernetischenModellen ergaben, zielten auf Handlungsmotive, »weshalb dieseMotive entstanden sind, weshalb sich die betreffende Klasse be-stimmte Ziele setzte und woher diese Ziele und nicht andere ge-kommen sind«.29 In der Unterscheidung zwischen restaurativen undauf Zustandsveränderung abzielenden Handlungssystemen ent-wickeln sie Modelle, die die Demokratie als conditio sine qua nonfür letztere unterstreichen, festhalten, daß in diesen die Interessender ausführend Handelnden Regelgröße für die Lenkung des Ge-samtsystems seien, wogegen in restaurativen Systemen das Bestre-ben der Steuerung darauf abzielte, Störgrößen, die außerhalb desStabilitätsbereiches zu drängen drohen, entgegenzuwirken. In letz-teren sind die Interessen der ausführend Handelnden nicht selbstRegelgröße, sondern allenfalls zu beeinflussende Störgrößen. Nichtzuletzt weisen sie die Historiker auf das systemtheoretische Krite-rium des höheren Informationsgehalts des Gesamtsystems und derSelbstregulierungsfähigkeit seiner Subsysteme als Entwicklungs-indikator hin.30

Doch in der Realität hatte das entwickelte gesellschaftliche Sy-stem des Sozialismus mit seinem Kernstück, dem ökonomischenSystem des Sozialismus, die Eigenheit, daß sich hier soziale Ge-setze nicht mehr wie bisher überall in der Geschichte spontan,durch Autoregulierung seiner Subsysteme, durchsetzen mußten.Der mühevolle Gang durch die chaotischen, sich durchkreuzendenIntentionen der handelnden Individuen blieb der »sozialistischenMenschengemeinschaft« erspart: Sie besaß eine Avantgardepartei,die SED, die die sozialen Gesetze durchschaute und ihnen entspre-chend handelte. Die Übereinstimmung von Gesetz und Bewußtseinüber den gesetzmäßigen Verlauf der Dinge, die die Historiker beider Untersuchung des Sozialismus der analytischen Arbeit der Re-konstruktion sozialer Gesetze und wirklicher Interessen enthob,verwies sie logisch wieder auf die traditionelle, kontempla-

27 Vgl. Jörg Roesler:Das Neue ÖkonomischeSystem – Dekorations- oderParadigmenwechsel?,Berlin 1993 (heft zur ddr-geschichte; 3); StefanBollinger: Die DDR kannnicht über Stalins Schattenspringen. Reformen imKalten Krieg – SED zwischenNÖS und Prager Frühling,Berlin 1993 (hefte zur ddr-geschichte; 5); DetlefEckert: Die Volkswirtschaftder DDR im Spannungsfeldder Reformen, in: Kahl-schlag. Das 11. Plenum desZK der SED 1965. Studienund Dokumente, Berlin1991, S. 20–31; JochenCerny: Versuch, ein Fazitzu ziehen, in: Ebenda,S. 159–168; Florath: VomZweifel, S. 37ff.

28 Georg Klaus, HansSchulze: Sinn, Gesetz undFortschritt in der Geschichte,Berlin 1967, S. 5.

29 Ebenda, S. 80f.

30 Ebenda, S. 228f.

60FLORATH Verpaßte Möglichkeiten

tive Arbeit zurück und verbannte methodische Neuerungen in dieGefilde der asiatischen Produktionsweise, der Antike und des Feu-dalismus. Für den Sozialismus blieb nurmehr, die Bewußtheit – alsdas Gleitmittel der sozialen Gesetze des Sozialismus – zu erhöhen,indem man sie in all ihrer Abstraktheit immer wieder und wiederins Gehör der gleitenden »gebildeten Nation« brachte. Umgekehrtkonnten so problematische Situationen auf den Mangel an Geset-zeskenntnis der handelnden Individuen als Störgröße zurückge-führt werden, waren sie mithin nie Mangel des Systems, sondernimmer nur Mangel des Individuums. Diese Arbeit der Historiker indie von Klaus angebotenen Kategorien zu übersetzen, hätte freilichunübersehbar den Realsozialismus als Regime vom Typ des»Plutarch-Modells« restaurativer Systeme31 identifizieren müssen.Insofern war es vollkommen konsequent, wenn Ernst Engelbergein Vorstoß wie der von Klaus/Schulze »trotz vieler wertvollerAnregungen in seinem kybernetischen Grundanliegen nicht über-zeugen« konnte. Er zog der methodologischen Herausforderungdie Verfeinerung der praktizierten Methoden vor: »Nicht zuletztsollte man sich davor hüten, einmal Propaganda zu machen für dieKybernetik mit Hilfe der Dialektik, statt für die Dialektik mitHilfe kybernetischer Erkenntnisse, zum anderen die Vorstellungentstehen zu lassen, als ob die Kybernetik ein neues, höheres Ent-wicklungsstadium der materialistischen Dialektik wäre, nicht ihrewichtige Ergänzung und Bekräftigung, wie es weiland bei den Dar-winschen Entdeckungen der Fall war.«32

Die entscheidenden Fragen der eigenen Reform blieben außer-halb der Erörterung. Was eine sozialistische Warenproduktiondarstellte, wenn in ihr konkrete und abstrakte Arbeit nicht mehrauseinanderfielen, sondern jede konkrete Arbeit unmittelbar gesell-schaftlichen Charakter trug,33 mußte gerade Marxisten schleierhaftbleiben. Entweder trug konkrete Arbeit unmittelbar gesellschaftli-chen Charakter, dann mußte sie diesen nicht erst auf dem Markt be-weisen, mithin gar nicht erst Ware werden, sondern umstandslosihren Weg als konkretes Produkt zum ebenso konkreten Konsu-menten finden. Oder aber der Gewinn (ergo der Profit) eines Un-ternehmens war Ausdruck seiner gesellschaftlichen Bedeutung,wie die Erfinder des NÖS dachten, dann erweist sich der gesell-schaftliche Charakter seiner Produktion erst über den Markt. Phi-lipp Neumann, ein maoistischer Kritiker der DDR aus der Bundes-republik brachte das Problem auf die sehr treffende Zuspitzung:Entweder Warenproduktion oder zentralistische Macht der Partei,entweder ökonomisches Wachstum mit dem unmittelbaren Ziel derWohlfahrt oder Weltrevolution mit dem mittelbaren Ziel der Wohl-fahrt danach. Beides zu wollen war theoretisch inkonsistent undpraktisch undurchführbar.34 Die Sorgen des radikalrevolutionärenKritikers blieben indes grundlos: Die SED wachte auch gegen denSinn der selbst eingeleiteten Reformen über ihr Bewußtseins- undErkenntnismonopol, kontrollierte den Warenaustausch letztlichwieder so scharf, daß nicht das Wertgesetz Aussagen machte überdie gesellschaftliche Wahrheit der konkreten Arbeit, sondern diestaatliche Plankommission resp. die Wirtschaftsabteilungen desZK. Das ging so lange, bis der internationale Marktwert der DDR

31 Ebenda, S. 81f.; 229ff.

32 Ernst Engelberg:Über Gegenstand und Zielder marxistisch-leninisti-schen Geschichtswissen-schaft, in: ZfG, 16(1968),S. 1139; 1139, Fn. 66; inüberarbeiteter Fassung(»Betrachtungen überGegenstand und Ziel derGeschichtswissenschaft«)wieder abgedruckt in:Ernst Engelberg: Theorie,Empirie und Methode in derGeschichtswissenschaft.Gesammelte Aufsätze, hrsg.v. Wolfgang Küttler u.Gustav Seeber, Vaduz1980, S. 25.

33 So Eva Altmann:Warenproduktion – 1. Pol.Ök., in: ÖkonomischesLexikon, L–Z, Berlin 1967,S. 1071: »Die Arbeit ist un-mittelbar gesellschaftlicheArbeit, es gibt daher keinenantagonistischen Wider-spruch zwischen ihrerAusführung als besondereArbeit in einem speziellenBetrieb und ihrem Charakterals gesellschaftliche Arbeit.«

34 Vgl. Philipp Neumann:Der »Sozialismus als eigen-ständige Gesellschaftsfor-mation«. Zur Kritik derpolitischen Ökonomie desSozialismus und ihrerAnwendung in der DDR, in:Kursbuch 23 (1977), S. 96ff.Ganz ähnlich klang auchdie Kritik Che Guevaras anden marktwirtschaftlichenReformversuchen in Osteu-ropa. Vgl. Ernesto CheGuevara: Über das haus-haltsmäßige Finanzierungs-system, in: Derselbe: Öko-nomie und neues Bewußt-sein. Schriften zur politi-schen Ökonomie, hrsg. v.Horst Kurnitzky, Berlin 1969,S. 23–59; derselbe:Der Sozialismus und derMensch auf Kuba,in: Ebenda, S. 137–156.

FLORATH Verpaßte Möglichkeiten61

und ihr innerer Erhaltungswert auf Null gesunken waren.Die Parallelität der methodischen Herausforderungen, vor denen

zur gleichen Zeit Historiker in der Bundesrepublik standen, mußfreilich die Frage aufwerfen, weshalb es erst 10 bis 15 Jahre späterin dieser Hinsicht zu Ansätzen eines produktiven Austausches kam.Tatsächlich blieben die sozialhistorischen Überlegungen des We-stens vorerst erstrangiges Ziel einer Ballung von teilweise gehässi-ger Polemik. Die Vorwürfe von östlicher Seite betrafen gerade dieproduktive Rezeption von Momenten Marxscher Methoden, die –so hätte man im Gegenteil vermuten können – von marxistisch-leninistischer Seite Beifall verdient hätten. Nichtsdestowenigerwurde den westdeutschen Sozialhistorikern vorgehalten, sie befän-den sich im Nachtrab: weil sie sich nicht sofort an der Krone dermarxistischen Schöpfung, der DDR-Geschichtswissenschaft orien-tierten, weil sie Marx adaptierten, wo es produktiv erschien, ergoeklektisch arbeiteten,35 wo sie – was ist wohl das Gegenteil: dog-matisch? sektiererisch? – weltanschaulich konsistent hätten arbei-ten sollen. Der Sinn der Polemik leuchtet heute kaum noch ein,wenn man die jeweiligen inneren Wirkungsbedingungen ignoriert.Für die ostdeutschen Historiker bestand die Notwendigkeit – ange-sichts allgemeiner geradezu hysterischer Feindseligkeit gegen al-les, was nach intersystemarer Konvergenz aussah – der schärfstenAbgrenzung gerade gegen jene Ansätze, die den eigenen am ehe-sten nahekamen. Dies war keine aus der inneren Logik, sondern ei-ne aus den politischen Wirkungsbedingungen geborne Notwendig-keit. Konkurrenz erwies sich keinesfalls als Befruchtung, sondernwurde lediglich als Schmutzkonkurrenz wahrgenommen und be-handelt. – Die nichteingestandene, nicht öffentliche Rezeptionwestdeutscher Überlegungen wäre ein noch zu untersuchendesFeld.

Die Polemik nahm letztlich Zuflucht zu einer Argumentationsfi-gur, die man nun wirklich nicht anders als urstalinistisch bezeich-nen kann: Derjenige außerhalb der kommunistischen Partei, der ihrinhaltlich am nächsten steht, ist ihr gefährlichster Feind und dahermit der größten Intensität zu bekämpfen und zuerst zu vernichten.Somit galten die westdeutschen Sozialhistoriker dem Osten nur alsdie besonders abgefeimten Apologeten des Monopolkapitalismus,weil sie – wie raffiniert – die eigene Gesellschaft zum Gegenstandkritischer Reflexion machten, sie aber nicht revolutionär in derDiktatur des Proletariats unter Führung der marxistisch-leninisti-schen Partei der Arbeiterklasse auflösen wollten, sondern einerIntegrationsthese anhingen,36 d.h. die Einheit im Kampf der ge-gensätzlichen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft als zentralund lebbar ansahen, eine Einheit, in der sie als Citoyens durchausauch Sympathien oder Parteinahme für einen Pol der Widersprüchevorweisen konnten. Die DDR-Historiker diskutierten in ihremFach nicht die wissenschaftliche Herausforderung der sozialhisto-rischen Konzepte der westdeutschen Kollegen, sondern reprodu-zierten für sich in scheinbar wissenschaftssprachlicher Form einepolitische Wende, die ihre politische Partei, die SED, am Ende dersechziger Jahre in ihrem Verhältnis zur SPD in der Bundesrepublikvollzog. Aus außerordentlich vorsichtigen Versuchen der Etablie-

35 Immer wieder findetsich in den einschlägigenPublikationen von DDR-Historikern die Fußnote mitdem anklagenden Verweisauf Wehlers Bemerkung,daß ein »gewisser theoreti-scher Eklektizismus … ehernormal als die Ausnahmesein« werde. – Hans-UlrichWehler: Theorieproblemeder modernen deutschenWirtschaftsgeschichte(1800–1945), in: Entstehungund Wandel der modernenGesellschaft. Festschrift fürHans Rosenberg zum 65.Geburtstag, hrsg. v. GerhardA. Ritter, Berlin 1970, S. 79.

36 Vgl. z.B. WalterSchmidt: in: UnbewältigteVergangenheit. Kritik derbürgerlichen Geschichts-schreibung in der BRD,hrsg. v. Gerhard Lozek u. a.,3., neu bearb. u. erw. Aufl.,Berlin 1977, S. 54–63;derselbe: Zur historisch-poli-tischen Konzeption desHeidelberger »Arbeitskrei-ses für moderne Sozialge-schichte«, in: Beiträge zurGeschichte der deutschenArbeiterbewegung, 9(1967),S. 626–635.

62FLORATH Verpaßte Möglichkeiten

rung eines rationalen, keineswegs freundschaftlichen, doch in derFrontstellung gegen die Positionen konservativer Deutschlandpoli-tik geborenen pragmatischen Verhältnisses spannungsgeladenerSuche nach Kommunikationsebenen, die Ulbricht Mitte der sech-ziger Jahre anstellte, indem er dem Konzept des »Wandels durchAnnäherung« wenigstens die im eigenen Interesse brauchbar er-scheinenden Aspekte der Annäherung herauszulösen suchte, wurdeeine Politik der Abgrenzung. Ulbrichts eigene Position war zu am-bivalent, zu sehr auf den eigenen Machterhalt zentriert, als daß sieder Reaktion der Betonfraktion der SED-Führung hätte standhaltenkönnen, die Annäherung gar nicht anders als vollzogenen Wandelverstehen konnte. Sie war selbst entstellt von den Malen einer Ein-heits- und Volksfrontpolitik, die Einheits- wie Volksfront nur alsPokrustesbett begreifen konnte, in dem jede Umarmung zur Verge-waltigung verkam, jede vorsichtige Zurückhaltung als Beweis derFeindseligkeit. Die Reetablierung des Sozialdemokratismus alsaktuellem Feind ging mit der Entmachtung Ulbrichts einher. Siewurde im SED-Politbüro vom Chef der Zentralen Parteikon-trollkommission, Hermann Matern, vorgetragen37 und sprachMoskauer Phobien vor deutsch-deutscher, kommunistisch-sozial-demokratischer Annäherung aus dem Herzen. Daß dieser Art Pho-bien schmerzhaft waren, obwohl es sich um Phantomschmerzenhandelte, bewies schließlich die umfangreiche Generalabrechnungmit dem Sozialdemokratismus,38 die Herbert Wehner, der sicher ambesten mit dem Innenleben kommunistischer Politik vertrautewestdeutsche Sozialdemokrat, als »Leitplanke für SED-Kader« be-zeichnete.39 Wie ein roter Faden zieht sich durch die Polemiken ge-gen Sozialdemokratismus wie gegen die Regierung Brandt/Scheelder Gedanke, daß einerseits die Durchsetzung der Sozialdemokratieebenso Eingeständnis des Scheiterns bisheriger antikommunistischerPolitik konservativer Prägung sei wie der erfolgversprechendereVersuch des Eindringens und Aufweichens der kommunistischenStaaten.40 Die Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre auchinstitutionell Form gewinnende historisch-kritische Sozialwissen-schaft wurde überwiegend in diesem politischen Kontext gesehenund nicht im Kontext methodologischer Innovationen, die sieinnerhalb der Geschichtswissenschaft herausforderte.41 Uneinge-standen wurden die Entwicklungen innerhalb der westdeutschenHistorikerschaft mit einer Brille gelesen, die unterstellte, was dieostdeutsche praktizierte, nämlich Propagandaabteilung der Politikzu sein, in einer unmittelbaren Abhängigkeit von den jeweils vor-herrschenden politischen Richtungen zu stehen, das denen entspre-chende Geschichtsbild zu entwerfen, wie es sich für die SED-Ge-nossen Historiker als politische Selbstverständlichkeit und Pflichtin der DDR gehörte.

Während von konservativer Seite gegen die historisch-kritischeSozialwissenschaft die produktive Rezeption von marxistischenFragestellungen unter den Verdacht der Kommunismussympathiegestellt wurde, erhob die DDR-Geschichtswissenschaft die An-klage der politisch absichtsvollen Marxismusverfälschung. DieDurchsetzung der historisch-kritischen Sozialwissenschaft konnteweder durch die eine noch die andere Seite aufgehalten werden –

37 Hermann Matern:Zur Rolle der Sozialdemo-kratie in der Klassenausein-andersetzung auf deut-schem Boden. Rede aufder 10. Tagung des ZK derSED, 28./29. April 1969,Berlin 1969.

38 Vgl. Ideologie desSozialdemokratismus in derGegenwart, Berlin 1971.Das russische Original er-schien ein Jahr zuvor in Mo-skau, die deutsche Fassungwurde vom Chef des Insti-tuts für Marxismus-Leninis-mus beim ZK der SEDpersönlich herausgegeben.

39 Herbert Wehner:Leitplanke für SED-Kader.Grundsätzliches zur Ausein-andersetzung der Kommuni-sten mit dem »Sozialdemo-kratismus«, in: NeueGesellschaft, 18(1971),S. 453–462; vgl. Peter Chri-stian Ludz: Die Ideologiedes »Sozialdemokratismus«aus der Sicht der Kommuni-sten, in: Ebenda, 19 (1972),S. 358–363.

40 Vgl. Ideologie des So-zialdemokratismus, S. 5f.;Die Gespräche der Regie-rung mit der westdeutschenBundesrepublik. Teil derKlassenauseinandersetzungzwischen Sozialismus undImperialismus auf deut-schem Boden, in: Informa-tionen, Berlin, 1970/5, Nr.41, S. 3; Warum haben wirBonn Verhandlungen ange-boten, obwohl Westdeutsch-land vom aggressiven impe-rialistischen System inWesteuropa beherrschtwird und die RegierungBrandt/Scheel die alterevanchistische Politikgegen die DDR fortsetzt?In: Ebenda (Sonderausga-be ohne Nr., ohne Datum);Zu zwei Argumenten, in:Ebenda (Sonderausgabeohne Nr., ohne Datum).

FLORATH Verpaßte Möglichkeiten63

ihre produktive Rezeption in der DDR allerdings in außerordentlichstarkem Maße. Sie verzögerte sich vor allem auf den Gebieten derneueren und neuesten Geschichte um annähernd 10 bis 15 Jahreund kostete bis ins Jahr 1989 den gesellschaftskritischen Impuls,der ihr innewohnte. Es war eine faktische Allianz der konservati-ven Politik in Ost und West, die es zwar nicht vermochte, die so-zialhistorische Strömung im Westen zu ersticken, ihr im Osten abersehr wohl die politische, weil kritische Potenz zu rauben.

Die DDR-Historiker wachten bis zuletzt genauestens über dasBewußtseinsmonopol der SED, war es doch nicht nur Legitimie-rung der außerökonomischen Eingriffe der SED-Führung in dieGesellschaft, sondern zugleich immer auch Legitimierung der ei-genen (unmittelbar) gesellschaftlichen Arbeit der Historiker wieGarantie ihrer politischen Stellung. Als Bewußtseinswächter derMacht der einen Partei haben sie sich bewährt, nur hat sich dieseMacht nicht bewährt. Als Historiker haben sie am entscheidendenPunkt intellektueller Selbstdefinition: der kritischen Distanz zurMacht und der Kritik der Macht, versagt, nicht nur, weil sie sichnicht verhielten als Bürger eines Gemeinwesens, sondern auchindem sie die eigenen methodischen Überlegungen dort nichternst nahmen, wo es sich nicht um verflossene Zeiten, sondern dieeigene Existenz handelte.

41 Günther Rose: »Indu-striegesellschaft« und Kon-vergenztheorie. Genesis.Strukturen. Funktionen, 2.überarb. u. erw. Aufl., Berlin1974, S. 355–393; derselbe:Modernisierungstheorie undbürgerliche Sozialwissen-schaften. Eine Studie zurbürgerlichen Gesellschafts-theorie und Geschichtsideo-logie der Gegenwart, Berlin1981, 101–134; derselbe/Gerhard Lozek: in: Unbewäl-tigte Vergangenheit, S. 23–38;vgl. dagegen die im Tenorgewandelte InterpretationGerhard Lozeks im nichtmehr erschienenen BandGeschichtsschreibung im 20.Jahrhundert. Neuzeit-Histo-riographie und Geschichts-denken in Deutschland/BRD,Frankreich, Großbritannien,Italien, USA, hrsg. v. GerhardLozek und Hans Schleier,Berlin 1990, S. 113f.

64FLORATH Verpaßte Möglichkeiten

65

Das

Kulturforumfindet am 7./8. Dezember 1996 in Berlin statt.

Es steht unter dem Leitgedanken:

»Leben ist Kultur und sonst gar nichts.

(Was der Mensch zum Leben braucht.)«

Dieses Forum bereitet geistig den 5. Parteitag vor.

Eingeladen werden Kultur-Schaffende aus dem In- und

Ausland, die sich mit den Spezialstrecken des Lebens wie

Wissenschaft, Kunst und Politik beschäftigen.

(PolitikerInnen der PDS, die sich in diesem Sinne nicht als

Kultur-Schaffende verstehen, brauchen nicht teilzunehmen

und können in dieser Zeit ihre Weihnachtseinkäufe

erledigen.)

Das Kulturforum ist keine Eintagsfliege.

Es soll ein Dauerbrenner werden.

Grund: Die herrschende Politik zielt

auf Dauer darauf,

zwei Drittel am bloßen Leben zu lassen

Und sonst gar nichts.

ist nicht nur ein Bereich gesellschaftlichen Lebens, wie fäl-schlicherweise oft gesagt wird.Die Kultur eines Volkes offenbart dessen Wesen. Sie machtsichtbar, auf welche Weise Menschen leben, was ihnenwichtig ist und was sie vernachlässigen.Sie deckt auf, welcher Wert den Dingen und Eigenschaftenbeigemessen wird.Die Kultur weist aus, von welcher Qualität das Gefüge einerGesellschaft ist.Und Maßstab für diese Qualität ist die einfache Frage: Wiegelingt ein Zusammenleben, das den Menschen nicht defor-miert, so daß ihm bewußt wird, welche Bestimmung ihm zu-kommt im Dasein– daß er nicht Raubbau treibe an sich selbst, an Leib undSeele seines Nächsten und nicht Raubbau treibe an denGrundlagen der menschlichen Existenz – der Natur.Deshalb ist die Aufmerksamkeit gegenüber der Kultur vonexistentieller Bedeutung für eine politische Partei.

Heide-Marlis LautenschlägerMalerin/Grafikerin,MdL Meckl-Vorp. Kulturpol. Sprecherin der PDS-Fraktion

Kultur

Über Kultur nachzudenken heißt, sich zu fragen:

– warum Menschen in Horno wohnenbleiben wollenund viele Jugendliche vom Lande wegziehen

– warum viele Kinder in Waldorf-Schulen gehenund ein PDS-Bürgermeister Geld für Schulen streicht

– warum in Berlin die Kneipen abends voll sindund in Hoyerswerda leer

– warum Daniela Dahn mit ihrem Buch so viel Erfolg hat, BILD im Osten aber mehr gelesen wird als das ND

– warum man in Berlin-Mitte besser keine Wäsche auf dem Balkon trocknet

– warum Gregor in Vorlagen blättert, während Gerry Wolfffür ihn Heine liest und Halina ein Basecap trägt

– warum Huren eine Gewerkschaft brauchen

– warum Arbeitslose nicht ins Theater oder Konzert gehen,Operetten so beliebt sind und die Volksbühne trotzdemimmer voll ist

– warum Vorstandssitzungen so unproduktiv sind

– warum viele Jugendliche sich gern ausblenden und kiffenund ihr Wochenende in techno-Schuppen verbringen

– warum cybertalk die Sprache und damit das Denkenverkürzt, aber Micha Schumann als Computermuffel ein Dinosaurier ist

– warum Kultur nichts ist, was man weg- oder dazutun kann und AIDS nicht nur ein Problem für Schwule ist

– warum in der PDS so auffallend viele junge kluge Frauen aktiv sind

– warum warum

– warum Kultur kein geistiges Lebensmittel istund die Amerikanisierung eine kulturelle Befreiung war

– warum die Asylantenfrage keine Geldfrage der Kommunen sein kann

– warum Demokratie nicht immer die sinnvollste Lösung bringt

– warum Muccoviszidose-Kranke die Gentechnik brauchen, unsere Urenkel aber noch Trinkwasser

– warum Menschen ein Recht auf selbstbestimmtes Leben und Sterben haben

– warum Historiker den Thüringer Königshort,aber viele Westlinke den Weg zur PDS nicht finden

– warum auch unsere Politik so unsinnlich istund was hinter der Erzählung über die Bürger von Schilda steckt

– warum Mahler-Sinfonien heute noch ans seelischeEingemachte gehen können

– warum wir ein Recht haben, so weiterzuleben wie bisherund warum nicht ...

Alles hat mit allem zu tun. Viele wollen mit uns darübernachdenken, auch im Westen, auch in anderen Ländern.Geben wir uns die Gelegenheit.

Junkers-Gasgerätewerk, ca. 1910

Besenbrigade ehemaliger Laborantinnen, Filmfabrik Wolfen 1996

Stutterheim, Bolbrinker Ausstellung »Land der Arbeit« 70

»Wer nicht gehorchen kann, lernt nie befehlen« – IG Farben, ca. 1938

Stutterheim, Bolbrinker Ausstellung »Land der Arbeit«

Flugzeugmechaniker, 1996

71

Fährt man heute mit der Bahn von Weimar nach Dessau, so geht esab Halle durch eine »postindustrielle« Brache. Nichts geht dortmehr, außer den Tankstellen und den Baumärkten, die die ganzneue Zeit mitgebracht hat.

Die Bauhausmeister, die erst in Weimar und dann vor allem ab1926 in Dessau die Kunst der Moderne lehrten, sahen auf ihrenhäufigen Wegen in die Reichshauptstadt ein »Land der Arbeit«, dasaus tausend Schloten qualmte, sie fuhren, falls sie die Reichsbahnbenutzten (Walter Gropius, der erste Bauhaus-Direktor, hatte jaschon sehr früh eine Horch-Limousine, und später die allerersteprivate Garage in Dessau an seinem Meisterhaus), auf der erstenelektrifizierten Strecke der Bahn.

Auf der Rückfahrt, von Berlin kommend und siebzig Jahrespäter, nähert sich der Reisende heute Dessau, wenn er die Auto-bahn bei Vockerode überquert, dort, wo bis 1990 die Leuchtrekla-me von Plaste und Elaste am Brückenpfeiler prangte, den der deut-sche Arbeitsdienst 1937 mit der Brücke errichtet hatte. Ein Blicküber die schönen Elbauen, linkerhand die Schornsteine des Kraft-werks Vockerode (still seit 1994), die Ruinen der großen Ge-wächshausanlage (Gurken für die Chemiearbeiter in Bitterfeld,jetzt halb abgerissene Brache), in der Ferne Zschornewitz, das er-ste Großkraftwerk der Welt (still seit 1992, jetzt ein Kraftwerks-denkmal). Dann durch die Auwälder der Elbe, das Schlößchen Lui-sium, das Gartenreich des Fürsten Franz, der Ende des 18. Jahr-hunderts hier in Anhalt versuchte, die Vision eines aufgeklärtenMusterlandes zu verwirklichen, – das Schöne mit dem Nützlichenzu verbinden! Dessau: die Einfahrt von Nordosten her, eine Stadt-silhouette, die die großen Zerstörungen von 1945 nicht verbergenkann, Reste des barocken Stadtschlosses, Neubauten verschiedenerZeiten, lebendiges Architekturmuseum der DDR. Dann weiter imSüden jenseits der autogerechten Schneisen, die die Achsen dereinstigen Barockstadt ersetzt haben, die von Walter Gropius ge-plante Siedlung Dessau-Törten, in den zwanziger Jahren Vorführ-stück für das neue Bauen des Bauhauses.

Ganz in der Nähe liegt Bitterfeld, das von Walther Rathenau fürdie AEG entdeckt und später von Griesheim-Elektron, vor allemfür die Chemieindustrie, erschlossen wurde.

Preiswerter Baugrund, die Kohle und die zu geringen Tarifenarbeitenden Menschen schufen die ideale Grundlage, hier denindustriellen »Hinterhof« Berlins zu errichten.

Kerstin Stutterheim – Jg. 1961,Wirtschaftskaufmann, Studi-um der Theaterwissenschaftan der TheaterhochschuleLeipzig und der Humboldt-Universität Berlin, Institut fürTheaterwissenschaft undkulturelle Kommunikation,Diplom 1990 über »HenrikIbsen und das piece bienfait«. Arbeit als Lektoratslei-terin und Redakteurin beimDFF. Freischaffend seit1992. Autorin und Regie für»Die Wäscherei« (ZDF1993) und »Laufen lernen«(arte 1993). Seit 1993 auchals Dramaturgin. 1993/94Jury-Vorsitzende des Festi-vals des jungen ostdeut-schen Films, seit 1994 ge-meinsame Filmprojekte mitNiels Bolbrinker: »Ge-schichtswerkstatt«, »Politi-sche Landschaft« und»ORiginal WOlfen. Aus derGeschichte einer Filmfabrik«.Verheiratet mit NielsBolbrinker, zwei Söhne.

88STUTTERHEIM/ BOLBRINKER Land der Arbeit

KERSTIN STUTTERHEIM

NIELS BOLBRINKER

Bilder eines Industriereviers

Da sonst, wenn über die Region berichtet wird, vor allem Bilderverwendet werden, die entweder jene schöne Landschaft des Gar-tenreiches des Fürsten oder aber alte Ansichten der Fabrikanlagenbzw. Fotos der Industriebrache zeigen, auf denen fast nie wirklicheMenschen zu sehen sind, haben wir in den Archiven für diese Aus-stellung vor allem Fotos ausgewählt, auf denen die Menschen in ih-rer Arbeit oder der mit der Arbeit verbundenen Lebenswelt zu se-hen sind. Dazu kommen neue Fotos von Niels Bolbrinker, die er inden letzten Jahren bis heute zu dieser Thematik aufgenommen hat.

»Hat man sich lange genug in so ein Bild vertieft, erkennt man,wie sehr auch hier die Gegensätze sich berühren: die exaktesteTechnik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wertgeben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann.Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit inder Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwi-derstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige FünkchenZufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit denBildcharakter gleichsam durchsenkt hat, die unscheinbare Stelle zufinden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute dasKünftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend,es entdecken können. Es ist ja eine andere Natur, welche zurKamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß andie Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirktenRaumes ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daßeiner, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur imgroben sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehrvon ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ›Ausschreitens‹«.Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. 1931

Einige literarische Texte ergänzen die Fotos und ermöglichen, dieGeschichten in den Bildern auch mit anderen, vergleichbarenRegionen in Beziehung zu denken.

Es geht uns auch darum, darüber nachzudenken, inwieweit dieIndustrialisierung auch die Kultur des Alltags, aber auch desErzählens geprägt hat. Die Menschen mußten ja erst zur funktio-nierenden Arbeitskraft diszipliniert werden.

»Hört zu, ich will euch von einem guten Lande sagen, dahin wür-de mancher auswandern, wüßte er, wo selbes läge, und eine guteSchiffsgelegenheit. Aber der Weg dahin ist weit für die Jungen unddie Alten, denen es im Winter zu heiß ist und zu kalt im Sommer.Diese schöne Gegend heißt Schlaraffenland, auf welsch: Cucca-gna«. ...schrieb Ludwig Bechstein. Dieses andere Land Cuccagnawar in den Volkstraditionen von Italien bis England die Utopie ei-ner anderen Welt, in der es gerecht zugeht, Essen und Trinken füralle ausreichend vorhanden sei, man nie frieren müsse ... Es gab so-gar ein Cuccagna der Frauen, wie eine Grafik aus dem 17. Jahr-hundert zeigt. Später wurde Cuccagna zum Schlaraffenland undman mußte, um dorthin zu gelangen, entweder – zum Beispiel –durch eine Reismauer sich durchfressen oder sieben Tage durchSchweinekot waten, um dann dort auf Säufer und Spieler zutreffen, sich an all den köstlichen Braten, Kuchen und Weinen oder

Niels Bolbrinker – Jg. 1951,geboren in Hamburg; Studi-um der Fotografie an derHfBK bei Kilian Breier undan der Fachhochschule fürOptik und Fototechnik;Diplom im FachbereichVisuelle Kommunikation.Verschiedene freie fotogra-fische Arbeiten. Nach Kame-raassistenz Arbeit als Kame-ramann vieler Fernsehdoku-mentationen und Kinderfil-me. 1978 Mitbegründer derWendländischen Filmcoope-rative, dort Kamera, Co-Re-gie und Schnitt u.a. bei»Tue recht und scheue nie-mand« (Bundesfilmpreis1977) und »Zwischenzeit«(Preis der Filmkritik 1986).Seit 1988 eigene Projekte –u.a. »Schuß Gegenschuß«(mit Th. Tielsch 1989/90),»Das Ende des blauenMontag« (1992), »In-nenAußen« (1993), »Ge-schichtswerkstatt« (1994),»Das industrielle Garten-reich« (mit M. Herold 1994).

Land der Arbeit. Bilder undLegenden eines Industrie-reviers. Eine Ausstellungvon Niels Bolbrinker, TorstenBlume und Kerstin Stutter-heim in Zusammenarbeitmit der Stiftung BauhausDessau.

STUTTERHEIM/ BOLBRINKER Land der Arbeit89

der Honigmilch zu laben. Wenn man dann aber einschlief, fiel manwieder heraus – wenn man ein guter Mensch war, der für diearbeitsam werdende Welt noch taugte. Bei den Brüdern Grimmist das Märchen vom Schlaraffenland ein kurzes Lügenmärchen, indem von der Utopie nichts mehr blieb.

Zusammengestellt und erstmals veröffentlicht wurden die ge-sammelten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm Anfangdes 19. Jahrhunderts. Der erste Band erschien 1815, der zweiteBand 1825.

Mein Buch mit den Märchen der Brüder Grimm hat der Kinder-buchverlag der DDR 1962 mit einigen schönen Illustrationen vonWalter Klemke gedruckt. Die darin befindliche Auswahl sind vorallem Märchen um Frauenfiguren. Königstöchter, die wegen ihresHochmuts mit Arbeit gestraft und so geläutert werden müssen, oderMädchen, die über die Arbeit veredelt und oftmals zu Königstöch-tern werden oder aber, wegen der Verweigerung, ihrem unerhörtenUngeschick oder unmöglichen Benehmens für immer aus derGesellschaft ausgeschlossen werden oder gar zu Tode kommen.

Männer müssen sich auf andere Art bewähren, über List undTücke, oder indem sie gegen Geister oder Hexen antreten, oderaber eine schöne Frau befreien, aber Arbeit ist für sie selten dasMaß ihrer Stellung.

Eine Königstochter – die einzige Tochter eines Königs, eine gehü-tete und verwöhnte junge Frau, sollte heiraten. Doch jeder derFreier wurde von ihr verspottet... Das ist ja allseits bekannt.

Einer dieser Männer, auf die Drohung des Vaters vertrauend,kehrt als Spielmann verkleidet zurück und bekommt die jungeFrau angetraut, ohne daß er gefragt wird. Sie ist die Belohnungfür sein Spiel, die muß er annehmen und geleitet sie in seinkleines Häuschen. ...

»Du mußt selber tun, was du willst getan haben. Mach nurschnell Feuer an, und stell Wasser auf, daß du mir mein Essenkochst; ich bin ganz müde.«

Die Königstochter verstand aber nichts vom Feueranmachen undKochen, und der Bettelmann mußte selber mit Hand anlegen, daßes noch so leidlich ging. Als sie die schmale Kost verzehrt hatten,legten sie sich zu Bett. Aber am Morgen trieb er sie schon ganz frühheraus, weil sie das Haus besorgen sollte. Ein paar Tage lebten sieauf diese Art schlecht und recht und zehrten ihren Vorrat auf.

Da sprach der Mann: »Frau, so geht’s nicht länger, daß wir hierzehren und nichts verdienen. Du sollst Körbe flechten.«

Er ging hinaus, schnitt Weiden und brachte sie heim, da fing siean zu flechten, aber die harten Weiden stachen ihr die zarten Hän-de wund. »Ich sehe, das geht nicht«, sprach der Mann, »spinn lie-ber, vielleicht kannst du das besser.«

Sie setzte sich hin und versuchte zu spinnen, aber der harte Fa-den schnitt ihr bald in die weichen Finger, daß ihr das Blut daranherunterlief. »Siehst du«, sprach der Mann,«du taugst zu keinerArbeit, mit dir bin ich schlimm angekommen. Nun will ich’s ver-suchen und einen Handel mit Töpfen und irdenem Geschirr anfan-gen.«

Die Ausstellungstermine derersten Etappe sind:1.November – 31. Dezem-ber 1996 in der Filmfabriki.L. im Hauptgebäude.7. Januar –14.Februar 1997im Kulturpalast Bitterfeld4. April – 27. April 1997im KraftwerksdenkmalZschornewitz1. Mai – 8. Juni 1997 imBauhaus Dessau und demWörlitzer Bahnhof Dessau

Montag bis Freitag von8.00 Uhr bis 17.00 Uhr,im Kulturpalast außerdemzu den Veranstaltungen.Weitere Informationen unter0340 – 650 82 40

Anschließend wird die Aus-stellung nach Berlin und insRuhrgebiet gehen.

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Wie wir wissen, geht auch das nicht so gut. Als Küchenmagdbekommt sie für die sauerste Arbeit zumindest die Essenreste. AmEnde ist der Spielmann der König und die eigentliche, wirklicheHochzeit wird mit ihr, in ihren Magdkleidern, im Schloß gefeiert.

»Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen unddich für deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspottethast.«

Heute bleiben den Frauen in Wolfen die zu entkernenden Fabrikenund zu entsorgenden Restbestände der ORWO-Filmkassetten. DieDrecksarbeit wird gegenwärtig vor allem von den Frauen gemacht.Doch ein königlicher Spielmann ist zur Zeit nicht in Sicht.

»Die Neuzeit hat im 17. Jahrhundert damit begonnen, theoretischdie Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahr-hunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Ar-beitsgesellschaft zu verwandeln. Die Erfüllung des uralten Traumstrifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstel-lation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn esist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit be-freit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vomHörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um die eineBefreiung sich lohnen würde. Innerhalb dieser Gesellschaft, dieegalitär ist, weil dies die der Arbeit angemessene Lebensform ist,gibt es keine Gruppe, keine Aristokratie politischer oder geistigerArt, die eine Wiedererholung der Vermögen des Menschen in dieWege leiten könnte. Auch die Präsidenten der Republiken, die Kö-nige und Kanzler mächtiger Reiche halten das, was sie tun, für ei-ne im Leben der Gesellschaft notwendige Arbeit, ihr Amt ist einJob wie jeder andere auch; und was die mit geistigen Tätigkeitenbefaßten von dem, was sie tun, denken, drückt der Name ›Geistes-arbeiter‹ zur Genüge aus: wo andere mit der Hand arbeiten, bedie-nen sie sich eines anderen Körperteiles, nämlich des Kopfes. Hier-von ausgenommen sind wirklich nur noch ›die Dichter und Den-ker‹, die schon aus diesem Grunde außerhalb der Gesellschaft ste-hen. Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesell-schaft, der die Arbeit ausgegangen ist, die einzige Tätigkeit, auf diesie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?«Hannah Arendt, 1958

»Basis der sozialen Homogenität ist die Produktion. Die homoge-ne Gesellschaft ist die produktive, d.h. die nützliche Gesellschaft.Jedes unnütze Element wird ausgeschlossen, nicht aus der Gesell-schaft überhaupt, sondern aus ihrem homogenen Teil. In diesemTeil muß jedes Element für ein anderes nützlich sein, ohne daß je-mals die homogene Tätigkeit die Form einer in sich wertvollenTätigkeit erreichte. Eine nützliche Tätigkeit kann immer mit eineranderen nützlichen Tätigkeit auf einen gemeinsamen Nenner ge-bracht werden, nicht aber mit einer in sich wertvollen Tätigkeit.«George Bataille, in: Psychologie des Faschismus.

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Ein ehemaliger Chemiker aus Wolfen erinnert sich: »Am Vormittagdes 9. November wurde die Revolution in den Betrieben herum-gesagt. Die Belegschaft verließ nach und nach die Betriebe, vondenen manche stillgelegt werden mußten; die Strafgefangenen undKriegsgefangenen wurden gesammelt und in ihre Betriebe geführt.Ein Waghalsiger hatte auf dem hohen Schornstein eine rote Ran-gierfahne aufgepflanzt, eine ebensolche wurde dem Zuge voraus-getragen, der sich allmählich formierte und nach Bitterfeld abzog.Er kam nachmittags, stark gelichtet, wieder zurück. Der Anführertrug die zusammengewickelte Fahne unter den Arm geklemmt undhatte die Hände in den Hosentaschen, denn das Wetter war inzwi-schen kalt und regnerisch geworden. In der Fabrik wurde übrigensabends wieder gearbeitet. Einzelne Betriebe waren gar nicht zumStillstand gekommen.«

»Aber sechs Gründe sind es, die hier von außen jede revolutionäreRegung in Deutschland bisher verhindert haben.

Erstens verdient der Arbeiter heute noch durchgängig recht gut,und er will das nicht aufgeben. Zweitens ist die Lage auf dem Le-bensmittelmarkt zur Zeit derart, daß ein Streik mindestens fünfmalso stark die Parteikasse in Anspruch nähme wie vor dem Krieg.Und dabei ist Ebbe in den Streikkassen wie noch nie. Die Genos-sen in den Schützengräben zahlen nichts ein, und die verdienendenSchwerarbeiter in den Munitions- und anderen Kriegsindustriensind jahrelang dazu angehalten worden, Kriegsanleihe zu zeichnen.Das ergibt drittens das Interesse breitester Bevölkerungsschichtenan einem relativ günstigen, durch Streiks ungestörten Ausgang die-ses Krieges und dem Bestand des Gegenwartsstaats, der ihnen bis1934 die Verzinsung der gezeichneten Kriegsanleihe garantiert hat.Es ist ein starker und dicker, schwer und ungern durchzusägenderAst, auf dem derart viele Proletarier sitzen; eine Art Parallele zuden ›Wohlfahrtseinrichtungen‹ großer Fabriken, die ebenfalls dieArbeiter binden und dadurch eine gewisse Interessengemeinschaftmit der Fabrik selbst erzeugen.« schrieb Ernst Bloch 1918 über dieRevolutionshindernisse in Deutschland.

»Lanzelot: Und der Drache?Erlauben Sie mir eine Frage: hat niemand versucht, mit dem Dra-chen zu kämpfen?Charlesmagne: in den letzten zweihundert Jahren – nein. Davor ha-ben es viele gewagt, aber er hat alle seine Gegner umgebracht. Erist ein bewunderungswürdiger Stratege und ein großer Taktiker. Ergreift den Feind unerwartet an, bewirft ihn von oben mit Steinen,stürzt sich dann senkrecht herab, genau auf den Kopf des Pferdesund schlägt es mit Feuer, wodurch das arme Tier völlig demorali-siert wird. Dann zerfetzt er mit seinen Krallen den Reiter. Ja, undschließlich und endlich hat sich keiner mehr an ihn herangewagt.Lanzelot: Und ist schon einmal die ganze Stadt gegen ihn angetreten?Charlesmagne: Ja.Er brannte die Vorstadt nieder und brachte die Hälfte der Einwoh-ner durch giftige Dämpfe um den Verstand. Er ist ein großer Krieger!Elsa: Nehmen Sie noch Butter.

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Lanzelot: Ich bin so frei. Ich sammle Kräfte. Wenn ich Sie rechtversteh – Sie verzeihen meine Fragen –, es will jetzt niemand mehrgegen den Drachen kämpfen? Das hat ihn sicher dreist gemacht?Charlesmagne: Nein, ich bitte Sie! Er ist so gut!Als unserer Stadt die Cholera drohte, hat er auf Bitten des Stadt-arztes sein Feuer auf den See gehaucht und ihn zum Kochengebracht. Die ganze Stadt trank abgekochtes Wasser und wurdevon der Epidemie verschont.Lanzelot: Ist das lange her?Charlesmagne: Aber nein. Vor zweiundachtzig Jahren. Gute Tatenvergißt man nicht.Lanzelot: Was frißt er, Euer Drache?Charlesmagne: Unsere Stadt gibt ihm tausend Kühe, zweitausendSchafe, fünftausend Hühner und zwei Zentner Salz im Monat. ImSommer und im Herbst kommen hierzu noch zehn Gärten Salat,Spargel und Blumenkohl. Lanzelot: Er frißt Euch arm!Charlesmagne: Aber nein, was denken Sie! Wir beklagen unsnicht. Wie sollte es anders sein? Solange er da ist, wagt kein ande-rer Drache uns anzurühren.« Jewgeni Schwarz. Märchenkomödien.

»Mädchen: Von meinem Bruder sage ich das! – Ich wußte nicht,daß ich einen Bruder hatte. Ein Mensch ging morgens aus demHause und kam abends – und schlief. Oder er ging abends weg undwar morgens zurück – und schlief! – Eine Hand war groß – die an-dere klein. Die große Hand schlief nicht. Sie stieß in einer Bewe-gung hin und her – Tag und Nacht. Die fraß an ihm und wuchs ausseiner ganzen Kraft. Diese Hand war der Mensch! – Und wo bliebmein Bruder? Der früher neben mir spielte – und Sand mit seinenbeiden Händen baute? In Arbeit stürzte er. Die brauchte nur die ei-ne Hand von ihm – die den Hebel drückte und hob – Minute umMinute auf und nieder – auf die Sekunde gezählt! – Keinen Hubließ er aus – pünktlich schlug sein Hebel an, vor dem er stand wietot und bediente. Niemals machte er den Fehler – niemals irrte erin der Zählung. Seine Hand zählte aus seinem Kopf, der nur ihrnoch gehorchte! – Das blieb von meinem Bruder! – Das blieb? Aneinem Mittag schlug es ein. Aus allen Lücken und Löchern schoßder Feuerstrom. Da fraß die Explosion auch die Hand. Da hattemein Bruder auch das Letzte gegeben! Georg Kaiser: Gas. 1918 uraufgeführt.

Auch in den Fabriken der Region Wolfen / Bitterfeld zog die Indu-strieproduktion an und der große Absatz forderte eine ständigsteigende Ausbeutung der Arbeitskräfte.

»Herking wurde ans Telefon gerufen. Katz gab ihm den Auftrag,mit dem Betriebsratsmitglied Böttcher ... in die Farbenfüllerei zugehen, um nachzuprüfen, ob die von den Arbeitern gestellte Forde-rung auf Erhöhung der Staubzulage berechtigt war.

Sie betraten zunächst die Faßpackerei. Die Farbe wurde hier ausgroßen eisernen Trums, in denen sie von den Betrieben kam, zumVersand umgefüllt. ...

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Sie traten an den Füllstand heran. Ein für China bestimmtes Faßstand auf einem runden Podest, das etwas größer als der Bodendes Fasses war. Das Podest wurde in kurzen Abständen maschinellgehoben und fiel ruckartig zurück, dadurch stauchte es, und dieFarbe wurde zusammengerüttelt. Oben über dem Faßrand befandsich ein Trichter, der an ein dickes Röhrensystem angeschlossenwar. Am Ende des Füllraums wurde der Farbstaub, der aus denverschiedenen Absaugtrichtern kam, in einem großen Sack aufge-fangen und so wiedergewonnen. ...

Sie gingen weiter und gelangten in das riesige Faßlager. Ein fünf-stöckiges Gebäude war in den untersten drei Etagen völlig mitFarbfässern angefüllt, die eins über dem anderen standen. Etwasechstausend mit etwa drei Millionen Kilo Farbe. ...

Man beschritt einen großen Raum, der mit Dunst erfüllt war.Innen befanden sich Männer in den üblichen, aus einem Stückgefertigten Kesselanzügen. Die Füße mit dicken Holzschuhenbekleidet, stapften sie in einer violetten Soße herum. Sie hattenEisenstangen in den Händen, mit denen sie in großen, rechteckigenTrögen eine grünlich-kupfern schillernde Masse zerstießen. Diegewonnenen Brocken fuhren sie mit Schubkarren in einen Löse-bottich. Anzug, Gesicht und Hände waren violett. Sie machten denEindruck einer neuartigen Menschrasse, und wer sie nach Arbeits-schluß beim Baden beobachten konnte, sah, daß der ganze Körperebenfalls violett war. Die Färbekraft des Farbstoffes war so groß,daß auch ihre Leibwäsche ständig violett blieb, ja in ihrem priva-ten Haushalt kein Hemd, keine Unterhose, kein Taschentuch undsonstiges Wäschestück anders als violett zu finden war.

Sie gelangten in den Mühlenraum für Lackfarben. Ein ziegel-roter Nebel legte sich über die Augen. Rote Männer arbeiteten wiedurch einen Vorhang sichtbar im Raum. Sie sahen wie Gespensteraus, mit ihren Atemschützern vor dem Gesicht. ...

Man kam nun in einen Raum, in dem etwa dreißig Farbmühlen,große und kleine, im Gang waren. Hier wurden die Spezialbestel-lungen gemahlen. Jeder Farbmüller mußte ein halber Chemikersein. Es war allerdings ein Zufall, daß die Spezialmüllerei einemMeister unterstand, der seines Zeichens Kunstmaler war. Er hattedie Akademie besucht. Wie es dann aber so geht, hatte er Frau undKinder zu ernähren bekommen, und das ging als Farbmühlenmei-ster doch leichter als mit der Kunstmalerei. Es war fast kein Farb-staub bemerkbar, so daß auch Böttcher nichts sagte. ...

Im Treppenhaus bestiegen beide den Fahrstuhl und fuhren zweiEtagen höher zur Farbbüchsenpackung. ... Die Farbe wurde inmannshohen Ständen abgefüllt, die vorn offen waren und in derKonstruktion wie Souffleurkästen aussahen. Am oberen, vorderenRande befand sich ein Schlitz, durch den der Staub abgesaugtwurde. Über den Schlitz hing eine Lederklappe herunter, die denaufsteigenden Staub hinderte, in den Raum zu treten. ...

Sie waren nun mit ihrem Rundgang zu Ende und fuhren mit demFahrstuhl wieder zum Erdgeschoß herunter. Dann gingen siezurück und trennten sich vor dem Büro von Dr. Herking.«Markert: IG Chemie. Roman.

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»Freitag nacht wurde das Hallenser Gewerkschaftshaus mitMusikbegleitung bewacht, weil der Spielmannszug des Reichsban-ners Bereitschaft hatte. Ungefähr zwanzig Mann saßen im Wach-zimmer, rauchten, spielten Karten, musizierten – Singen ist bei derWache verboten. Zum Ausschlafen hatten die Reichsbannerleuteam nächsten Tag Zeit, denn sie sind alle zwanzig arbeitslos.

Draußen hing über Halle der Nachthimmel dunkelgrau. Drübenim Leuna-Werk rauchen zwar nur noch die Hälfte der Schlote, aberdas genügt, um einen richtigen, trostlosen Fabrikhimmel zu schaf-fen. In den das Gewerkschaftshaus umliegenden Straßen streiftenverstärkte Patrouillen umher. Tagsüber hatte es nämlich Stänkerei-en zwischen Nazis und Arbeiterturnern, die zu einem Sportfestgekommen waren, gegeben. Auch die fünfzehn Jungbannermänner,die bei Anbruch der Dämmerung von einer Landpropagandatourauf Fahrrädern zurückgekommen waren, hatten, heiser undschweißgebadet – sie hatten zwölf Stunden lang geradelt undSprechchöre gebrüllt –, zu berichten gewußt, sie seien in der Stadtvon Hakenkreuzlern angestänkert worden.

Und so saß in Erwartung kommender Ereignisse der Spiel-mannszug des Reichsbanners Halle im Gewerkschaftshaus,drosch Skat, soff elenden Zichorienkaffee. Der Gitarrenspieler abersummte, obwohl es verboten war: »Wohlan, wer Recht und Freiheitachtet, zu unserer Fahne ström’ zuhauf!«

Schlag neun wurden von draußen plötzlich Laufschritte hörbar.Eine Patrouille stürmte von draußen in den Hof. Und gleich hinter-her eine andere. Ein Mann blutete am Kopf. »Alles heraus«, brüll-ten die Patrouillen, »die Nazis kommen!«

Die zwanzig im Wachlokal hatten gerade noch Zeit, ihre Licht-knüppel – schwere, stabförmige Lampen, die gut leuchteten undauch andre Dienste tun – zu packen, für alle Fälle ein paar Stühlemitzunehmen und auf die Straße zu laufen. Draußen kam schon einLastwagen herangesaust: das Rollkommando der braunen Mord-pest. In halber Fahrt sprangen fünfzig SA-Leute heraus und stürm-ten mit Totschlägern und Ochsenziemern auf das Haus zu.

Die Schlacht von Austerlitz läßt sich beschreiben, da damalszumindest Napoleon angeblich wußte, was los war.

Was aber Freitag den 16. um 21 Uhr in der spärlich beleuchtetenStraße vor dem Hallenser Gewerkschaftshaus zu sehen war, warein auf und ab wogender Haufen von Grün- und Braunhemden.Was zu hören war, war das Krachen von Schlägen, das Krachenvon Blumentöpfen und Geschirrstücken, die aus den Fenstern derHäuser auf die Köpfe der Nazis flogen, war unbeschreiblichesGejohle.«Jura Soyfer. Von Paradies und Weltuntergang. Bericht aus demdeutschen Bürgerkrieg.

Während des Krieges wurden Tausende von Zwangsarbeitern nachWolfen geholt. Sie waren ausschließlich in den Faserbetriebenbeschäftigt. Die Filmproduktion mit ihren vielen Dunkelbereichenwar zu anfällig für Sabotageakte.

Eine Frau sagt:»Ich hab’ die zwar hier ‘rumrennen sehen, ich habauch gesehen, wie sie in den Hintern getreten wurden, das hab’ ich

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ja auch gesehen. Hier in der Thalheimer Straße waren lauter Ba-racken, da wohnten ja die ganzen Ausländer drinne. Die Gefange-nen, Strafgefangenen, Belgier, Franzosen, es waren ja alle, dieganzen Nationen, die man sich denken konnte, die waren ja hier.Griechen, ja. ‘s war schlimm, manchmal, bei Hitlern meine ichjetzt noch, da war’s wirklich – . Der Ganschenitz, das war ja einganz Schlimmer, der mit der Krankenschwester da verheiratet war.Ja.«

Nur wenige Fotos bezeugen noch das Elend in den Häftlingsba-racken, es waren vor allem Frauen, die in Wolfen zur Zwangsarbeitinterniert wurden. Unter ihnen in einem separaten Lager 425Häftlinge aus dem Konzentrationslager Ravensbrück.

Halle. Arbeiter. Der Direktor, Balke und Schurek vor ihnen:Direktor: Eine große Sache haben wir vor. Das gibt ein Beispiel fürdie ganze Produktion. Damit können wir beweisen, was die Arbeiterklasse leisten kann.Es muß für euch eine Ehre sein, mitzumachen.Pause.Schurek: Es ist eine Arbeit wie jede andre. Nur, daß sie zum erstenMal gemacht wird.Ein Arbeiter: Schnaps ist Schnaps, sagte der Budiker und schenkteTerpentin aus.Krüger: Das ist Ausbeutung.Balke: Es geht um den Plan, Kollegen.Stimme aus dem Hintergrund: Wir scheißen auf den Plan.Balke: Fragt sich, ob ihr was zu scheißen habt ohne den Plan.Ich kann den Ofen nicht allein umbauen, aber wir brauchen ihn.Schweigen.Direktor: Krüger, du sagst: Ausbeutung. Du bist dein Leben langausgebeutet worden. Jetzt ist dein Junge auf der Universität.Krüger:Hab ich ihn auf die Universität geschickt?Ich war dagegen.Balke: Es wird schwer sein, sehr heiß. Doppelter Verdienst, dreifa-che Arbeit.Ein Arbeiter: Und acht Jahre, wenn was schiefgeht, wie bei Lerka.Bittner: Ich sage, das wird Murks.Balke: Ich weiß, was ich mache.Pause.Kolbe: Ich hab in einem Panzer gesessen, bis fünfundvierzig. Daswar auch kein Kühlschrank. Ich mache mit.Krüger tritt vor: Wenn’s sein muß.Der Lohndrücker. Heiner Müller.

Meister: Also ich soll mit euch reden. Die Bauleitung hat Schwie-rigkeiten. Der Rohrverlegekran liegt fest, ihr sollt ihn in denAbschnitt 9 verlegen. Die Rohrleger sind zu früh fertig. Jetzt gehtsnicht weiter ohne Kran.Kaschiebe: So gehts, wenn man zu schnell arbeitet. Hilde Prill: Wir haben das noch nicht gemacht.Meister: Sehr schwierig. Also ihr könnts nicht machen. Das habich der Bauleitung gleich gesagt. Die Männer lehnen auch ab.

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Mehrarbeit und das Risiko dazu.Kaschiebe: Die wollen nichts riskieren. Typisch Mann, wenn einKind kommt, wars der Nachbar.Also ich würde sagen, wir machen die Sache.Meister: Wenn ich dich ranlasse, baust du einen Staubsauger ausdem Kran.Kaschiebe: Seht ihr, der Chef traut mir was zu!Vera: Das wär doch die Feuerprobe, Meister. Da kann man zeigen,was man kann.Meister: Junges Gemüse!Nägle: Ah, welcher Glanz! Unser Ingenieur kommt in Person undder Bart ist ab.Ingenieur: Der Rohrverlegekran liegt fest im Abschnitt ...Meister: Neun! Undsoweiter.Kaschiebe: Deshalb ist er rasiert!Meister: Ich war schneller. Der Fall ist schon geklärt.Ingenieur: Desto besser. Ich wußte, daß ich mich auf euch verlas-sen kann. Wann fangen wir an?Meister: Das ist unmöglich für die Frauen. Du als Fachmann mußtdas einsehen. Wir brauchen Spezialisten.Ingenieur: Wir sind zwei. Und die Frauen sind gute Schlosser.Wir schaffen das. (...)Nägle: Als wir die Abschmierhebe selber gebaut haben, Meister,und dem Staat 1.200 Mark eingespart, mußte der Pressefotografdas Bild von uns noch einmal machen, weil sie mit drauf seinwollten.Vera: Ja. Und sie haben gesagt: auf meine Frauen bin ich stolz.Es stand in der Zeitung.Ingenieur: Du hast sie angelernt. Kann sein, du lernst jetzt wasvon ihnen.Die Weiberbrigade. Inge Müller

»Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven.Was glotzt ihr. Unsere Firma steht nicht mehr im Handelsregister.Sie ist bankrott. Die Ware, die wir zu verkaufen haben, zahlbar inder Landeswährung, Tränen Schweiß Blut, wird auf dieser Weltnicht mehr gehandelt. Ich entlasse uns aus unserem Auftrag. ...Revolution macht müde. Im Schlaf der Völker stehn die Generäleauf und zerbrechen das Joch der Freiheit, das so schwer zu tragenist.« sagt Debuisson.Der Auftrag. Heiner Müller.

»Unser Dasein war in den letzten Jahren von so vielen Sorgen be-lastet gewesen, von einem so verzweifelten Kampf um die Exi-stenz, ums Überleben, daß ein normales Leben gar nicht möglichwar. Und dann die Lüge, die tägliche Lüge, die immer neue Lüge,die uns die Minister, die Premiers, die Parteichefs unterjubelten.Tagtäglich mußten wir herumhetzen, irgendwas auftreiben, malFensterkitt, mal Analgin.

Hier war das alles wie abgeschaltet, Stille war eingetreten, dasDurcheinander war zu Ende, das Tohuwabohu verschwunden. Zumersten Mal lebten wir einfach so. Das war ein ebenso bedächtiges

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Leben, wie es die Deutschen um uns herum führten. Der Tag warmit einemmal lang geworden. ...

Wir mußten in keiner Schlange stehen. Man hatte uns dengewohnten Zeitvertreib genommen. Seit meiner Kindheit, daMutter mich in eine Warteschlange nach Kattun gestellt hatte,stehe ich an. Nach irgendwas. Mal am Fahrkartenschalter, mal nachZwiebeln, mal nach einem Kühlschrank – mal zwie Stunden, maldrei Jahre. Die Schlange bewegt sich mal schneller voran, mallangsamer, an ihrem Kopf wechseln die Ladentische, die Geschäf-te, die Arbeitszimmer, ich aber stehe und stehe; meine Kinder sindin Warteschlangen groß geworden, auch die Enkel. In Schlangenwird gelesen und gelernt, werden Bekanntschaften geschlossen.Schlangen gibt es nicht nur auf der Straße, sondern auch in Institu-tionen und Betrieben.

In den Betrieben hier werden keine Lebensmittel ausgegeben,dort hängen keine Anschläge wegen Versammlungen und Reise-schecks. In den Fluren stehen keine Raucher beisammen. Dort mußjeder arbeiten, ob er will oder nicht. Nichts lenkt ab, an nichts kannman sich klammern.«Alltag. Daniil Granin.

In dieser Form, wie verschiedene Texte, nebeneinandergestellt,einen neuen Text bilden, eine Geschichte an Hand verschiedenerFacetten entstehen lassen können, möchten wir in dieser Ausstel-lung durch die Kombination ausgewählter literarischer Texte mitverschiedenen Fotos eine Geschichte, die nicht nur auf dieseneinen Ort zutrifft, erzählen.

»Viele der Zeichen, die so selbstverständlich weitergegebenwerden, sind aufgezehrt, ihre vielerlei Bedeutungen, die nicht mehrerlebbar oder einsichtig sind, verkümmern zu einem einzigenWortsinn.

»Sehen, was man sieht«, hieße jetzt, sich nicht auszuliefern andie sichtbare Welt der Formen, Form nicht zu verwechseln mitKunst, Kunst nicht zu verwechseln mit überlieferten Werten, über-lieferte Werte nicht zu nehmen als ein für allemal gesetzte Werte,sondern: der sichtbaren Welt unbefangen zu begegnen, sie imGenuß sich anzueignen, sie pragmatisch zu verwenden, ihr ironischbeizukommen, die Logik aufzuheben, und zu sehen, daß der Grundauch im Blau liegen kann. Gertrud Stein schreibt, »daß es hundertJahre dauern soll, um irgendein Ding zu verändern, es ist diemenschliche Art in Jahrhunderten zu denken und Jahrhunderte sindmehr oder weniger hundert Jahre und das ergibt einen Großvaterund eine Großmutter pro Enkel oder Enkelin, wenn alles gehtwie es soll und es geht oft ungefähr wie es soll.« Wenn man davonausgeht, daß dreißig Jahre vergehen, bis eine Erkenntnis sichdurchsetzt, dann wären wir gerade jetzt dabei Dinge zu bewegen,die sich Anfang des nächsten Jahrhunderts bewegen sollen«.Martina Düttmann, 1982

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Liberté, egalité, fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –war das Losungswort der französischen Revolution. Im Blickfeldstand die Abschaffung der überkommenen Gesellschaftsordnungmit ihren ständischen Privilegien, der sozialen und politischen Vor-herrschaft des Adels, basierend auf feudalen Eigentumsrechten. Inder Erklärung der »Rechte des Menschen und des Bürgers« derfranzösischen Nationalversammlung von 1789 hat dieses Zielseinen die Zeiten überdauernden Ausdruck gefunden. Dort heißt esin Artikel I: »Frei und gleich an Rechten werden die Menschengeboren und bleiben es. Die sozialen Unterschiede können sich nurauf das gemeine Wohl gründen«. Gemeint ist nichts anderes alsdie Abschaffung jedweder Form einer auf Privilegien und Besitz-ständen beruhenden Klassengesellschaft. Der Ausbeutung desMenschen durch den Menschen sollte ein Ende gesetzt werden. Sofindet der Freiheitsbegriff dort seine Grenzen, wo das Gemeinwohlbeeinträchtigt wird. »Die Freiheit besteht darin, alles tun zukönnen, was anderen nicht schadet« (Artikel IV).

Aus heutiger Sicht besteht Einigkeit darin, daß Sklavenherr-schaft und Feudalismus mit den allgemeinen Menschenrechtenunvereinbar sind. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten derGeschichte, daß der Kapitalismus als menschenverachtendesAusbeutungs- und Machtinstrument während der Zeit der französi-schen Revolution nicht kritisch attackiert und an den Prangergestellt wurde, sondern in der Folgezeit geradezu als Gegenbewe-gung zum Feudalismus einen nie gekannten Aufschwung erlebthat. Die von der Kredit- und Zinswirtschaft dominierte kapitalisti-sche Eigentums- und Produktionsweise aber geht in ihrer Entwick-lung zwangsläufig mit der Ausbeutung und Entrechtung aller jenereinher, die an den Vergünstigungen und Privilegien des Geld- undSachkapitals und den daraus fließenden mühelosen Einkünftennicht teilhaben.

Der ausbeuterische Charakter des Kapitalismus als ökonomi-schem System entspringt unvermeidlich seinen wesenseigenenFunktionsmechanismen. Von seinen Protagonisten wird suggeriert,Kapitalismus heiße im wesentlichen nichts anderes, als wirtschaft-liche Aktivitäten privaten Personen – Unternehmern – zu überlas-sen und diese von Zwang und Gängelei durch den Staat zu befrei-en. Dies aber ist nur eine – immer wieder in den Vordergrundgerückte – Seite, die das System als dem menschlichen Freiheits-drang besonders entgegenkommend schmackhaft machen soll.

Herbert Niemann –Jg. 1924; Jurist, langjährigeTätigkeit in der Sozialversi-cherung, veröffentlichte u.a.»Zur Zukunft und Sicherheitvon Renten- und Versor-gungsansprüchen« und»Wohnungskatastrophe.Ursachen und Auswege«,zuletzt in »UTOPIE kreativ«Nr. 52 (Februar 1995):»Kein Licht im Tunnel. Diewachstumszehrende Wir-kung des Zinses und ihreFolgen«.

NIEMANN Zinsfalle99

HERBERT NIEMANN

Ist der Kapitalismusunumkehrbar am Ende?Die Zinsfalle hat zugeschnappt

Eigeninitiative, Entschlußfreudigkeit und Risikobereitschaft wer-den dem System in hervorragender Weise zugeschrieben.

Allerdings sind wirtschaftliche Aktivitäten – gleich ob privateroder staatlicher Art – ohne Bereitstellung der jeweils erforderlichenFinanzmittel nicht möglich. So erweist sich denn Kapitalismus beigenauer Betrachtung vornehmlich als eine spezielle Finanzierungs-form, mit der alle dieser Wirtschaftsordnung zugeschriebenen för-derlichen Eigenschaften verquickt sind. Nur wenn, aber auch nursolange das auf das zinserheischende Verleihen von Geld als Kapi-tal gegründete Finanzierungsmodell funktioniert, kommen auchdie »positiven« Eigenschaften zum Tragen.

Private Unternehmer beschaffen sich die Mittel zur Finanzierungihrer Investitionen vor allem über Einlagen von Geldkapitalbesit-zern oder über Kredite von Kapitalsammelstellen. Die Finanzmit-tel werden mit der Verpflichtung überlassen, daß dafür Zinsen ge-zahlt werden. Die Kapitalanleger können auf diese Weise über dieKapitalisierung der ihnen zufließenden Zinseinnahmen ihr Vermö-gen immer weiter vergrößern: Die Reichen werden also ohne eige-ne, dem erzielten Einkommen entsprechende produktive Arbeit im-mer reicher. Es handelt sich bei dieser Art von Vermögenszuwachsim wahrsten Sinne des Wortes um mühelose Einkünfte. Um dieGeldvermögensbesitzer zur Kapitalanlage zu stimulieren, werdenneben einfach verzinsten Investitionskrediten immer neue Artender Anlageformen mit Aussicht auf besonders hohe Gewinneerfunden, wie Aktien, Optionen, Investmentfonds usw.

Es darf nicht verwundern, daß in einem auf der Kapitalisierungvon privatem Geldvermögen aufbauenden Finanzierungssystemsich das Steuerrecht in den Dienst der Kapitaleigner stellt, um un-ter dem Vorwand der Investitionsförderung den Anreiz zur Kapi-talansammlung und -anlage zu erhöhen. Was den Kapitalanlegernan steuerlichen Privilegien und Vergünstigungen zufällt, wird alsSteuerlast der breiten Masse der Lohnsteuerzahler und Verbraucheraufgebürdet. Deren steuerliche Belastung steigt entsprechend, waszwangsläufig Rückwirkungen auf Kaufkraft und Nachfrage habenmuß.

Die Lohnsteuerzahler werden auf diese Weise doppelt zur Kassegebeten. Um die zur Bedienung der Zinserwartungen notwendigenGewinne realisieren zu können, versuchen die Investoren, dieZinslasten auf die Verbraucher abzuwälzen. Soweit dies gelingt,muß der Lohnsteuerzahler für die auf ihn abgewälzten Zinsen unddie von ihm zu bezahlenden Steuervorteile der Kapitalanlegeraufkommen. Am augenfälligsten ist dies bei der Wohnbaufinanzie-rung, wo steuerfinanzierte Subventionen für den Bauherrn undhohe Mieten deutlich machen, wer vom kapitalistischen Finanzie-rungssystem profitiert und wer von ihm ausgebeutet wird (vgl.»Wohnungskatastrophe. Ursachen und Auswege«, in: Sozialismus,2/94 und Pressemitteilungen zum WSI-Verteilungsbericht 1995vom 8. Dezember 1995).

Mit immer neuen, fremdfinanzierten Investitionen wächst dieSumme der laufend fällig werdenden Zinsen und zinsähnlichenAufwendungen für die Betriebe unaufhörlich an. Je höher dasAusmaß der Zinslasten der Betriebe, desto höher ihre Krisenanfäl-

»Die Erbringung der in derZinsforderung an denSchuldner gestelltenzusätzlichen Eigentumsfor-derung erzwingt die Produk-tion von mehr Eigentumals durch den Kreditvertragzeitweilig in seinen Besitzgelangt ist. Die aus derLiquiditätsprämie auf Eigen-tum resultierende Zinsforde-rung erzwingt mithin einenÜberschuß in der Produkti-on – den Profit. Dieser zins-geborene Profit ist es, derdie für die Eigentumswirt-schaft typische Akkumula-tion möglich macht.Die Eigentumswirtschaftgewinnt ihre Dynamikmithin aus der permanentenUmwandlung der Liquidität-sprämie in vom Schuldnerzu schaffendes Zusatz-eigentum.«Gunnar Heinsohn: Muß dieabendländische Zivilisationauf immer unerklärbar blei-ben? Patriarchat und Geld-wirtschaft, in: WaltraudSchelkle, Manfred Nitsch(Hrsg.): Rätsel Geld,Marburg 1995, S. 233.

»Die Kreditierung derStaatsschuld erfolgt nichtgleichmäßig durch alleBevölkerungsteile, sondernvor allem über die Geldver-mögen der Reichen undBezieher relativ hoher Ein-kommen. Die Staatsschul-den und die hierfür bezahl-ten Zinsen sind eine derwichtigsten Quellen für densprunghaften Anstieg derVermögenseinkommen inden letzten 20 Jahren. DieleistungsunabhängigenVermögenseinkommenwuchsen von 1970 bis 1992auf mehr als das achtfache,von 23,4 Mrd. DM auf 200,9

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ligkeit. Dies gilt besonders dann, wenn wegen zurückgehenderKaufkraft die Zinslasten auf die Verbraucher nicht mehr abgewälztwerden können.

Untersuchungen der Deutschen Bundesbank zufolge liegt dieEigenkapitalausstattung der Betriebe in Ostdeutschland mit 12,5Prozent noch erheblich unter der der westdeutschen von derzeit17,5 Prozent (Der Tagesspiegel vom 11. Oktober 1995). DieUnterversorgung mit Eigenkapital hat für die betroffenen Betriebehohe Zinslasten zur Folge. Zinsen und zinsähnliche Aufwendungenkönnen von den Betrieben wie allen sonstigen Kreditschuldnernohne Substanzeinbußen nur bedient werden, wenn ein entspre-chendes Wachstum an Gewinnen bzw. Einkommen erzielt wird. Jehöher die die gesamte Volkswirtschaft überziehenden Zinslasten,desto höher das erforderliche Wirtschafts- und Einkommenswachs-tum. Erreicht das volkswirtschaftliche Wachstum nicht mehr diezur Bedienung der Zinsen erforderliche Höhe, ist der Verfall vonWirtschaft, Gesellschaft und Staat nicht mehr aufzuhalten (vgl.»Kein Licht im Tunnel. Die wachstumszehrende Wirkung des Zin-ses und ihre Folgen«, in: UTOPIE kreativ, Heft 52).

Hier zeigt sich eine allgemeine, alle kapitalistischen Länder ingleicher Weise betreffende Problematik, die – wegen der interna-tionalen Verflechtung aller Volkswirtschaften – auch nur weltweiteinheitlich gelöst werden kann. In der Zinsmechanik und ihrenFolgen liegt der »Knackpunkt« des kapitalistischen Systems.Die Fremdfinanzierung privatwirtschaftlicher Aktivitäten muß amEnde wegen Unerreichbarkeit der erforderlichen Wachstumsratenimmer zum Zusammenbruch der finanziellen Basis des kapitalisti-schen Systems führen. Da hilft es auch nichts, wenn man dem Kindeinen anderen Namen gibt und anstelle von Kapitalismus vonsozialer Marktwirtschaft spricht. Dieser Ausdruck wurde nurgewählt, um Assoziationen mit dem aus der Vergangenheit übelbe-leumdeten und mit sozialem und wirtschaftlichem Niedergang ver-bundenen Begriff zu vermeiden. Etwas Neuartiges wurde damitfreilich nicht erfunden.

Voraussetzung für eine gleichmäßige, störungsfreie Entwicklungaller Betriebe sind einheitliche Wettbewerbsbedingungen. Dasgrößte Hindernis hierbei sind die unterschiedlichen Fremdmittel-anteile der Unternehmen und die daraus resultierenden unter-schiedlichen Zinsbelastungen. Sie entziehen sich naturgemäß jederWettbewerbskontrolle und -regulierung. In einem immer engerwerdenden Markt und einem immer härter werdenden Kampf umMarktanteile führt dies dazu, daß die kapitalstarken Unternehmenzusammen mit der Bankenmacht einen immer größer werdendennegativen Einfluß auf die weniger kapitalstarken Betriebe ausüben.Am Ende können diese nicht mehr mithalten. Sie geben auf oderwerden geschluckt. Die Konzentration und Monopolisierung derWirtschaft nimmt zu.

In den letzten Jahrzehnten hat die Verschuldung der kapitalisti-schen Volkswirtschaften ein solches Ausmaß erreicht, daß nunmehrdie zum Ausgleich der Zinslasten erforderlichen Wachstumsratenweltweit nicht mehr erreicht werden können. Ein Weiteres undWichtiges kommt hinzu: Während das zum Ausgleich der Zinsla-

Mrd. DM, damit auch mehrals doppelt so schnell wiedas Volkseinkommen.«Joachim Bischoff, KlausSteinitz: Schuldenexplosion– eine Zukunftsbedrohung?In: Sozialismus, 2/1994,S. 34.

»Private Geldvermögen(müssen) durch öffentlicheEinrichtungen bedient wer-den, weil private Schuldner– Unternehmen, die Profite

NIEMANN Zinsfalle101

sten erforderliche Wachstum zwar zu erhöhter Produktion führt,entsteht auf der Verbraucherseite trotz entsprechendem Lohnzu-wachs keine höhere, die gesteigerte Produktion absorbierendeNachfrage. Hier werden lediglich die vorhandenen Zinslasten aus-geglichen. Mit steigender Zinslast hinkt deshalb die Nachfrageunabwendbar immer mehr der Angebotsseite hinterher.

Nach einschlägigen Berechnungen (vgl. UTOPIE kreativ, Nr. 52)müßte derzeit zum Ausgleich der betrieblichen Zinslasten in derBRD mindestens ein jährliches gesamtwirtschaftliches Wachstumvon 3,6 Prozent erreicht werden. Um auch die auf der Nachfrage-seite vorhandenen Zinslasten auszugleichen, müßte auch der Real-lohn jährlich um mindestens 3,6 Prozent wachsen. Dies reicht abernoch nicht aus, wenn auch das aus der Produktionssteigerungresultierende größere Warenangebot abgesetzt werden soll. Zudiesem Zweck müßte das Lohnwachstum zusätzlich real um weite-re 3,6 Prozent zulegen. Soll dieses Lohnwachstum ohne Belastungder Gewinne auf der betrieblichen Seite erbracht werden, wärehierzu ein weiteres betriebliches Wachstum von 3,6 Prozenterforderlich. Das Produktionswachstum müßte somit insgesamtmindestens 7,2 Prozent betragen und in der Folgezeit (aufgrundmathematischer Gesetzmäßigkeiten) fortwährend weiter steigen.Dies erfordert aber Zuwachsraten, die mit Sicherheit in Zukunftnicht mehr erreicht werden können.

Im Kapitalismus mit der ihm eigenen Art und Weise der Fremd-finanzierung ist das Nichterreichen der erforderlichen wirtschaftli-chen Wachstumsraten allerdings nicht gleichzusetzen mit einemprozentual parallel verlaufenden Verfall der Gesamtwirtschaft.Wenn auch tendenziell rückläufig, hält selbst in Zeiten der Rezes-sion die für die Aufrechterhaltung des Systems und für weiteresWachstum unerläßliche Akkumulation von Geldkapital an. Vorallem die von den Vermögensbesitzern vereinnahmten Zinserträgebleiben weitgehend unangetastet und werden zur Wiederanlage alsGeldkapital verwendet. So betrug 1995 die Geldvermögensneu-bildung in der BRD, einschließlich der wiederangelegten Zinsenimmerhin noch 234 Mrd. DM (Der Tagesspiegel vom 18. Juli1996). Weil in Zeiten der Rezession Neuinvestitionen in großemUmfang auf spätere Zeiten verschoben werden, dienen diese Geld-kapitalzuwächse (fresh money) allerdings nicht mehr der Real-akkumulation, sondern fungieren weitgehend als Betriebsmittel zurAufrechterhaltung der vorhandenen Produktionskapazitäten undals Finanzierungsquelle für die defizitären, durch Fördermittelund Steuervergünstigungen überstrapazierten Staatshaushalte.Die Verschuldung von Wirtschaft, Staat und Privatpersonen wächstweiter an, obwohl das Sozialprodukt stagniert oder zurückgeht.Die Zinslasten erhöhen sich entsprechend, Konkurse und Ar-beitslosigkeit steigen an. Der gesamtwirtschaftliche Abschwunggewinnt weiter an Fahrt. Die zunehmende Marktverengung istunabwendbar. Durch noch soviel Rührigkeit, Gewandtheit undInitiative kann niemand dieser Gesetzmäßigkeit entgehen. DerZusammenbruch des Systems ist vorgegeben und durch nichtsaufzuhalten (vgl. das Urteil der BHG vom 7. Februar 1952, NJW1952, S. 392ff. zu der der kapitalistischen Zinsdynamik vergleich-

aus produktiven Anlagenproduzieren, und nichtselbst zur Klasse der Geld-vermögensbesitzer gehören– ein nicht genügendesMehrprodukt zur Befriedi-gung der Zinsansprücheproduzieren.«Elmar Altvater/Birgit Mahn-kopf: Grenzen der Globali-sierung. Ökonomie, Ökolo-gie und Politik in der Welt-gesellschaft, Münster 1996,S. 177.

»Das Phänomen der Käu-fermärkte (die ›Unterkon-sumtion‹ oder das Skanda-lon voller Regale bei gleich-zeitiger Bedürftigkeit) erklärtsich daraus, daß auf jederGüterproduktion und jedemGeldstück, das in den Um-lauf kommt, ein Zinsan-spruch haftet. Der Wert derverkauften Güter muß ins-gesamt immer höher seinals die Löhne und Gehälter,die für ihre Produktion nötigwaren. Die Güterpreisemüssen sich also so bilden,daß die Güter insgesamtnicht mit den Lohneinkom-men gekauft werden kön-nen, die für ihre Herstellungverausgabt wurden.«Waltraud Schelkle: Motiveökonomischer Geldkritik, in:Waltraud Schelkle, ManfredNitsch (Hrsg.): Rätsel Geld,Marburg 1995, S. 40/41.

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baren Wachstumsproblematik des sogenannten Schneeballsystems).Es muß mehr als verwundern, wenn trotz ihrer nicht zu überse-

henden gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen und Folgen dieWechselwirkung von Zins, Wachstum, wirtschaftlichem Auf-schwung und Abschwung in der volkswirtschaftlichen und gesell-schaftskritischen Literatur – wenn überhaupt – nur als Marginalieerörtert wird, ohne daß Konsequenzen hinsichtlich der Notwendig-keit einer verschuldungsfreien und wachstumsunabhängigenVolkswirtschaft gezogen werden. Ein Grund hierfür mag sein, daßdie vom Club of Rome thematisierten Grenzen des Wachstumsnoch nicht in allen Köpfen, auch der Wissenschaftler, fest veran-kert sind. In der BRD kommt hinzu, daß das der sogenanntenMarktwirtschaft zugeschriebene »Wirtschaftswunder« der fünfzi-ger, sechziger und teils auch noch der siebziger Jahre zu einerWundergläubigkeit geführt hat, von der bis heute selbst nochbreite Schichten der Intelligenz erfaßt sind. Dagegen anzugehen,wird von ihnen weitgehend als Häresie empfunden.

Seit aber Anfang der neunziger Jahre die Massenarbeitslosigkeitzu einem immer größeren volkswirtschaftlichen und gesellschaftli-chen Problem geworden ist, hätte es zumindest bei den Wirt-schaftswissenschaftlern einer kritischen Analyse bedurft, warumdas »Wirtschaftswunder« von einst in sich zusammengefallenist und die Marktwirtschaft als ökonomisches Allheilmittel ihrenGlanz verloren hat. Dabei ist das »Wirtschaftswunder« und wasdahinter steckt, leicht zu erklären.

In den ersten Nachkriegsjahren ergaben sich als Folge des zwi-schenzeitlich eingetretenen, aber noch ungenutzten technischenFortschritts und dessen breiter Anwendung hohe Steigerungsratenbei der Arbeitsproduktivität. Der Bedarf an neuartigen Gebrauchs-gütern und Gütern des täglichen Bedarfs war enorm. Dies führte zuhohen volkswirtschaftlichen Wachstumsraten, denen in der BRDals Folge der Währungsreform von 1948 und der Abwertung desvagabundierenden Geldkapitals nur geringe Zinslasten gegenüber-standen. So konnte das volkswirtschaftliche Wachstum weitgehendin Lohnsteigerungen umgesetzt werden, die auf der Lohn- undKäuferseite zu immer neuen Bedarfsanregungen führten. Zugleichergaben sich für die Betriebe ausreichende Spielräume zur Eigen-finanzierung, die einen relativ hohen Stand erreichte. Dies steht imunübersehbaren Gegensatz zur Gegenwart, wo die Verschuldungder Betriebe Lohnsteigerungen praktisch ausschließt, wenn die be-triebliche Verschuldung nicht noch weiter ansteigen soll. DieNachfrage sinkt, die betrieblichen Kapazitäten können nicht mehrausgelastet werden. Die Zahl der benötigten Arbeitskräfte gehtzurück. Die Spirale des Abschwungs setzt sich unaufhaltsam inBewegung.

Wenn das Wachstum der Betriebe die Zinslasten nicht mehrübersteigt, ist naturgemäß für eine Erhöhung der Löhne kein Spiel-raum. Solange dieser Zustand andauert, bleibt das gesamtwirt-schaftliche Gleichgewicht durch die die Volkswirtschaft überzie-henden Zinslasten, die nicht mehr ausgeglichen werden, immer-während gestört. Damit offenbart sich das Grundübel der markt-wirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung: Es ist das mit

»Die Marktlösung besteht ...darin, daß die Beschrän-kung des Einsatzes vonRessourcen den Profitentstehen läßt. Unterbe-schäftigung ist somit dasder Existenz von Käufer-märkten korrespondierendeFunktionsprinzip desKapitalismus.«Hajo Riese: Geld: Das letzteRätsel der Nationalökono-mie, in: Waltraud Schelkle,Manfred Nitsch (Hrsg.):Rätsel Geld, Marburg 1995,S. 57.

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wachsender Verschuldung zunehmende Ungleichgewicht zwischenAngebot und Nachfrage, das chronische Zurückbleiben der zah-lungsfähigen Nachfrage hinter dem Angebot. Es handelt sich umein inneren Gesetzmäßigkeiten folgendes Phänomen, das nur tem-porär durch hohes Wirtschaftswachstum oder Neuverschuldungübertüncht werden kann. Langfristig führt es zu Massenarbeitslo-sigkeit und schließlich kommt es zur Selbstblockade der Wirt-schaft, die jede dauerhafte wirtschaftliche Erholung ausschließt.Da hilft kein »Bündnis für Arbeit«, keine Senkung der Lohnneben-kosten, kein Sozialabbau, kein Lohnstopp oder gar ein Lohnver-zicht. Wirtschaftliches Gleichgewicht ist nur zu erreichen, wennProduktion und Löhne wertmäßig ausgeglichen einander gegenü-berstehen und keine das Gleichgewicht störenden Fremdfaktoreneinwirken, wie es nun einmal die Zinslasten sind.

Angesichts der Höhe der alle kapitalistischen Volkswirtschaftenüberziehenden Zinslasten sind keine realen Möglichkeiten mehrgegeben, den weiteren weltweiten wirtschaftlichen Abschwungaufzuhalten und ein weiteres Ansteigen der Massenarbeitslosigkeitzu verhindern. Ohne ausreichende Kaufkraft keine Auslastungder Betriebe. Die Zinsfalle hat zugeschnappt. Aus ihr gibt es keinEntrinnen. Nur die Abschaffung der Kredit- und Zinswirtschaftverbleibt als einziger Ausweg.

Im chronischen Nachhinken der Nachfrage gegenüber demAngebot liegt auch der Ansatzpunkt für die Theorie des »deficit-spending« von John M. Keynes (1883-1946). Mit Hilfe von staat-licher Neuverschuldung sollen Beschäftigungsprogramme finan-ziert werden, die als »Anstoß« für wirtschaftliches Wachstum die-nen. Mit dem auf diese Weise angestrebten Wachstum soll dann dieNeuverschuldung zurückgeführt werden. Die Wahrheit ist, daßBeschäftigungsprogramme dieser Art noch nie zur anschließendenVerringerung der Staatsverschuldung geführt haben. Dies ist auchnatürlich, weil die staatliche Neuverschuldung über die sichdadurch erhöhenden Zinslasten selbst wieder wachstumsminderndwirkt.

Die wahre Ursache des wirtschaftlichen Ungleichgewichts imKapitalismus sind also die vorhandenen Zinslasten. Deshalb kannauch nur eine neue Wirtschaftsordnung helfen, die auf dieden Kapitalismus beherrschende Kredit- und Zinswirtschaft ver-zichtet. Soll weltweit eine Wende zum Besseren erreicht werden,ist eine totale Entschuldung aller Volkswirtschaften unverzichtbar.Zugleich müssen unabdingbar auch die Rechte an Grund undBoden neu geordnet werden, weil dieser Bereich in jeder kapitali-stischen Spätphase zu Lasten der breiten Masse der Bevölkerungimmer stärkeren Ausbeutungscharakter gewinnt (vgl. »Wohnungs-katastrophe, Ursachen und Auswege«, in: Sozialismus 2/94).

Das kapitalistische Finanzierungssystem ist wegen der zugrundeliegenden Zinsmechanik wachstumsabhängig. Ist das für seineAufrechterhaltung erforderliche Wachstum nicht mehr erreichbar,muß sich jede Spar- und Konsolidierungspolitik kontraproduktivauswirken. Das Gegenteil von dem, was beabsichtigt ist, wird ein-treten. Kaufkraft und Investitionen werden zwangsläufig zurückge-hen und den Abwärtstrend beschleunigen. Allein die Aufgabe des

»Die makroökonomischeWirkung des Transfers ausöffentlichen Kassen zuprivaten Geldvermögensbe-sitzern hängt davon ab, wiedie aufgenommenen Krediteverwendet worden sind:konsumtiv oder investiv...Steigt nämlich die makroö-konomische Produktivität(beispielsweise als Folgevon Investitionen in die In-frastruktur), dann wächstauch das soziale Mehrpro-dukt. Profite steigen und mitihnen die Akkumulation vonKapital, so daß mit der Be-schäftigung auch Lohnein-kommen zunehmen. Diesalles erhöht die Staatsein-nahmen, so daß die Bedie-nung der Schulden keinProblem bereiten sollte.Mit anderen Worten: DieWirkung der Staatsverschul-dung hängt auch von derVerwendung ab. Die Ver-schuldung der öffentlichenHaushalte hat demzufolgenicht per se eine negativeWirkung.«Elmar Altvater/Birgit Mahn-kopf: Grenzen der Globali-sierung. Ökonomie, Ökolo-gie und Politik in der Welt-gesellschaft, Münster 1996,S. 176.

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gegenwärtig angestrebten Sparkurses und höhere Lohnabschlüsse(ein kräftiger Schluck aus der Pulle) unter Inkaufnahme einermoderaten Inflation könnten kurzfristig die Konjunktur nochmalsetwas ankurbeln. Das kapitalistische System aber ist auch dadurchnicht mehr zu retten.

Es versteht sich von selbst, daß die Betreiber und Nutznießer deskapitalistischen Systems, das ihnen Macht, Reichtum und Einflußgewährt, sich bis zum Letzten gegen die Abschaffung der Kredit-und Zinswirtschaft sperren werden. War das System in der Vergan-genheit in Bedrängnis geraten, wurde der Ausweg vielfach in einerWährungsreform gesehen. Die Reichen haben es dabei immer wie-der in wundersamer Weise verstanden, durch bevorzugte Behand-lung ihrer Besitzstände ihre Macht und ihren Einfluß zu wahren.Davon abgesehen ist eine dauerhafte Abhilfe auf diese Weise nichtzu schaffen. Die Zinslasten würden nach einer Währungsreformbei Beibehaltung des Systems zwangsläufig von neuem ansteigenund zu gegebener Zeit wieder in einen wirtschaftlichen Abschwungmünden, wenn die auflaufenden Zinslasten erneut durch Wirt-schaftswachstum nicht mehr kompensiert werden können.

Was eine neue Wirtschaftsordnung bewirken muß, ist klar: Dieam Ende jede Volkswirtschaft schwächenden und ruinierendenElemente des kapitalistischen Finanzierungs- und Wirtschaftssy-stems müssen eliminiert werden. Die Quellen für »mühelose« Ein-künfte sind für alle Zeiten zu verstopfen. Ziel muß es sein, eine zu-kunftsorientierte, wachstumsunabhängige und verfallssichere Wirt-schaftsordnung einzurichten.

Das kapitalistische System aufrecht zu erhalten, aber so zu refor-mieren, daß seine immer wiederkehrenden, die breiten Massen derBevölkerung benachteiligenden Folgen unterbunden werden, istillusorisch. Daran ist die Sozialdemokratie bis heute gescheitert.Kapitalismus bleibt Kapitalismus, bleibt ein Ausbeutungssystemmit immer gleichem Ausgang. Durch die am Ende das Wachstumder Produktion zwangsläufig übersteigende Zinsdynamik ist dasScheitern der zugrunde liegenden Wachstumsideologie unaus-weichlich. Folgerichtig stellt das Ahlener Programm der CDU(Februar 1947) fest: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist denstaatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkesnicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirt-schaftlichen und sozialen Zusammenbruch ... kann nur eine Neu-ordnung von Grund aus erfolgen.«

Dreh- und Angelpunkt für den Erfolg oder das Scheitern jederWirtschaftspolitik ist die richtige Beantwortung ökonomischerGrundfragen. Nur ökonomischer Sachverstand und der feste Willeder Handelnden – ungeachtet der unterschiedlichen, auf sie einwir-kenden Einzel- und Gruppeninteressen –, nur dem Gemeinwohldienende Lösungen zu finden, kann weiterhelfen. Dies setzt voraus,daß die ökonomischen Prinzipien, die Grundlage der in Aussichtgenommenen Wirtschaftsordnung werden sollen, kritisch, aberideologiefrei betrachtet und begründet werden.

Diese Aufgabe darf weder Philosophen, Soziologen, Historikernnoch Theologen überlassen werden, sofern sie nicht aus eigenemökonomischen Sachverstand einen Beitrag leisten können. Darauf

»Die menschliche Gesell-schaft kann nicht überleben,wenn sie kapitalistischbleibt. Nur wenn man diekapitalistische in einesozialistische Gesellschaftumwandelt, kann das Über-leben von Mensch und Na-tur gesichert werden.Daher bestreitet Marx,daß es sich bei der Fragedes Übergangs von derkapitalistischen zur soziali-stischen Gesellschaft umein Problem von Wertenoder Werturteilen handelt;es ist vielmehr strikt dasProblem einer Zweck-Mittel-Beziehung, die von der Not-wendigkeit des Überlebensder Menschheit her ent-wickelt wird. Die Notwendig-keit dieses Übergangs ergibtsich daher bei Marx nichtaus einer Wertrationlität,sondern vielmehr aus derZweckrationalität des Wil-lens zum Überleben.«Franz J. Hinkelammert:Kritik der utopischen Ver-nunft. Eine Auseinanderset-zung mit den Hauptströmun-gen der modernen Gesell-schaftstheorie, Luzern undMainz 1994, S. 19/20.

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hinzuweisen erscheint notwendig in einer Zeit, wo die Schwächender kapitalistischen Wirtschaftsordnung bloßliegen, die wirt-schaftswissenschaftlichen Fachgelehrten – aus welchen Gründenauch immer – die kritische Auseinandersetzung scheuen, und viel-fach statt dessen Philosophen und Soziologen mit Inkompetenz dasgroße Wort führen.

Am Ende werden es aber nicht nur die Ideen sein, die über denWert und die Kraft einer wirtschaftlichen Neuordnung entscheiden,sondern die Leute, die sich ihrer bemächtigen. Es kommt darauf an,daß Wort, Denken und Handeln übereinstimmen.

Das, was als »soziale« Marktwirtschaft ausgegeben wird, identi-fizieren deren Protagonisten mit Demokratie, Freiheit und Rechts-staatlichkeit schlechthin. Es wird mit voller Absicht der Eindruckerweckt, als ob jede andere Wirtschaftsform Demokratie, Freiheitund Rechtsstaatlichkeit ausschließe oder in Frage stelle. Verdrängtwird dabei die unübersehbare Tatsache, daß in breiten Kreisen derBevölkerung nur deshalb Politikverdrossenheit vorherrscht, weildie Bürger sich von den Politikern und Parlamentariern nicht mehrmit ihren Interessen vertreten fühlen. Es besteht zunehmend derEindruck, daß gegen die Interessen der breiten Masse regiert wird.

Ob ein solcher Zustand noch vom Begriff »Demokratie« gedecktwird? Dabei gibt es genug Möglichkeiten, das parlamentarischeSystem so zu ändern, daß es tatsächlich volksverbunden und bür-gernah ist. Durch entsprechende Modalitäten (Begrenzung derMöglichkeit der Wiederwahl) könnte das Entstehen der Kategorie»Berufspolitiker« verhindert werden, die, um ihre Wiederwahlnicht zu gefährden, versucht sind, sich in ihrem Abstimmungsver-halten den Meinungsführern der jeweiligen Partei unterzuordnen,statt nach eigener Überzeugung zu entscheiden, wie es das Grund-gesetz vorsieht. Zu denken wäre auch daran, die Abgeordneten,wenigstens zum Teil, als Vertreter gesellschaftlicher Gruppen insParlament zu entsenden oder zu wählen, anstatt die Auswahl derKandidaten allein den Parteien zu überlassen.

Dem Freiheitsbegriff der marktwirtschaftlichen Ordnung istentgegenzuhalten, daß Freiheit dort eingeschränkt wird oder garendet, wo Ausbeutung beginnt. Es ist unbestritten, daß in der BRDwie auch anderswo die Einkommensschere zwischen arm und reichsich immer weiter öffnet (vgl. WSI-Mitteilung 10/1995, S. 605 ff).Der wahre Grund hierfür liegt im beschriebenen Zinsmechanismus,dessen Zwängen sich Wirtschafts- und Steuerpolitik unterordnen.Zinsen belasten die Bürger nicht nur bei eigener Verschuldung. Inallen Preisen einschließlich der Mieten bis hin zu den Gebührenund Tarifen der Versorgungsbetriebe sind Zinsanteile enthaltenebenso wie in der Besteuerung durch die öffentlichen Hände,soweit damit deren Verschuldung abgewälzt wird. Insofern die sichso summierende Zinsbelastung der Bürger höher ist als eigeneZinseinkommen – und dies gilt für den übergroßen Teil der Bevöl-kerung –, heißt dies nichts anderes, als daß diese Bürger zugunstender Zinsgläubiger ausgebeutet werden (vgl. Creutz: Wie reich sinddie Deutschen, in:Sozialismus, Heft 12/94). Wer wegen Über-schuldung an der Pfändungsgrenze lebt, sitzt schließlich in einem»Schuldturm«, aus dem er sich selbst in aller Regel nicht mehr

»Wenn die kapitalistischeGesellschaft nicht mit demmenschlichen Überlebenvereinbart werden kann, istsie unmöglich. Folglich gibtes auch keine ethischeVerpflichtung, die dazuzwingt, die kapitalistischeGesellschaft zu erhalten.«Franz J. Hinkelammert:Kritik der utopischen Ver-nunft. Eine Auseinanderset-zung mit den Hauptströmun-gen der modernen Gesell-schaftstheorie, Luzern undMainz 1994, S. 20.

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befreien kann. Das ist die tragische Schattenseite der vielgerühm-ten Freiheit der marktwirtschaftlichen Ordnung, die sich schließ-lich in ihr Gegenteil verkehrt.

Wenn in das, was die vielbeschworene Rechtsstaatlichkeit dieserOrdnung ausmacht, auch die Beachtung der verfassungsmäßigenGrundlagen (Sozialstaatsgebot Art. 20 I GG) einbezogen wird,müssen große Zweifel angemeldet werden, ob die Spaltung derGesellschaft in arm und reich, Arbeitsbesitzer und Arbeitslose un-ter Berücksichtigung des fortschreitenden Sozialabbaus einer ver-fassungsmäßigen Überprüfung standhält. Der Zinsmechanismusgebiert faktisch die Diktatur des Kapitals. Formale Rechtsprin- zi-pien, wie der Schutz des Privateigentums, werden unter Berufungauf Rechtsstaatlichkeit als Mittel benutzt, Recht in Unrecht zu ver-kehren und eingetretenes Unrecht zu verfestigen. Massenarbeits-losigkeit, Lohndrückerei, Sozialabbau, steuerliche Ungerechtigkeitund unbezahlbare oder überteuerte Mietwohnungen sind eklatanteBeispiele offenkundiger Ungerechtigkeit.

Das Menschenbild der kapitalistischen Wirtschaftsordnung istdas des freien Bürgers, der in seinem Streben nach Reichtum, per-sönlichem Glück und wirtschaftlicher Macht praktisch keinenBeschränkungen unterworfen ist. Nicht auf Gemeinsinn und christ-liche Grundwerte aufbauende Arbeit zum Wohle des Gemeinwe-sens ist der Antrieb des heutigen Wirtschaftslebens, sondern dieGier nach Geld, Reichtum, Macht und Einfluß. Es ist der Tanz umdas goldene Kalb mit neuen Göttern. Das weitgehend überflüssigekapitalistische Finanzierungssystem mit seinem aufgeblähtenApparat kostet jährlich Hunderte von Milliarden DM nicht zumNutzen, sondern zum Schaden der Gesellschaft. Das durch Sparenin der BRD angesammelte Geldkapital von etwa 4,5 Billionen DMist längst angelegt und verbraucht. Als Investitionskapital steht esnicht mehr zur Verfügung. Auch Investitionsanreize gehen von ihmnicht mehr aus. Es gleicht einem Luftschloß. Übriggeblieben sinddie Zinsforderungen der Gläubiger, die das gesamte wirtschaftlicheund gesellschaftliche Leben im Würgegriff halten.

Alle Bekenntnisse zur Achtung der menschlichen Würde entlar-ven sich in der Tageswirklichkeit als Heuchelei, wenn immergrößere Teile der Bevölkerung in Armut versinken und an denRand der Gesellschaft gedrängt werden. Das Mittel, die Bevölke-rung in ihrer überwiegenden Mehrheit trotz objektiv zunehmendensozialen Unrechts bei der Stange zu halten, sind künstlich aufge-baute, überzeichnete oder verfälschte Feindbilder, die im Gegen-satz dazu die Verhältnisse im eigenen Land geradezu als paradie-sisch erscheinen lassen.

Wenn es zutrifft – und durchgreifende Einwände dagegen sindnicht zu erkennen –, daß die Kredit- und Zinswirtschaft die Wurzelallen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Übels von heute ist,muß an ihre Stelle ein anderes Finanzierungsmodell treten. Es gehtum soziale Gerechtigkeit in einer prosperierenden Volkswirtschaft.

Wer nach einer Alternative sucht, kommt an einer Diskussionüber einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz nicht vorbei. Miteiner Finanzierung der Volkswirtschaft ausschließlich über Umla-geverfahren, Steuern und Abgaben kann ein sozialistisches Wirt-

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schaftssystem wachstumsunabhängig und verfallssicher gestaltetwerden. Weg von der auf Egoismus aufbauenden kapitalistischenGesellschaftsordnung mit ihren gesellschaftszerstörerischenMechanismen zu einer Gesellschaftsform, die auf Gemeinsinn undMitmenschlichkeit setzt. Sollte nicht doch – wie von vielen tüchti-gen Geistern immer wieder beschworen – Sozialismus die einzigeChance für einen zukunftssicheren Neubeginn und ein friedvollesZusammenleben der Völker sein? Wie aber muß ein solcher Sozia-lismus aussehen und wie soll er funktionieren? Das aber ist einanderes Thema, das einer gesonderten Betrachtung bedarf.

Gewinnsucht, Machtbesessenheit und das Bangen um Wohlstandvorgaukelnde Besitzstände machen es schwer, Argumenten wirt-schaftlicher Vernunft Gehör zu verschaffen. In der Forderung nachimmer mehr wirtschaftlichem Wachstum als letztem Rettungsankersind sich die Betreiber und Verfechter der derzeitigen marktwirt-schaftlichen Ordnung einig. Dies drängt Fragen auf, die es unab-lässig und mit großem Nachdruck in die Diskussion einzuführengilt, bis die Stimme der Vernunft sich als stärker erweist: Warumbraucht die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu ihrer Aufrechter-haltung stetiges wirtschaftliches Wachstum? Wie hoch muß diejeweils erforderliche Wachstumsrate sein? Können bei realistischerEinschätzung die jeweils erforderlichen Wachstumsraten derzeitund in überschaubarer Zukunft noch erreicht werden? Welchegesamtwirtschaftlichen Rückwirkungen ergeben sich, wenn dieerforderlichen Wachstumsraten nicht mehr erreicht werden? Vonder Beantwortung dieser Fragen und den daraus zu ziehendenFolgerungen hängt es ab, ob die Welt einer friedvollen, lebenswer-ten Zukunft entgegengeht oder die Vision der Apokalypse realeKonturen annimmt.

»Dem Kapitalismus ist eshöchst gleichgültig, wasdie Menschen einschließlichder Wissenschaft von ihmdenken. Sie bleiben desun-geachtet seinen Funktions-bedingungen ausgeliefert.Und das ist die List derGeschichte, die wir zuakzeptieren haben.«Hajo Riese: Geld: Das letzteRätsel der Nationalökono-mie, in: Waltraud Schelkle,Manfred Nitsch (Hrsg.):Rätsel Geld, Marburg 1995,S. 61/62.

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In der Wochenendausgabe vom 24./25. August veröffentlichte»Neues Deutschland« einen vierspaltigen Keller mit der in dickenLettern gesetzten Überschrift »Rätsel um Ketschua«, darüberge-druckt die in der Tat zum Rätseln stimulierende Frage »Inka simigermanischen Ursprungs?« Die Autorin Elfriede Philipp behauptetdarin, der »Polyhistor« und baschkirische Hochschuldozent em.Dr. phil. Jakob Josifowitsch Gelblu und der deutsche »Germanistund Südamerikaforscher« Dr. sc. Julius Mader hätten »welterstma-lig« über einhundert Wörter aus der historischen Sprache des herr-schenden Inkaadels »enträtselt«. Die Sprachforscher Gelblu/Maderhätten Aufsehen erregt, weil sie in 72 Ketschuawörtern mittelhoch-deutsche, in 17 slawische und in anderen Wörtern indoeuropäischeWortwurzeln und Wortstämme nachweisen konnten. Sie hätten dar-aus geschlußfolgert, »daß Germanen und Slawen nacheinanderoder auch zu gleicher Zeit im 8./9. oder 10./12. Jahrhundert den At-lantik überquerten und sich im Laufe der Zeit in die andinen Ge-biete des südamerikanischen Kontinents durchschlugen. Dort hät-ten sie den Kern des privilegierten Adels des gottgleich verehrtenobersten Inka gebildet, mit Inka simi ihre exklusive Herrscherspra-che entwickelt und mit dem Inkareich eine politisch und kulturellhöchste gesellschaftliche Entwicklung der amerikanischen Urbe-völkerung geschaffen«, »ihre« in mehrfacher Hinsicht Furore ma-chenden Erkenntnisse seien in sieben von 1992 bis 1996 erschie-nenen Sonderdrucken niedergelegt, die sich im Bestand der Deut-schen Staatsbibliothek in Berlin befänden. Soweit einige Zitate undindirekte Wiedergaben von Passagen aus dem ND-Artikel.

Im ersten Moment ist man geneigt, abzuwinken, derartige Of-fenbarungen als Spinnereien abzutun und die Sonderdrucke, solltensie denn existieren, weiter in den Magazinen der Staatsbibliothekverstauben zu lassen.

Doch dann erinnert sich mancher ältere ND-Leser, daß im »Tau-sendjährigen Reich« nahezu alle Hochkulturen der Alten Welt mitHeldentaten (indo)germanischer »Herrenmenschen« in Verbindunggebracht wurden. Sogar die Möglichkeit einer »Freundschaft undWaffenbrüderschaft« zwischen dem Hitlerreich und dem asiati-schen Kaiserreich Japan versuchten besonders verbohrte, in Wis-senschaft machende Nazis mit dank »nordischen Migrationen« we-nigstens bis in die Spitzen der japanischen Oberschicht reichender»arischer Blutsbande« zu begründen.

Wenn nun vorkolumbianische germanische »Kulturträger« gar

Ronald Lötzsch – Jg. 1931,Sprachwissenschaftler,Berlin.

Eine redaktionell gekürzteFassung dieses Artikelswurde unter der Überschrift»Wilde Spekulation. Anmer-kungen zu ›Rätsel um Ket-schua‹« in der Wochenend-ausgabe des NeuenDeutschland vom 12./13.Oktober 1996 abgedruckt.

LÖTZSCH Inkakultur – germanisch?109

RONALD LÖTZSCH

Südamerikanische Hochkultur derInkas germanischen Ursprungs?

jenseits des Großen Teiches geortet werden und die einzige überre-gionale deutschsprachige sozialistische Tageszeitung darauf nicht,wie allenfalls hätte erwartet werden können, lediglich auf derBlattsch(l)uß-Seite1 reagiert, sollte man angesichts sich ausbreiten-der neonazistischer Machenschaften dies nicht auf sich beruhenlassen.

Natürlich unterstelle ich den beiden »Sprachforschern« nicht,daß es ihre Absicht war, die rassistischen Wahnvorstellungen derNazis zu kolportieren. Dennoch weisen ihre Thesen in mancherleiHinsicht eine fatale Übereinstimmung mit solchen auf. Und wiediese sind sie wissenschaftlich völlig unhaltbar.

Wiedergegeben sind sie im ND-Artikel im wesentlichen korrekt.Lediglich die angeblich germanischen Komponenten der Inkaspra-che werden zu Unrecht ausschließlich dem Mittelhochdeutschenzugerechnet, was nicht ihrer Behandlung in den Sonderdruckenentspricht.

Denn diese existieren tatsächlich. Allerdings besitzt die DeutscheStaatsbibliothek nicht sieben, sondern nur vier, herausgegeben1992 bis 1994 vom Pädagogischen Institut in Ufa in einer Auflagevon 150 Exemplaren unter dem Titel »Die Inkas: sprachgeschicht-liche Analyse«.2 Daß es darüber hinaus drei weitere, bis 1996erschienene, Lieferungen gibt, die Frau Philipp auf anderem Wegebekannt geworden sein könnten, ist nicht auszuschließen, denn dasdie vierte Lieferung abschließende Wörterverzeichnis enthält nichtdie über einhundert angeblich enträtselten Ketschuawörter, son-dern allenfalls etwa achtzig, teilweise gegliedert in solche germa-nischen, slawischen und sonstigen indoeuropäischen Ursprungs.Doch auch diese genügen völlig, um sich ein Bild zu machen.

In technischer Hinsicht stellen die vier Lieferungen eine sehrbescheidene Publikation dar. Genau genommen sind es insge-samt 175 Seiten vervielfältigter, im wesentlichen russischer,3

Schreibmaschinentext mit handschriftlichen Ergänzungen undKorrekturen.

Der Verfasser Jakob Gelblu ist offenbar ein Germanist, der sichim fernen Baschkortostan durch die Vermittlung von Deutsch-kenntnissen an baschkirische, tatarische und russische Studentensicher verdient gemacht hat. Er ist vertraut mit der einschlägi-gen germanistischen lexikographischen Literatur, beherrscht dieGrundlagen der deutschen Sprachgeschichte und kennt die wich-tigsten russisch- und deutschsprachigen Werke über das Inkareich,dessen Geschichte und Sprachsituation.

Er ist jedoch von einer fixen Idee besessen, und die läßt ihn nichtnur seine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse, sondern auch diepolitische Brisanz seiner Thesen vergessen. Und diese fixe Ideebesteht in dem Bestreben, um jeden Preis den germanischen bzw.germanisch-slawischen Ursprung einer besonderen Sprache der In-kadynastie zu beweisen, die dann auch im Ketschua, der heutenoch in den Andenstaaten von Millionen Indios gesprochenenStaatssprache des untergegangenen Inkareiches, ihre Spuren hin-terlassen habe. Daß die Inkadynastie eine von der ihrer Untertanenvöllig verschiedene Sprache gehabt haben soll, ist im übrigenumstritten. Die meisten Spezialisten gehen davon aus, daß sie

1 Für Nicht-ND-Leser:Die Blattsch(l)uß-Seite istdie satirischen Beiträgenvorbehaltene letzte Seiteder Wochenendbeilagedieser Zeitung.

2 Im russischen Original:Inki. Lingvoistoritscheskijanalis (aus technischenGründen kann hier statt deran sich üblichen bibliotheka-rischen Transliteration bzw.der kyrillischen Original-schreibung leider nur dieseeigentlich abzulehnendelateinische Transkriptionverwendet werden).

3 Alle vier Lieferungenenthalten eine deutscheZusammenfassung.

110LÖTZSCH Inkakultur – germanisch?

örtlichen Ursprungs war und ebenfalls einen Ketschuadialektsprach.

Schleierhaft ist der Anteil von Julius Mader am gemeinsamenUnternehmen. Sein Name taucht erst 1993 in der dritten Lieferungauf.4 Im letzten Satz des Vorwortes dankt Verfasser Gelblu Dr. sc.jur. et Dr. rer. pol. Julius Mader (Berlin) für wertvolle Hinweise zurmittelalterlichen Geschichte Deutschlands, die sich allerdings inden 155 Endnoten dieser Lieferung noch nicht niederschlugen. Erstin der vierten Lieferung figuriert Mader als Mitautor, und hier er-scheinen dann auch neue Literaturangaben (Eichler, SlawischeOrtsnamen zwischen Saale und Neiße, Bautzen 1987; DeutscheGeschichte, Leipzig 1965). Auffällig ist, daß Versuche, Ketschua-wörter aus dem Slawischen zu erklären, erst ab der dritten Liefe-rung unternommen werden. Sollte hierin etwa der originäre deut-sche Beitrag zu den »Furore machenden Erkenntnissen« bestehen?

Doch zur Sache selbst. Natürlich kann hier nicht auf jeden ein-zelnen Versuch der Erklärung von Ketschuawörtern eingegangenwerden. Einige markante Beispiele reichen jedoch völlig aus, umzu verdeutlichen, daß grundlegende und Verfasser Gelblu auch be-kannte Gesetzmäßigkeiten der westgermanischen und slawischenSprachentwicklung um der aussichtslosen Fundierung einer fixenIdee willen bewußt ignoriert werden.

Der vermeintlich germanische Anteil am Ketschuawortschatzwird meist mit Zitaten aus Matthias Lexers MittelhochdeutschemTaschenwörterbuch (Leipzig 1956) begründet. In vielen Fällenwerden angeblich aus dem Germanischen stammende Ketschua-wörter jedoch je nach Bedarf mal mit oberdeutschen, mal mit nie-derdeutschen Formen identifiziert.

Das einen kleinen Bach bezeichnende und pachtscha auszuspre-chende Wort pajcha (-cha ist ein Diminutivsuffix) z. B. wird direktmit deutschem Bach in Verbindung gebracht. Und zwar stamme esaus dem Oberdeutschen, in dem die stimmhaften Verschlußlauteschon in althochdeutscher Zeit stimmlos geworden waren, so daßb in altbairischen und altalemannischen Denkmälern meist pgeschrieben wurde. Diese Annahme ist zwar nicht zwingend, dennnach der eigenen Aussage von Gelblu gibt es im Ketschua keinestimmhaften Verschlußlaute, deutsches b hätte also in jedem Falledurch p substituiert werden müssen. Hochdeutsch wäre es aber,denn der im Deutschen ch geschriebene Laut ist durch die sog.hochdeutsche Lautverschiebung aus k entstanden. Mittelnieder-deutsch hieß der Bach beke.

Das einen Teich bezeichnende Ketschuawort tika wird dagegenwegen des erhaltenen k aus dem Mittelniederdeutschen erklärt, indem die Entsprechung dik lautet. Rein lautlich wäre das korrekt,denn stimmhaftes d hätte wiederum durch stimmloses t ersetzt wer-den müssen. Auch semantisch stimmen Ketschua und Deutsch indiesen beiden Fällen überein.

Doch welche realen Voraussetzungen hätten für diese beidenWortentlehnungen, die lediglich beispielhaft für mehrere andereangenommene Fälle stehen, gegeben sein müssen? Die postuliertengermanisch-slawischen Stammväter der Inkas hätten einen ober-deutsch-niederdeutsch-slawischen Mischdialekt gesprochen. Und

4 Die Geschichtsseiteder ND-Ausgabe vom24. Dezember 1992 enthieltallerdings unter der Spal-tenüberschrift »KURIOSeHistorie« bereits eine mit Dr.J. M. unterzeichnete Rand-notiz mit dem Titel Rätsel-hafte Inka-Sprache , dieeine eher skeptisch distan-zierte Annotation der darinnoch als Pamphlet bezeich-neten, kurz davor erschiene-nen ersten Lieferung vonGelblus Inkas darstellt.

LÖTZSCH Inkakultur – germanisch?111

das vor dem 12. Jahrhundert! Diese Datierung ergibt sich zwingendaus anderen sprachhistorischen Kriterien.

Die mehrfach vorgenommene Identifizierung ein u oder i enthal-tender Ketschuawörter, z. B. puric (erwachsener Mann), chipana(rituelles Armband), mit deutschen, in denen diesen Vokalen dieDiphthonge au oder ei (Bauer, Scheibe) entsprechen, wird in die-ser Hinsicht zutreffend – einmal abgesehen von allen semantischenÄhnlichkeiten bzw. Nichtübereinstimmungen (erwachsener Mann= Bauer, Armband = Scheibe?) sowie von lautlichen Nichtentspre-chungen (tsch in chipana = sch in mittelhochdeutschem schibe?) –damit begründet, daß diese Diphthonge erst seit dem 12. Jh. ausden Langvokalen entstanden seien.

Wenn jedoch auch das dem Sonnengott Inti gewidmete höchsteFest der Inkas, das u. a. mit kultischen Tänzen gefeiert wurde unddas sie raymi nannten, aus dem Deutschen erklärt werden soll undsich dafür Reigen anbietet, dann wird ignoriert, daß dieses auf gal-lisches rica zurückgeführte Wort ebenso wie der damit bezeichneteaus Frankreich stammende Tanz erst im 13. Jh. nach Deutschlandgelangte. Dabei wird die entsprechende Stelle aus Kluges etymolo-gischem Wörterbuch sogar zitiert. Im Mittelhochdeutschen lautetedas Wort im übrigen reie und nicht raje.

Eben diese Mißachtung der Lautentwicklung beinhaltet auch derVersuch, das die Sippe, die Grundeinheit der Inkagesellschaft, be-zeichnende Wort ayllu aus dem Germanischen zu erklären. DieWurzel ay- wird mit aiw- (Zeitraum, Ewigkeit) identifiziert, das al-lerdings nur im Gotischen noch den Diphthong bewahrt, währenddieser schon im Althochdeutschen zu langem ewig (wie im Neu-hochdeutschen) geworden ist.

Gleiches gilt für Versuche, Ketschuawörter mit dem Slawischenin Verbindung zu bringen. Die ein u enthaltenden Körperteilbe-zeichnungen rucana (Plural von Finger) und pupu (Nabel) z. B.werden mit slawischem ruka (Hand) und pup (Nabel) identifiziert.Wird angenommen, Slawen hätten bereits im 8./9. Jh. Südamerikaerreicht, hätten die Wurzeln dieser Wörter im gesamten Slawischenkein u, sonderen einen aus an hervorgegangenen, wie im Französi-schen auszusprechenden, Nasalvokal enthalten. Wäre der Trip überden Atlantik erst im 11./12. Jh. erfolgt, wobei auch zu diesem Zeit-punkt dafür allenfalls Ostseeslawen in Frage gekommen wären,hätte die gleiche Nichtentsprechung noch immer gegolten, dennderen Dialekte bewahrten die Nasalvokale bis zu ihrer Germani-sierung und die Mundarten ihrer nichtgermanisierten Nachfahren,der Kaschuben, haben sie, ebenso wie die Sprache ihrer polnischenLandsleute heute noch (vgl. die renka, pempek auszusprechendenpolnischen Äquivalente).

Für die angeblich nichtspezifizierte indoeuropäische Herkunfteines Ketschuawortes wird die Bezeichnung der Hand angeführt,die maci lautet. Die Wurzel ma- soll die von lateinisch manus sein,die es weder im Germanischen noch im Slawischen5 gibt. Wie sieins Ketschua gelangt sein soll, bliebe in der Tat ein Rätsel dieserSprache, selbst wenn man die ominöse mittelalterliche Atlantik-überquerung von Germanen bzw. Deutschen und Slawen für denk-bar halten wollte.

5 Es sei denn in solchenin der Wissenschafts-sprache aus lateinischenElementen gebildeten Fach-ausdrücken wie Manufaktur,Manuskript, manuell.

112LÖTZSCH Inkakultur – germanisch?

Geradezu grotesk ist der Versuch, auch das in den spanischenChroniken des Inkareiches als Bezeichnung der Angehörigen desInkahochadels überlieferte orejones aus dem Deutschen zuerklären. Es handelt sich natürlich um ein spanisches Wort, abge-leitet von oreja (auszusprechen orecha), das ›Ohr‹ bedeutet. DieAbleitung orejones ›Langohrige‹ spielte auf die Sitte an, den jun-gen Adligen die Ohrläppchen zu durchbohren und diese mittels im-mer größerer goldener Ohrpflöcke zu beachtlicher Länge auszu-dehnen.6 Gelblu/Mader jedoch identifizieren den Stamm orej- nichtnur mit dem mittelhochdeutschen Adjektiv ôrecht, das eine Ablei-tung von ôr Ohr7 mittels des Suffixes -echt darstellt und auch etwa›langohrig‹ bedeutete, sondern vermengen dieses außerdem mitdeutschem horchen, das eine ganz andere Etymologie hat.

Man könnte die Aufzählung der Verstöße gegen elementarstesprachwissenschaftliche Grundsätze noch lange fortsetzen, dochdürften auch die angeführten die Unhaltbarkeit der von Gelblu/Mader aufgestellten Hypothese zur Genüge belegen.

Wie erklären sich nun die zum Teil in der Tat frappierendensowohl semantischen wie lautlichen Übereinstimmungen zwischenKetschuawörtern und solchen des Deutschen bzw. Slawischen?

Die Zahl der in natürlichen Sprachen möglichen Lautkombina-tionen ist begrenzt. Angesichts der Notwendigkeit, viele tausendBegriffe bezeichnen zu müssen, können Sprachen, zwischen denenes nie irgendwelche realen Kontakte gegeben hat, verblüffendezufällige Übereinstimmungen aufweisen. Dies gilt auch für Ket-schua und Germanisch bzw. Deutsch oder Slawisch.

Doch zurück zu den historischen Voraussetzungen. In Europa wurde die Hochseeschiffahrt technisch erst seit dem

12. Jh. möglich.8 Die Annahme einer beabsichtigten Überquerungdes Südatlantiks durch Germanen oder gar Slawen schon im8./9. Jh., etwa um der gewaltsamen Christianisierung zu entgehen,wie Gelblu/Mader in einer Anmerkung auf Seite 18 der viertenLieferung unbefangen annehmen, ist also reine Spekulation.

Im 9. Jh. erreichten Wikinger, die ersten Hochseefahrer desNordatlantiks, von Norwegen aus erstmalig Island und Grönland,was bereits eine gewaltige Leistung darstellte. Die Überfahrt vonGrönland nach Baffinland, die Leif Erikson um das Jahr 1000gelang, ist ein Katzensprung im Vergleich zu den Entfernungen, diehätten bewältigt werden müssen, um an die südamerikanischeAtlantikküste zu gelangen.

Sogar im 12. Jh. fehlten hierfür noch die technischen Vorausset-zungen.

Meeresströmungen, die ein Schiff, das sich aus der Nordseekommend zu weit in den Atlantik hinauswagte, hätten über denOzean an die Küste Venezuelas oder Brasiliens driften lassen kön-nen, gibt es nicht. Und selbst wenn dies denkbar wäre, die aben-teuerliche Vorstellung, eine aus Sprechern des Nieder- und Ober-deutschen, also beispielsweise aus Sachsen und Baiern, zusam-mengesetzte und dergestalt an diese fernen Gestade verschlageneSchiffsbesatzung hätte, wie dies den Erfindern des germanischenInka simi vorschwebt, den Amazonas und seine Quellflüsse strom-aufwärts vordringend schließlich die Hochanden erreicht und dort

6 Eine Parallele dazu gabes noch nach ihrer Ent-deckung durch die Europäerauf der Osterinsel. ThorHeyerdal sah u. a. darineine Bestätigung seinerHypothese, daß die Oster-insel nicht nur von Polynesi-en aus besiedelt wurde,sondern der Ursprung derLangohren , der späterdurch eine Revolte derKurzohren ausgerottetenherrschenden Oberschicht,in Südamerika zu suchen sei.

7 Das Wort ist identischmit der Wurzel seines spani-schen Äquivalents. Diesegeht zurück auf die desgleichbedeutenden lateini-schen auris, jenes auf eingermanisches Wort, das imGotischen als auso bezeugtist. In der Sprache der ge-meinsamen Vorfahren so-wohl der Römer als auchder Germanen muß dieBezeichnung dieses Körper-teils *o(H)us gelautet haben.Im Litauischen und Letti-schen wurde es später zuausìs bzw. auss , im Slawi-schen zu ucho weiterent-wickelt.

8 Die Vorfahren der heuti-gen Polynesier wagten sichdagegen schon vor überdreitausend Jahren aufihren Auslegerbooten vonIndonesien aus in die Wei-ten des Pazifiks und erreich-ten vermutlich bereits in derMitte des ersten nachchrist-lichen Jahrtausends denöstlichsten Punkt ihres Ver-breitungsgebietes, dieOsterinsel.

LÖTZSCH Inkakultur – germanisch?113

lebende Indianerstämme unterworfen, entbehrt jeder realen Grund-lage. Außerdem hätte ein solches Ereignis, hätte es je stattgefun-den, Eingang gefunden in die in den spanisch geschriebenen Chro-niken des 16./17. Jh. reich überlieferte Mythologie der Inkas.

Noch unvorstellbarer ist, daß eine solche Invasion gleich zwei-mal gelungen sein könnte, einmal germanischen bzw. deutschen,ein andermal slawischen Eindringlingen. Wie diese sich dann alsKonkurrenten in den Anden arrangiert haben könnten, so daß dasInka simi sowohl germanische als auch slawische Komponentenaufnahm und dann an das Ketschua weitergab, wäre ein weiteresunlösbares Rätsel.

Dem Neuen Deutschland sollten seine doch so knappen Seiteneigentlich zu schade sein für die Verbreitung derart abwegigerSpekulationen, nicht zuletzt wegen der damit verbundenenbedenklichen politischen Implikationen.

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UTOPIE kreativ: Was war das Ziel Ihrer Reise nach Deutschland?

DENIS GOLDBERG: Ich kam nach Deutschland zu einer Vortrags-reise. Als Einführung habe ich meist aus der Biographie vonNelson Mandela gelesen, um darüber ins Gespräch zu kommen, woSüdafrika heute politisch und ökonomisch steht und um auchdarüber zu sprechen, wofür ich mich heute engagiere, d. h. überden Hilfsfond »Community H.E.A.R.T.« (Health, Education andReconstruction Training), dessen Direktor ich bin. Diese Nichtre-gierungsorganisation hilft dabei, Geld für Entwicklungsprojekte inSüdafrika zu mobilisieren. Begonnen haben wir damit in London,und jetzt haben wir auch ein Büro in Essen. Ich sammle Spendenund wir verwenden sie vor allem für Projekte im Gesundheits- undim Bildungswesen der städtischen und ländlichen Gemeinden. Sobeteiligen wir uns zum Beispiel in Kapstadt an der Finanzierungder Arbeit eines Frauenzentrums für die Opfer sexueller Gewalt.Die Hans-Böckler-Stiftung des DGB hat uns speziell für diese Auf-gabe eine Spende von 10.000 DM übergeben. Vergewaltigung istein sehr ernstes Problem in unserem Lande. Nach den Statistikensoll Südafrika die höchste Vergewaltigungsrate in der Welt ha-ben. Alle 34 Sekunden wird eine Frau vergewaltigt. Wir unterstüt-zen aber auch ein kleines künstlerisches Projekt mit Kindern ausden Townships an der renommierten Johannesburger Kunstgalerie,das uns sehr viel Freude bringt. Diese heiligen Hallen durftenfrüher Schwarze nicht einmal betreten! So spreche ich über Süd-afrika, auch über unsere internationalen Beziehungen.

UTOPIE kreativ: Wie beurteilen Sie die soziale und ökonomischeSituation im heutigen Südafrika?

DENIS GOLDBERG: Die Realität ist, daß die südafrikanische Wirt-schaft heute von fünf großen Konzernen beherrscht wird und derEntwicklungsspielraum für kleine Unternehmen beschränkt ist. Esgibt vereinte Anstrengungen von Regierung und Nichtregierungs-organisationen, kleine Unternehmen zu schaffen. Es gibt den ent-schiedenen Versuch der großen Konzerne, eine Klasse schwarzerKapitalisten zu schaffen. Das wird »schwarze Machtverstärkung«(black Empowerment) genannt. Insgesamt wird Südafrika mehrund mehr eine ganz »normale« kapitalistische Gesellschaft. Jetztgibt es tatsächlich freie Lohnarbeiter, die sich überallhin – gleich

Denis Goldberg – Jg. 1933,in Kapstadt geboren undvon Beruf Diplom-Ingenieur.Er war Mitbegründer desvon Nelson Mandela geführ-ten Militärflügels des ANC»Umkhonto we Sizwe« undfiel 1963 der südafrikani-schen Sicherheitspolizei indie Hände, als es ihr ge-lang, das MK-Hauptquartierim Johannesburger StadtteilRivonia auszuheben. AlsAngeklagter Nr. 3 standGoldberg dann 1964 nebenMandela, Walter Sisulu undanderen führenden ANC-Mitgliedern im bekanntenRivonia-Prozeß vor Gerichtund wurde zu lebenslängli-cher Haft verurteilt. Heute,nach seiner Freilassung,hat er sich dem NationalenWiederaufbauprogramm fürSüdafrika verschrieben undist Gastprofessor an derUniversität Glasgow inSchottland.

GOLDBERG Interview115

Denis Goldberg

»Südafrika steht vor großenHerausforderungen –aber ich bin sehr optimistisch«

in welchen Wirtschaftszweig – bewegen können. Dazu gibt es einumfassendes Programm, um möglichst viele Menschen in techni-schen Berufen auszubilden.Ein gravierendes Problem Südafrikas ist die Arbeitslosigkeit –nicht einfach »normale« Arbeitslosigkeit, sondern Mangel anMöglichkeiten zu wirtschaftlicher Tätigkeit überhaupt für nahezudie Hälfte der Bevölkerung. Eine ungeheure Zahl von Menschen,man spricht von der Hälfte der Bevölkerung, hat keinen Zugang zusauberem Wasser, verfügt nicht über angemessenen Wohnraum.Viele Menschen wohnen in armseligen Hütten aus Holz undKarton, unter Plastikplanen oder Blechen, die Wind und Regenabhalten sollen. Das ist die schrecklichste Form der Armut, die mansich vorstellen kann, in einem Land, das wirklich sehr reich ist. Ich werde gefragt, warum unser Land mit all seinen ProblemenGeld ausgibt, um eine Mannschaft zu den Olympischen Spielenzu senden und warum Kapstadt sich sogar um die OlympischenSommerspiele für 2004 beworben hat. Man muß aber verstehen,Sport ist für uns etwas Großartiges, eine Quelle der Einheit. EineOlympia-Mannschaft, auch wenn sie nur wenige Siege errang, istein Identifikationsmuster, macht die ganze Nation stolz.

Politisch ist die Lage kompliziert. Die Regierung der nationalenEinheit, die im Rahmen der Übergangsverfassung gebildet wordenwar, ist zerbrochen, weil die alte Regierungspartei, die National-partei des früheren Premierministers de Klerk, die Regierungverlassen hat. In gewisser Weise hat dies den Transformationspro-zeß beschleunigt: Wenn bisher im Kabinett Entscheidungen auf dieTagesordnung kamen, wurde bis zum Konsens diskutiert. Dasbedeutete, alles verlief langsam. Ich denke, es könnte nur gut fürden politischen Prozeß sein, wenn auch formal eine Opposition imParlament existiert, die ihre ablehnende Haltung offen ausspricht.Nicht, daß ich glaube, die Partei von de Klerk kann jemals einerichtige Opposition werden. Dazu ist sie zu tief ausschließlich inder weißen Minorität verwurzelt. Sie und einige andere – darunterauch einige Schwarze – fürchten die schwarze Mehrheit.

UTOPIE kreativ: Kann man diesen Vorgang nicht als Teil einesNormalisierungsprozesses betrachten? Durch das Ausscheiden ausder Regierung versucht die Nationalpartei nicht nur die Mehrheitder Weißen, sondern auch alle Enttäuschten unter den Schwarzenzu gewinnen. Nach zweieinhalb Jahren gibt es mit Sicherheit einegroße Anzahl von Schwarzen, die von den Ergebnissen der Umge-staltung enttäuscht sind.

DENIS GOLDBERG: Dafür spricht einiges. Aber da spielt bei deralten Regierungspartei von de Klerk auch Resignation mit. Ganzgleich, was sie in der Regierung der nationalen Einheit unternom-men hat, am Ende konnte sie die Prozesse der Zurückdrängung desRassismus, der wachsenden Zustimmung für die neue Regierungund die allmähliche Erosion der Privilegien für Weiße nicht auf-halten. Auf der anderen Seite gibt es auch eine Menge Frustration,die mit den kriminellen Aktivitäten des alten Regimes, der Polizei,der Armee, den Morden zu tun hat. Die Arbeit der »Komission für

»Südafrikas Wirtschaftkann auf ein relativ gutesJahr 1995 zurückblicken.Das reale Wirtschaftswachs-tum erreichte 3,5 Prozent(die höchste Rate seit1988), und für 1996 wirdmit mindestens 4 Prozentgerechnet. Die positiveEntwicklung im vergange-nen Jahr konnte trotz einesdürrebedingten Rückgangsder Agrarerzeugung von15 Prozent und einer um3,5 Prozent geringerenBergbauproduktion erzieltwerden.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 22.

»De Klerk begründete denSchritt mit dem schwinden-den Einfluß der NP im vomANC dominierten Kabinettund glaubt, den Interessendes Landes und der Profilie-rung seiner Partei alsschlagkräftige Oppositionbesser gerecht werden zukönnen. Der Wert des süd-afrikanischen Rand gab dar-aufhin trotz der Versiche-rung de Klerks, das dieWirtschaftspolitik des ANCzuverlässig bleibe, weiternach.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 27.

116GOLDBERG Interview

Wahrheit und Versöhnung« – der ein sehr religiöses Konzept von»Versöhnung« zugrunde liegt – kann, glaube ich, eine sehr wichti-ge Rolle spielen, einfach dadurch, daß sie vielen Menschen gestat-tet, öffentlich auszusprechen, was mit ihnen und ihren Familien,ihren Kindern und Eltern geschah. Zumindest hört man ihre Ge-schichte und spricht darüber. Die Beamten, die Generäle, die diesePolitik zu verantworten haben, zeigten bisher keine große Bereit-schaft, vor der Wahrheitskommission als Zeugen aufzutreten, ob-wohl es für sie sehr wichtig wäre, wenn sie für ihre Verbrechen am-nestiert werden wollen. Für alles das, was aufgedeckt wird, nach-dem die Kommission ihre Arbeit beendet hat, wird es – denke ich– keine Amnestie geben, d. h. die Verantwortlichen des alten Regi-mes müssen jetzt ihre Aussagen machen. Es gibt auch Fälle, in de-nen die Kommission sich weigern kann, eine Amnestie auszuspre-chen. Ich glaube, daß die Kommission eine wichtige Funktion hat.Obwohl ich vom Apartheid-Regime verurteilt wurde und überzwanzig Jahre im Gefängnis zubringen mußte, fühle ich kein Ver-langen nach Rache, nach Haftstrafen oder gar nach der Todesstra-fe, die manche Leute jetzt fordern – neue Tote machen Getötetenicht wieder lebendig. Es ist sehr wichtig, daß wir versuchen, We-ge zu finden, um etwas Neues zu bauen. Das ist eine sehr schwie-rige Angelegenheit. Es gibt da zum Beispiel einen Polizeioffizier,der vor Gericht gestellt wurde, sein Name ist Eugene de Kock.Er ist Colonel und Commander, also ein hoher Polizeioffizier. Ihmwurden ungefähr 86 schwere Verbrechen nachgewiesen, daruntersechs Morde und mehrere versuchte Morde. Der Prozeß endetenach fast zwei Jahren mit der Verurteilung zu zweimal lebensläng-lich. Dieser Prozeß war sehr wichtig. Denn niemand kann jetzt län-ger behaupten, daß solche Greultaten nicht geschehen sind...

Aber es gibt auch anderweitig Enttäuschte. Die Schaffung vonArbeitsplätzen verläuft sehr langsam. Die Versorgung mit Woh-nungen kommt nur langsam voran, erst recht für solche Menschen,die kein Einkommen haben. In einem System, in dem Vermögenzählt, gibt es nicht ohne weiteres Mittel für die kostenlose Bereit-stellung von Wohnungen. Dazu kommt, daß in Südafrika derWunsch nach einem eigenen Haus für jede Person oder Familie tiefverwurzelt ist – es geht nicht um Wohnblocks, sondern um eineigenes Haus und ein eigenes Stück Land. Das ist natürlich einebesonders teure Art von sozialem Wohnungsbau.

UTOPIE kreativ: Ist das eine Art von ökonomisch-sozialemRomantizismus?

DENIS GOLDBERG: Das ist eine Forderung, weil es die Weißen inSüdafrika vorgelebt haben, häufig in Wohnungen, aber in großenWohnungen. Das war nicht romantische Verklärung, das warRealität.

UTOPIE kreativ: Aber es ist doch auf jeden Fall effizienter, wennman in großen Städten arbeitet, auch dort zu leben, statt auf demLand.

»Leider war die Belebungder wirtschaftlichen Aktivitä-ten im abgelaufenen Jahrnur von einem äußerstschwachen Beschäftigungs-wachstum begleitet. Zwi-schen Juni 1994 und Juni1995 nahm die Zahl der imformellen Sektor außerhalbder Landwirtschaft Beschäf-tigten um nicht einmal 1Prozent zu (44.335 neue Ar-beitsplätze), während jähr-lich mindestens 700.000Personen neu auf den Ar-beitsmarkt drängen. Auchwenn der informelle Sektoreinen Teil dieser Menschenaufnimmt, erhöht sich dieZahl der Arbeitslosen undUnterbeschäftigten – dieQuote wird auf 35 Prozentund darüber geschätzt – da-mit ständig weiter.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996),S. 23/24.

GOLDBERG Interview117

DENIS GOLDBERG: Die ländlichen Gebiete spielten in Südafrikaimmer eine besondere Rolle. Denn so wie die Rassentrennungdurchgesetzt wurde, waren die Schwarzen gezwungen, größtenteilsaußerhalb der Städte zu wohnen. Zur und von der Arbeit waren sietäglich vier bis fünf Stunden in Überlandbussen unterwegs. Sie leb-ten in Gebieten, die wir ländlich nennen, die aber in WirklichkeitVorstädte waren. Heute leben sie natürlich immer noch dort. Mil-lionen Menschen siedeln zum Beispiel um Johannesburg und Pre-toria. Das ist der Industriegürtel des Landes mit Hoffnung auf ei-nen Arbeitsplatz. Wir nennen diese Kommunen, die keine Slumssind, ländlich. Aber Landwirtschaft gibt es hier nicht. Es sind ein-fach »Nicht-Städte«. Jeder kennt Soweto. Das ist kein besondererName, sondern die Abkürzung für »South-Western-Township«,d. h. der Ort, in dem die Schwarzen südwestlich von Johannesburgleben. In Soweto leben offiziell zwei, wahrscheinlich aber vier Mil-lionen Leute. Die Behörden sagen, wenn Soweto entwickelt wer-den soll – Straßen, Wasser, Elektrizität, Schulen usw. –, dann mußdie Gemeinde dafür bezahlen. Normalerweise bezahlt nicht eineVorstadt allein für solche Vorhaben, sondern die gesamte Stadt, inder Handel und Industrie Reichtum hervorbringen. Aber in Sowetogab es nie Industrie, gab es nie Handel – beides wurde nicht zuge-lassen, und folglich gab es keine kommunalen Einnahmen. Wirmüssen jetzt eine Metropolen-Region Johannesburg schaffen, dievier solcher Vorstadtstrukturen hat: Nordost, Nordwest, Südwestund Südost. Plötzlich sagen nun die Weißen: ›Wir bezahlen keineSteuern, die anderen zugute kommen.‹ Tatsächlich wurden die teu-ren Wohngegenden der Weißen durch die Armut der schwarzenGebiete subventioniert. Jetzt weigern sich die Weißen, Steuern zuzahlen, so wie die Schwarzen unter der Apartheid.

Eines der größten Probleme Südafrikas ist seine Tradition»politischer Korruption«. Alle Apartheid-Regierungen haben sichmit den mächtigen Gruppen arrangiert und haben sich für derenInteressen eingesetzt, nicht zuletzt, um sich selbst schnell berei-chern zu können. Diese Art von korrupter – legaler oder kriminel-ler – Instrumentalisierung von Politik für Gruppeninteressen kannoffenbar nur schwer überwunden werden. Aber auch die Schwarz-en haben Formen des Kampfes entwickelt, die heute eher kontra-produktiv sind. Früher haben die Schwarzen sich dem Apartheid-Staat dadurch verweigert, daß sie – wo es nur irgend möglich war– keine Steuern oder Gebühren für öffentliche Dienstleistungen(z.B. Mieten) bezahlt haben. Heute braucht die Regierung dieseEinnahmen mehr denn je. Aber es ist außerordentlich kompliziert,hier ein Umdenken oder gar eine Veränderung im Verhalten zuerreichen.

Die neuen demokratischen Freiheiten können natürlich auch ge-gen die neue Regierung eingesetzt werden. Heute hat jeder dasRecht, gegen unliebsame soziale oder politische Erscheinungen zuprotestieren und Ansprüche zu stellen, unabhängig davon, ob er amBefreiungskampf aktiv teilgenommen hat oder nicht. Das ist ansich nicht schlecht. Dadurch wird die Regierung ständig ange-spornt, ihre Vorhaben zu verwirklichen. Und vollkommene Ent-wicklungsprogramme gibt es sowieso nicht; immer dann, wenn die

»Was die Schaffung vonArbeitsplätzen angeht, soging der Trend eher in dieumgekehrte Richtung. Alleinim ersten Halbjahr 1995haben die Provinzregierun-gen nicht weniger als32.000 Arbeitsplätze ausbudgetären Gründengestrichen.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 27.

»Zum Verlust an allgemei-ner Moral und Kompro-mißfähigkeit während derletzten beiden Apartheid-jahrzehnte gehört auch dieanhaltende Weigerung derMehrzahl der Townshipbe-wohner, Gebühren für Müll-abfuhr, Wasser Strom, Ka-nalisation und andere öffent-liche Dienstleistungen zuzahlen – und dies, obwohlder ANC und die Regierungdes früheren Staatspräsi-denten Frederik de KlerkAnfang 1994 übereingekom-men waren, die bis dahinangehäuften Schulden alsGeste des guten Willensund Zeichen für einen Neu-anfang zu streichen. (...)In manchen Schwarzensied-lungen entrichten wenigerals 10 Prozent der Bewoh-ner ihre verbrauchsabhängi-gen Gebühren für öffentlicheDienstleistungen.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 29.

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ausgearbeiteten Pläne in die Realität umgesetzt werden sollen,haben sich die Bedingungen bereits geändert. Projekte sind entwe-der gut oder weniger gut, perfekt sind sie nie.

Ich möchte, daß auch die Regierung der Bundesrepublik begreift,worum es geht. Denn eine Regierung, die stets das Apartheid-Regime unterstützte und die jetzt erklärt, Deutschland sei der wich-tigste Helfer im Kampf gegen die Auswirkungen der Apartheid –das ist schwer zu akzeptieren für das Volk meines Landes. DieMenschen wissen sehr gut was Aufrichtigkeit ist und was Lüge. Esgenügt nicht zu sagen, wir dürften keine Ärzte aus Kuba haben,wenn wir keine Ärzte aus anderen Ländern bekommen – wegen derhohen Kosten, wegen anderer medizinischer Standards etc. Ichhörte gestern von einer jungen Frau, daß sie sich beworben hat, umals Ärztin nach Südafrika zu gehen. Und man war nicht sehr erfreutdarüber; ihr wurde entgegengehalten, daß sie nicht genügendErfahrung habe, sie kenne die Probleme nicht usw.

UTOPIE kreativ: Gibt es im ANC oder bei anderen Gruppierungen,die der Regierung nahe stehen, eine Art strategischer Vorstellungüber den anzustrebenden Gesellschaftstyp? Welches Modell vonMarktwirtschaft wird sich in Südafrika Ihrer Meinung nachdurchsetzen?

DENIS GOLDBERG: Früher wurde im ANC viel über ein mögliches»Schwedisch-sozialdemokratisches Entwicklungsmodell« nachge-dacht und debattiert. Die ostasiatische Variante des Kapitalismushat dagegen keine größere Rolle gespielt. Heute vertreten viele dieAnsicht, daß wir einen starken Staat brauchen, um die Rahmenbe-dingungen der Kapitalakkumulation, vor allem durch Investitionenin die Infrastruktur, rasch zu verbessern. Darüber hinaus kommt esdarauf an, Privatkapital für ein Engagement im sozialen Bereich –vor allem im Wohnungsbau – zu gewinnen. Die Chancen dafürstehen wahrscheinlich gar nicht so schlecht, jedenfalls solange dieRegierung in der Lage ist, entsprechende Profite zu garantieren.Denn mit dem »Kapitalismus« hat es schon eine seltsameBewandtnis – einerseits wird der Profit durch das unternehmeri-sche Risiko gerechtfertigt, andererseits geht das Bestreben ständigdahin, dieses Risiko durch Regierungsgarantien auszuschalten.Ferner müssen wir eine Mischung zwischen modernen Technolo-gien und arbeitsintensiven Produktionsformen finden, damit gera-de beim Auf- und Ausbau der Infrastruktur mehr Arbeitsplätzegeschaffen werden.

Insgesamt ist es wohl unmöglich, heute zu entscheiden, welchesdas anzustrebende Modell sein sollte. Südafrika mit seiner wohleinmaligen Situation, daß eine ganze Volkswirtschaft durch einekleine weiße Minderheit beherrscht wurde, stellt wahrscheinlich ei-nen Spezialfall dar. Es kommt darauf an, diese Struktur grundle-gend zu verändern, ohne daß dabei auf die alten Akteure völligverzichtet werden könnte. Ziel ist die Integration der gesamtenBevölkerung in moderne Wirtschaftsstrukturen, so daß alle in dieLage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen –in Südafrika heißt das vor allem Entwicklung des kleinen und

»Cyril Ramaphosa, General-sekretär des ANC machtedurch seinen Wechsel in dieWirtschaft von sich reden.Als künftiger stellvertreten-der Vorsitzender der NewAfrica Investment Limited,des größten schwarzenWirtschaftskonglomeratsSüdafrikas, will er dem Kon-zept des ›Black Empower-ment‹ in der Kaprepubilkneues Gewicht verleihen.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 27.

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mittleren Gewerbes. Dieses Konzept deckt sich allerdings nichtunbedingt mit den Absichten der arrivierten schwarzen Geschäfts-leute, die nun ihrerseits in die Chefetagen der großen Konzerneaufzusteigen trachten und dabei von den bisherigen Konzern-eigentümern unterstützt werden – z.B. indem Kredite für den Kaufvon Firmenanteilen durch die Firmen selbst bereitgestellt odergegenüber der Bank garantiert werden. Das hat wahrscheinlichweniger mit »Beteiligung von Schwarzen an der Macht« als viel-mehr mit einer Art Korruption im Dienste der Machtsicherung fürdie bisherigen Eliten zu tun. Aber natürlich löst ein solcher Auf-stieg auch Gefühle des Stolzes unter den Schwarzen aus, daß eseiner von ihnen geschafft hat, erfolgreich zu sein – und so habenalle diese Vorgänge eben zwei Seiten. Überhaupt ist die sozialeWirklichkeit sehr viel komplexer als die, die man in den sozialwis-senschaftlichen Lehrbüchern studieren kann.

UTOPIE kreativ: Besteht die Gefahr, daß der ANC unter demDruck der Probleme, aus Enttäuschung darüber, daß die Entwick-lung langsam verläuft, daß Gerechtigkeit nicht hergestellt werdenkann, gespalten wird, daß es zur Radikalisierung vor allem derJugend kommt?

DENIS GOLDBERG: Ich denke, daß die Allianz der verschiedenenBefreiungsbewegungen vor allem auf der Rolle des ANC beruht.Er war führend, viele seiner Mitglieder waren auch Mitglieder an-derer Organisationen, z. B. der Gewerkschaften oder der Kommu-nistischen Partei. Aber sie alle akzeptieren als gewählte Abgeord-nete in den Parlamenten die ANC-Disziplin, denn gewählt sind sieals ANC-Mitglieder. Das bedeutet, daß es zu jedem politischenProblem Debatten gibt, von linken und von rechten Positionen aus.

Wir brauchen eine Politik, die die arbeitenden schwarzen Men-schen absichert, vor allem die schwarze Arbeiterklasse, aber auchandere Werktätige, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensstandardzu halten. Wenn wir also überhaupt Entwicklung in Gang bringenwollen, können die Unternehmer nicht soviel Macht haben, wiesie gerne möchten. Es ist die klassische Rolle des Staates, beideSeiten auszubalancieren. Es herrscht also ständiger Kampf um dasEntwicklungsprogramm, darum, wo investiert werden soll, wieInvestitionen gelenkt werden sollen, ob sie überhaupt gelenkt wer-den sollen. Und es gibt südafrikanische Unternehmer, die sagen,daß sie eine stärker zentralistische Lenkung der Wirtschaft befür-worten. Andere sagen natürlich: »Das ist der Sozialismus, der inRußland gescheitert ist.« Sie ignorieren dabei , daß der Staat in denostasiatischen »Tiger«-Ökonomien, in China und darum herumeine sehr zentrale Rolle gespielt hat; bei der Koordination derInvestitionen, bei der Zeit-Planung für die Investitionen, bei derBestimmung, welche Industrien rasch entwickelt werden sollen,bei der Gestaltung der Investitionen derart, daß international wett-bewerbsfähige Produkte erzeugt werden, so daß im AußenhandelGewinne erwirtschaftet werden, statt daß der Reichtum des Landesohne jegliche soziale Entwicklung geplündert wird, so wie es invielen Staaten Afrikas und Südamerikas geschehen ist.

»Für die Zukunft bleibt ...die alles entscheidendeFrage, ob der ANC dasSystem einer faktischenEinheitspartei anstrebt oderder pluralistischen Traditiondes Landes mit einer ausetwa 7 Mill. Menschen be-stehenden Mittelschicht(der größte Teil der Weißen,Mischlinge und Inder sowieauch einer wachsendenZahl von Schwarzen)Rechnung trägt.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 26.

120GOLDBERG Interview

Die südafrikanische Regierung ist sich dieser Herausforderungenbewußt. Sie hat z. B. die Verhandlungen mit der EU verlassen,nicht weil sie links ist, sondern weil sie den Bedürfnissen derMenschen gerecht werden und zu viel Enttäuschung verhindernmuß.

Vielleicht noch einmal dazu. Es ist etwas früh, nach zweieinhalbJahren über Enttäuschungen zu sprechen. Das erste, was getanwerden mußte, war die Einrichtung eines parlamentarischenSystems, die Umgestaltung des öffentlichen Dienstes, politischeDetailprobleme waren zu lösen, wie z. B. die Regelung des Zugan-ges zu Staatsgeheimnissen. Es ging darum, den öffentlichen Dienstbei der Gestaltung der neuen Politik kreativ einzubeziehen. Das istein sehr schwieriges Problem. Eine Polizei, die noch durch unddurch gewohnt ist, politische Anweisungen des alten Apartheid-Regimes auszuführen, hat vergessen, wie gewöhnliche Krimina-lität zu bekämpfen ist. Falsch, sie hat es nicht vergessen, sie ist esgewohnt, Verbrechen als ein Instrument sozialer Kontrolle zubenutzen. Die Polizei ist so korrupt geworden, daß ihr nur wenigeMenschen vertrauen. Das mußte unter Kontrolle gebracht werden.Die alten Streitkräfte, die eine so entscheidende Rolle für denErhalt der Apartheid gespielt haben – sie müssen jetzt transformiertwerden. Und wer soll das tun? Genau dieselben Offiziere, dieauch früher die Kontrolle besaßen. Natürlich haben sie jetzt einenneuen Minister, neue Vorgesetzte, Generäle usw., aber Armeebleibt eben Armee.

Die zweieinhalb Jahre sind wirklich eine sehr kurze Zeit. Und ichdenke, daß eine Menge getan wurde. Eine neue Verfassung wurdeerarbeitet, die zum größten Teil akzeptiert wurde. Zu einigen Arti-keln gab es Veränderungen nach Prüfung durch das Verfassungsge-richt. Jetzt dürfte die zweite Fassung angenommen werden. Späte-stens im Juli nächsten Jahres soll diese erste demokratische Verfas-sung Südafrikas in Kraft treten. Ich halte das für eine große Errun-genschaft.

Ich denke, daß wir 1999 – nach den nächsten Wahlen – ver-schiedene Dinge angehen müssen. Ich habe meinen Genossen inden Provinzregierungen gesagt: ›Es ist Zeit, mit den Debatten auf-zuhören und mit dem Bau von Krankenhäusern, Schulen usw. zubeginnen. Denn wenn ihr eure Ämter verlaßt – einige von ihnensind jetzt alte Männer – dann möchtet ihr, daß man sich an das er-innert, was ihr habt bauen lassen, und nicht, daß ihr versprochenhabt zu bauen. Irgendwie müßt ihr die Probleme lösen. Es ist Zeit,to kick asses – den Hintern zu heben, wie die Amerikaner sagen.‹Wohin man auch in Südafrika kommt, überall sind Baustellen,Schulen werden gebaut, Lehrer werden ausgebildet. Ich bin wirk-lich sehr optimistisch.

Aber – um auf die Frage zurückzukommen – natürlich gibt es in-nerhalb des ANC radikale Elemente. Das hängt auch damitzusammen, daß eine wirkliche Gleichberechtigung aller in Südafri-ka lebender Gruppen – Schwarze, Inder, Farbige – bisher keines-wegs erreicht wurde. Aber es gibt auch Splittergruppen unter denSchwarzen und den Farbigen, die immer darauf bedacht waren,sich mit den Weißen zu arrangieren; dadurch erklären sich zum

»Südafrika reagiert ärgerlichauf die bekanntgewordendeÜberlegung, daß die EU biszu 70 Prozent der Agrarer-zeugnisse von vornhereinaus der Vereinbarung aus-schließen will. (...) Bei einerAbschaffung der Devisen-kontrollen (die das Auslandzunehmend fordert) wird je-doch damit gerechnet, daßbis zu 150 Mrd. Rand ausdem Land abfließen könn-ten, denen lediglich Devi-senreserven von 18 Mrd.Rand gegenüberstehen.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 28und 23.

»Das Reconstruction andDevelopment Programmewar vor zwei Jahren als viel-versprechende Zukunftsvisi-on verkündet und vorberei-tet worden. innerhalb vonfünf Jahren sollten 1 Mill.Häuser gebaut, 2,5 Mill.Wohneinheiten elektrifiziert,eine weiter Million Men-schen mit Trinkwasser ver-sorgt und insgesamt mehrals 2 Mill. neue Arbeitsplät-ze geschaffen werden. AlsFolge bürokratischer Un-fähigkeit und Mißmanage-ment sieht die Bilanz jetzteher deprimierend aus:Ganze 12.000 Wohnungenwaren vom Staat errichtetworden...«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 27.

GOLDBERG Interview121

Beispiel die Wahlergebnisse in der Kapprovinz, wo diese Gruppebesonders stark war. Solange jedoch eine tatsächliche Gleichstel-lung der diskriminierten Gruppen nicht erreicht ist, hat der ANCeine wichtige Funktion, die ihn zusammenhalten wird – obgleichdie Debatten zwischen mehr antikapitalistisch und mehr kapitali-stisch orientierten, mehr oder weniger nationalistischen Anhängernnatürlich andauern werden.

UTOPIE kreativ: Können Sie sich vorstellen, daß die Dinge inSüdafrika eine ähnliche Wendung nehmen werden wie in Zimbab-we? Dort ist das anfängliche Mehrparteiensystem inzwischenfaktisch zur Ein-Personen-Herrschaft mutiert.

DENIS GOLDBERG: Ich denke, daß Sie mit mir übereinstimmen,daß es in der Politik um Konflikte zwischen sozialen Kräften geht.Es geht nicht einfach um Ein-Personen-Herrschaft. So etwas kanngeschehen – wir sahen es in einigen Fällen in Osteuropa. Ich glau-be nicht, daß Zimbabwe einen solchen Zustand erreicht hat. Ichdenke, es gibt einen sehr mächtigen Staatspräsidenten RobertMugabe. Ich bin nicht sicher, ob das negativ ist. Ich fand sehrinteressant, daß Mugabe sehr kritisch in den Medien behandeltwird, z. B. der Premierminister von Malaysia aber nicht, derwesentlich mehr reale Macht besitzt bei einer weit größerenBevölkerung in einer relativ hoch entwickelten kapitalistischenWirtschaft, mit großen Investitionen aus Japan, den USA undKanada. Ich bin froh über die Entwicklung in Malaysia: Dort gehtes für die Politik nicht mehr vorwiegend um die Armut der Land-bevölkerung, sondern um die Arbeitslosigkeit in einer industriali-sierten Wirtschaft. Und wenn Premierminister Mohammed Monag-hir harte Maßnahmen durchsetzt, sagt alle Welt: »Er ist genial!«Warum fürchtet Europa derartiges in Afrika?

UTOPIE kreativ: Das Problem ist nicht eine parlamentarischeDemokratie nach dem Muster von Deutschland oder Frankreich.Es geht einfach um ein Phänomen, das man in verschiedenenafrikanischen Staaten beobachten kann – die Tendenz zur Ein-Mann-Herrschaft.

DENIS GOLDBERG: Ich kann dazu nur sagen, daß nach meinerÜberzeugung die politische Struktur in weitem Maße die zugrundeliegenden sozialen Realitäten widerspiegelt, den Charakter dersozialen und ökonomischen Kräfte. Ich denke, so auf Südafrika zuschauen, auf Afrika überhaupt, ist eine sehr eurozentristische Sicht:der »dunkle« Kontinent mit seinen »geheimnisvollen« schwarzenMenschen. So wird Afrika oft in den Medien dargestellt. Zumin-dest ist das die Wahrnehmung aus der Perspektive der Afrikaner:Diese merkwürdigen Weißen – ich bin Weißer – lachen über uns.Die denken, Afrika ist einfach überall dasselbe, wohin man auchkommt. Ich frage, haben nicht Europa und Amerika mit dazubeigetragen, derartige politische Strukturen aufzubauen? Was hatdie Weltbank durch ihre Kreditkonditionen erreicht? Ging es nichtvor allem darum zu sichern, daß die Mittel für den Schuldendienst

122GOLDBERG Interview

aufgebracht werden? Und da hat es sich doch angeboten, einekleine Gruppe von Machthabern zu installieren, die sich dieserAufgabe vor allem verschrieben haben. In Südafrika liegen dieDinge allerdings anders. Hier gibt es eine relativ entwickelte Wirt-schaft, die aber bisher – soweit die Arbeitsplatzsituation betrachtetwird – nur eine Hälfte der Bevölkerung tatsächlich integriert hat. Inder Vergangenheit war dieses Modell sehr funktional, die aus demWirtschaftssystem de facto Ausgeschlossenen bildeten eine Armeevon Arbeitssklaven, die willkommene Arbeitsleistungen fast ohneBezahlung erbrachten. Allein dazu wurden schließlich die Bantust-ans geschaffen. Dorthin wurde ein großer Teil der Reproduktions-kosten für die Arbeiterschaft unbezahlt verlagert. Wenn die Famili-en der Arbeiter auf dem Lande zurückbleiben müssen, während derArbeiter selbst kaserniert wird, kann sein Arbeitslohn niedriggehalten werden. Bezahlt werden müssen schließlich nur die un-mittelbaren Lebensmittel und vielleicht eine geringe Summe zurUnterstützung der in den Bantustans zurückgebliebenen Familien-angehörigen. Aber Ausgaben für Renten, für Wohnungen, fürStraßenbau oder für Bildung fallen praktisch nicht an; um diese»normalen« Elemente des Einkommens konnte der Arbeitslohn derWanderarbeiter gedrückt werden. Lohnarbeit ist dann natürlichausgesprochen billig – das hat die »South African Chamber ofMines« durchaus offen zugegeben, und es ist nichts anderes alssolide kapitalistische Lohntheorie. Auf der Seite der Arbeiter gibtes natürlich auch eine Art Lohntheorie, die fordert, daß alle Repro-duktionsaufwendungen durch den Arbeitslohn abgegolten werdenmüssen. Worauf ich damit hinaus wollte, ist zu verdeutlichen, daßsich in Südafrika zwei machtvolle organisierte Gruppen gegen-überstehen – die Arbeiterschaft und das Unternehmertum. Das istkeinesfalls etwas, was für andere afrikanische Länder genauso zu-trifft. Der »Westen« hat da durchaus einen falschen Blick auf dieRealitäten – voller Voreingenommenheit, z.B. wenn die Zeitungenüberquellen von Nachrichten über »Korruption in Afrika«,während niemand sehen will, daß natürlich auch Europa seineKorruptionstraditionen hat; denken wir nur an die Auftragsverga-bepraktiken im Baugewerbe. Es kommt darauf an, die jeweilskonkreten sozialen Strukturen und die damit verbundenen Organi-sationsformen zu sehen. Ich glaube, in Südafrika dominierteindeutig ein starker politischer Wille, demokratische Formen ge-sellschaftlicher Organisation aufzubauen und zu bewahren. Dieeinzigen, die Interesse an einer Art Diktatur haben könnten, sindeine Handvoll Geschäftsleute zusammen mit einigen ewiggestrigenElementen. Auch autokratische Varianten von Entdemokratisierunghaben nach meiner Überzeugung in Südafrika in absehbarer Zeitkeine realistische Chance.

UTOPIE kreativ: Was läßt sich über die zukünftige wirtschaftlicheRolle Südafrikas in der Region und in der Weltwirtschaft überhauptsagen?

DENIS GOLDBERG: Weltwirtschaftlich orientiert sich die neuesüdafrikanische Regierung vor allem darauf, von einem Rohstoff-

»Verschlechtert hat sichauch die Situation derAußenwirtschaft. Stark stei-gende Importe (ihre Zunah-me lag 1995 wertmäßig um29 Prozent und quantitativum 20 Prozent über demNiveau von 1994), die rück-läufige Goldproduktion undvermehrte Nettolohnzahlun-gen für Dienstleistungen andas Ausland bewirkten einedrastische Erhöhung desLeistungsbilanzdefizits. (...)Kräftig zugenommen hatinsbesondere die Ausfuhrvon Industrieerzeugnissen(Chemikalien, Maschinen,Elektroartikel, Transportmit-tel, Papierwaren), auchdie Ausfuhren des Nicht-gold-Bergbaus entwickeltensich zufriedenstellend,während der Agrarexportauf Grund der ungünstigenWitterungsverhältnissedeutlich zurückging.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 22.

GOLDBERG Interview123

extraktionsland zu einem Exporteur verarbeiteter Erzeugnisse zuwerden; d. h. vor allem geht es zunächst darum, den Verarbei-tungsgrad der Produkte nach und nach zu steigern. Regionalgesehen müssen natürlich die Kooperationsbeziehungen zwischenden Staaten noch wesentlich stärker entwickelt werden. Südafrika,wie die Nachbarländer auch, hat gute Voraussetzungen, seinenBinnenmarkt zu entfalten, so daß sich für die verarbeitende Indu-strie ein ausreichend aufnahmefähiger regionaler Absatzmarkt her-ausbilden kann. Das ist allerdings auch eine wichtige Quelle fürSpannungen zwischen den USA, der EU und Südafrika. Früherhatte die Apartheid-Regierung ein umfangreiches System von Im-portkontrollen, und auch die westlichen Länder haben ihren Han-del mit Südafrika durch finanzielle und produktbezogene Maßnah-men stark kontrolliert und reguliert. Heute fordern die USA und dieEU von der neuen Regierung in Südafrika die Beseitigung allerHandelskontrollen und Schutzmaßnahmen, was schließlich nur zurZerstörung der einheimischen verarbeitenden Industrie führenkann. Gleichzeitig wendet gerade die EU eine Fülle von Sonderbe-stimmungen und nicht tarifären Handelshemmnissen gegen Nicht-EU-Mitglieder an, und dies insbesondere in Bereichen, die – wiez.B. die Landwirtschaft – von vitalem Interesse für letztere sind.Gerade aufgrund derartiger Diskriminierungen hat die südafrikani-sche Delegation die Verhandlungen mit der EU demonstrativunterbrochen. Ich kann nur hoffen, daß die Regierung hart bleibtund sich vor allem auf die Entwicklung der nationalen Wirtschaftkonzentriert.

In der Region selbst gibt es ähnliche Spannungen, wie zwischenEU und Südafrika, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Das, wasSüdafrika gegen die EU vorbringt, bringt z.B. Zimbabwe gegenSüdafrika vor. Sicherlich gibt es die reale Gefahr, daß vor allem diegroßen südafrikanischen Unternehmen in den regionalen Wirt-schaftsraum expandieren, ohne sich allzuviel um die Interessen dereinzelnen Länder zu kümmern. Andererseits gibt es aber inzwi-schen auch schon eine Reihe länderübergreifender Entwicklungs-projekte – wie die Sonderwirtschaftszone zwischen der RSA undMoçambique –, die Hoffnungen auf eine gegenseitig vorteilhafteZusammenarbeit bestärken. Neben den unmittelbaren Vorteilenz.B. im Bereich der Infrastruktur und auf dem Transportsektorliegt dies nicht zuletzt auch im Eigeninteresse Südafrikas, dasbestrebt sein muß, seine Nachbarn wirtschaftlich zu unterstützen,damit die illegale Zuwanderung gemindert werden kann.

UTOPIE kreativ: Die Wanderungsbewegungen im südlichenAfrika wurden bereits angesprochen. Nun hat Südafrika über Jahr-zehnte ein Wanderarbeitssystem auf- und ausgebaut, das großeBevölkerungsgruppen in den Nachbarländern abhängig gemachthat von Einkünften, die sie über Kontraktarbeit in den südafrikani-schen Minen erzielt haben. Wie sehen sie die sicherlich problema-tische Zukunft dieses »Wanderarbeitssystems«?

DENIS GOLDBERG: Das ist mit Sicherheit ein sehr kompliziertesProblem, für das es keine einfache Antwort geben kann. Die

»Geplant ist ein Entwick-lungskorridor von Gauteng(Johannesburg) über Ost-transvaal zur mosambikani-schen Provinz Maputo.Vier Projekte mit einemFinanzaufwand von 1,3 Mrd.Rand haben die Modernisie-rung der Bahnstrecke undHafenanlagen, den Baueiner Schnellstraße, einesneuen Grenzpostens unddie Installation eines digita-len Telekommunikationssy-stems zum Ziel. Für Südafri-ka ist die Wirtschaftsent-wicklung in Mosambik auchdeshalb von hoher Priorität,weil vor allem aus diesemNachbarland jährlich Hun-derttausende die Grenzeillegal auf der Suche nachArbeit überschreiten.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 28.

124GOLDBERG Interview

größere Herausforderung stellt meines Erachtens im Momentallerdings die illegale Zuwanderung nach Südafrika dar. Ein Land,in dem nur ca. die Hälfte der verfügbaren Arbeitskräfte in dieformelle Wirtschaft integriert ist, kann nicht unbegrenzt Zuwande-rer aufnehmen und vor allem beschäftigen. Aber da läßt sich nurschwer etwas machen. Südafrika hat in vielen Bereichen einen Ent-wicklungsvorsprung gegenüber seinen Nachbarn und ist dadurchattraktiv für Zuwanderer mit relativ guter Ausbildung – für Lehrer,Ärzte, Veterinärmediziner usw. Das ist natürlich eine Art »braintrain« aus der Region nach Südafrika. Die einzige wirklicheLösung des Problems Arbeitslosigkeit und der durch das Gefälleim Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung ausgelösten Wande-rungsbewegungen ist die wirtschaftliche Entwicklung der gesam-ten Region; auf sich allein gestellt, können es die Länder nichtschaffen, dafür braucht es gegenseitig vorteilhafte Kooperationzwischen ihnen.

Die hohe Arbeitslosigkeit und der Migrationsdruck unterhöhltnatürlich auch die Stellung der Gewerkschaften, die zunehmendunter den Verdacht kommen, daß sie die Interessen einer Elite ver-treten, nämlich derjenigen, die einen – relativ gut bezahlten –Arbeitsplatz haben.

Dann werden immer wieder Forderungen erhoben, daß dieGewerkschaften Zurückhaltung bei den Lohnforderungen übensollen, damit mehr Arbeitsplätze entstehen. Ich denke, daß solcheForderungen an der Realität vorbeigehen. Die Aufgabe derGewerkschaften ist nun mal, dafür zu sorgen, daß sich die Lebens-verhältnisse ihrer Mitglieder verbessern – aber das sollte eigentlichauch diejenigen einschließen, die keine Arbeit haben. PermanenteArbeitskämpfe um höhere Löhne sind allerdings auch keineLösung, da sie die Produktion treffen und die Fertigstellung vonvielen Dingen, die wir dringend brauchen – vor allem Wohnungen– , nur noch weiter hinauszögern würden. Gegenwärtig hat manauch den Eindruck, daß in den Medien die Gewerkschaften bzw.der Gewerkschaftsdachverband COSATU zunehmend unter Druckgeraten. Ihnen wird vorgeworfen, durch ihre Fixierung auf be-stimmte hochgradig organisierte Segmente der Arbeiterschaft dieApartheid-Politik indirekt mitgetragen zu haben. Zweifellos istdiese Kampagne Bestandteil der sich zuspitzenden Konfrontationzwischen Arbeitern und Kapital, und sie soll offensichtlich dazudienen, die Gewerkschaften zu schwächen. Dieser Konflikt könntesich zu einem ernsten Entwicklungshindernis ausweiten, wenn dieRegierung hier nicht vermittelnd eingreift. Überhaupt ist es in dergegenwärtigen Situation eine wichtige Aufgabe der Regierung, denwirtschaftlichen und sozialen Aufbau rasch voran zu bringen.Dafür hat die Gewerkschaftsbewegung gerade in der Phase despolitischen Umbruchs – vor den ersten freien Wahlen 1994 – sehrviel konstruktive Vorarbeit geleistet. Während der ANC vollaufdamit befaßt war, den politischen Prozeß zu bewältigen, habensich die Gewerkschaften auf die Gestaltung der wirtschaftlichenTransformation – durch Konzepte und durch Verhandlungen mitden Unternehmerverbänden – konzentriert. Heute ist der ANCallerdings in der undankbaren Situation, daß er von beiden Lagern

GOLDBERG Interview125

– von den Gewerkschaften und den Unternehmern – unter Druckgesetzt wird.

UTOPIE kreativ: Zurück zur Politik; wer sind die Nachfolgervon Nelson Mandela und seiner Generation politischer Führer?Formiert sich bereits das politische Establishment für das Südafri-ka jenseits der Jahrtausendwende?

DENIS GOLDBERG: Diese Frage wird sich schon sehr bald stellen.Ende 1997 wird sich Mandela nach seinen eigenen Worten aus deraktiven Politik zurückziehen, obwohl er noch bis 1999 Staatspräsi-dent bleiben will. Die letzten beiden Amtsjahre hat er vor, sichvor allem der Reorganisation des ANC zu widmen. Gleichzeitigformiert sich in den verschiedenen Organisationen und im Staats-apparat, in den öffentlichen Verwaltungen usw. bereits die neueGeneration von politischen Führern. Der primus inter paris ist ge-genwärtig ohne Zweifel Thabo Mbeki. Aber auch wenn ThaboMbeki aus welchem Grund auch immer für die Nachfolge Mande-las nicht zur Verfügung stünde, gibt es weitere vier bis fünfPersönlichkeiten, die diese Rolle übernehmen könnten.

UTOPIE kreativ: Kann man etwas zum sozialen Hintergrunddieser neuen Generation politischer Führer in Südafrika sagen?

DENIS GOLDBERG: Viele von ihnen kommen aus ANC-Strukturenim Exil, im Ausland. Einige kommen von der Vereinigten Demo-kratischen Front, die bekanntlich in den letzten Jahren vor demSturz des Apartheid-Regimes in Südafrika den Widerstand imInland organisiert hat. Manche haben studiert, und fast alle habenbereits eine Fülle praktischer Erfahrungen vor allem in den politi-schen Massenbewegungen gemacht. Gegenwärtig sammeln sieweitere wichtige Erfahrungen im Regierungsapparat, in den Ver-waltungen, in Provinzparlamenten usw. Natürlich sind das vorallem Schwarze, aber nicht nur. Ich kann mir eigentlich in abseh-barer Zeit keinen Präsidenten in Südafrika vorstellen, der keinSchwarzer wäre. Aber in den Regierungsorganen, in den Parla-menten usw. wird die Hautfarbe sicherlich eine immer geringereRolle spielen.

UTOPIE kreativ: Dürfen wir Sie zum Abschluß noch um einigepersönliche Worte an unsere Leser bitten?

DENIS GOLDBERG: Ich war in letzter Zeit viel in Europa und insbe-sondere in Deutschland unterwegs, und mir scheint es wichtig,daß zunächst einmal eine ganze Reihe von Vorurteilen gegenüberAfrika abgebaut werden. Deshalb sage ich es gern noch einmal:In Afrika leben Menschen, die von der eurozentristischenGeschichtsschreibung lange Zeit entweder ignoriert oder mystifi-ziert wurden. Diese Haltung kann man heute sogar noch bei fort-schrittlich eingestellten Menschen in Europa antreffen. Wir allesollten uns noch stärker bewußt machen, daß wir in dieser»kleinen« Welt aufeinander angewiesen sind und daß wir deshalb

»Die Nachfolge von Präsi-dent Mandela scheint durchden Wechsel von CyrilRamaphosa, als schärfsterKonkurrent von Vizepräsi-dent Thabo Mbeki, zugun-sten von Mbeki entschiedenzu sein. Allerdings hätteRamaphosa als führendeWirtschaftsvertreter desANC auch jederzeit dieMöglichkeit für einpolitisches Comeback.«Länderanalyse Südafrika,IFO Schnelldienst 15/96(vom 24. Mai 1996), S. 27.

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unsere Sensibilität für die Wünsche und Ängste unserer Mitmen-schen bewahren müssen. Auch wenn es heute in Europa viele Pro-bleme gibt – vor allem mit der wachsenden Arbeitslosigkeit –, sosollte doch hier niemand vergessen, daß die Europäer, verglichenmit Menschen in anderen Erdteilen, einen unglaublich hohen Le-bensstandard haben. Und die Menschen, die in Europa leben, kön-nen durchaus einiges dafür tun, daß auch in anderen Regionen sichdie Lebensbedingungen verbessern. Sie können zum einen dazubeitragen, daß sie die politischen Verhältnisse hier beeinflussen, sodaß die regierungsoffizielle Politik gegenüber den Ländern und denMenschen außerhalb Europas sich positiv verändert – das ist dieAufgabe, für die ich mich im Besonderen engagiere. Zum anderenkönnen die Menschen hier auch einen sehr individuellen Beitragzur Entwicklung in Südafrika leisten – durch direkte Unterstützungvon konkreten Projekten, durch direkte Zusammenarbeit mit Men-schen in Südafrika im Bereich der Ausbildung, im Gesundheitswe-sen, in vielfältigen Projekten, die versuchen, die Lebensbedingun-gen irgendwo in einer kleinen Stadt oder auf dem Lande wenig-stens ein klein wenig zu verbessern. Ich lasse Ihnen einiges Infor-mationsmaterial hier, das Sie vielleicht über ihre Zeitschrift mitpublik machen können. Vielleicht finden sich so Menschen, diesich für ein konkretes Projekt in Südafrika einsetzen wollen –das wäre das Beste.

UTOPIE kreativ: Vielen Dank.

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Anläßlich des 40. Jahrestags erschien zum KPD-Verbot undseinen Folgen in »UTOPIE kreativ« ein Interview mit ManfredKapluck,1 einem der Initiatoren zur Neukonstituierung der DKP1968. Es verdeutlicht sowohl die politische Brisanz dieser The-matik als auch die Notwendigkeit, sie unter historischem Aspektweiter auszuleuchten. Für die Zeit bis zum Verbot der KPD 1956soll im folgenden auf einige ergänzende Fakten und Aspekte, dievor allem die Beziehungen der KPD zur SED betreffen, verwiesenwerden.

Vorausgeschickt sei zuvor eine Bemerkung zur Gründung derDeutschen Kommunistischen Partei (DKP): Es scheint vereinfacht,im Interview den Eindruck entstehen zu lassen, daß sich dieBildung der DKP unabhängig von der SED vollzogen habe. Viel-mehr stand die SED bei der Geburt der DKP 1967/68 Pate.Im SED-Politbüro fiel die Entscheidung darüber, daß die DKPgegründet wurde. M. E. waren damals mindestens drei (deutsch-deutsche) Komponenten entscheidend, die die Konstituierung einerkommunistischen Partei in der Bundesrepublik ermöglichten: dieBundesregierung (die wichtigste, weil politisch entscheidendeKomponente), die bundesdeutschen Kommunisten (die mit ihrerTätigkeit den Boden bereiteten) und die SED selbst (ohne derenEinverständnis wohl auch nichts ging). Den bundesdeutschenKommunisten blieb so gesehen nicht viel anderes übrig, als einer-seits jenen Handlungsspielraum zu nutzen, den ihr die Bundesre-gierung vorgab, und andererseits den Weg zu beschreiten, mit demdie SED-Führung einverstanden war. Das bedingte die vonManfred Kapluck angesprochenen, aber als unbedeutend qualifi-zierten Differenzen in der SED-Führung, die es ähnlich auch in derKPD-Spitze gegeben hat. Als Optionen waren die Wiederzulassungder KPD, die Konstituierung einer neuen kommunistischen Partei(ohne den Namen KPD und ohne Aufhebung des KPD-Verbots)und die Schaffung einer neuartigen, linkssozialistischen Partei(unter Einschluß der Kommunisten und Teilen der außerparlamen-tarischen bzw. Studentenbewegung) in Betracht gekommen. Daßdie Variante der Neukonstituierung einer KP gewählt wurde,lag wohl hauptsächlich daran, daß die Bundesregierung die ersteVariante nicht wollte, aber auch daran, daß das SED-Politbüroim Ergebnis der Debatten diese Option schließlich favorisierte unddie drittgenannte ablehnte.

1 Vgl. dazu und zu denweiteren Bezügen auf dasInterview Manfred Kapluck:Kommunisten contrabürgerliche Demokratie?Das KPD-Verbot und dieFolgen, in: UTOPIE kreativ,1996, H. 71, S. 69 ff.

128MAYER KPD

HERBERT MAYER

Nachdenken über die KPD.Anmerkungen zu einem Interview

Herbert Mayer – Jg. 1948,Historiker, Dr. sc. pil., Studi-um in Leipzig, Forschungs-,Publikations- und Editions-arbeiten zur Zeitgeschichte,besonders zur Geschichteder Internationalen unddeutschen Arbeiterbewe-gung, zum Verhältnis vonsozialdemokratischer undkommunistischerBewegung,zur Sozialistischen Arbeiter-internationale und Sozialisti-schen Internationale;jüngste Veröffentlichungenzur Geschichte der KPDnach 1945 und der SED.

Selbstverwirklichung oder Gängelband?»Selbständigkeit erlebte ich von Anfang an«, betont ManfredKapluck, er habe die KPD stets als eigenständige politischeKampfgemeinschaft empfunden. Nun soll diese persönliche Erfah-rung nicht in Abrede gestellt werden, doch ist sie einseitig gewich-tet, primär wäre zu konstatieren: Die KPD folgte in der gesamtenZeit ihrer Legalität der von der SED vorgegebenen Linie, ordnetesich ein und unter.

Natürlich fanden KPD in den Westzonen/BRD und KPD/SED inder SBZ/DDR unterschiedliche Bedingungen vor, blieb auch nachder Gründung der SED im Osten die Hoffnung, wieder zu einereinheitlichen Organisation zu finden. Doch hier ist einzuschränkenund hinzuzufügen: Nachdem die Gründung der SED auf gesamt-deutscher Ebene (1946) gescheitert war, folgten weitere Versucheder SED-Führung, nach ihrem Vorbild und ungeachtet der konkre-ten Bedingungen, im Westen die SED zu formieren. Das solltezunächst über die im Februar 1947 gebildete ArbeitsgemeinschaftSED-KPD erfolgen, deren angekündigtes Ziel war, die »Vorausset-zungen für die Bildung einer einheitlichen sozialistischen Partei inganz Deutschland zu schaffen«.2 Den dazu beschrittenen Weg, daßsich KPD-Organisationen zu Gründungsausschüssen der SED kon-stituieren und dann mit der SED verschmelzen, versperrten bereitsdie westlichen Besatzungsmächte.

Mit der Bildung dieser Arbeitsgemeinschaft hatte die SED-Spitze nochmals den Forderungen einiger KPD-Funktionäre vonHerbst 1946 eine Absage erteilt. Walter Fisch hatte damals in ei-nem Memorandum erklärt, daß es nur bis Ostern 1946, also bis zurSED-Gründung, eine einheitliche KPD gegeben habe, doch nun»faktisch zwei Parteien verschiedenen Charakters entstanden sind,die nicht mehr als einheitliches Ganzes in Erscheinung zu tretenvermögen«, daher die SED im Osten und ihr Parteivorstand nichtim Namen der KPD im Westen sprechen könnten.3 Seine For-derung, die auf die Bildung einer eigenen Führung für die KPDhinauslief, wurde von der SED-Führung – auch in der Folgezeit –abgelehnt.

Erst auf einer Konferenz im April 1948 in Herne konnte die KPDeinen eigenen Parteivorstand bilden. Dieser Beschluß war zuvorvon der SED gefaßt worden.4 Gleichzeitig hoffte die SED-Führungdurch die ebenfalls beschlossene Umbenennung der KPD in Sozia-listische Volkspartei, im Westen doch noch die SED konstituierenzu können (die Namensänderung wurde sofort von den Besat-zungsmächten verboten). Nun war das Bestreben, eine einheitlichegesamtdeutsche Partei zu bilden und als solche zu agieren, nichtverwerflich, zumal Deutschland zu dieser Zeit staatlich noch nichtgespalten war. Was hier aber auffällt und auch gegen die Selbstän-digkeitsthese steht, ist, daß die KPD nicht als gleichberechtigt be-handelt wurde und die Entscheidungen im SED-Zentralsekretariat,dem – im Unterschied zum SED-Vorstand – kein Mitglied der KPDangehörte, fielen. Das blieb selbst nach Auflösung der Arbeitsge-meinschaft SED-KPD im Januar 1949 so. Wenn auch die Formu-lierungen des veröffentlichten Beschlusses den Eindruck erweckenkönnten, er sei auf Initiative der KPD zustandegekommen, so war

2 Bildung einer sozialisti-schen Arbeitsgemeinschaft,in: Dokumente der Soziali-stischen EinheitsparteiDeutschlands, Bd. 1, Berlin1948, S. 149.

3 Walter Fisch: Memoran-dum zur Frage einer einheit-lichen Partei-Organisation inden 3 Westzonen, Ms.(1946)

4 Das Zentralsekretariatder SED hatte sich im Früh-jahr 1948 mehrfach mit derThematik befaßt. Am 20.März sah es zunächst vor,eine nur dreiköpfigeGesamtleitung der KPDunter Kurt Müller zu schaf-fen. Im April entschied esdann über die Zusammen-setzung eines 15 bzw. 16Personen umfassendenKPD-Vorstandes. Vgl.SAPMO-BArch: ZPA derSED (im folgenden: ZPA),DY 30/IV 2/2.1/184-192.

MAYER KPD129

die Auflösung der Arbeitsgemeinschaft zuvor einseitig im SED-Zentralsekretariat beschlossen worden.5 Mit der Auflösung derArbeitsgemeinschaft entfiel auch die Teilnahme der KPD-Vertreteran den Parteivorstandssitzungen der SED.

Auch in den folgenden Jahren blieb die KPD am Gängelband derSED. Zwar stellte sie nicht, wie das manchmal anklingt, eine Art»Regionalpartei« der SED dar. Doch ist klar festzuhalten, daßsie bei weitem keine eigenständige, selbständige Partei war, son-dern von der SED dominiert war, ihre Politik und Entwicklungmaßgeblich von der SED, von deren Politbüro bzw. Sekretariat,bestimmt wurde. Als entscheidendes Kettenglied fungierte dafürdie für die KPD zuständige Abteilung der SED, deren Struktur,Namen und Befugnisse sich im Laufe der Jahre änderte und derauch teilweise (frühere) Mitglieder der KPD angehörten. Sie hattedie Aufgabe, Beschlüsse und Aufgabenstellung für die KPD für dasPolitbüro bzw. das Sekretariat der SED vorzubereiten; nach derenEntscheidungen hatte sie wiederum die Verwirklichung der Festle-gungen zu organisieren und zu kontrollieren. Auch dann, wennsie formal kein Recht besaß, der KPD Anweisungen zu geben,6

leitete und kontrollierte sie de facto die Arbeit der KPD. Wie das inder Praxis aussah, vermittelten u. a. Berichte der Westkommissionaus dem Jahre 1949 und danach. Die Westkommission informierte,sie habe auf der Solinger KPD-Konferenz im März 1949 »in dieDurchführung der Politik eingegriffen«, außerdem vermerkte sie,daß sie mit dem KPD-Sekretariat »politische Auseinandersetzun-gen, die auch schärfere Formen annahmen«, hatte.7

Am 27. Juni 1950 untermauerte das Politbüro der SED auf seinerSitzung seine »Zuständigkeit« zu »Hauptfragen« der Politik derKPD. Es erteilte den Instrukteuren der SED die Vollmacht, »durchunmittelbares Eingreifen die Durchführung der Parteibeschlüsse zusichern«.8 Bekräftigt wurde, daß sich das Politbüro regelmäßig mitGrundfragen der KPD beschäftigt, zu entscheidenden Sitzungensollten Mitglieder des KPD-Sekretariats eingeladen werden. Kurzdanach hob Reimann auf einer KPD-Vorstandssitzung besondershervor, daß diese auf Vorschlag und unter Teilnahme des SED-Politbüros stattfinde. Ulbricht, der die KPD scharf kritisierte, ver-langte auf dieser Tagung, die KPD müsse aus den Erfahrungen derSED lernen und das KPD-Sekretariat müsse die Durchführung derParteilinie (d. h. der SED) garantieren.

Diese ständige, besserwisserische Kritik der SED-Führunggehörte zu den fast obligatorischen Elementen, die die Beziehun-gen von der SED zur KPD prägten. 1954 bemängelte die SEDdas Niveau der politischen Arbeit im Parteivorstand und in denLandesleitungen der KPD, das nicht den Erfordernissen entspre-che. Der KPD wurde wieder einmal mangelnde Wachsamkeitgegenüber Klassenfeinden und Agenten innerhalb der Partei undungenügende ideologische Arbeit vorgeworfen.

Wie es um »gleichberechtigte« Beziehungen beider Parteien unddie Selbständigkeit der KPD bis dahin tatsächlich bestellt war,fixiert ein SED-Politbürobeschluß am 22. Mai 1956, nicht einmaldrei Monate vor dem KPD-Verbot. Unter Punkt 1 hieß es: Um »diekollektive Führung und Selbständigkeit des Parteivorstandes der

5 Vgl. ZPA, DY 30/IV/2/2.1./214. Zu den veröffent-lichten Stellungnahmen desSED- bzw. KPD-Parteivor-standes vgl. Dokumente derSED, Bd. II, S. 201 f.;Sozialistischer Informations-dienst, 5.1.1948 (wiederab-gedruckt in Günter Judick,Josef Schleifstein, KurtSteinhaus (Hrsg.): KPD1945 - 1968 (im folgenden:KPD 1945-1968). Dokumen-te, Bd. 1, Neuss 1989, S.283ff.

6 Selbst die Anweisungendes SED-Politbüros warenmeist in Form von »Empfeh-lungen« und »Ratschlägen«gegeben, doch hieß es ge-legentlich unumschrieben,wie in einem Brief Ulbrichtan Dahlem: »Es ist notwen-dig, an das Sekretariat derKPD folgende Weisungenzu geben...« (ZPA, NL182/867).

7 ZPA, NL 36/649.

8 ZPA, DY J IV 2/2/96.

130MAYER KPD

KPD und seines Sekretariats zu stärken«, sollen »entscheidendepolitische Fragen, die die Politik und Tätigkeit der KPD betreffenund auf Grund ihrer Bedeutung dem Politbüro [der SED – H. M.]zur Stellungnahme und Beschlußfassung vorgelegt werden, vomSekretariat des Parteivorstandes [der KPD – H. M] beraten undbeschlossen und dann dem Politbüro unterbreitet werden«.9 Die»politische und organisatorische Führung der KPD« müsse beimParteivorstand und seinem Sekretariat in Westdeutschland liegen,bei Beratung und Beschlußfassung von »Vorlagen der KPD imPolitbüro [der SED – H. M.]« sollten »in der Regel« Vertreter desSekretariats des Parteivorstandes aus Westdeutschland zugegensein. Das SED-Politbüro befand auch darüber, ob sich Mitgliederder KPD-Führung in der DDR oder in der Bundesrepublik aufhiel-ten. So wurde zu diesem Zeitpunkt beschlossen, daß alle Sekreta-riatsmitglieder mit Ausnahme von Reimann nach Westdeutschlandzurückgehen sollen – und das, wie erwähnt, knapp ein Vierteljahrvor dem Parteiverbot. Nicht nur am Rande: Noch am 9. Mai hatteim SED-Politbüro eine Beratung – an ihr nahm auch ManfredKapluck teil – mit dem Sekretariat der KPD stattgefunden, derTagungsgegenstand: Richtlinien für die KPD zur Einleitung derBundestagswahlkampagne (1957) und die Verbesserung der Arbeitder KPD unter der Jugend!10

Die solidarische KPDManfred Kapluck konzediert: »Der innere Verbund, die totale So-lidarität der SED mit der KPD [oder, was dem Kontext auch ent-sprechen würde, »der KPD mit der SED«? H. M.] blieb und war füruns westdeutsche Kommunisten Selbstverständnis. Daß sich damitProbleme verbanden, die über Mißverständnisse hinaus durch einevon uns gewollte Zusammengehörigkeit weiter zu einer gewissenAbhängigkeit und auch zu Fehlern in der politischen Tätigkeitführten, soll nicht verschwiegen werden.« »Mißverständnisse«,»gewisse Abhängigkeit« und »Fehler« resultierten m. E. aber kei-neswegs aus »gewollter Zusammengehörigkeit«, sondern ergabensich aus Struktur und Genese des Verhältnisses von SED und KPD,der Ein- und Unterordnung der KPD.

Zu den ständigen Gepflogenheiten der SED-Führung gehörte da-bei, der KPD (bzw. ihren Vorständen) ideologische Unklarheit(häufig auch vor allem hinsichtlich der Haltung zur DDR, Sowjet-union und zu den Volksdemokratien) vorzuwerfen. Doch blieb Kri-tik stets eine Einbahnstraße. Umgekehrt, von der KPD-Führung ander SED, gab sie es nicht (weder auf Vorstands- oder Sekretariats-tagungen der KPD noch bei protokollierten Gesprächen mitMitgliedern der SED-Führung). Das hieß natürlich nicht, daß dieBeziehungen zwischen KPD und SED sich konflikt- und reibungs-los entwickelten.

Mühe bereitet allerdings eine sachliche, Alternativen aufzeigen-de Antwort auf die Frage, ob die KPD nicht auf mehr Distanz zurSED gehen mußte. Kaplucks Position verdeutlicht, ohne daß erdies freilich expressis verbis formuliert, das Dilemma der KPD.Wenn er konstatiert, daß das »Wort Distanzierung für uns einFremdwort blieb«, so verbirgt sich darunter, daß die KPD keine

9 ZPA, J IV 2/2/478.

10 ZPA, J IV 2/2/476.

MAYER KPD131

andere Wahl sah. Eine Distanz zur SED kam für sie faktisch nichtin Betracht, hätte ihrem Selbstverständnis und ihrer Glaubwürdig-keit als kommunistische deutsche Partei widersprochen. Und dasmacht das Dilemma sichtbar: Sicher war die Solidarität mit einemStaat und mit dessen führender Partei, die den Sozialismus aufzu-bauen versprachen, historisch legitim, reflektierte gemeinsameZiele und Auffassungen. Andererseits: Mußte diese Solidarität inder Weise erfolgen, daß unkritisch die Positionen und Politik derSED übernommen und verteidigt wurden? Wäre es nicht ange-bracht gewesen, die Finger auch auf wunde Stellen zu legen?Angesichts der Strukturierung des Verhältnisses von KPD undSED scheint mir dies aber praktisch kaum möglich. Dies hättezumindest erfordert, daß sich die KPD gegenüber der SED mehrEigenständigkeit verschafft hätte bzw. die SED der KPD mehrSpielraum geboten hätte. Dennoch bleibt, daß die (unkritische)Bindung der KPD an SED/DDR wesentlich zur Schwächung derKPD und zu einem Verlust ihres politischen Gewichts beitrug.

Der von Stefan Bollinger aufgeworfenen Frage nach der Abhän-gigkeit der KPD von der KPdSU wird im Interview vollkommenausgewichen. Sie ist sicher schwierig zu beantworten, sowohl ausder Sicht der Zeitzeugen als auch aufgrund der überlieferten Do-kumente ist mehr zu erahnen und zu schlußfolgern, als zu bewei-sen. Bei der weltpolitischen Bedeutung Deutschlands (politisch,wirtschaftlich, militärisch und auch hinsichtlich des Gesellschafts-modells) ist logisch, daß sich sowjetische Gremien mit der KPDbefaßten. Symptome und Einzelbelege unterschiedlicher Art gibt esdafür mehr als genug. U. a. könnten Verhaftungen und Verhöre vonKPD-Funktionären (als die bekanntesten z. B. Kurt Müller undFritz Sperling), die Teilnahme von sowjetischen Vertretern angemeinsamen Beratungen von KPD- und SED-Funktionären, aberauch Berichterstattungen der SED vor sowjetischen Organenangeführt werden.

Um ermessen zu können, ob die KPD gegenüber »Moskau«(– sei nun damit SMAD/SKK in Karlshorst, Regierungsorgane inMoskau oder das Politbüro der KPdSU gemeint) unabhängig agier-te, ergibt sich m.E. aus der Einordnung in die Beziehungsgeflech-te KPD-SED und SED/DDR-KPdSU/SU. Vereinfacht: Die SED-Führung gab der KPD direkt die Linie vor und kontrollierte derenDurchsetzung. Da sowjetische Organe wiederum maßgeblich dieSED-Politik (mit)bestimmten, übten sie auf diese Weise auchindirekt die Kontrolle über die KPD aus. Daß das aber bedeutet,wie manchmal behauptet, daß »der sowjetische Apparat in Karls-horst ... der eigentliche Auftraggeber der KPD [war]. DieKPD-Funktionäre waren in direkter Form zur Rechenschaftslegunggegenüber sowjetischen Repräsentanten verpflichtet«,11 ist mehrals zweifelhaft. Zumindest deckten sich die Kritiken der Sowjetsan der KPD und deren Vorstellungen über die KPD-Politik mitdenen der SED. Eine Distanz (oder kritische Solidarität) zur So-wjetunion war kaum möglich: Eine »Entfremdung von der SEDund großen KPdSU (B) herbeizuführen«,12 galt als große Sünde,war z.B. Kurt Müller bei seiner Absetzung als stellvertretenderParteivorsitzender vorgeworfen worden.

11 Gerhard Wettig: DieKPD als Instrument dersowjetischen Deutschland-Politik, in: Deutschland-Archiv, 8/1994, S. 823.

12 Die gegenwärtige Lageund die Aufgaben der KPD.Entschließung des Münch-ner Parteitags, zit. nach:KPD 1945 - 1968, S. 371.

132MAYER KPD

Auswirkungen der SED-Politik und Fehler der KPDUnbestritten sein dürfte, daß die tiefen Einschnitte in der Entwick-lung der SED 1948 mit dem Übergang zur Partei neuen Typus,1952 mit der Proklamation des Aufbaus der Grundlagen desSozialismus oder der 17. Juni 1953 auch entsprechend auf die KPDwirkten. Die Auffassung, daß die Politik der SED keinen breitenRaum in der Diskussion der KPD einnahm, kann wohl kaumaufrechterhalten werden. Der hohe Stellenwert, den die SED unddie Entwicklung der SED für die KPD einnahm, läßt sich bereitsaus ihrer politischen Schulungsarbeit, insbesondere den Themendes Parteilehrjahrs Anfang der fünfziger Jahre, ableiten. Ebensoklar tritt dies in der Politik der KPD zutage. Die Innenpolitik derSED wurde von der KPD propagandistisch unterstützt und vertei-digt, auch die Grundthemen und Ziele der Deutschland- undAußenpolitik der SED übernahm die KPD. Die KPD stand damitim Spannungsfeld, einerseits unter der Bevölkerung ständig anEinfluß zu verlieren und in die Isolierung zu geraten, andererseitsloyal und eng mit der Politik und dem Geschehen im OstenDeutschlands (und der Sowjetunion) verbunden zu sein. Natürlichwäre es vereinfacht, zu glauben, daß in der KPD und SED bis inletzte eine völlige Kongruenz bestand, selbst Differenzen undDivergenzen brachen ab und zu auf.

Genauso ist zu konstatieren, daß die SED Fehler in Einschätzungder Lage, in Programmatik und in Politik der KPD oktroyiert hat.Vielfach läßt sich zumindest in Umrissen nachvollziehen, wie inGrundlinien und manchmal auch im Detail das Vorgehen der KPDim SED-Politbüro festgelegt worden war. Das betrifft auch die imInterview erwähnten Thesen des Parteitags 1951, auch das Entste-hen des Programms zur nationalen Wiedervereinigung 1952 beein-flußte die SED-Führung entscheidend.

Am 18. März 1952 beauftragte das Politbüro der SED denParteivorstand der KPD, eine »Erklärung zu einem nationalen undsozialen Programm« zu veröffentlichen.13 Das Arbeitsbüro KPDder SED sollte die Erklärung vorbereiten, im Juni wurde eine Kom-mission unter Ulbricht eingesetzt. Doch erst nach entsprechendenBeschlüssen des SED-Politbüros im Juni bzw. August beschloß derKPD-Vorstand am 21. September 1952, ein »Programm der natio-nalen Befreiung« auszuarbeiten. Am 28. Oktober behandelte dasSED-Politbüro das Programm, hinzugezogen war der zuständigeAbteilungsleiter im SED-ZK für die KPD, Paul Verner, aber keinVertreter der KPD. Das Politbüro bestätigte das Programm »imPrinzip«, Herrnstadt und Verner sollten das Dokument endgültigfertigstellen. Der Parteivorstand der KPD nahm das »Programmder nationalen Wiedervereinigung« am 2. November an. Doch erst,als sich am 11. November das SED-Politbüro mit einer Erklärungzum KPD-Programm befaßt hatte, konnte an diesem Tagedas KPD-Programm durch Reimann der Öffentlichkeit vorgestelltwerden.

Am Rande sei vermerkt, daß der – von »Freund und Feind«,selbst vom KPD-Vorstand – wiederholt verwendete Passus vom»revolutionären Sturz des Adenauer-Regimes« sich in dieserFormulierung nicht im Programm findet. Vielmehr hieß es »der

13 Vgl. dazu und demfolgenden ZPA, J IV2/2/202-244.

MAYER KPD133

unversöhnliche und revolutionäre Kampf... zum Sturz des Adenau-er-Regimes«. Allerdings dürfte die Interpretation auch nicht vielanders ausfallen. Diese These bedeutete, verdeutlichte Walter Fisch1956, daß die KPD den gewaltsamen Sturz dieser Regierung, durchaußerparlamentarische Mittel, in Durchführung der Revolution,angestrebt hätte.14 Das »Programm der nationalen Wiederver-einigung« belegte, daß SED und KPD die Entwicklung der Bun-desrepublik falsch beurteilten, insbesondere die Kraft der KPDüberschätzten und die Möglichkeit der (demokratischen) Entwick-lung der Bundesrepublik unterschätzten. Es sei nun dahin gestellt,da auch nicht nachzuvollziehen, durch wen und wo manche Passa-gen in das Programm kamen – ob in Düsseldorf, in Berlin oder garin Moskau –, Tatsache bleibt, daß das Programm nur mit Einver-ständnis (und unter Mitwirkung) der SED-Führung ausgearbeitet,angenommen und veröffentlicht werden konnte.

Das gehört mit zu den Überlegungen, warum es möglich war,den Prozeß zum KPD-Verbot so »einfach« in Gang zu setzen undschließlich ihr Verbot durchzusetzen. Auch wenn das KPD-Verbotvon 1956 seine Ursache nicht in der Politik der KPD hat, stellt sichdennoch die Frage, was das Verbot erleichtert hat, was die KPDund auch die SED selbst dazu beigetragen haben, daß diesesVerbot möglich wurde.

Und das führt wiederum zur Demokratie-Problematik. ManfredKapluck bringt auf die Frage, warum die KPD zu den Möglichkei-ten eines demokratischen Staates skeptisch stand, verschiedeneFakten an. M. E. ist hinzuzusetzen: Das Verbot der KPD erleichterthat auch das Demokratiedefizit der KPD. Es betraf vor allem zweiEbenen: zum einen Gesellschaft und Staat, zum anderen die Parteiselbst. Das eine erschwerte bzw. verhinderte die Akzeptanz derKPD bei der Bevölkerung, das andere schwächte die Partei voninnen. Das Demokratiedefizit der KPD hatte zweifellos historischeUrsachen, viele Seiten und Ursachen wären einzubeziehen. Da sieseit ihrer Gründung die bürgerliche Demokratie höchstens alsDurchgangsstadium zu einer echten, zu einer sozialistischen De-mokratie betrachtete, unterschätzte sie zugleich den parlamentari-schen Staat und seine Möglichkeiten, lehnte die Regierung ab undakzeptierte kaum das Parlament. Andererseits förderte der repressi-ve Umgang staatlicher Organe, der »verordnete Antikommunis-mus«, auch nicht gerade das Vertrauen der KPD in die Demokratie.

Verhängnisvoll wirkte sich das innerparteiliche Demokratiedefi-zit, der Mangel an einer innerparteilichen Demokratie und dasFehlen demokratischer innerparteilicher Strukturen aus. Der Aus-gangspunkt dafür lag zweifellos in der kommunistischen Parteiauf-fassung und -praxis, die sich auf die Komintern und LeninscheAuffassungen gründete.

Das Fehlen demokratischer Beziehungen und Regeln im Verhält-nis zwischen SED und KPD ist bereits skizziert worden. Daß Endeder vierziger Jahre/Anfang der fünfziger Jahre in der KPDParteisäuberungen, die von Parteistrafen über Ausschlüsse,Funktionsenthebungen bis hin zu Verhaftungen und gerichtlichenVerurteilungen in der DDR reichten, durchgeführt werden konnten,ohne auf massiven Widerstand zu stoßen, hat sowohl mit dem

14 So auf der Parteivor-standstagung im März 1956und ähnlich in einem Artikel(»Warum war die Losungvom ›revolutionären Sturzdes Adenauer-Regimes‹falsch?«, in: »Freies Volk«,28./29.4.1956).

134MAYER KPD

damaligen kommunistischen Eigenverständnis als auch mit fehlen-der innerparteilicher Demokratie zu tun. Diese »Parteireinigung«steht auch in enger Wechselwirkung mit der Aufgabenstellung, dieKPD zu einer Partei neuen Typs zu transformieren, begleitete die-se Entwicklung und war zugleich ihre Voraussetzung. Ähnlich wiedie SED, deren Politik und Vorstandssitzungen 1948 im Zeichender »Partei neuen Typs« standen,15 sollte sich die KPD ebenfallszu einer »Partei neuen Typs« entwickeln. Die KPD faßte dazuanaloge Beschlüsse wie die SED, wenn auch meist mit zeitlicherVerzögerung.

Kapluck verweist darauf, daß die Verhaftung führender west-deutscher Kommunisten viele in den Zweifel brachte, ob esnicht doch Agenten waren, verweist auf den Schaden der Ausein-andersetzung mit dem »Titoismus« für die KPD und die gesamtekommunistische Bewegung. Mit der 1948 begonnenen »Tito-Kampagne«, mit ihr begannen in der KPD faktisch die Parteisäu-berungen, folgte die KPD Beschlüssen der SED (vom 29. Juli bzw.16. September 1948). Auf der 4. Tagung (August 1948) beschloßder KPD-Vorstand eine »allgemeine Mitgliederkontrolle«, am 6./7.Oktober 1948 verabschiedete er die Resolution »Die Bedeutungder Entschließung des Informations-Büros über die Lage der KPJugoslawiens und die Lehren für die KPD«. Rückblickend konsta-tierte R. Steigerwald, daß diese Kampagne nicht von der KPDselbst ausging, sondern übernommen wurde. Sie fiel dennoch auffruchtbaren Boden.16

Als im Mai 1949 die KPD die Mitgliederkontrolle abschloß, hat-te sie nun nur noch 218.979 Mitglieder und damit 64.532 Mitglie-der gegenüber Juni 1948 verloren, die meisten Landesverbändehatten einen Mitgliederschwund zwischen 20 bis 25 Prozent zuverzeichnen.17 Nach dem für die SED und KPD enttäuschendemErgebnis der ersten Bundestagswahlen vom 14. August 1949 kamdie Tito-Resolution nun voll zum Tragen. Zum Forderungskatalogder Westkommission der SED an die KPD gehörte, »die Partei vontrotzkistischen Agenten aller Spielarten säubern«, Organisierungeiner ideologische Diskussion, Neuwahlen der Parteileitungen,Festigung des zentralen Apparates sowie Überprüfung der Landes-vorstände und ihrer Sekretariate.18 Für die Verwirklichung dieseZiele fanden Besprechungen von Mitgliedern des SED-Politbüros(u. a. Ulbricht und Pieck) und der Westkommission mit Max Rei-mann und Fritz Sperling statt.

Verheerend wirkte sich die Resolution der KPD-Parteivorstands-tagung Ende Dezember 1949 aus, die alle Parteieinheiten und Mit-glieder verpflichtete, »die Partei von der feindlichen Ideologie undderen Trägern zu reinigen« und »von allen Elementen zu säubern,die die Einheit des Willens und die eiserne Disziplin in der Parteibedrohen.«19

Insbesondere in der Kaderarbeit machten sich Eingriffe undKontrolle der SED deutlich bemerkbar. Unmißverständlich legtedas SED-Sekretariat im Juli 1950 fest: »Für die Kader der KPD istdie Kaderabteilung der Westkommission verantwortlich«.20 EinenMonat zuvor hatte das SED-Politbüro die Westkommission mit der»Unterstützung beim organisatorischen Aufbau der KPD und

15 Vgl. dazu Entscheidun-gen der SED 1948. Aus denstenographischen Nieder-schriften der 10. bis 15. Ta-gung des Parteivorstandesder SED. Hrsg. von ThomasFriedrich u. a., Berlin 1995;vgl. dort auch zum ProblemSED-KPD S. 21 ff.

16 Robert Steigerwald:Anläßlich Georg FülberthsKPD/DKP-Buch, in: Marxisti-sche Blätter, 1/1991, S. 37.

17 Bericht über den Ab-schluß der Mitgliederkon-trolle – Einige Lehren undErfahrungen, Ms. o.O.o.J.

18 ZPA, NL 36/642.

19 Resolution der 14. PV-Tagung der KPD, in:KPD 1945-1968, S. 331.

20 ZPA, J IV 2/3/127.

MAYER KPD135

Neuwahl ihrer Leitungen ... entsprechend den Richtlinien und Er-fahrungen der SED« beauftragt sowie die »Verstärkung der Arbeitzur Überprüfung und Unterstützung der Kaderarbeit der KPD« be-stimmt.21 Auch Kaderbeschlüsse faßte das SED-Politbüro für dieKPD, in diesem Fall für das Ausscheiden von Hermann Nuding,Hugo Ehrlich und Walter Fisch aus dem Sekretariat des KPD-Parteivorstands. Erst nach der SED nahm die Tagung desKPD-Parteivorstandes einen solchen Beschluß an, Fisch konsta-tierte dabei resignierend: »Ich weiß nicht, ob es sich um einenBeschluß handelt, der vom Polit-Büro gefaßt ist, ich bin gewohnt,die Grundsätze des demokratischen Zentralismus einzuhalten«.22

Eine verhängnisvolle Rolle spielte für die KPD auch der Be-schluß der SED über Noel Field vom 24. August 1950, MaxReimann pries ihn als »entscheidende Waffe zur Erhöhung derWachsamkeit in unserer Partei«, die KPD-Mitglieder müßten »alleBeobachtungen und Festlegungen über die Tätigkeit des Feindeszur Zersetzung unserer Partei der Parteiführung mitteilen«.23

Vor den Landesparteitagen und vor dem (Münchener) Parteitagder KPD 1951 hatte das SED-Politbüro eine Kommission einge-setzt, um die Kadervorschläge für das Sekretariat und den Partei-vorstand der KPD sowie für die Landessekretariate zu prüfen.24 Siestand unter Leitung von Walter Ulbricht, ihr gehörten FranzDahlem und Hermann Matern und von der KPD nur Max Reimannan. Nach der Vorstands-Tagung der KPD in Berlin (Ost) am 9.Februar 1951 wurden Fritz Sperling und Wilhelm Prinz in der DDRverhaftet und weitere Funktionäre abgelöst. Hugo Ehrlich, der wei-ter im Parteivorstand verblieben war, sagte: »Ich möchte sagen, dasist natürlich in gewisser Hinsicht starker Tobak. Aber ich glaube,solche Änderungen sind mit der SED reichlich erwogen, und siedeuten an, daß man entschlossen ist, zum Parteitag eine Führung zuschaffen, die wirklich einheitlich, fähig und imstande sein soll,eine ideologisch geschlossene Partei neuen Typus zu schaffen«.25

Insgesamt waren fast das gesamte Sekretariat des KPD-Partei-vorstands ausgewechselt, zehn von zwölf Landesvorsitzenden undviele Mitglieder der Landessekretariate abgelöst worden.

Daß die SED die Kaderpolitik der KPD bestimmte, verdeut-licht ein kurzes Schreiben Ulbrichts an Wilhelm Zaisser, den da-maligen Chef der Staatssicherheit.26 Ulbricht ersuchte ihn, die Vor-schläge für das Sekretariat des Parteivorstandes, der Landesvor-stände und -sekretariate der KPD beschleunigt zu überprüfen. Klarscheint, daß die SED die Parteisäuberungen der KPD unter ihrerKontrolle hatte. Das bedeutet nicht, daß sie bei allem immer dieentscheidende Instanz war. So deutete Josef Schleifstein 1989rückblickend zu den Funktionsenthebungen vorsichtig an: »Ichnehme an, daß die Anregung aus sowjetischen und anderen Rat-schlägen an die Führung, an den 1. und 2. Vorsitzenden stammte,das ist aber eine Vermutung«.27 Damit dürfte er wahrscheinlichmehr als Recht haben. Und Herbert (Tom) Crüger berichtete in sei-nen Erinnerungen, bei einem Kadergespräch in Berlin war außerHerta Geffke von der ZPKK der SED »noch ein zweiter, mir unbe-kannter Mann anwesend, ein Russe, der gut deutsch sprach.«28

Die Verantwortung der SED für Säuberungen in der KPD tritt

21 ZPA, J IV 2/2/96.

22 Protokoll der Sekreta-riatssitzung des Parteivor-standes der KPD am 3. Juli1950.

23 Rede des GenossenMax Reimann auf der 17.PV-Tagung.

24 ZPA, DY IV 2/2/211.

25 19. Parteivorstands-tagung der KPD am 9.Februar 1951, Ms.

26 ZPA, NL 182/900.

27 Manfred Grieger, u. a.:Stalins Schatten. Stalinund die westeuropäischenKommunisten, Neuss 1989,S. 177.

28 Herbert Crüger:Verschwiegene Zeiten –vom geheimen Apparatder KPD ins Gefängnisder Staatssicherheit,Berlin 1990, S. 140.

136MAYER KPD

dort in Erscheinung, wo bekannte Funktionäre in die DDR über-siedelten und gar verhaftet wurden. Alfred Drögemüller, der ehe-malige Chefredakteur von »Wissen und Tat«, wurde 1951 auf einerLandstraße in der DDR verhaftet. Nach dem Münchener Parteitagfolgte die KPD einer »Empfehlung« der SED-Führung und sahals ihre nächsten Kaderaufgaben die Überprüfung aller 1. und 2.Kreissekretäre und weiterer Parteimitglieder, insbesondere der»West«-Emigranten oder die früher der KPO oder anderen Grup-pierungen angehört hatten. Auch dem Beschluß des ZK der SEDvom 20. Dezember 1952 »Lehren aus dem Prozeß gegen dasVerschwörerzentrum Slansky« folgte die KPD.

Die KPD hatte von 1948 bis 1952 in nur vier Jahren fast 200.000Mitglieder verloren. Von einst über 300.000 zählte sie 1956 nurnoch 80.000 Mitglieder. Zur Selbstschwächung der KPD hatteauch beigetragen, daß erfahrene – und bei der Bevölkerungbekannte und geachtete – Funktionäre ausgeschaltet worden waren.Das repressive Vorgehen in der KPD gegen eigene Funktionäreund Mitglieder trug zugleich dazu bei, die KPD in der Bevölkerungzu diskreditieren und zu isolieren. Was für eine Demokratie imStaatsaufbau war von der KPD zu erwarten, wenn sie in ihrerBinnenstruktur so (undemokratisch) funktionierte?

Daß die KPD an Masseneinfluß, an politischem Gewicht und anAnsehen verlor, hatte damit sowohl mit dem »Beispiel SBZ/DDR«,daß sie in ihrer gesamten Politik der von der SED eingeschlagenenLinie folgte und als Partei der SED galt, wie auch mit eigenenSchwächen in Führungstätigkeit und Massenarbeit zu tun. Wennunmittelbar nach dem Verbot der KPD im Sommer 1956 in einerEinschätzung für das SED-Politbüro nüchtern konstatiert wurde,daß die Mehrheit der Bevölkerung »im KPD-Verbot keine unmit-telbare Bedrohung eigener wirtschaftlicher, sozialer und politischerInteressen« sah,29 so ist das nichts anderes als ein Beleg für die –auch von KPD und SED verantwortete – Isoliertheit der KPD,deren Verbot ohne großen Protest hingenommen wurde.

29 ZPA, J IV 2/2J/249.

MAYER KPD137

Sozialistinnen und Sozialisten werden anhaltenden und zunehmen-den Schwierigkeiten ausgesetzt sein, wenn sie nicht einen sinn-vollen Weg finden, sich mit ihrer Geschichte weiter auseinander-zusetzen. Ohne historische Wurzeln, die Besinnung auf Traditionenund die Kritik der Traditionen droht Geschichtslosigkeit. Und:Geschichtslosigkeit führt zu Gesichtslosigkeit. Zu diesem bekann-ten Problem sei ein weiteres hinzugefügt: das Ost-West-Problem.Für die PDS waren Geschichtsdebatten fast ausschließlich DDR-und SED-spezifisch. Dies ist verständlich, kann aber nicht so blei-ben. Auch der Westen hatte seine Linke mit ihrer Geschichte.

Geschichte der BRD und der DDR in ihren Gegensätzen und inihrer wechselseitigen Bedingtheit, Geschichte von Sozialistinnenund Sozialisten, Kommunistinnen und Kommunisten und anderenlinken Kräften in beiden deutschen Staaten müssen als Teil deut-scher Geschichte angenommen und bearbeitet werden. Die Linkeim Westen weiß wenig von der im Osten, und umgekehrt ist esnicht viel anders. Geschichtliche Kenntnisse könnten u.a. auch einZugang dafür sein, besser verstehen zu können, warum wer so ist,wie er ist.

Zu einem weitgehend unbearbeiteten Teil gehört die Geschichteder Kommunistinnen und Kommunisten in der BundesrepublikDeutschland und als Teil dieser die Geschichte von KPD und DKP.Manfred Kapluck beleuchtet in UTOPIE kreativ anläßlich des40. Jahrestages des KPD-Verbotes die Neukonstituierung der DKPin der BRD. Das ist verdienstvoll, denn von den ohnehin wenigenVeröffentlichungen sind viele durch Vorbehalte verzerrt oder durchRechtfertigungszwänge verklärt. Durch Manfred Kapluck erfahrenLeserinnen und Leser Neues. Manches aber auch nicht. Kaplucklüftet die Kutte – aber was trägt der Mönch darunter? Aus diesemGrunde stelle ich meine Kenntnisse und Analysen über die Zeitvom KPD-Verbot bis zur Konstituierung der DKP 1968 neben dievon Kapluck.

Parteikommunismus war immer nur ein Teil des realen KommunismusAufklärung über die Geschichte von KPD und DKP ist nötig, auchdann, wenn heute klar ist, daß die KPD und später die DKP nurein Teil der organisierten und nicht organisierten Kommunistinnenund Kommunisten waren. Über die heutige DKP kann und will ichmir kein Urteil erlauben. Aber es gab schon in der Alt-BRD weitmehr Menschen, die sich als Kommunistinnen und Kommunisten

Wolfgang Gehrcke –Jg. 1943, von Beruf Journa-list; 1968 Mitbegründer vonSDAJ und DKP, einige Jah-re Vorsitzender der SDAJund Bezirksvorsitzender derDKP in Hamburg, im Januar1990 (nach dem Scheiterndes Versuchs einer Erneue-rung der DKP) Austritt undBeteiligung an dem Ver-such, ein SozialistischesForum aufzubauen, einerder Initiatoren für eineLinke Liste/PDS;z.Z. stellvertretenderVorsitzender der PDS.

138GEHRCKE Kommunistische Linke

WOLFGANG GEHRCKE

Geschichtslosigkeit führt zu Gesichtslosigkeit!Die kommunistische Linke in derBundesrepublik Deutschland

verstanden, als in der KPD oder später in der DKP organisiertwaren – und dies wird heute nicht viel anders sein.

In der Vergangenheit ist in den verschiedenen KommunistischenParteien, Aufbauorganisationen und Bünden viel Kraft und Gedan-kenreichtum darauf vergeudet worden nachzuweisen, daß nur dieeigene Richtung sich mit Recht kommunistisch nennen dürfe. Indieser Logik waren die jeweils anderen zumindest eine Abwei-chung und Revision des »wahren Kommunismus«, wenn nichteine Agentur des politischen Gegners.

Um nichts anderes wurde so erbittert gekämpft wie um dasMonopol, sich »kommunistisch« nennen zu dürfen. Diesen Streitins Heute zu verlängern, wäre unproduktiv. Kommunistinnen undKommunisten sollten – zumindest in der Rückschau – verstehen,daß auch ihre Bewegung plural war. Schon deshalb ist es wichtig,daß neben der Option, die zur Gründung der DKP führte, andereMöglichkeiten existierten.

Das KPD-Verbot und seine FolgenBekanntlich wurde die KPD am 17. August 1956 durch das Bun-desverfassungsgericht verboten. Dieses Verbot besteht juristischbis heute fort – wider Recht, Verfassung und politische Vernunft.Was den Fortbestand des KPD-Verbotes angeht, widerspricht erdem Verbotsurteil. Denn das Verfassungsgericht sah eine künftigeVereinigung der beiden deutschen Staaten als Zäsur des Verbotesan. Parteivorstand und die Bundestagsgruppe der PDS haben sich– auch deshalb – ausführlich auf einem historisch-rechtspolitischenKolloquium damit befaßt und die Aufhebung des KPD-Verbotesgefordert.

Grundgesetz, Verfassungswirklichkeit, kurz: die Demokratie inder Bundesrepublik haben am KPD-Verbot tiefgreifenden undanhaltenden Schaden genommen. Mindestens für den Zeitraumvon 1951 (Antrag der Bundesregierung beim Bundesverfassungs-gericht) bis 1967/68 (Liberalisierung des politischen Strafrechts)ersetzte das politische Strafrecht weitgehend die geistige Ausein-andersetzung. Die juristische Variante des Kalten Krieges führte indiesem Zusammenhang zu rund 250.000 Ermittlungsverfahren undzu über 10.000 Inhaftierungen.

Die KPD hatte, als sie 1956 verboten wurde, noch ca. 80.000Mitglieder. Der aktivste und entschlossenste Teil ihrer Mitglied-schaft setzte in der Illegalität den Kampf fort. Bekannte Mitgliederder Parteiführung mußten in die DDR emigrieren, ihnen drohtenlangjährige Haftstrafen. Viele Mitglieder der KPD zogen sich ausder direkten Parteiarbeit zurück und suchten neue Betätigungsfel-der. Die Ablehnung des KPD-Verbotes unter Demokratinnen undDemokraten in der BRD war weit verbreitet und die direkte Soli-darität mit einzelnen Kommunistinnen und Kommunisten hoch.Trotzdem blieben größere politische Gegenbewegungen bis in dieMitte der sechziger Jahre aus. Dafür sind die Zu- und Umständedes Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz, auf die ManfredKapluck aufmerksam macht, eine wichtige, aber keine ausreichen-de Begründung.

Die Ursachen des KPD-Verbotes lagen nicht in der Politik der

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KPD, dafür trägt die damalige Bundesregierung die Verantwor-tung. Daß aber das KPD-Verbot selbst rasch durchgesetzt undsozialistische Alternativen in der BRD über Jahrzehnte chancenloswaren, war auch der Politik und Verfaßtheit von KPD und SEDgeschuldet. Diether Posser, ehemaliger Justizminister in NRW undengagierter Mitstreiter von Gustav Heinemann, der zahlreichenKommunistinnen und Kommunisten als »Anwalt im Kalten Krieg«juristischen Beistand leistete, beschreibt die Situation in seinemgleichnamigen Buch: »Auch hatte die KPD schwere Fehlergemacht und als Partei jede Sympathie außerhalb ihrer Mitgliederverloren; die oft byzantinisch anmutende Verherrlichung sowjeti-scher Politiker, vor allem Stalins, die völlige Kritiklosigkeitgegenüber Mißständen in der DDR, die Verkündung scheinrevolu-tionärer Phrasen, die oft beleidigende und verunglimpfende Spra-che gegenüber der Bundesregierung und anderes mehr«. DieserWertung stimme ich zu.

Bis Mitte der sechziger Jahre dominieren der Kalte Krieg und dieBlockzuordnung. Die Bundesregierung setzt mit Hilfe der Justizund der Polizei das Verbot rasch durch. Die KPD geht in dieIllegalität und in die Emigration. Die SED-Führung verhält sichsolidarisch, aber passiv. Größere Gegenbewegungen bleiben aus.Kommunistische Politik in der Bundesrepublik Deutschland istisoliert. Mitte der sechziger Jahre deuten sich in der BRD undinternational Veränderungen an, die auch neue Chancen für kom-munistische Politik und für die Aufhebung des KPD-Verbotesmit sich bringen. Sie kulminieren in der 68er Bewegung, unterderen Druck und geistiger Ausstrahlung Willy Brandt sich zu einerPolitik des »mehr Demokratie wagen« entschließt.

In der Alt-BRD entwickelt sich Mitte der sechziger Jahre eineMassenbewegung gegen die Notstandsgesetze und gegen den wei-teren Demokratieabbau. Wirtschaftlich gerät die BRD in eineKrise. Streiks bzw. sogenannte wilde Streiks breiten sich aus.Größere Teile der Jugend, insbesondere der studentischen Jugend,beginnen gegen das Schweigen ihrer Eltern, Lehrer und andererBezugspersonen über ihr Verhalten im Faschismus zu rebellieren.Die USA verliert ob ihrer Verwicklung in den Vietnam-Krieg anIntegrationskraft. Fidel, Che, Ho und andere Führer nationalerBefreiungsbewegungen werden zu Leitbildern. Als Alternativezum Kalten Krieg und der latenten Möglichkeit eines atomarenWeltkrieges gewinnt der Gedanke und die Politik einer friedlichenKo-Existenz an Dynamik. Die außenpolitische Isolierung der DDRbricht auf und die Hallstein-Doktrin zusammen. An die Stelle einerCDU-geführten Bundesregierung tritt eine große Koalition vonCDU und SPD. In der SPD werden erstmals nach Godesberg dieWidersprüche sichtbar. Umordnungen im politischen System deutensich an. In diesem Umfeld nimmt die Bewegung für eine Aufhebungdes KPD-Verbotes, als Teil der Demokratiebewegung, zu.

Die politische Klasse der BRD ist in der Krise. 1965/66 und 1967 hat sich folgende Lage herausgebildet: Dieherrschenden politischen Eliten brauchen eine innen- und außen-politische Modernisierung. Außenpolitisch brauchen sie, um eine

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Weltrolle zu spielen, nachdem die Westbindung der BRD durchge-setzt ist, mehr Spielräume. Von den USA mißtrauisch beäugt, trei-ben sie mit Frankreich zusammen die Westeuropa-Lösung weiterund suchen eine begrenzte Öffnung nach Osten. Die allerdings ha-ben sie über Jahrzehnte selbst blockiert, verteufelt und verfolgt.Zugleich beginnen in der Bundesrepublik Arbeiterinnen und Ar-beiter zu streiken, Demokratinnen und Demokraten zu demonstrie-ren und Schüler und Studenten zu rebellieren. In dieser Situationkommt es zu einer kurzzeitigen, objektiven Interessenallianz zwi-schen »oben« und »unten«, nämlich verkrustete Strukturen aufzu-brechen. Diese Interessenallianz ändert nichts daran, daß »oben«und »unten« sich subjektiv feindlich, politisch gegensätzlich undmilitant gegen-überstehen.

Die herrschenden Kräfte nutzen die 68er Rebellion, um den nöti-gen Modernisierungsschub einzuleiten und einen Elitenwechsel zuorganisieren. Die dafür geeignete, nicht verbrauchte politischeKraft ist die SPD. An sie fällt die Regierung.

Der Preis, den die politische Klasse dafür entrichten muß, isteine Demokratisierung der Gesellschaft. Diese geht unter demDruck der Bewegungen über die vorgezeichneten Grenzen hinaus.Gleichzeitig mit ihrem »Rückzug« organisieren die herrschendenKräfte mit Repression und Integration alle Möglichkeiten, das»Bündnis« von Demokratie und Modernität so rasch wie möglichwieder aufkündigen zu können. Das Ende des »Bündnisses« vonDemokratie und Modernität ist gleichzeitig das Ende der ÄraBrandt. Doch zurück.

Was heißt das für das KPD-Verbot? Für eine neue Ost-Politik istdas KPD-Verbot ein Hindernis. In der Demokratie- und Studenten-bewegung wird es zum Thema. Einzelne Kommunistinnen undKommunisten gewinnen Einfluß in verschiedenen Massenbewe-gungen. Marx, Engels und Lenin werden ebenso wie Brecht undneue linke Theoretiker, wie Herbert Marcuse, von der studenti-schen Bewegung entdeckt. Die politische Klasse kann das KPD-Verbot nicht geradlinig aufrechterhalten. Die linken Kräfte sindnicht stark genug, eine Aufhebung durchzusetzen. Die SED-Führung gewinnt ihr Interesse an der KPD zurück.

Wie kommt die BRD zu einer legalen KP?In den Führungen von KPD und SED werden in dieser Situationdrei Optionen diskutiert:

Die erste lautet: Fortsetzung des Kampfes gegen das KPD-Verbot mit dem Ziel einer realen Aufhebung des Verbotes. DieseLinie wird energisch von Max Reimann, dem Vorsitzenden derKPD, von Mitgliedern des SED-Politbüros und bekannten Perso-nen der Öffentlichkeit, wie dem Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul,vertreten. Sie hat starke Anhänger im Politbüro der Kommunisti-schen Partei der Sowjetunion.

Die zweite Option zielt auf die Neukonstituierung einer Kom-munistischen Partei. Diese Variante trägt dem geschildertenKräfteverhältnis Rechnung. Das KPD-Verbotsurteil steht demnicht entgegen. Die SPD-Bundesregierung kann sich damit arran-gieren und kommt aus einer Klemme.

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Eine »neue« Partei kann sofort in den Bewegungen aktiv werden.Diese Konzeption wird von den jüngeren Mitgliedern der KPD-Führung favorisiert. Sie versprechen sich zudem von dieser Lö-sung einen Umbruch in den verkrusteten Führungsstrukturen derKPD. Im Politbüro der SED treibt Erich Honecker diese Konzepti-on voran. Nicht ohne eigene Interessen, denn ein Führungswechselin der KPD stärkt seine Position bei einem Führungswechsel inder SED.

Die dritte Option lautet: nicht KPD oder DKP, sondern eineSozialistische Partei. Weitgehend unbekannt sind die Bestrebungenzur Gründung einer Sozialistischen Partei in der BRD, wie sie vondem in Marburg lebenden, aus der DDR verdrängten SozialistenProfessor Wolfgang Abendroth zusammen mit ihm Gleichgesinn-ten und Kommunistinnen und Kommunisten angestellt wurden.Wolfgang Abendroth und weitere Sozialisten wurden nach Godes-berg 1961 aus der SPD ausgeschlossen. Sie unterhielten zahlreicheVerbindungen zu gewerkschaftlichen Linken, zu kulturellen undgeistigen Zentren und können zu den geistigen Vätern der 68erBewegung gezählt werden. Sie sahen in der Anti-Notstandsbewe-gung, in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg, in den studenti-schen Rebellionen und betrieblichen Aktionen die Chance, auslinken Sozialdemokraten, undogmatischen Sozialisten und KPD-Mitgliedern eine neue Partei zu bilden. Dies wollten sie einver-nehmlich mit der KPD. Eine sozialistische Partei sollte auch eineAlternative für kritische SPD-Mitglieder sein.

In der KPD-Führung fanden diese Gedanken wenig Fürsprecher.Im SED-Politbüro jedoch engagierte sich Walter Ulbricht für eineBündnispartei, insbesondere mit Sozialdemokraten. Daneben, soUlbricht, sollte die KPD fortbestehen. Im Ergebnis von UlbrichtsÜberlegungen entstand die Wahl- und Bündnispartei Aktion De-mokratischer Fortschritt (ADF). Sie scheiterte bei den Bundestags-wahlen an der 5-Prozent-Klausel und wurde, nachdem sich dieDKP etabliert hatte, sang- und klanglos beerdigt.

Abendroth u.a. beenden ihre Bemühungen um eine sozialistischePartei nach dem Einmarsch in die CSSR. Es gab keine gemeinsa-me politische, weltanschauliche und moralische Basis mehr.

Während sich das Politbüro der SED im gesamten Zeitraum desakut drohenden KPD-Verbotes nur dreimal (!), zumeist unter Ver-mischtes, mit dieser Frage befaßte, weisen die Jahre 1967 und 1968eine vielfache und gründliche Diskussion aus – eine Diskussion,die in dieser Form und Umfang in der westdeutschen KPD nichtgeführt wurde und unter Bedingungen des KPD-Verbotes vielleichtnicht geführt werden konnte. Auch auf keiner der illegal inder DDR stattfindenden Parteikonferenzen der KPD werden dieseFragen angesprochen.

Im Politbüro der SED findet sich unter Zustimmung der KPdSUeine Mehrheit für die »DKP-Lösung«, ebenso im Politbüro derKPD. Andere, wie der KPD-Vorsitzende Max Reimann oder derlangjährige Prozeßvertreter der KPD, Rechtsanwalt Kaul, sind überdie DKP-Gründung verzweifelt. In Kauls Nachlaß ist die Notiz zulesen, mit der »DKP-Gründung seien die Chancen zur Aufhebungdes KPD-Verbotes vertan«.

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Die Gründung der DKP ist letztlich auf mehrere Faktorenzurückzuführen: auf die Standhaftigkeit und den Opferwillen derillegalen Kommunistinnen und Kommunisten, die veränderteinnen- und außenpolitischen Lage, die Demokratiebewegung eben-so wie auf eine veränderte Strategie der SED. Für die SED ist esu.a. wichtig, die »Zweistaatlichkeit«, die Anerkennung der DDRdurchzusetzen. Dazu bedurfte auch die BRD einer weitergehend ei-genständigen Kommunistischen Partei. Die Dokumente lassen kei-nen Zweifel zu: Das letzte Wort zur Gründung der DKP hatte dieSED. Die Verhältnisse zwischen SED und DKP waren aber viel-schichtiger, differenzierter, als sie in den Kategorien von Selbstän-digkeit und Abhängigkeit zu fassen sind. Dies kann an dieserStelle nur festgestellt und müßte umfassender beschrieben werden.

Mit der Entscheidung zur Konstituierung der DKP kommt diesozialdemokratischen Bundesregierung aus dem Dilemma heraus,einerseits das KPD-Verbot nicht mehr aufrechterhalten zu könnenund wollen, andererseits vor einem Gesetz zur Aufhebung desKPD-Verbotes zurückzuschrecken. Nach und parallel zur »DKP-Entscheidung« werden von KPD-Abgesandten unter Vermittlungder italienischen KP Verhandlungen mit der Bundesregierung auf-genommen. Bonn signalisiert grünes Licht. DDR und Sowjetunionbemühen sich um flankierende Stützung über diplomatischeKanäle. Kommunistinnen und Kommunisten bereiten sich auf dieNeukonstituierung vor. Die Bundesrepublik hat wieder eine legaleKommunistische Partei, die sich vornimmt, auch Partei der Bun-desrepublik zu werden. Die DKP stand in der Tradition der KPD,hat aber politisch, theoretisch wie praktisch Neues entwickelt,befördert. Sie wird – Tücke der Geschichte – letztlich an diesemNeuen scheitern. Ihre Verfaßtheit, ihre Politik und ihr Parteiver-ständnis konnten keine Hülle bieten, die mit dem Neuen verbunde-nen Widersprüche auszuhalten und konstruktiv lösen zu können.

Ein persönliches Wort: Ich bin am 10. Oktober 1961 der Kom-munistischen Partei Deutschland beigetreten und habe an derKonstituierung der DKP mitgearbeitet. Fast drei Jahrzehnt war ichin der Alt-BRD in der kommunistischen Bewegung und in vielendemokratischen und sozialen Bewegungen aktiv. Ich habe diesemitgeprägt und bin von ihnen geprägt worden. Von manchen mei-ner Mitstreiter aus der DKP, die ihren heutigen politischen Platz inder SPD oder den Grünen fanden, lese ich über verführten Idealis-mus, Jugendsünden und verlorene Jahre. Von manchen, die in derDKP blieben hingegen, daß sie nichts bedauern. Beides ist nichtmeine Betrachtung. Für mich war und bleibt mein Beitritt zurKommunistischen Partei ein Schritt der Selbstbefreiung. Ebensowie mein Bruch mit dieser Politik, Partei und TheoriekonzeptionSelbstbefreiung war. An viele und vieles denke ich mit Hochach-tung, an anderes mit Bitterkeit. Eigene Fehler, gravierende Fehl-entscheidungen und Mängel schmerzen mich. An allem ist zuzweifeln. Heute wie damals.

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Nachdem »UTOPIE kreativ« seinen Lesern die Anfänge und dieersten Schritte der linkspluralistischen polnischen Monatszeit-schrift »dzis« bereits vorgestellt hat,1 hier nun ein Blick in dieHefte, die seit Anfang 1995 erschienen sind.

Das Gesicht der Zeitschrift prägten Beiträge zu den innenpoliti-schen Entwicklungen Polens. Die Auseinandersetzungen um dasAmt des Präsidenten, Aleksander Kwasniewski löste den »großenElektriker« Lech Walesa ab, und die politische Provokation desabgewählten Präsidenten und seines Innenministers AndrzejMilczanowski, durch die der Ministerpräsident Jozef Oleksy ausseinem Amt gehebelt wurde, waren zwar in höchstem Maße anPersonen gebunden, ihrem Wesen nach ging und geht es jedoch umdie inhaltliche Frage, welchen Weg die Polnische Republik nachder Volksrepublik nehmen soll. Infolge der Auseinandersetzungenum dieses Thema nahmen die politischen Spannungen zu unddie politischen Kräfte polarisierten sich weiter, »die Rechte läuftAmok«. Jozef Koszek schließt die Möglichkeit nicht aus,daß Polen bei einer Verschärfung des Konfrontationskurses dermomentan zerstrittenen Rechten noch nach Rechts abdriften kann.2

Eine kritische Sicht auf die – wie sie sich selbst nennen – poli-tischen Eliten jeder coleur in Polen hat Seweryn Dziamski. Er istder Ansicht, daß der von den polnischen Eliten gern benutzteBegriff der »politischen Klasse« »nichts anderes als eine Gruppe«bezeichnet, die »für sich selbst« da ist, die ihre Anhänger undWähler als Instrument nutzt, »um nicht zu sagen, daß sie diese kon-junkturell ausnutzt«. Die politischen Funktionäre der »politischenKlasse« kommen wie »Kai aus der Kiste« und werden, oftmalsohne theoretische Kenntnisse und praktische Erfahrungen, alleinnach dem primitiven Prinzip ihrer Verfügbarkeit für Aufträge undAuftraggeber ausgewählt.3

»Dzis«, das aus seiner linkspluralistischen Grundhaltung keinenHehl macht, sondern diese betont, ist alles andere als ein »Akkla-mationsorgan« der Regierung, in der die SLD (Bündnis der Demo-kratischen Linken) die stärkste Kraft der Koalitionsregierung, siestellt auch den Ministerpräsidenten, und der SdRP (Sozialdemo-kratie der Republik Polen), der stärksten Partei der SLD. IhrePosition könnte als die eines Begleiters dieser Politik von kritisch-konstruktiven Positionen aus beschrieben werden.

Drei Themenkreise sind es vor allem, die die polnische Politik indiesen Zusammenhängen bewegen: die Wirtschaftspolitik des Lan-

Gerd Kaiser – Jg. 1933, promovierter Historiker,von 1969-91 wissenschaftli-che Arbeit im DeutschenFernsehfunk. Veröffentli-chungen zur Militär- undSozialgeschichte undMassenkommunikation.Wichtige Arbeiten: u.a.: »Katyn. Der Massenmord anpolnischen Offizieren«(1995).

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GERD KAISER

»dzis« heißt »heute«

des, die Beziehungen zwischen Staat und römisch-katholischerKirche sowie die Stellung der Streitkräfte und der Sicherheitsdien-ste im Staatsgefüge und um das Primat der Politik gegenüberMilitär und Diensten.

Das Fazit der vorjährigen Wirtschaftsentwicklung:»1995 hält dasWachstum in der Wirtschaft an«, die Dynamik verstärkte sich.Polen erreichte mit seinem Wirtschaftswachstum in der Industrie-produktion, bei den Investitionen und den Außenhandelsumsätzensowie mit seinen Devisenreserven »die Spitzengruppe der europäi-schen Länder«.4 Gleichzeitig macht die Zeitschrift darauf aufmerk-sam, das die auf eine Wahlperiode von vier Jahren zugeschnittene»Strategie für Polen«, das regierungsoffizielle Wirtschaftspro-gramm, eigentlich eines weitergefaßten Zeitrahmens bedürfe.Jerzy Hausner benennt »Zehn Dilemmata der Wirtschaftsstrate-gie«5 und macht Vorschläge zu deren Überwindung. Aus seinerSicht ist es u.a. notwendig, andere Prioritäten in der Sozialpolitikzu setzen, die Staatsschulden und die Inflationsrate zu minimieren.In der Diskussion um die Zukunft Polens hatte Jan Dziewulskibereits zuvor angemerkt, daß die SLD mit einem unscharfen Pro-gramm unter den Losungen »So geht es nicht weiter« – späterabgelöst durch »So darf es nicht weitergehen« – operiere, das eherein Wahl-, denn ein Arbeitsprogramm sei. Gescheut werde dieKonfrontation mit dem internationalen Kapital, Elemente dergeistigen Kapitulation seien unübersehbar.6 Die aktuelle Diskus-sion um Gegenwart und Zukunft wird durch historische Erfahrun-gen bereichert, z.B. erschlossen in der Darstellung über das Ver-hältnis der PPS (Polnische Sozialistische Partei) in der Emigrationzur Wirtschaftspolitik der Volksrepublik Polen 1947-1955.7

Auch bei der Darstellung des Verhältnisses zwischen Staat undKirche beschränkt sich »dzis« nicht allein auf die Dokumentationund Kommentierung aktueller Entwicklungslinien, sondern erwei-tert den Blick durch historische Erfahrungen. Die Bedenken undEinwände, die Feliks Siemienski gegen das im Juli 1993 unter-zeichnete aber noch nicht durch den Sejm ratifizierte Konkordatzwischen der Polnischen Republik und dem Heiligen Stuhl vor-bringt, ergänzt Zenon Rudny durch eine Rückschau auf den polni-schen Klerikalismus zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg.8

Jan Golec verweist auf Ergebnisse der zeitgenössischen Sozial-forschung, die eine zunehmende Lockerung der Beziehungen zwi-schen Kirche und Laien feststellen. Die Autorität der Kirche unterden Gläubigen nimmt ab. Nicht so sehr im Bereich der Glaubens-fragen, sondern eher auf dem Wirkungsfeld der Kirchenmänner inpolitischen und sozialen Angelegenheiten. Die Kirche, die ambesten auf die Rolle des moralischen Führers im Prozeß der gesell-schaftlichen Transformation vorbereitet schien, hat sich mit ihrenEinschätzungen politisch-sozialer Entwicklungsprozesse und derenRichtungen geirrt. Sie muß, will sie nicht weiter an Einfluß verlie-ren, nicht nur den wirtschaftlichen sondern auch politischen undweltanschaulichen Pluralismus akzeptieren.9

Während in Polen die »Falken« auf den Kanzeln oder im Rund-funksender »Maria« den Ton angeben, kommt Robert Hotz, in derSchweiz wirkender Jesuitenpater, bei einer Analyse der Möglich-

»Ich bin Kandidat derLinken und die Linke siehtim Präsidentenamt ein un-parteiisches, überparteili-ches Amt, einen Hort derToleranz, der Ordnung undder Verständigung. DerPräsident soll nicht derSprecher einer Partei odereiner gesellschaftlichenRichtung sein.«Interview A. Kwasniewskisvor der Wahl, in: “dzis«, Heft11, 1995, S. 5ff

»Ich spreche mich für eineLösung aus, deren Wesendarin besteht, daß die herr-schenden politischen Eliteneine Übereinkunft hinsicht-lich der Grundelemente desWirtschaftsprogramms derRegierung mit starken so-zialen Vertretungen treffen«.Jerzy Hausner: »ZehnDilemmata...«, »dzis«,Heft 7, 1995, S. 12

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keiten einer Renaissance der russischen Orthodoxie zum Schluß,daß dort neben wahrscheinlichen künftigen Auseinandersetzungenzwischen Orthodoxie und muslimischen Fundamentalisten dieGefahr »des Übergangs einiger orthodoxer Kreise auf die Seite desultranationalen Chauvinismus« besteht.10

Die Frage nach dem Primat der Politik gegenüber Streitkräftenund Geheimdiensten in Polen stellte sich nach einer politisch-demonstrativen Zusammenkunft führender Militärs auf dem Trup-penübungsplatz Drawsk und in Verbindung mit der Rolle führenderKräfte der Dienste im Rahmen der politischen Provokation gegenJozef Oleksy. Die Auseinandersetzungen11 werden dabei um einverfassungskonformes Vorgehen der Dienste, deren Qualifikationund um zivilisierte Verhaltensformen führender Funktionäregeführt. Die Instrumentalisierung des UOP (Verwaltung für Staats-schutz) durch Einmischung in Wahlkampagnen und politische Aus-einandersetzungen wird detailliert durch Stanislaw Chacharskinachgewiesen und analysiert.12 Der »Kampf um die Armee«13 wird,nach Wladyslaw Honkisz, ebenfalls mit der Forderung geführt, daßdie Streitkräfte Polens Sicherheit zu garantieren haben und keinInstrument in der Hand der einen oder anderen politischen Grup-pierung sein dürfen. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich u.a.sowohl auf den Ebenen der historischen Traditionspflege als auchder Bestimmung der Elemente der künftigen polnischen Sicher-heitsgarantien. Der polnische Präsident hatte in dem erwähntenInterview vor seiner Wahl versprochen, daß er seine Verantwortungu.a. darin sehe, daß die Vergangenheit nicht gegen Menschen aus-gespielt werde, »die ihr Herz und ihre Arbeit ihrem Land gegebenhaben« und daß die Streitkräfte nicht in innenpolitische Auseinan-dersetzungen einbezogen werden. Der Generalstabsoffizier Mari-usz Jedrzewski analysiert leidenschaftslos die komplizierte politi-sche und schwierige wirtschaftliche Lage und stellt fest, daß diePolnischen Streitkräfte nur bedingt zur Erfüllung dieser Aufgabenund zur Garantierung der Sicherheit Polens zwischen Rußland undDeutschland in einer Zeit wachsender Instabilitäten (Balkan, GUS,wachsendes Gewicht Deutschlands usw.) bereit seien.14 Das uralteSyndrom, aus der Lage Polens zwischen Rußland und Deutschlanderwachsend, die zu vier Teilungen Polens geführt hat, ist der stärk-ste Beweggrund für den Drang Polens in die NATO. Diese Optionwird von nahezu allen politischen Kräften in Polen bevorzugt. Lon-gin Pastusiak, 1995 kurzzeitig im Gespräch als möglicher Verteidi-gungsminister, analysiert die in Europa bestehenden unterschiedli-chen Sicherheitsgarantien, Ost- und Westbedrohungen der polni-schen Sicherheit. An der Debatte beteiligt ist auch WladyslawLoranc. »Dzis« vermittelt zahlreiche internationale Materialien zudiesem Thema; u.a. die Erklärung der Sozialistischen Internationa-le zu Mittel- und Osteuropa, Stellungnahmen Theodor Sommers(BRD), Jegor Gaidars, Roy Medwedjews und Wladimir Lukins(Rußland).

In weitaus geringerem Umfang als mit den drei »großen« The-menkreisen beschäftigt sich »dzis« mit der Nationalitätenpolitik.Obwohl in Polen große nationale Minderheiten leben, halten sichethnisch motivierte Auseinandersetzungen, z.B. um die Roma oder

»Bei den gegenwärtigenBeziehungen zwischenStaat und Kirche kannPolen weder ein weltlichernoch ein theokratischerStaat genannt werden ...Ich stelle objektiv fest, daßdie Prognose eines konfes-sionellen Staates real ist...«.»dzis« Heft 1, 1995, S.80

Die Zahl der militärischenKonflikte verringert sichnicht, sondern nimmt zu.Sie haben einen Einflußauf die Technikentwicklung,die Denk- und die Verhal-tensweisen. »Sie werden zueinem der wichtigsten Regu-latoren demographischerVeränderungen«.Antoni Czubinski: »DieKriege des 19. und des 20.Jahrhunderts«, in: „dzis«,Heft 9, 1995, S. 5ffund S.16.

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die »doppelte Staatsbürgerschaft« Deutscher, in Grenzen. NachAngaben der Vertretungen der Minderheiten selbst leben in Polen(jeweils angenäherte Zahlen) 500.000 Deutsche, 300.000 Ukrainer,250.000 Belorussen, 25.000 Litauer, 20.000 Slowaken, ebensovie-le Roma, bis zu 15.000 Juden sowie Tschechen, Armenier, Tatarenu.a. Völkerschaften.15 Die Lage der Minderheiten hat sich gegen-über der Situation in der VRP deutlich verbessert, ein 1992 gebil-detes Büro für kulturelle Fragen nationaler Minderheiten im Mini-sterium für Kultur und Kunst gibt über die Hälfte seines Budgetsfür Publikationen der Minderheiten in ihren Nationalsprachen aus.

Einen großen Raum nehmen in »dzis« Fragen der historischenErfahrung, des historischen Erbes, ein. Sie berühren zumeist aktu-elle Debatten. Zenobiusz Kozik analysiert detailliert und thema-tisch wie chronologisch umfassend das Bild, das die Historiker-zunft von der Volksrepublik zeichnet.16 Die sofort nach demZusammenbruch der VRP aufgenommene historische Forschungzum Gestern »war von Anfang an weder inhaltlich noch durch um-fassendes Quellenstudium tiefgründig«. Zahlreiche Schreiber be-herrschten noch nicht einmal das Handwerkszeug des Geschichts-wissenschaftlers. Zenobiusz Kozik ist u.a. der Verfasser einerkenntnisreichen Studie über die Penetration der VR Polen durchdie »Gruppe Warschau« des MfS der DDR in den Jahren 1976 bis1989. Dem Thema der Beziehungen zwischen der DDR und derVRP ist eine Studie von Mieczyslaw Tomala gewidmet, in der vorallem Streitpunkte in diesen Beziehungen aufgehellt werden.17

Die Anfänge der Volksrepublik behandeln unter verschiedenenGesichtspunkten Ryszard Nazarewicz, Henryk Slabek und Wla-dyslaw Honkisz, um nur einige mit größeren Darstellungen vertre-tene Autoren zu nennen. Überzeugend beantwortet Nazarewicz dieFrage, ob es in Polen zwischen 1944 und 1948/49 einen Bürger-krieg gegeben habe, bejahend.18 Mit diesem Aufsatz korrespondiertindirekt die Untersuchung von Wladyslaw Honkisz zur Stärke derAK, der polnischen Landesarmee, in der an Hand verfügbarerQuellen nachgewiesen wird, daß bisher aus politischen Motivenund nicht quellengesichert mit einer überhöhten Anhängerschaftder AK operiert worden ist.19 Henryk Slabek stellt als Fazit seinerUntersuchung über die Haltung polnischer Intellektueller zur VRPim ersten Jahrzehnt derer Existenz fest, daß es unter den führendenIntellektuellen anfangs keine Systemgegnerschaft gab. Ihr Idealwar: Meinungsfreiheit und »sozialistische Wirtschaft«.20

Biographische Skizzen über den »ewigen Premier« Jozef Cyran-kiewicz, mit zahlreichen bisher unbekannten Tatsachen über seinepolitische Entwicklung und Haltung, über die Wandlungen Wla-dyslaw Gomulkas vom »Erneuerer« zum engstirnigen »Dogmati-ker«, schärfen den Blick auf die Volksrepublik Polen.21 Punktuelldubios und verschwommen wirkt dagegen das Bild, das dersowjetische/russische Diplomat Alexander Oskin von Lech Walesaund dem KGB zeichnet.22

Mit den neuesten tschechischen Forschungen zu Julius Fucik, dieergaben, daß er seine Genossen verraten hat und sich selbst dieRolle eines Helden zuschrieb, werden die Leser ebenso vertrautgemacht wie mit der politischen Biographie Izchak Rabins.23

»...Eine staatliche Institu-tion, die ihrem Wesen nacheigentlich außerhalb politi-scher Divergenzen stehensollte, die vom Gesetz als»Verwaltung für Staats-schutz« bezeichnet wird,verwandelte sich faktischin eine ... Polnische Politi-sche Polizei ... Die Einmi-schung der UOP in dieWahlkampagnen ist ständiggeübte Praxis«.»dzis« Heft 8, 1996, S. 8f.

»Dies war ein – wenngleichbegrenzter – Bürgerkrieg.Auf beiden Seiten kämpf-ten annähernd 400.000Leute ... Die Verluste derZivilbevölkerung , sowohlder Anhänger als auch derGegner der VRP, belaufensich schätzungsweise auf10.000 Menschen. Insge-samt lagen die Verlustebei 30.000«.

»Wer war Jozef Cyrankie-wicz, ein Politiker, der ausder sozialdemokratischenStrömung der polnischenArbeiterbewegung kam;was hat er wertvolles,eigenständiges, in den nichtuneingeschränkt souverä-nen Staat eingebracht ...War er Opportunist undKonformist...oder ein Real-politiker, der die Situationseines Volkes und Staates... verstand...«Eleonora und BronislawSzydkow beantworten dieseund zahlreiche weitere Fra-gen in: „dzis« Heft 6, 1995.

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Neben Forschungsergebnissen und Informationen zu aktuellenFragen, einem gut fundierten Leserbrief- und einem schmalerenRezensionsteil veröffentlicht die Zeitschrift zeitgeschichtlicheQuellen (z.B. zum Ausnahmezustand Anfang der achtziger Jahreoder zur Auflösung der PVAP). Nützlich ist, daß sie aus internatio-nalen Zeitschriften und Zeitungen (z.B. »Iswestija«, »Woprosyistorii«, »Far Eastern Economic Review, »Die Zeit«) Beiträgeübernimmt, die die Meinungsbildung ihrer Leser bereichern.

»Utopie kreativ« ist in Warschau leider so unbekannt, wie inBerlin »dzis« unbekannt ist. Nur ein Aufsatz befaßt sich mit demdemokratischen Sozialismus in Deutschland: Wolfgang HübnersInformation über die PDS, »eine Ostpartei im Westen«.

1 UTOPIE kreativ, Heft 1, 1995, S. 61ff.2 »dzis« Heft 1, 1996, S. 3f und Heft 3, 1996, S. 5ff.3 »dzis« Heft 7, 1995, S. 13ff.4 »dzis« Heft 1, 1996, S. 5ff.5 »dzis« Heft 7, 1995, S. 5ff.6 »dzis« Heft 2, 1995, S. 5ff.7 »dzis« Heft 3, 1995, S. 85ff.8 »dzis« Heft 1, 1995, S. 63ff, 72ff und 80ff.9 »dzis« Heft 3, 1996, S. 1108ff und 115ff;

Siehe auch die Presseübersicht zu den Präsidentschaftswahlen,in :»dzis« Heft 1, 1996.

10 »dzis« Heft 4, 1996, S.47.11 »dzis« u.a. Heft 2 und Heft 3, 1996 sowie Heft 6, S. 5ff.12 »dzis« Heft 8, 1996, S. 6ff.13 »dzis« Heft 4, 1995, S. 22ff und Heft 2, 1995, S. 90ff.14 »dzis« Heft 8, 1995, S. 64ff.15 »dzis« Heft 8, 1995, Interview mit Jerzy Bisiak.16 »dzis« Heft 2, 1996, S. 89ff.17 »dzis« Heft 10, 1995, S. 137f.18 »dzis« Heft 6, 1995, S. 69ff.19 »dzis« Heft 7, 1996, S. 22ff.20 »dzis« Heft 3, 1995, S. 73ff.21 »dzis« Heft 6, 1995, S. 75ff und Heft 12, 1995, S. 10ff.22 »dzis« Heft 4, 1996. 23 »dzis« Heft 2, 1996, S. 119ff und Heft 1, 1996.

»Heute zweifelt in Tschechi-en niemand mehr daran,daß der Verfasser der»Reportage unterm Stranggeschrieben« nicht dieWahrheit geschrieben hat ...Fucik schrieb einen Text,der seinen tiefen morali-schen Fall kompensieren,seine Schwäche und seinenVerrat verdecken sollte...«„dzis« Heft 2, 1996.

Die Zeitschrift wird nachAngaben des Chefredak-teurs M.F. Rakowski derzeitvon 4.850 Abonnentenbezogen. Sie erhält – entge-gen lügenhaften und alspolitische Provokation ge-dachten Verlautbarungen –von keiner staatlichen oderanderen Stelle eine finanzi-elle Zuwendung.»dzis«, Heft 6, 1996, S. 3f.

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Kaum haben wir den Kalten Krieg überlebt, da stecken wir ineinem »Heißen Frieden«, wie die Bundestagsvizepräsidentin AntjeVollmer konstatiert. Nicht nur sie hat Probleme, sich in der neuenZeit mit ihren veränderten Frontstellungen zurechtzufinden. Diestabilisierende, wenn auch lebensgefährliche Blockkonfrontationwird durch eine Vielzahl neuer Konflikte abgelöst. Im vereintenDeutschland wollen Teile der wirtschaftlichen, politischen undmilitärischen Elite die einmalige Chance des Jahres 1989/90 aus-nutzen. Endlich kann aus ihrer Sicht Deutschland seiner weltpo-litischen Verantwortung, vielleicht besser seiner traditionellen»Weltgeltung«, gerecht werden. Originalton Kinkel: »In einemradikal veränderten Europa, in einer sich rasch ändernden Welt,muß Deutschland – das verlangen unsere Interessen! – zukünftigauch in der Sicherheitspolitik zu einer Exportnation werden.«1

Sozialdemokraten, aber mehr und mehr auch Bündnisgrüne, ander Spitze Joschka Fischer, finden in Zeiten der Unübersichtlich-keit den Weg zu einer »realistischen« Sicht auf die außenpolitischeLage und nähern sich den Regierungsparteien an, weil auch sie sichnicht vor der »friedenspolitischen Verantwortung« fortstehlen wol-len. Das heißt, den alten Clausewitz wieder in sein Recht einzuset-zen und mit Gewalt Politik zu betreiben.

Die Theologin und bündnisgrüne Politikerin Vollmer beklagt:»Kaum ist die große Blockkonfrontation entschärft, kommen dieuralten, weit zurückliegenden Konflikte wieder zum Vorschein wieEndmoränen«.2 An anderer Stelle schreibt sie, daß die Menschheitin einen »heißen Frieden« eingetreten sei, nach der »Epoche derPax Atomica«.3 Ist es aber nur die Wiederkehr uralter Konflikte,weil einst Völker gegeneinanderstanden? Oder gibt es konkretesozialökonomische Interessenlagen, die nur im verklärenden Ge-wand ethnischer oder religiöser Konflikte von zum Teil für diewahren Ursachen blinden Massen ausgetragen werden? SolchenFragen verwehrt sich Vollmer, denn für sie läuft »die Diskussionüber die Gewalt falsch ..., wenn sie vor allem nach den Wurzeln,den Schuldigen oder nach den angeblich fehlenden Normen undWerten fragt«.4 Unter diesen Vorzeichen wird Gewalt und Kriegeher eine recht mystische, religiös verbrämte Angelegenheit, derder Mensch recht hilflos gegenübersteht. Die Ursachen konservativin der »Menschennatur« oder links in »den gesellschaftlichen Ver-hältnissen« festzumachen, das bleibt für sie Glaubenssache.5 DerRezensent ist da weniger ungläubig, denn er meint, zumindest um

Stefan Bollinger – Jg. 1954,Dr. sc. phil., Politikwissen-schaftler, Berlin; z.Z. tätigals Dozent in der Erwachse-nenbildung. Wissenschaftli-che Arbeitsschwerpunkte:Krisen- und Konflikttheorie,Transformationsprozesse,Utopieforschung, Parteienund neue soziale Bewegungen.

1 Auswärtiges Amt (Hrsg.):Außenpolitik der Bundes-republik Deutschland.Dokumente von 1949-1994.Herausgegeben aus Anlaßdes 125. Jubiläums desAuswärtigen Amts, Köln1995, S. 1008.

2 Antje Vollmer: HeißerFrieden. Über Gewalt,Macht und das Geheimnisder Zivilisation, Köln 1995,S. 66.

3 Ebenda, S. 141.

4 Ebenda, S. 9.

5 Ebenda, S. 76.

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STEFAN BOLLINGER

Heißer Frieden.Eine Literaturanalyse

einige sozialökonomische Ursachen zu wissen. Sie wirken sicheroft erst in letzter Instanz und mit manchen Umwegen, aktuelleKonflikte sind schon oft lange von den ursprünglichen Interessen-konflikten abgehoben und verklärt. Aber Gewalt und Gegengewaltfallen nicht vom Himmel. Genau genommen ahnt wohl auch Voll-mer, worum es heute wieder einmal in Deutschland selbst und mitseiner aktiven Mitwirkung auch jenseits der Grenzen geht, der»Konkurrenz um Eigentümer und Güter«, die nur bedingt durchdas demokratische Grundprinzip der französischen Revolutionbegrenzt wird, das Ringen um Gleichheit. Vollmer macht jedochbeide gleichermaßen für die Krisen der Moderne verantwortlich.6

Beim Umschauen im konservativen Lager (mit Vordenkern wieSchöllgen, Schwarze, Stürmer) oder beim Analysieren der Taten(nicht die chemisch gereinigten und weichgespülten Worte) derzei-tiger bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist einesoffenkundig: Die Mächtigen haben keine Probleme, eine neuedeutsche Interessenlage zu definieren. Da ist es schon bemerkens-wert, wenn Heinz Brill, Wissenschaftlicher Direktor im ZentralenForschungs- und Studienbereich des Amtes für Studien und Übun-gen der Bundeswehr und verantwortlich für die Ausbildung höhe-rer Bundeswehroffiziere, Haushofers profaschistische Geopolitikfür die neue Bundesrepublik reklamiert. Nun wird nicht wie einstoffen das »Volk ohne Raum« gegen den Rest der Welt gestellt, aberdie Parallelen sind wohl vorhanden. Methodisch wie inhaltlich istvon einer solchen recycelten Theorie, die den »Staat als Orga-nismus«7 begreift, auch nichts anderes zu erwarten. Deutschlandwandelt sich für Brill von seiner »Frontstaaten-Funktion« zu einerneuen »Mitte«, einer neuen »Zentrallage in Europa«, in derzwangsläufig Konflikte mit anderen nationalen Interessen vorpro-grammiert sind. Denn für Deutschland und die Bestimmung seinernationalen Interessen »scheint die Zukunft wieder offen«.8 Dastimmt er mit seinem Außenminister überein: »Mit der Rückge-winnung der staatlichen Einheit haben wir den Hauptgewinn ausdem Ende des Ost-West-Konflikts gezogen. Wir sind aufgrund un-serer Mittellage, unserer Größe und unserer traditionellen Bezie-hungen zu Mittel- und Osteuropa auch dazu prädestiniert, denHauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu zie-hen. ... Die Kehrseite: Wie kein anderes westliches Land sind wirden gewaltigen Problemen ausgesetzt, mit denen die jungen Re-formstaaten ... zu ringen haben. ... Die Chancen überwiegen jedochdie Risiken.«9

Brill akzentuiert etwas anders, zielt aber auf das Gleiche. Er willkeine Unsicherheiten aufkommen lassen, denn Deutschland stehtwieder vor einer »Einkreisungs- und Isolationsfurcht«, ist eine»Weltwirtschaftsmacht, Industrieland mit hoher Abhängigkeit vonden Weltmärkten«.10 Darauf muß sich die deutsche Sicherheitspoli-tik aktiv einstellen. Für die Gegenwart favorisiert Brill eine Mi-schung aus der Option »Europäische Union« mit aktiver deutscherRolle und unverzichtbarer USA-Rückendeckung mit der Option»Partners in leadership«. Die Bundesrepublik wird hier als gleich-berechtigt neben den USA und führend in Europa (mit gewissenRücksichten auf Frankreich) angesehen.

6 Ebenda, S. 80.

7 Heinz Brill: Geopolitikheute. DeutschlandsChance? Berlin-Frankfurt/M.1994, S. 22.

8 Ebenda, S. 158.

9 Auswärtiges Amt (Hrsg.):Außenpolitik der Bundesre-publik Deutschland, S. 905.

10 Heinz Brill:Geopolitik heute, S. 160.

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Während Brill Optionen einer »Verschweizerung« Deutschlandsoder einer »Zivil- und Handelsmacht« Deutschland als möglichekünftige Entwicklungswege verwirft, liebäugelt er – unselige Tra-ditionen schimmern durch – mit der Option »Eurasien«. Allein dieungenügende psychologische, politische und ökonomische Vorbe-reitung Deutschlands hemmt diese weit über den Rahmen der EGhinausgehende Option. Mit ihr könnte Deutschland mit Brills Wor-ten »als Drehscheibe und Brückenbauer nach Osten« agieren.11

Brill läßt die Zukunft offen, aber an ihr wird schon heute gearbei-tet, denn auch die Bundesregierung betont: »Unsere Interessen sindglobal geworden«!12

Da wundert es nicht, wenn Wolfgang Michal in seiner Analyseder heutigen Politik und bei ihrem Messen an der deutschenGeschichte Verhängnisvolles sieht. Er erinnert an die letzteReichsgründung 1871 und die ihr nachfolgende Politik, die von»nationaler Nabelschau« bald zur Neudefinition der außenpoliti-schen Interessen für ein größeres Reich führte. »Denn der saturier-te Nationalstaat hat in Deutschland keine Tradition, das Verlangennach mehr ist die eigentliche deutsche Passion.«13 Bernhardiskriegstreiberische Schriften am Vorabend und Naumanns »Mittel-europa«-Konzept während des 1. Weltkrieges sind für Michal we-sentliche Grundsteine der Renaissance heutiger eigenständigerdeutscher Machtpolitik. Schäuble und Lamers mit ihren Ideen voneiner »Kerneuropa«-Vorreiterrolle der Bundesrepublik in der EGsind nur die Fortsetzung dieser Positionen im neuen Gewand.»Nach 1871 war ... das erste Etappenziel deutscher Machtpolitik:die starke Kontinentalstellung als Basis für den späteren Welt-machtanspruch. Kein Nationalstaat wollte Deutschland sein, son-dern ... ein Imperium ... Auch Kerneuropa folgt diesem Konzept.«14

Auch wenn Michal aus heutiger Sicht vielleicht (noch!) ein wenigzu überzeichnen scheint, die geheimen Vorgänger und die Konse-quenzen neuer deutscher Begehrlichkeit sind unübersehbar. Sicherist die Konstellation nur äußerlich mit der von 1914 vergleichbar,auch wenn nach dem einheitsbedingten deutsch-russischen Tête-à-Tête wieder neue Frostigkeit in die Beziehungen zur östlichenGroßmacht eingekehrt ist und das Feindbild im Osten wieder stim-mig ist. Auch wenn heute wieder der Balkan Konfliktherd ist undsich Deutschland dort engagiert, möglicherweise wieder mit Blickauf die Erbmasse des Osmanischen Reiches ...

Natürlich gibt es heute drei ähnlich starke Zentren der kapi-talistischen Welt mit entsprechender Wirtschaftskraft; natürlichagieren heute Konzerne und Banken oft losgelöst von den natio-nalstaatlichen Interessen ihrer Regierungen (der Völker sowieso)weltweit; natürlich geht es heute weniger um Kolonien als um of-fene Absatzmärkte, billige Produktionsstandorte und verfügbareRessourcen. Noch einmal Kinkel: »Als 80-Millionen-Volk, alswirtschaftsstärkstes Land in der Mitte Europas tragen wir, ob unsdas paßt oder nicht, eine besondere, teilweise neue Verantwortung.Hierauf müssen wir unser außenpolitisches Handeln in ganzerBreite einstellen ... Solange wir im Innern nicht über den Berg sind,werden wir nach außen nicht mit voller Kraft handeln können ...Die Weichen so zu stellen, daß unser Land aus der jetzigen

11 Ebenda, S. 170.

12 Auswärtiges Amt(Hrsg.): Außenpolitik derBundes republik Deutsch-land, S. 1057.

13 Wolfgang Michal:Deutschland und der näch-ste Krieg, Berlin 1995,S. 10.

14 Ebenda, S. 44.

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schwierigen Übergangsphase wirtschaftlich und kulturell mitneuer Kraft heraustritt – das steht im Zentrum einer Politik derZukunftssicherung«.15

Die Gegenwehr derjenigen, die einer solche Entwicklung nichttrauen und hinter der Fassade möglicherweise Gefahren wittern,fällt schwach aus. Vollmers Ringen um eine 3. Zivilisation, die dieGewalt endlich bändigt (nach der ersten mythisch-religiösenBändigung nach Roms Untergang bis zu ihrem Scheitern in denReligionskriegen des 16./17. Jahrhunderts und der zweiten, heutegescheiterten Bändigung durch den modernen Staat), bleibt vage.Sie will mehr Moral und Verantwortung. Sie weiß, daß Staaten»intakte bürgerliche Kultur und eine zivilisationsfähige Schicht«haben müssen, »die sich für das Gemeinwesen zuständig fühlt«. 16

Sie will eine kulturell-zivilisatorische Aufgabe gelöst wissen, kannaber eigentlich nicht sagen, wie.

Da ist für sie der Rückgriff auf eine nicht-aggressive, nicht-militärische Variante der Systemauseinandersetzung und also vonAußen- und Sicherheitspolitik schon bedeutsam. Die Ostpolitikseit Ende der sechziger Jahre – die sie keineswegs als pazifistischansieht – war eine zivilisierter Versuch, einen Ausweg aus der Si-tuation des Overkills zu finden. Beide Seiten mußten notwendiger-weise »nicht nur rüsten, sondern auch reden«.17

Da ist die von Hans-Adolf Jacobsen, Gregor Schöllgen undHans-Peter Schwarz vorgelegte Dokumentenedition des Auswärti-gen Amtes zu seinem auf die »Blut-und-Eisen«-Reichsgrün-dung zurückgehenden 125. Jubiläum bemerkenswert. Bei allerscheinbaren Ausgewogenheit der dokumentarischen Darstellungbundesdeutscher Außenpolitik mit ihren Höhen und Tiefen, ihrerWestintegration und Wiederbewaffnung, ihrer neuen Ostpolitikund dem Ringen um die NATO-Nachrüstung, mit ihrer aktiven Su-che nach Wegen zur deutschen Einheit besonders ab 1989 fallenbestimmte Akzentsetzungen auf. Bei der Ostpolitik (natürlich wür-den die Herausgeber auf die ministerielle Zuständigkeit des inner-deutschen Ministeriums oder des Bundeskanzleramtes verweisen)werden die deutsch-deutschen Beziehungen fast völlig ausgeklam-mert. Dafür sind aber 154 der 358 ausgewählten Dokumente demZeitraum 1989-94 gewidmet, in dem es um die Bestimmung desneuen Gewichts Deutschlands in der Welt geht.

Aber zurück zu den Alternativen zu dieser Politik. Mehr Phanta-sie als die Theologin hat ein Praktiker. Der einstige Chef Brills imAmt für Übungen und Studien der Bundeswehr, FlottillenadmiralElmar Schmähling, wegen zu starker Kritik an der BRD-Sicher-heitspolitik seit 1990 Frühpensionär, kennt sein Handwerk. Er weißzudem, wo Alternativen auf dem Weg zur vollständigen Abrüstungansetzen könnten. Schmählings zentrale These ist die Erkenntnisder sicherheitspolitischen Diskussion und der Friedensbewegungder achtziger Jahre, die auch nach dem Ende des Systemkonfliktsvollauf ihre Gültigkeit hat. Der alte Clausewitz hat heute keinenSinn mehr. »Unter den Bedingungen moderner, komplexer und da-durch besonders verwundbarer Gesellschaftsstrukturen und ange-sichts der Wirkung moderner Waffen ist weder die politisch undmoralisch gebotene Verhältnismäßigkeit zwischen Zielsetzung und

15 Auswärtiges Amt (Hrsg.):Außenpolitik der Bundesre-publik Deutschland, S. 905.

16 Antje Vollmer: HeißerFrieden, S. 169.

17 Ebenda, S. 1327.

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Kriegsschäden, noch der völkerrechtlich garantierte Schutz vonzivilen Opfern gewährleistet. Mit jedem Krieg wird die Saat fürneue Gewaltanwendung gelegt.«18

In der heutigen Welt hat für Schmähling die Bundeswehr wederFeind noch Auftrag noch Legitimation. Aber er sieht den nachhal-tigen Versuch, die deutsche Außenpolitik zu militarisieren und soan die Traditionen der Wehrmacht anzuknüpfen, deren alter Geistauch hinter der »Inneren Führung« in dieser neuen Situation her-vorkommt. Schmähling weist nach, wie die veränderte politischeund militärische Aufgabenstellung für die Bundeswehr zu einerneuen kostspieligen Aufrüstung, zu einer Aufwertung des Militärs,zu politischer Einmischung der Generalität und zum schleichendenÜbergang zu einer demokratisch nicht mehr kontrollierten Berufs-armee führt.

Nun sei dahingestellt, wie demokratisch und verteidigungsorien-tiert die Bundeswehr zu Zeiten der Systemkonfrontation war, aberseiner Einschätzung über die Bereitschaft, die neue Weltlage mi-litärisch im Interesse des Westens, des reichen Nordens gegendie Schwächeren zu »ordnen«, ist zuzustimmen. Ebenso seiner im-mer wieder gegen die für ihn verfassungswidrige Bundeswehr-Einsatzforderung in vorgeblich friedenschaffende Maßnahmenvorgebrachten Argumentation vom Beschränken auf reine Selbst-verteidigung. Genau dagegen hat die derzeitige Bundesregierungseit Jahren erfolgreich gearbeitet und mit dem BVG-Urteil vom12. Juli 1994 die Handhabe, denn »die Karlsruher Verfassungsrich-ter (gaben) der deutschen Außenpolitik ein letztes wichtiges StückHandlungsfreiheit und Normalität zurück«.19 Allerdings hatteschon zuvor – noch mit »nur« finanzieller, noch nicht militärischerBeteiligung der Bundesrepublik – der Golfkrieg als erster Kriegder postsozialistischen Weltordnung stattgefunden. Er hatte bereitsexemplarisch alle Merkmale und Schwachpunkte der neuen Ord-nung: Er war ebenso »siegreich« wie erfolglos, er war ein Kriegdes Nordens gegen den Süden um die heiligsten Güter des Westens,seine wirtschaftlichen und politischen Einflußzonen, Märkte undEnergieressourcen. Und es war ein Krieg, der keinen einzigenWiderspruch zu lösen, keinen einzigen Konflikt zu entschärfenvermochte.

Für Schmähling muß die neue deutsche Rolle in der Welt deshalbnicht mit militärischen Attributen ausgestattet sein, die in seinemVerständnis sowieso zwecklos, weil Konflikte nicht lösend, sind.Schonungslos entlarvt er – vor dem Hintergrund des erstmaligendeutschen Kampfeinsatzes in Bosnien noch brennender – diescheinheiligen Argumentationen für den Militäreinsatz. Denn»wieder einmal (soll) im Namen eines hehren, abstrakten Zieles,nämlich ›Frieden‹, wie früher im Namen der Gerechtigkeit oder imNamen eines Gottes, militärische Gewalt erlaubt werden.20

Militärisch begründet und in Übereinstimmung mit der tatsächli-chen Sicherheitslage und nicht mit einem weltmachtambitioniertenStreben nach »Stabilitätstransfer nach Osten« und der Sicherungder deutschen Interessen weltweit entwickelt Schmähling seine Al-ternativen: die weitere Reduzierung der Bundeswehr; das Festhal-ten am alleinigen Auftrag der Selbstverteidigung des Landes; die

18 Elmar Schmähling:Kein Feind, kein Ehr. Wozubrauchen wir noch die Bun-deswehr? Köln 1994, S. 32.

19 Auswärtiges Amt(Hrsg.): Außenpolitik derBundesrepublik Deutsch-land, S. 1081.

20 Elmar Schmähling:Kein Feind, kein Ehr, S. 52.

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Ablehnung einer zentralen und integrierten Führung und Strukturder Streitkräfte in der EU; der Abbau aller klassischen offensivenGroßwaffensysteme (Panzer, mechanisierte Führungs- und Unter-stützungskomponenten, Angriffsflugzeuge, U-Boote); Aufgabe vonallgemeiner Wehrpflicht und Berufssoldatentum zugunsten einesFreiwilligentruppe mit 4 - 12jähriger Dienstzeit.21 Kollektive Si-cherheitssysteme und ein kollektives solidarisches Reagieren aufVölker- und Menschenrechtsverletzungen sollen den Weg in einefriedlichere Zukunft ebnen. Nur humanitäre Aufgaben und nichtdie Durchsetzung politischer Ziele sollen diesen Maßnahmenzugrundeliegen. Und noch eines ist Schmähling wichtig: »AlleStaaten, die Interessen in einem betroffenen Staat haben, in demHilfe geleistet werden muß, (dürfen) an solchen Aktionen nichtteilnehmen«.22

Schmähling will mit seinen Forderungen und konkreten Vor-schlägen dazu beitragen, den »verinnerlichten Militarismus« zubeseitigen. Vor allem aber: »Die Ursachen für Konflikte zwischenMenschen sind viel zu komplex und viel zu kompliziert, als daß sieGeneralen überlassen und mit brutaler militärischer Gewalt›gelöst‹ werden könnten ... Das Militär hat ausgedient. Die Weltbraucht dringend neue ›zivile‹ Konzepte zur Verhinderung undfriedlichen Beendigung gewaltförmiger Konflikte.«23 Die Völkersollten wohl endlich ihre Geschicke in die eigene Hand nehmen.

Antje Vollmer: Heißer Frieden. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation, VerlagKiepenheuer & Witsch. Köln 1995, 208 S. (34,00 DM)

Heinz Brill: Geopolitik heute. Deutschlands Chance? Verlag Ullstein Berlin-Frankfurt/M. 1994,(39,80 DM)

Auswärtiges Amt (Hrsg.): Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von1949-1994. Herausgegeben aus Anlaß des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amts, VerlagWissenschaft und Politik Claus-Peter von Nottbeck Köln 1995, 1160 S. und 5 Beilagen(49,80 DM)

Wolfgang Michal: Deutschland und der nächste Krieg, Rowohlt Verlag Berlin 1995, 144 S.(29,80 DM)

Elmar Schmähling: Kein Feind, kein Ehr. Wozu brauchen wir noch die Bundeswehr? VerlagKiepenheuer & Witsch Köln 1994, 196 S. (29,80 DM)

21 Ebenda, S. 110.

22 Ebenda, S. 175.

23 Ebenda, S. 178.

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Diese in Umfang und Aufmachung eher etwas weniger gewichtiganmutende Ausgabe löst sicherlich beim Lesen mannigfaltigeEmpfindungen aus. Auf jeden Fall ist sie – was Umstände undInhalt betrifft – von einiger Brisanz. Auch, weil der Begriff Thäl-mann wieder zu einem Reizwort geworden ist. Denn vielerleierhitzt die Gemüter: pseudowissenschaftliche »Anti-Legenden-Bücher«, fraktionelles Namensänderungsgeschrei oder nostalgi-sche Mythosbewahrung. Für den Rezensenten ist es die Neugierdeauf einen authentischen Thälmann und auf das, was dieser nachder Hälfte seiner Gefängniszeit fühlte und dachte, zumal seinetragische, mißbrauchte Häftlingsrolle betroffen macht.

Warum ist diese Edition von besonderem Interesse, warumkommt sie zur rechten Zeit? An sich sind ähnliche Briefe undNotizen durch frühere Publikationen ja nicht unbekannt. Aber umden tatsächlichen historischen Platz des ehemaligen KPD-Führersangemessen neu zu fixieren, ist diese Dokumentensammlung fürseriöse Forschung und Publizistik doch aufschlußreich. Für denLeser stellt sie aus erster Hand einen Fundus für eine eigeneMeinungsbildung dar.

Denn es werden erstmals zusammenhängend im Komplex24 Schriftstücke herausgegeben, nachdem in dieser Zeitschriftbereits ein Vorabdruck von fünf von ihnen erfolgt ist (Heft 67 und68). Für ihre Authentizität spricht, daß sie nahezu unbearbeitet undunkommentiert geblieben sind – im Unterschied zu streng ausge-wählten, meist fragmentarisch gestutzten und teils frisierten Mate-rialien in zurückliegenden Veröffentlichungen aus DDR-Zeiten.

Der Leser muß sich hineinversetzen in längere, faktenreiche Argu-mentationen. Diese wirken akribisch, manchmal nahezu pedantisch,belehrend. Es sind ausgewogene wie ungeschliffene Formulierungenbis hin zu unleserlichen Worten, wobei sogar zuweilen der Satzbauunvollständig bleibt, in Eile Ergänzungen zur Verbesserung eingefügtwurden. Dies hängt nicht schlechthin mit der bekannten Thälmann-schen Diktion zusammen, sondern zeugt auch von einer extremenBefindlichkeit des Verfassers. Man spürt einen aktivierten Menschenmit seinem ganzen Für und Wider, der unter einem wachsenden Drucksteht. Hin- und hergerissen greift er zum Schreibzeug, sogar nachts beischlechter Beleuchtung, wie er selber anmerkt. Es spiegelt sich eingründliches Studium zahlreicher Zeitschriften und Tageszeitungenwider nebst mündlichen Informationen, wobei die insgesamt einge-schränkten Möglichkeiten zu beachten sind.

Ronald Saßning – Jg. 1934,Dr. sc. phil., Berlin; Studiumder Geschichte, Pädagogikund Gesellschaftswissen-schaften in Jena und Berlin;Lehrtätigkeit zur Geschichteder Weimarer Republik undder NS-Zeit; Publikationenu.a. von Biographien antifa-schistischer Widerstands-kämpfer, ab 1990 wissen-schaftlicher Mitarbeiter beider Rehabilitierung von Op-fern des Stalinismus in den30er und 40er Jahren,Veröffentlichungen dazu.

Ernst Thälmann: An Stalin.Briefe aus dem Zuchthaus1939 bis 1941. Hrsg. vonWolfram Adolphi und JörnSchütrumpf, Dietz VerlagBerlin 1996, 160 S.,24,80 DM.

SASSNING Thälmann155

RONALD SASSNING

Vom Nazikerker in Stalins Archivverlies.Was Thälmann den »Freunden« mitzuteilen versuchte

Bedeutsam sind der Zeitraum und der ins Auge gefaßte Empfän-gerkreis der im Archiv des Politbüros des ZK der KPdSU gesam-melten Aufzeichnungen. Zeitlich fallen sie in die brisante Vor-kriegszeit und die Anfangsperiode des Zweiten Weltkrieges. Siesind datiert von wahrscheinlich Ende Februar 1939 bis zum16. April 1941. Das ist ein Zeitabschnitt, der von seiner weltpoliti-schen Bedeutung nicht selten zu gering geschätzt wird – fallendoch hier die Vorentscheidungen für die Dimension und letztlichsogar für den Ausgang des größten Weltbrandes. Nur so ist zu ver-stehen, was auch Thälmann außerordentlich bewegte, welchenZweck er mit seinen Aufzeichnungen verfolgte. Und: Wie sie über-haupt nach Moskau gelangten und welche bezeichnende Reaktiones darauf gab.

Die Materialien konnten von Frau und Tochter aus der Hanno-veraner Zelle herausgeschmuggelt werden, in diesem Fall begün-stigt durch eine Lockerung der Besucherkontrolle seit demSommer 1938. Die Erleichterungen hängen wohl mehr mit demangegriffenen Gesundheitszustand Thälmanns zusammen, sindsicherlich auch propagandistischen Zweckabsichten der Nazisgeschuldet, was damals ja sogar zur zeitweiligen Freilassungbekannter Kommunisten führte. Denn daß die Gestapo einenKontakt Thälmanns »nach draußen« bis nach Moskau wünschte(Vorwort, S. 9), bleibt spekulativ unbewiesen.

Bezeichnend ist dagegen die Odyssee der Briefe, worauf in demansonsten knappen Vorwort kurz eingegangen wird. Stalinverbannte sie – trotz Echtheitsprüfung durch Dimitroff – in denarchivalischen Verschluß des Politbüros. Eine verbitterte RosaThälmann hatte – wegen der abgerissenen Verbindung in Paris undin Sorge um das Schicksal ihres Mannes – seit dem 8. November1939 elfmal direkt die sowjetische Botschaft in Berlin aufgesuchtund auf die Weitergabe der Materialien gedrängt.

Denn Thälmann hatte zu dieser »ungewöhnlichen Methode«gegriffen, »um seinem Herzen Luft zu machen« (S. 12). Zwar sindnicht alle Schriftstücke direkt an Stalin gerichtet, einige überMittelspersonen. Sie sind sicherlich auch zur Weiterinformation andie Komintern und KPD bestimmt. Es sind nicht Briefe im eigent-lichen Sinne des Wortes, so daß der Buchtitel insgesamt nicht ganzexakt erscheint.

Dem Wesen nach handelt es sich um politische Statements, in derMehrzahl um Grundsatzmemoranden. Persönliches tritt zurück.Man spürt den führenden kommunistischen Funktionär, als densich Thälmann zu diesem Zeitpunkt erst recht versteht, aber auchden vereinsamten, widersprüchlichen Zelleninsassen nach zermür-bender sechsjähriger Haft, oft genug enttäuscht. Dennoch kann undwill er sich nicht der Dynamik der sich überstürzenden geschicht-lichen Ereignisse entziehen. Er ringt um politische Selbstverständi-gung. Thälmann möchte mit seinen begrenzten Möglichkeiten undauf seine Weise in das politische Geschehen eingreifen, Rat gebendund Bestätigung suchend. Deshalb will er den abgebrochenenDialog bis zur höchsten Autorität in Moskau fortsetzen, so wie zurZeit des VII. Weltkongresses der Komintern 1935, als man nochseine Meinung einholte.

»Die CDU-Fraktion will denErnst-Thälmann-Park inKulturpark umbenennen.Doch der Antrag, den sieauf der BVV am kommen-den Mittwoch einreichenwill, hat nur wenig Aussichtauf Erfolg: Alle anderen Par-teien wollen den jetzigenNamen behalten.›Der Name Ernst Thälmannist zu eingeengt angesichtsder kulturellen Einrichtungenin diesem Gebiet: zum Bei-spiel der Wabe, dem Plane-tarium, dem Theater untermDach‹, sagt Dieter Stenger,Vorsitzender der CDU-Frak-tion. Der Name ›Kulturpark‹werde dem Anliegen bessergerecht und sei mehr imInteresse des Bezirks.Gegen Thälmann selbst ha-be die CDU nichts. ›Es gehtauch nicht darum, das Mo-nument abzutragen, auchwenn es ein reines Freude-nobjekt von Erich Honeckerist‹, so Stenger. Zwar habeer noch keine Rückmeldungder anderen Fraktionen,doch gehe er jede Wetteein, daß es nicht klappenwird, einen Konsens zu fin-den. Damit könnte StengerRecht haben: SPD, PDSund Bündnis PrenzlauerBerg halten von der Umbe-nennung nichts.›Ich persönlich sehe keineNotwendigkeit, Mythen,die sich zeitlich erledigen,mit Hauruck-Aktionen zubeseitigen‹, sagt JohannesLehmann, Fraktionsvorsit-zender der SPD. Über dieUmbenennung solle außer-dem nicht die BVV alleinentscheiden, sondern diegesamte Bezirksbevölke-rung befragt werden. Fürden PDS-Fraktionsvorsit-zenden Max van der Meerist der Antrag ›ziemlichhirnverbrannt‹. Es handelesich um einen einsamenVersuch, der völlig unvermit-telt komme, denn es interes-siere kaum jemanden, wie

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Im Mittelpunkt stehen Thälmanns Reflexionen zur Entwicklungder weltpolitischen Lage. Er äußert sich ausführlich insbesonderezu den verschiedenen eskalierenden Krisen- und Kriegsherden inEuropa, Afrika und im Fernen Osten. Die Neuorientierung derdeutsch-sowjetischen Beziehungen beschäftigt ihn außerordent-lich. Wie ein roter Faden zieht sich das Problem des Nichtangriffs-und Freundschaftsvertrages durch die Aufzeichnungen hindurch.In diesen Zusammenhang ordnen sich auch seine Erwartungen aufbaldige Freilassung wie auf eine offiziell gesicherte finanzielleUnterstützung seiner Familie durch Moskau ein. Eingestreute Wirt-schaftsbetrachtungen zeugen davon, was alles für informations-würdig gehalten wurde.

Sicherlich erfährt man nicht alle Gedanken Thälmanns, undbegreiflicherweise schon gar nicht seine geheimsten. Die mehroffizielle Lesart deutet auf den Zweck einer späteren Veröffentli-chung hin, so seine enthusiastische Glückwunschadresse an denXVIII. Parteitag der KPdSU, datiert vom 1. März 1939. Es hat ausmanchen Zwängen heraus auch etwas mit Selbstdarstellungen zutun bis hin zur Alibifunktion. Aber da in der DDR-Thälmann-biographie diese Haftperiode nicht nur zu knapp und allgemein,sondern problemlos-heroisierend gehalten ist und heutzutage wie-der auf andere Weise verzerrt wird, konkretisiert zumindest ein»offizieller« Thälmann das Wissen über die Sichten eines expo-nierten Kommunisten. Man erfährt weitaus mehr als bisher, da bei-spielsweise das vom 7. November 1940 datierte Memorandum zumsowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrag lediglich in Auszügenin der Biographie wie im Jubiläumsband »Ernst Thälmann« ausdem Jahre 1986 wiedergegeben wurde.

Die 24 Schriftstücke machen vielerlei deutlich. Sie reichen voneiner Vielzahl höchst zutreffender politischer Analysen über dubio-se nachvollzogene Kehrtwendungen bis hin zu devoten Lobhude-leien über seinen »Freund« Stalin und der bekannten rituellenVorbildbegeisterung für die Sowjetunion und ihre führende Partei.Die menschlichen Hoffnungen eines Schutzhäftlings ohne abseh-bares Strafmaß berühren. Seine politischen Visionen, beispielswei-se von der Unbezwingbarkeit des heranwachsenden kommunisti-schen Chinas als eines »neuen Weltereignisses des 20. Jahrhun-derts für den triumphalen Sieg des Kommunismus im FernenOsten« (S. 19), muten fast hellseherisch an. Man sollte beides auchals einen Kraftquell zum Durchhalten verstehen.

Aber das wiederholte Dilemma nicht nur deutscher Kommuni-sten macht auch vor Ernst Thälmann nicht halt.. Es offenbart sichin seinen Wendungen hinsichtlich des Appeasements zwischenBerlin und Moskau seit dem 23. August 1939. Selbst ein Thälmannmuß eingestehen, daß er überrascht und verwirrt ist wie so viele.Einige Feststellungen zu den Motiven und Problemen sowjetischerSicherheitsinteressen sind sicherlich akzeptabel. Zur Rechtferti-gung der Verträge um jeden Preis beruft er sich auf Lenin, daß mansich notfalls sogar mit dem Teufel verbünden müsse, wenn es dereigenen Sache diene. Ängstlich beflissen ist er bemüht, seine eige-ne politische Zuverlässigkeit nachzuweisen, falls der Eindruckaufgrund der ersten Briefe entstanden sei, als ob er etwa nicht mit

der Park heiße. Der Vorsitzende der Bünd-nisfraktion, Andreas Otto,hält den Antrag für ›lächer-lich‹. Für den Namen ›Kul-turpark‹ gebe es seinerMeinung nach keine Basis.›Interessanter wäre es,über das Denkmal zu disku-tieren‹, so Otto. Doch daserübrige sich, da es wederfür seine Umgestaltungnoch für die Beseitigungauf abseh-bare Zeit Geldgäbe.«Berliner Zeitung vom19./20. Oktober 1996.

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der neuen Verständigung einverstanden wäre. Auch zu seiner Frau,über die der Kurier »Edwin« zuvor einmal berichtet hatte, daß sie»schwierig« sei, könne man volles Vertrauen haben.

Thälmann beteuert, daß er schon seit vielen Jahren »im Kerkerdiese jetzt eingetretene Entwicklung und ihre plötzliche Wendungin dem Verhältnis zwischen der Sowjet-Union und Deutschlandernsthaft und überzeugt vertreten, gewünscht und erhofft« hat(S. 24). Noch im Frühjahr 1940 versteigt er sich sogar dazu, Hitlerund Ribbentrop zu aufrichtigen Verfechtern der weiteren »Festi-gung der Freundschaft« zu erklären.

Skrupellos begrüßt Thälmann die Zerschlagung des VersaillerSystems und Nachfolgevertragswerkes »durch die Verständigungzweier Großmächte«, die Entscheidung in der »Polenfrage« bis hinzur gesamten Neuordnung Osteuropas. Er nimmt dafür mancheKehrseite in Kauf, zum Beispiel, daß wegen der allgemeinenwestlichen Verstimmung »vorübergehend auch revolutionäre Teilein der Welt darunter leiden können« (S. 25), wobei er ein Verbotkommunistischer Parteien nicht ausschließt.

Doch aus den Notizen kristallisiert sich auch ein anderer,nachdenklicher Thälmann heraus mit einem Gespür für politat-mosphärische Störungen. Zunehmend seit dem Sommer 1940argumentiert er zweigleisig. Er überlegt hin und her, registriertalle Symptome, was die Festigkeit wie Brüchigkeit der deutsch-sowjetischen Beziehungen betrifft. Ihm entgeht nicht eine gewisse»Abkühlung«. Seine aufkommenden Zweifel leiten sich aus seinergewandelten Deklaration vom »Freund« Hitler ab. Er entdeckt, daßdieser »die glänzende Entwicklung in der Sowjet-Union und ihreaußenpolitischen Erfolge und Vorteile, die sie während des Kriegs-geschehens errang, mit einer gewissen Abgunst und einem politi-schen Neid betrachtet« (S. 104). Es erfüllt Thälmann mit größterSorge, daß Hitlerdeutschland nach dem Waffentriumph über Frank-reich »die stärkste kapitalistische Macht und der Sieger auf demeuropäischen Festlande ist«. Die Tragik der Geschichte bestehedarin, »daß durch die militärische Macht Deutschlands auf demKontinent die Entwicklung zum Faschismus sich zwangsläufigausdehnt« (S. 83).

Offensichtlich machte sich auch der Militärpolitiker ThälmannGedanken über das »Geheimnis« der deutschen »Blitzsiege«. Wiees scheint, waren ihm Gründe für die Überlegenheit der deutschenWehrmacht bewußt geworden. Die Notizen enthalten Neues übereinige bemerkenswerte Schlußfolgerungen. In seinem zehntenBrief vom Juni/Juli 1940 mahnt der »Ehrensoldat der RotenArmee«, die technischen und militärstrategischen Lehren dieses»weltumwälzenden Krieges« zu ziehen und die sowjetischenStreitkräfte unverzüglich und umfassend mit allem »Neuen vomNeuesten« umzurüsten, »denn die geschichtliche Stunde fordertdiese technisch-politische Umwälzung auf allen militärischenGebieten« (S. 88). Am Rande sei erwähnt, daß Stalin erst einknappes halbes Jahr später auf einer Kommandeurstagung dieBedeutung des Motors im künftigen Krieg hervorhob und Maß-nahmen zur Modernisierung der Roten Armee ableitete.

Gewissermaßen für die »innere Front« in Deutschland gedacht,

158SASSNING Thälmann

plädiert Thälmann wieder für die »Taktik des Trojanischen Pfer-des«. Ende 1940 schlägt er vor, die »allein kämpferische Notewieder zur Geltung zu bringen«, und, wenn es sein muß, mittelsFlüsterpropaganda »unter der Flagge des Hakenkreuzes mitzumar-schieren, wenn es dadurch gelingt, die Anhängerschaft für dieRote Fahne zu verstärken«. Er hält eine neue oppositionelle Wen-de hinsichtlich der politischen Tätigkeit für geboten (S. 122 f).Ebenso eine stärkere Auseinandersetzung mit der Naziideologie.Auch wird klar, daß für Thälmann trotz des Ziels der Vertiefungder »bestehenden engen Freundschaft der Sowjet-Union zuDeutschland« der »Gegensatz zwischen der kommunistischen undnationalsozialistischen Weltanschauung in seiner allerschärfstenForm nach wie vor bestehen« bleibt (S. 109).

Schließlich erweist sich Thälmann als ein gut unterrichteter,hellhöriger Zellenbewohner, indem er in einem seiner letzten Brie-fe vom 16. April 1941 über Gerüchte informiert, daß in Ostpreußenüberaus starke deutsche Truppenansammlungen aufmarschiertseien, um »gegebenenfalls in die Sowjet-Union einzumarschieren«und Stalin durch Molotow zu ersetzen (S. 154 f). Er kommentiertdies zwar als sowjetfeindliche Giftmischerei, zeigt sich jedoch imgleichen Schriftzug über den Abschluß des sowjetisch-japanischenNeutralitätsvertrages umso erleichterter.

Die Aufzeichnungen machen weitere Nuancen im DenkenThälmanns deutlich, so seine Wertschätzung für Roosevelt, die diesowjetische Führung ihrerseits ebenfalls zum Ausdruck bringensollte. Aus der Analyse der sich verschärfenden Gegensätze imFernen Osten sieht er voraus, daß der Kriegseintritt der USA ledig-lich eine Frage der Zeit ist. Bereits in seinem ersten Brief vomWinter 1939 hat er die Schaffung einer breiten antifaschistischenStaatenkoalition unter Führung des amerikanischen Präsidentenals Gegengewicht gegen die »Front der Achsenmächte« vorge-schlagen. Überhaupt bewegte es ihn, wie sich das internationaleKräfteverhältnis grundlegend auf Kosten Frankreichs und Großbri-tanniens immer mehr zugunsten der faschistischen Mächte bezie-hungsweise des »Erben« USA verschob. Auch konstatierte er, daßGroßbritannien nicht kapitulieren, sondern notfalls den Widerstandvon Übersee aus fortsetzen würde.

Neue kritische Töne schlägt der Briefautor in der Fragestellungeiner Mitschuld für den Aufstieg der NSDAP an, ebenfalls gerich-tet an die Adresse der sowjetischen »Freunde«. Aber letzten Endesstempelt er Heinz Neumann und die Sozialdemokraten zu deneigentlichen Hauptschuldigen ab. Seinen Unmut über die Blockie-rung seiner Briefe und die »Knickrigkeit« bei der finanziellenUnterstützung seiner Familie aus Moskau bringt er unverhohlenzum Ausdruck.

Thälmanns neue Gefängnisbriefe spiegeln auch die ganze Tragikseines Häftlingsloses wider, was früher so nie an die Öffentlichkeitgelangt und auch heute noch nicht in vollem Umfang dargelegt ist.Er lehnt alle Naziverlockungen ab, durch eine Loyalitätserklärungan Himmler eine eventuelle Freilassung zu erkaufen. Auchdie Hähme, daß er längst von seinen Freunden vergessen sei, machtihn nicht wankend. Zumindest eine Zeit lang ist er fest davon

SASSNING Thälmann159

überzeugt, daß als ein Ergebnis der Moskauer Verhandlungenseine Entlassung längst beschlossene Sache sei. Insofern wollte erin seine »neue Heimat« Sowjetunion emigrieren (S. 53). Dochdie wiederholte Bezugnahme auf das Problem seiner Befreiung,auf seine Verdienste im Kerker, haben einen mehr und mehrbeschwörenden Charakter, als sollten nach der Enttäuschung derdreißiger Jahre abermals stille Zweifel verdrängt und Belohnungangemahnt werden.

Insofern müssen die Bemerkungen im Vorwort präzisiert werden.Denn daß es Stalin angeblich nur ein »Wimperzucken« gekostethätte, um Thälmann freizubekommen, trifft so nicht ganz zu,gerade nicht im Zeitraum des sogenannten »Hitler-Stalin-Paktes«.Für beide Seiten war es nämlich am risikolosesten, mit dem unbe-quemen »heißen Eisen« Thälmann die komplizierten Beziehungenerst gar nicht zu testen, geschweige denn zu belasten, da es zudemWichtigeres gab. Weder Hitler noch Stalin konnten einen zweitenDimitroff-Helden gebrauchen. So wurde Thälmann offiziell undstillschweigend als eine Art »Nobody« gehandhabt, von Moskaulängst abgeschrieben, jeweils nach Bedarf zweckentsprechendinstrumentalisiert. Das erklärt, warum Stalin die Briefe nichtbeachtete: weil er sich nicht gerne an Kronzeugen eigener verfehl-ter wie gewendeter Politik erinnern wollte.

Insgesamt erbringt diese Quellenedition bei allem Wenn undAber dem Rezensenten einen zweifachen Gewinn: Sie vermitteltein gewisses Zeitkolorit von einer der verhängnisvollsten Ge-schichtsperioden aus der Sicht eines exponierten kommunistischenZeitzeugen selbst unter komplizierten Umständen. Letztereswiederum ermöglicht, daß man die Thälmannschen Persönlich-keits- und Politkonturen in einer wichtigen Haftperiode konkreterals bisher erfassen kann, vor allem das umstrittene geistig-politi-sche Vermögen. Es wird im Prinzip deutlich, daß zwar nach wievor in der ganzen Diktion der unverwechselbare Typus des kanti-gen bolschewistischen Funktionärs dominiert. Thälmann bleibt derergebene Gefolgsmann Stalins, in dem er den Retter aus demJahre 1928 und nunmehr sieht. Aber fragen sollte man sich, ob erdenn überhaupt eine Alternative gehabt hat.

Dessen ungeachtet sind jedoch auch ansatzweise und partiell ei-nige neue Facetten sichtbar. Ein mit sich ringender Thälmann rafftsich zu seinem Politbeitrag auf mit einer Reihe zutreffender Analy-sen und neuen Schlußfolgerungen. Das eine oder andere ist so vonPieck und Ulbricht in Moskau nicht überliefert. Seit der August-und Septemberwende 1939 ist ein Zwiespalt vorprogrammiert.Es tritt in seinen Schriftzeugnissen zunächst der Hitlergegner etwasin den Hintergrund, jedoch nicht in der unbeugsamen Grundhal-tung. Es prägt sich verständlicherweise das Profil des besorgtenantifaschistischen Kriegsgegners aus und dann schließlich, doppel-gleisig verpackt, mehr und mehr das des warnenden Hitlergegners.Beides ist dem Wesen nach nicht voneinander zu trennen, trittjedoch nach außen nuanciert in Erscheinung.

Es ist beileibe kein ganz neuer Thälmann, aber auch kein ganzalter mehr. Als antifaschistischer Märtyrer, wozu er mißbrauchtund stilisiert wurde, sieht er sich eigentlich selber nicht. Manches

160SASSNING Thälmann

muß er ertragen, wie viele seiner ebenfalls inhaftierten Genossen.Einiges nicht. Dadurch waren nicht zuletzt solche Aufzeichnungenmöglich.

Sicherlich kann man die Meinungsbildung über diese Thälmann-Dokumente auf ein Gefühlspendel reduzieren, wie es bereits voneinem anderen Rezensenten beschrieben worden ist. Es wird in derTat ein Bild sichtbar, das respektvoll wie peinlich berührt. Mankönnte zornig oder traurig den Kopf schütteln, erschüttert wiebestärkt sein. Es bestätigt Klischees, alte und neue.

Aus verschiedenen Gründen ist es sehr bedauerlich, daß keinewissenschaftliche Einleitung zustande gekommen ist, die hilfreichwäre. Auch, um nicht lediglich mit einem Satz »abgehalfterte SED-Lohnschreiber« abzutun. Natürlich war Thälmann alles andere alsein superprivilegierter, genußgieriger Häftlingspromi der Nazis,wie dies durch besagten Autor kolportiert wird. Könnten solcheUnterlassungen gewissen Umständen geschuldet sein, so ist dieÜberbetonung, warum dieses Buch kein wissenschaftliches seinkann und will, von der Sachstruktur sowieso überflüssig. Wenn esgewissermaßen lediglich als Ost-Nachlese zum Thälmannbildgedacht ist, übersieht man den Nachholebedarf und ein Interesse,das durchaus auch anderswo existiert.

Denn das kleine Bändchen sollte Aufmerksamkeit verdienen –ob man Thälmann mag oder nicht – trotz übergroßer »Bescheiden-heit« der Herausgeber. Und was man kritisieren oder anerkennenmöchte – vielleicht beides –: das bleibt jedem Leser schließlichselbst überlassen.

SASSNING Thälmann161

Daß er seit vielen Jahren herzkrank war und sich deshalb zweischweren Operationen unterziehen mußte, wußte ich. Dennoch wares eine unerwartete und schockierende Nachricht, vom Tode HeinzJungs zu erfahren. Seine Veröffentlichungen zeugten bis zuletztvon eingreifendem Engagement, seine Briefe verrieten ungemin-derten Tatendrang, und seine Stimme war noch genauso auffor-dernd und drängend wie ehedem. Insofern entsprach sein Tod»unterwegs« einem ausgefüllten Leben bis zum letzten Atemzug.

Mit Heinz Jung ist ein marxistischer Wissenschaftler eigenenProfils verstorben. Ein Mensch eigenen Profils ist eigentlich einePlattheit, es ist selbstverständlich jeder Persönlichkeit eigen, undeinen Wissenschaftler sollte es in jedem Fall auszeichnen. Unddoch charakterisiert bei Heinz Jung die Verbindung von marxisti-schem und deutsch-deutschem Wissenschaftler für einen Vertreterder Nachkriegs-Generation etwas besonders Unverwechselbares.Die unterschiedliche Entwicklung in beiden Teilen Nachkriegs-Deutschlands hat nicht viele der nach- und hineinwachsenden Ge-neration durchgängig marxistisch und im Verbund beider deutscherStaaten denken und konkret leben lassen. Für die Mehrzahl bliebirgend etwas davon früher oder später, ganz oder teilweise unter-oder abgebrochen: das Marxistische, das Deutsche beider Staaten,das zusammen Gedachte und vor allem das tatsächlich zusammenGelebte. Heinz Jung gehörte zu den Wenigen, der in all den Jahr-zehnten, unabhängig davon, ob er seinen Wohnsitz in der BRDoder in der DDR hatte – ungebrochen marxistisch und »gesamt-deutsch« fühlte, in diesem Sinne handelte und dies auch legitimkonnte. Noch zu Zeiten der deutschen Zweistaatlichkeit formulier-te er es einmal so: »Eigentlich sind wir westdeutschen Kommuni-sten die einzig faktisch legitimen Gesamtdeutschen.« Seine Bin-dungen an KPD, SED, DKP und PDS sowie die damit verbunde-nen Eigenheiten seiner Biographie erlaubten es ihm.

1935 in einer kommunistischen Arbeiterfamilie in Frankfurt/M.geboren, 1949 mit 14 Jahren selbst Mitglied der KPD geworden,ließ ihn seine Mutter die Brechung des bürgerlichen Bildungspri-vilegs im Osten nutzen. An der traditionsreichen Internats-Ober-schule im thüringischen Wickersdorf erwarb er 1953 sein Abiturund begann im gleichen Jahr das Studium der Wirtschaftswissen-schaften zunächst an der Universität Leipzig und ab 1954 an derHumboldt-Universität zu Berlin. Fritz Behrens in Leipzig sowieHans Wagner und Kurt Braunreuther in Berlin waren diejenigen

Helmut Steiner – Jg. 1936,Soziologe und Wissen-schaftshistoriker, Berlin.Ko-Vorsitzender desFördervereins KonkreteUtopien e.V.

162STEINER In memoriam

HELMUT STEINER

Heinz Jung (1935-1996) –ein marxistischer und »gesamtdeutscher« Wissenschaftleraus der Nachkriegs-Generation

seiner akademischen Lehrer, die ihn – nach eigenen Worten – zuseinen marxistischen Positionen am nachhaltigsten wissenschaft-lich befähigten und anregten. K. Braunreuther bat er deshalb auchspäter, in den sechziger Jahren, von Frankfurt aus um die wissen-schaftliche Betreuung seiner Dissertation.

Doch zunächst fiel der Student Heinz Jung in der ansonstendurch berlinisch-sächsische Laute geprägten Fakultät nicht alleinmit seiner rheinländischen Sprachmelodie aus dem Rahmen. Seinauffallendes Temperament und vor allem die auch auf andere –westdeutsche – Erfahrungen sich stützenden Darlegungen – sindmir aus der gemeinsamen Studentenzeit in Erinnerung geblieben.Und seine erste große Öffentlichkeit erhielt er 1957 als rheinischerKarnevalsprinz beim stadtbekannten mehrtägigen WiWi-Faschingin allen Räumlichkeiten des Berliner Fakultätsgebäudes SpandauerStraße 1.

Nach Abschluß des Studiums ging Heinz Jung zurück in seinewestdeutsche Heimat. Die DDR hatte ihm eine fundierte Allge-mein- und Hochschulbildung, eine Vielzahl von unterschiedlichenErfahrungen und Eindrücken beim Aufbau einer alternativenGesellschaftsordnung zum Kapitalismus, Genossen und Freundeauch für künftige Jahrzehnte sowie – nicht zuletzt – seine FrauChrista (die er aus unserem Studienjahr entführte) – mit auf denWeg gegeben. Doch weder das Abitur, noch das Universitäts-Diplom aus der DDR fanden in der BRD Anerkennung. Sie eröff-neten ihm keinen qualifikationsgerechten Einstieg. Heinz Jungbegann als ungelernter Metallarbeiter zu arbeiten, wurde gewerk-schaftlich aktiv und betätigte sich illegal für die verbotene KPD,wurde verfolgt und u.a. zu einer Haftstrafe mit Bewährung verur-teilt. Wenn er mit diesen und seinen weiteren kapitalistischenAlltags-Erfahrungen in den Debatten der letzten Zeit um die kapi-talistische Moderne die bürgerliche Demokratie und das Grundge-setz der BRD nicht allein aus der Perspektive der diesbezüglichenDDR-Defizite beurteilte – so wird dies auf diesem biographischenHintergrund nur allzu verständlich.

Daß er in der DDR nicht nur Parteitags-Reden und ZK-Beschlüsse las, sondern auch in den besonders dogmatisierten Jah-ren bis 1956 eine fundierte und anregende marxistische Ausbildungerhielt, bzw. sie sich aneignete, hat er seit 1963 überzeugend unterBeweis gestellt. Als Mitbegründer und erster leitender Redakteurder »Marxistischen Blätter« (1963-1968), als Mitbegründer, stell-vertretender Leiter und Leiter des »Instituts für Marxistische Stu-dien und Forschungen e.V. – IMSF« (1968-1989) in Frankfurt/M.sowie als spiritus rector, unermüdlicher Ratgeber und individuellerSponsor von »Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung« (seit 1989)und – gleich an welcher Stelle – als Wahrheit und Veränderungsuchender Autor wurde er in der westdeutschen Wirklichkeit überdrei Jahrzehnte – arg eingeschränkt zwar – intellektuell-politischwirksam.

Aus dem breiten Spektrum seines wissenschaftlichen Schaffenslassen sich mehrere Themenkomplexe herauskristallisieren.

Erstens beschäftigte ihn die Klassen- und Sozialstruktur derkapitalistischen Gesellschaft über die ganze Zeit seines Wissen-

STEINER In memoriam163

schaftler-Lebens. Die von ihm entscheidend initiierte und mitver-faßte dreibändige »Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950-1970« (Frankfurt/M. 1973-1975) war eine der ersten grundlegen-den Publikationen des neu gegründeten IMSF, und die in der Zeit-schrift »Z« seit 1995 geführte Diskussion um »Klassen und Klas-sentheorie« ging wiederum entscheidend mit von ihm aus. VierSchwerpunkte waren es, die Heinz Jung m.E. besonders interes-sierten: die tatsächlichen vielfältigen Veränderungen in den Klas-sen- und Sozialstrukturen der kapitalistischen Gesellschaften (ins-besondere der BRD); die dabei nach wie vor gegebenen, aber sichmodifizierenden und vielfältig vermittelnden klassenmäßigenGrundstrukturen; die realen und potentiellen kollektiven Subjektegesellschaftlicher Veränderungen sowie das theoretisch-methodo-logische Instrumentarium zur wissenschaftlichen Analyse heutigerKlassen- und Sozialstrukturen.

Zweitens war die Struktur und Funktionsweise des heutigen ka-pitalistischen Staates und des staatsmonopolistischen Kapitalismusder theoretische Schwerpunkt seines Lebenswerks. Er hat hierzahlreiche Impulse aus den diesbezüglich ersten DDR-Arbeitenüber den staatsmonopolistischen Kapitalismus aufgenommen: vonK. Zieschangs ersten Vorstößen, die 1956/57 mit unter das allge-meine Revisionismus-Verdikt fielen, den späteren Arbeiten desQuartetts R. Gündel, H. Heininger, P. Hess und K. Zieschang (seitEnde der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre), den wirtschaftshi-storischen Studien (J. Kuczynski, H. Nussbaum, H. Wagner,L. Zumpe), verschiedenen Einzelarbeiten von R. Katzenstein,D. Klein u.a. sowie den – und damit parteioffiziell werdenden –Publikationen aus dem Institut für Gesellschaftswissenschaftenbeim ZK der SED in den sechziger und siebziger Jahren (H. Hem-berger, L. Maier, H. Petrak, O. Reinhold).

Parallel dazu entwickelte sich mit der Studentenbewegung undder außerparlamentarischen Opposition an den Universitäten in derBRD eine intellektuell-politische Diskussion, die zu einem großenTeil unter dem Terminus »STAMOKAP«-Analyse ablief. Treffsi-chere Analysen und politische Metapher, leidenschaftliches Er-kenntnisstreben und ideologischer Kampfbegriff – vereinigten sichin dieser kurzzeitigen, auch intellektuellen Aufbruch-Stimmungder sechziger und frühen siebziger Jahre in der BRD. Auf diesemHintergrund und auch im Ergebnis dessen entstanden die beiden –von Heinz Jung entscheidend initiierten und mitgestalteten – Bän-de des IMSF »Der Staat im staatsmonopolistischen Kapitalismusder Bundesrepublik« (1981). Sie und die von Heinz Jung 1982 vor-gelegte zusammenfassende Monographie »Deformierte Vergesell-schaftung. Zur Soziologie des staatsmonopolistischen Kapitalis-mus« bestimmten das Niveau der deutschsprachigen marxistischenLiteratur zum staatsmonopolistischen Kapitalismus der achtzigerJahre. Mit der zuletzt genannten Arbeit erwarb Heinz Jung an derAkademie der Wissenschaften der DDR den Grad eines Doktorsder Wissenschaften (Dr. sc.) und veröffentlichte sie 1986 gleich-zeitig im Akademie Verlag Berlin und Verlag Marxistische BlätterFrankfurt/M. Die Triade »Monopole-Klassen-Staat« wird in siebenKapiteln, vor allem am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland,

164STEINER In memoriam

einer theoretischen Untersuchung unterzogen, die sich auf der Aus-beutung einer reichhaltigen Empirie stützt und in politikorientier-ten Erfahrungen mündet. Politökonomische, soziologische, staats-und ideologietheoretische Analysen führt er in dieser Darstellungdes staatsmonoplistischen Kapitalismus zusammen. Es ist m.E.bis auf den heutigen Tag eine fundierte, zusammenfassende Dar-stellung dieser Problematik, die zur Neuaufnahme der Diskussioneinlädt.

Das ist um so mehr aktuell, als seine gemeinsam mit Jörg Huff-schmid 1988 veröffentlichte »Reformalternative. Ein marxistischesPlädoyer« auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Stamokap-Analysen und der ausstehenden Veränderungsstrategie der gesell-schaftlichen Opposition und der ihr angehörenden DKP fußten. DieEreignisse der folgenden Monate in der DDR und schließlich inGesamtdeutschland, in der Sowjetunion und Osteuropa haben diekonkreten Bedingungen auf vielfältigste Weise zuungunsten vonReformalternativen verändert, die dort behandelten Fragestellun-gen haben aber eher an Brisanz gewonnen.

Drittens ging es Heinz Jung letztlich um den Sozialismus: alsTheorie und in der Wirklichkeit. Seine DDR-Prägung und regel-mäßigen Arbeits- und persönlichen Besuche, gemeinsame wissen-schaftliche Veranstaltungen in der BRD und in der DDR sowie ingleicher Weise mit Wissenschaftlern der Sowjetunion, Polens, Un-garns u.a. dienten nicht allein der Information, sondern sie warenvergleichsweise offene Foren über Probleme und Konflikte in derDDR und den anderen Staaten gleichen Gesellschaftstyps. Trotzdes sehr engen Schulterschlusses zwischen SED- und DKP-Führung waren die vom IMSF unter Leitung von Heinz Jung orga-nisierten Diskussionsrunden stets problembewußter und unbefan-gener gehalten, als manch andere Erfahrung in der DDR. Nicht zu-fällig gehörten er und das gesamte IMSF in den achtziger Jahren zuden sogenannten Reformkräften der DKP, die die von der sowjeti-schen Perestrojka ausgehenden Impulse für eine Perestrojka auchder DKP-Politik zu nutzen suchten.

Die 1988 vom IMSF und der Zeitschaft »Sozialismus« mit nam-haften sowjetischen Wissenschaftlern (A. Aganbegjan, A. Galkinu.a.) in Frankfurt/M. durchgeführte Konferenz »Perestrojka unddie Linke in der Bundesrepublik. Zu den aktuellen Umgestaltungs-prozessen in der UdSSR« dokumentierte diese Wünsche und Er-wartungen. Und seine Schlußbemerkungen zu dieser Konferenzüber die Perestrojka der UdSSR stellte Heinz Jung deshalb noch1988 unter das Motto: »Fixpunkte unserer Hoffnungen«!

Um so bitterer war die Enttäuschung. Das im Umfeld seinerersten Herzoperation entstandene Buch »Abschied von einerRealität« (1990) war als eine schonungslose Abrechnung mit derPolitik M. Gorbatschows keine Rechthaberei à la DDR-Führung,sondern in den hart und bitter formulierten Passagen – Leiden.Leiden um den Zerfall der Sowjetunion, um das Scheitern desSozialismus und seine Perspektivlosigkeit für einen unbestimmtlangen Zeitraum.

Um so bemerkenswerter war Heinz Jungs unverzüglicherNeubeginn – mit der Gründung der Zeitschrift »Z«. Es ist in einem

STEINER In memoriam165

hohen Maße sein Verdienst, daß sie sich binnen weniger Jahre zueiner beachtlichen marxistischen Theorie-Zeitschrift über Ge-schichte, Gegenwart und Perspektiven gesellschaftspolitischer Ent-wicklungen profilierte. Auch seine engagierte Mitarbeit im »Mar-xistischen Forum« der PDS war eine folgerichtige Konsequenz.

Noch viel wäre wert, genannt und gewürdigt zu werden: diebeispielhafte Effizienz des IMSF mit seinen sechs bis acht Mitar-beitern, die vierzehn Bände Jahrbücher »Marxistische Studien« desIMSF, die Fähigkeit, nahestehende Linke auch aus den Universitä-ten auf die vielfältigste Weise in die Aktivitäten des Instituts miteinzubeziehen usw.

Selbstverständlich war auch Heinz Jung ein Kind seiner Zeit undseiner Partei. So sehr ich die Fähigkeit zur Einbeziehung naheste-hender Linker hervorhob, so sehr haben sich die verschiedenen lin-ken Gruppen und Einzelpersonen wechselseitig selbst ausgegrenzt.Und die DKP, das IMSF und Heinz Jung waren davon nicht nurBetroffene, sondern auch selbst aktiv daran beteiligt.

Überblickt man aber das wissenschaftliche Gesamtwerk HeinzJungs, so hätte er manchem Lehrstuhl an BRD-Universitäten zurZierde gereicht und ihm ein klareres und anregenderes Profil ver-liehen, als ihre tatsächlich ausgewählten Amtsinhaber es zu gebenvermochten. Ein Platz an den Universitäten der BRD war für HeinzJung weder vor noch nach dem offiziellen Radikalenerlaß und dendamit verbundenen Berufsverboten für Marxisten und Kommuni-sten möglich. Er suchte und fand seinen Platz in der informell or-ganisierten Wissenschaft der BRD, den er auf beispielhafte Weisezu nutzen verstand. Die nächsten Aktivitäten von »Z« nach seinemTod hat er mit den für Anfang Oktober in Frankfurt/M. und März1997 in Hannover vorgesehenen Konferenzen noch selbst festge-legt. Wünschen wir den Freunden und Genossen von »Z«, daß sieden Übergang zur Arbeit ohne Heinz Jung produktiv bestehen.

Auch UTOPIE kreativ hat mit Heinz Jung einen Autor, einenPartner und vor allem einen jederzeit solidarischen Förderer verlo-ren. Seine Angebote und Vorschläge für das Zusammenwirkenwaren stets vielfältiger, als wir wahrnehmen konnten. Auch wirwerden ihn vermissen.

166STEINER In memoriam

Mit zeitlichem Abstand – Impulsivität wollte ich in diesem Fallvermeiden – möchte ich wenigstens eine Bemerkung zum Artikelvon Michael Benjamin in »UTOPIE kreativ« Juli/August 1996(»Die PDS und ihr linker Flügel. Aus Anlaß des Beitrages von Ro-nald Lötzsch«) machen. Ob die KPF linker, wie Benjamin meint, oder rechter Flügel derPDS ist (so Michail Nelken), ist eine Frage der Definition undSelbstdefinition. Gehört zur Linken wesentlich und nicht zuletztder emanzipatorische Anspruch (und die Erkenntnis, daß die staats-sozialistische Gesellschaft in der UdSSR und der DDR nicht eman-zipatorisch bzw. antiemanzipatorisch war), so werden meiner Mei-nung nach zumindest die Sprecherinnen und Sprecher der Bundes-KPF diesen dezidiert linken Anspruch kaum für sich reklamierenkönnen. Aber gut, darüber ließe sich – auch schön akademisch –streiten. Ebenso würde ich gern über den Pluralismus der PDS dis-kutieren, der noch 1990/91 von prominenten Wortführern der KPFso vehement abgelehnt und jetzt ebenso vehement betont wird.Mein Problem besteht allein darin, daß ich weder im Programmnoch im Statut oder in sonstigen Dokumenten der PDS-Geschichteeinen uneingeschränkten Pluralismus entdecken kann. Die PDS hatsich seit dem außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember1989 deutlich von undemokratischen Sozialismusvorstellungen di-stanziert und dies im Statut und Programm auch ausgedrückt. Ichbefürchte, daß dieser Konsens über die Grenzen des PDS-Pluralis-mus allzu sehr aus den Augen verloren wird.

Aber nun zum eigentlichen Problem: Ronald Lötzsch hat inder DDR drei Jahre im Gefängnis verbracht, die Hälfte davon inBautzen II – wegen angeblicher Beihilfe zum Staatsverrat. Er istdennoch Mitglied der PDS! Für mich war diese Tatsache immer be-deutungsvoll und ermutigend bei dem Bestreben der PDS, aus derSED heraus eine moderne, demokratische sozialistische Partei zuentwickeln. Lötzschs Geschichte ist für mich aber natürlich keinGrund, mich nicht mit seinen aktuellen Ansichten auseinanderzu-setzen, und ich habe das, wenn ich Grund dazu sah, getan. DiesesRecht hat selbstverständlich auch Michael Benjamin. Ich sprecheaber ihm und uns in der PDS insgesamt das Recht ab, einen Men-schen wie Ronald Lötzsch als »dezidierten Vertreter der Partei-rechten« zu bezeichnen. Das hat nicht in erster Linie mit LötzschsVita zu tun, sondern mit dem Begriff selbst, der in der Stalinisie-rung der Kommunistischen Internationale, der KPdSU und der

BRIEFE AN DIE REDAKTION167

ANDRÉ BRIE

Zum Artikel von Michael Benjamin

KPD entstand und im unmittelbaren Sinne des Wortes Totschlag-argument wurde. Der Antistalinismus der PDS und der KPF mußsich – denke ich – auch in der Kenntnis der Geschichte kommuni-stischer Sprache und in Auseinandersetzung mit ihr äußern. ClaraZetkin, deren mutigen und weitsichtigen Antistalinismus man unsin der DDR vorenthalten hat, hat sich bereits 1925 auf einer Tagungdes EKKI in Moskau gegen die Verwendung eben dieses Begriffesgewandt, mit dem in der KPD Paul Levy und später die ehemals»Ultralinken« Brandler und Thalheimer sowie Hunderte anderediffamiert wurden, in der Sowjetunion die Ermordung TausenderKommunistinnen und Kommunisten begründet wurde.

Ähnliches ließe sich übrigens auch über die Geschichte solchervon den Sprecherinnen und Sprechern der Bundes-KPF, aber z. T.auch einigen anderen PDS-Politikerinnen und -Politikern gernverwendeten Vorwürfe sagen wie »Sozialdemokratismus«/»Sozial-demokratisierung«, »Verräter«, »Renegaten«, »Totengräber« etc.Ein Antistalinismus der Ahnungslosigkeit nützt uns nichts, und einZurück hinter Clara Zetkin wäre entsetzlich.

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Der Beitrag von Caroline de Luis1 ergänzt mein Harich-Bild. Ichteile ihren Respekt vor diesem Mann.

Eine kleine Bemerkung: Mancher Gedanke kommt nicht nureinem Menschen, sondern einigen oder vielen: Ich habe 1945Wilhelm Zaisser, den späteren ersten Minister für Staatssicherheitder DDR, kennengelernt. Er kam damals als Lehrer und Leiter desdeutschen Sektors an die Antifaschule Krasnogorsk. Er beein-druckte mich durch sein souveränes Denken und seine Offenheit.

Von ihm hörten wir: »Es war die Tragödie des Sozialismus, daßer in dem rückständigen Rußland aufgebaut werden mußte.«Ich habe diesen Satz natürlich nicht vergessen und in mein Denkeneingebaut. Er hat mir geholfen, alles, was ich kennenlernte, inseiner Widersprüchlichkeit zu sehen und über das Zustandekom-men dieser Widersprüche nachzudenken. Auf diese Weise habenmich fünf Jahre und vier Monate Gefängnis und Arbeits- und Er-ziehungslager in der UdSSR nicht aus der Bahn geworfen, ja sogarweitergeholfen.

Wir hatten in Krasnogorsk unter unseren Lehrern auch HeinzHoffmann, den späteren Minister für Nationale Verteidigung, der inSpanien schwer verwundet worden war. Auch deshalb habe ich dieBeiträge in der Rubrik »No pasaran!«2 mit besonderem Interessegelesen. Wann werden wir Linken lernen, das Gemeinsame ernstzu nehmen. In dieser Beziehung können wir von den Rechtenlernen.

1 Caroline de Luis: Erinnerungen an W.H., in: UTOPIE kreativ, Heft 69/70 (Juli/August 1996),S. 9ff.

2 u.a. Eva Sittig-Eisenschitz: An den Fronten des Spanischen Bürgerkrieges; Theodor Berg-mann: Der Spanische Bürgerkrieg und die Weltpolitik; Reiner Tosstorff: Spanischer Bür-gerkrieg, Stalinismus und POUM, in: Ebenda, S. 56-99.

BRIEFE AN DIE REDAKTION169

HORST ROCHOLL

Harich und Zaisser

Zum Dokument über die Gespräche György Aczéls und SándorNógrádys mit Rákosi, Gerö und Kovács möchte ich einige ergän-zende Bemerkungen zur Vorgeschichte dieses Dokumentesmachen, das im Jahre 1962 entstand – wobei ich mich auf dieneueste diesbezügliche Literatur stütze.

Der XXII. Parteitag der KPdSU mit seiner scharfen Stalin-Kritikmotivierte auch die ungarische Parteiführung, nun endlich sichmit den Gesetzesverletzungen während der Rákosi-Ära zu be-schäftigen. Der Kreis der Betroffenen wurde aber von Anfang anauf die Teilnehmer der Arbeiterbewegung eingegrenzt. AndereBetroffene blieben – jedenfalls in dem August 1962 veröffentlich-ten Beschluß – unerwähnt. Das ZK der Ungarischen Sozialisti-schen Arbeiterpartei (USAP) beschäftigte sich im November 1961mit dieser Thematik: Auf der Sitzung wurde der frühere Beschlußdes Politbüros gutgeheißen, ein »Inventar« der Gesetzesverletzun-gen zur Zeit des Personenkultes zu erstellen. Eine Kommissionwurde gebildet, die in sechs Monaten Bericht erstatten sollte. ImRahmen dieser Tätigkeit wurden dann im Mai 1962 Gy. Aczél undS. Nógrády vom Politbüro beauftragt, auf Basis der von der Kom-mission gesammelten Fakten M. Rákosi, E. Gerö und I. Kovács zuverhören (Rákosi befand sich noch in der Sowjetunion). Ziel desPolitbüros war es, mit diesem Bericht endlich einen Punkt unterdieses schmerzliche Kapitel der Parteigeschichte zu setzen. DieRehabilitierung der Verurteilten sollte zu Ende gebracht werden.Weiter sollten die Gründe der Gesetzesverletzung aufgedeckt, dieVerantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden – vor allemRákosi, Farkas und Gerö.

Das ZK der USAP hat dann am 14. August 1962 den mehrmalsumgearbeiteten Bericht der Kommission in einer langen, oft vonEmotionen geladenen und von persönlichen Erfahrungen mitge-prägten Diskussion behandelt (das Protokoll hat eine Länge vonca. 300 maschinengeschriebenen Seiten). Letztendlich wurde nurein Teil dieses Berichtes als ZK-Beschluß im Zentralorgan derUSAP, Népszabadság, veröffentlicht.1 (Beschluß des ZK der USAPüber den Abschluß der gesetzesverletzenden Prozesse gegenPersonen der Arbeiterbewegung in den Jahren des Personenkultes.)Der Beschluß ging auf jene Gründe ein, die zu den Gesetzesverlet-zungen führten und benannte auch die Hauptschuldigen, nament-lich M. Rákosi, M. Farkas, E. Gerö, I. Kovács, G. Péter undE. Szücs. Rákosi, Gerö und Kovács wurden aus der Partei ausge-

Ich bin ein ungarischerPolitikwissenschaftler amLehrstuhl für Politikwissen-schaft der WU Budapest.Im Sommer dieses Jahresverbrachte ich zwei Monateim Rahmen eines For-schungsaufenthaltes in Ber-lin. Bei der Durchsicht jenerZeitschriften, die in Ungarnnicht zugänglich sind, binich auf das von der Februar-Nummer der Zeitschrift ver-öffentlichte Dokument überdie Gespräche GyörgyAczéls und Sándor Nó-grádys mit Rákosi, Geröund Kovács gestoßen. Zwarsind meine Forschungs-schwerpunkte Interessen-verbände bzw. Parlament,ich bin also kein Parteihisto-riker. Doch habe ich ein hal-bes Jahrzehnt GeschichteUngarns im XX. Jahrhundertunterrichtet und verfolgeauch noch heute einschlägi-ge Publikationen auf diesemGebiet.

1 Népszabadság,19. August 1962.

170BRIEFE AN DIE REDAKTION

SÁNDOR KURTÁN

Rákosi im Verhör.Einige Ergänzungen

schlossen. Rákosi blieb bis zu seinem Tode im Jahre 1971 inVerbannung in der Sowjetunion. (Farkas war schon 1956 aus derPartei entfernt worden, Szücs lebte nicht mehr.) Jene Personen, diebei den Gesetzesverletzungen mitgewirkt hatten und noch beimStaatssicherheitsdienst, bei Gerichten oder der Staatsanwaltschafttätig waren, wurden versetzt. Die Opfer der Repressalien (hier ginges also um jene, die in der Arbeiterbewegung tätig waren) solltenrehabilitiert werden, soweit dies noch nicht geschehen war.

Auch die ausländischen kommunistischen Parteien wurdeninformiert – wenn auch nicht so ausführlich wie ursprünglichgedacht. Die KPdSU bekam natürlich eine dataillierte Auskunft.Der Bericht, der interne ZK-Beschluß, der veröffentlichte ZK-Beschluß, die Beschlüsse über die Disziplinarverfahren und derBericht über die Gespräche mit Rákosi, Gerö und Kovács wurdenalle ins Russische übersetzt und von Kádár an Chruschtschowgeschickt. Jene Parteien, die am VIII. Parteitag der USAP (No-vember 1962) teilnahmen, bekamen nur die beiden veröffentlichtenDokumente (ZK-Beschluß und Beschlüsse über die Disziplinarver-fahren). »Eine Ausnahme bildete Walter Ulbricht, in dessen Fall –vielleicht als Rechtfertigung, mit dem Ziel der Überzeugung – alsnötig empfunden wurde, den Bericht über die Anhörung und überdas Gespräch bei der Bekanntgabe des Ausschlusses zu schicken.«2

Wahrscheinlich trug dazu auch die Tatsache bei, daß Rákosi undUlbricht sich gut kannten und befreundet waren – in Moskauwaren sie Nachbarn.

Zu Gesetzesverletzungen, Willkür und Terror kam es in allenstaatssozialistischen Ländern. Das Ausmaß war jedoch unter-schiedlich. Deshalb muß man kurz darauf eingehen, wie in dieserHinsicht Ungarn ausschaute.

Die Prozesse, die sich gegen Persönlichkeiten der Arbeiterbewe-gung richteten, erfolgten in mehreren Wellen. Die erste Serie, dievielleicht bekannteste, war die Rajk-Affäre, die aus einem Haupt-prozeß und mehr als 30 Nebenprozessen bestand (1949-1951).Es wurden insgesamt 141 Personen verhaftet, davon 39 interniert,15 hingerichtet, 11 zu lebenslangem Gefängnis verurteilt.3 (Hier seibemerkt, daß in der ungarischen Literatur diese Art von Prozessenkonzeptionelle Prozesse genannt werden, da es hier nicht umAufdeckung tatsächlicher Verbrechen, sondern um den »Beweis«verschiedener Konzepte ging. Der Großteil waren nicht Schaupro-zesse, sondern wurden geheim abgewickelt.) Bekanntlich hatteder Rajk-Prozeß auch eine außenpolitische, gegen Tito und Jugo-slawien gerichtete Bedeutung. Während der »Strafverfolgung« undVerhöre wurden auch gegenüber 526 ausländischen Kommunisten(davon 40 Deutschen) Beschuldigungen aus den Verhaftetenerpreßt. Diese Aussagen wurden dann den entsprechenden Parteienzugeleitet.

Im Sólyom-Prozeß (1949), der in erster Linie Generäle und hoch-rangige Offiziere betraf, wurden 48 Personen verhaftet, davon4 interniert, 10 hingerichtet, 13 zur lebenslangen Haft verurteilt.Die anderen bekamen zwischen 5 und 15 Jahren. 1950 folgten dieVerfahren gegen ehemalige Sozialdemokraten, die 431 Menschenbetrafen. 276 wurden interniert, 154 wurden in konzeptionellen

2 Sipos, Levente: Hiányosleltár. MSZMP-dokumentu-mok a »a személyi kultuszidején elkövetett törvénysér-tésekrõl«. (Mangelhaftes In-ventar. USAP-Dokumenteüber »Gesetzesverletzun-gen zur Zeit des Personen-kultes«) Társadalmi Szemle,1994/ 11, 12.(Hier sind neben einer ein-leitenden Studie der Bericht,der vom ZK diskutiert wur-de, sowie Teile aus derDiskussion veröffentlicht.)

3 Diese und die folgendenZahlen sind entnommenaus: Törvénytelen szocializ-mus. A tényfeltáró bizottságjelentése. (Gesetzloser So-zialismus. Der Bericht derKommission für Deliktermitt-lung.) Budapest 1991.

BRIEFE AN DIE REDAKTION171

Geheimprozessen verurteilt.Es kam dann zu weiteren Verhaftungs-wellen, denen z.B. der Innenminister J.Kádár und der Außenmini-ster Kállai zum Opfer fielen (1951).

Selbst die Staatssicherheit wurde von den Säuberungen nichtverschont. In der Szücs-Affäre wurden gegen 40 Personen Verfah-ren eingeleitet. Zwei wurden hingerichtet, einer zu lebenslangerHaft, die anderen zu verschiedenen Haftstrafen verurteilt. Währendder Verhöre wurden Szücs und sein Bruder zu Tode geprügelt. ImJanuar 1953 wurde auch G. Péter verhaftet und verurteilt. EtlichePersonen, die also Mitwirkende bei »Untersuchungen« in konzep-tionellen Prozessen waren, wurden nun selber in solchen Verfahrenabgeurteilt.

Aus dem Bericht4, der für die ZK-Sitzung im Juni 1962 erstelltwurde, können wir entnehmen, daß in diesen Prozessen insgesamt336 Personen interniert und 382 Personen verurteilt wurden.An 28 von ihnen wurde das Todesurteil vollstreckt, 23 verstarbenin den Internierungslagern, Gefängnissen oder in der U-Haft (3begingen Selbstmord). 5 Personen flohen in den Selbstmord, weilsie ihrer Verhaftung entgehen wollten (so z.B. S. Zöld) oder weilFamilienangehörige verhaftet bzw. hingerichtet wurden.

Der Beschluß von 1962 bezog sich also auf diesen obengenann-ten Personenkreis. Man darf aber zwei Dinge nicht vergessen.Erstens, daß der Terror auch andere Gruppen betraf: hohe katholi-sche Würdenträger (z.B.Mindszenty-Prozess 1949), Wirtschafts-manager ausländischer Unternehmen (um die Verstaatlichungdieser Firmen zu erleichtern), Offiziere oder die jüdische Hilfsor-ganisation JOINT. Nach sowjetischem Muster wurden Arbeitslagererrichtet, wo tausende Gefangene (meist Internierte) oft unter un-menschlichen Verhältnissen leben bzw. arbeiten mußten. 1951 wur-den mehr als 12 000 Personen, »Mitglieder der ehemaligen herr-schenden Kreise« aus Budapest, und noch viel mehr aus Provinz-städten ausgesiedelt. Und letztlich darf man nicht vergessen, daßdie polizeistaatlichen Maßnahmen und Methoden weite Kreise derBevölkerung betrafen. Aus dem ZK-Beschluß vom 28. Juni 1953(in dem u.a. Rákosi, Gerö, Farkas und Révai scharf kritisiert wur-den und der einen neuen Kurs in der Innenpolitik festlegte) erfah-ren wir, daß die Polizei als Übertretungsgericht zwischen 1951 undMai 1953 850 000 Urteile fällte. Die Gerichte beschäftigten sichzwischen 1950 und Mai 1951 mit den Fällen von 650 000 Perso-nen, davon wurden 387 000 verurteilt. (Dieser ZK-Beschluß wur-de erst 1986 veröffentlicht!) Wenn es sich auch in vielen Fällen umgeringfügige Strafen handelt5, sieht man, daß sehr viele Menschenden administrativen Maßnahmen der Staatsgewalt ausgesetztwaren. Einige Historiker schätzen die Gesamtzahl auf ca. zweiMillionen!

Zweitens muß man darauf hinweisen, daß willkürliche Verfahren,Prozesse mit Prekonzeptionen schon vor 1949 stattfanden. Es hatsymbolischen Charakter, daß G. Péter am 13. Februar 1945 (am Ta-ge der Befreiung von Budapest) jenen Pál Demény in der Haupt-stadt verhaftete und ihm erklärte er sei »Gefangener der Partei«(nämlich der KPU), der in der Zwischenkriegszeit Anführer einernicht aus Moskau geleiteten illegalen kommunistischen Bewegung

4 siehe Sipos, op.cit.

5 Es wurden aber auchsehr harte Urteile gefällt.Berüchtigt ist der Fall, woein Bauer aus Unvorsich-tigkeit ein Getreidefeldanzündete. Er wurde wegenSabotage zum Todeverurteilt.

172BRIEFE AN DIE REDAKTION

war, die zeitweise mehr Mitglieder im Land aufzeigte als dieungarische Sektion der Kommunistischen Internationale.

Es war eine ausgezeichnete Idee, die im Text genannten Namendurch kleine Biographien zu erleuchten, da diese Personen für diemeisten deutschen Leser kaum bekannt sein dürften. Diese müßtenaber ergänzt bzw. korrigiert werden, da in den biographischenDaten einige Irrtümer und Ungenauigkeiten zu finden sind.

István Kovács (geb. 1911), mit dem eines der Gespräche geführtwurde, gehörte zu den führenden Persönlichkeiten der Parteider Ungarischen Werktätigen (also der Staatspartei zwischen1948 und 1956) und war Mitglied jener Dreier- (1951) und Fün-ferkomitees (1955), die die Fälle von János Kádár bzw. von Mihá-ly Farkas untersuchten. Die wichtigsten Daten seines Lebens sinddie folgenden:

Ausbildung als Polsterer; 1927 Mitglied der SozialistischenArbeiterpartei Ungarns (dies war eine legale Tarnpartei der KP inden Jahren 1925-1927) bzw. des Kommunistischen Jungarbeiter-Verbandes Ungarns (KJVU); 1930 verläßt er Ungarn, Schulung inMoskau an der Internationalen Leninschule der Komintern; 1931-1932 Vertreter des KJVU in der Kommunistischen Jugendinterna-tionale; 1933 Rückkehr nach Ungarn, Sekretär des KJVU; 1934Verhaftung und Verurteilung zu neun Jahren Haft; 1942 Entlassungaus der Haft, wird Mitglied des Sekretariats des ZK der illegalenKP, Sekretär der Budapester Organisation; 1943 erneute Verhaf-tung, im Jahre 1944 gelang ihm die Flucht, im Widerstand tätig;1945-1949 Leiter der Organisationsabteilung der KPU bzw. PUW;1945-1946 Mitglied des Politbüros; 1948 Mitglied des ZK derPUW und des Sekretariats; 1949 Mitglied des Politbüros, Parteise-kretär von Budapest; 1955 wieder im Politbüro; 1956 am 23. Ok-tober kommt er nicht mehr in die führenden Gremien, am 30. Ab-wahl vom Posten des Sekretärs von Budapest, am 31. fliegt er indie Sowjetunion; es gelingt ihm nicht, in die Führung der USAPaufgenommen zu werden; 1958 Rückkehr nach Ungarn, wird Ab-teilungsleiter des Ministeriums für Leichtindustrie; 1962 wegenVerletzung der Gesetzlichkeit Ausschuß aus der USAP, bekommt1966 von der Kontrollkommission die Mitgliedschaft zurück; 1974geht er als Institutsdirektor in Pension.

Er ist nicht zu verwechseln mit jenem István Kovács (1921-1973), der zwischen 1945 und 1950, zuletzt als Hauptmann, bei derpolitischen Polizei tätig war. Er ist wiederum – laut den biographi-schen Notizen des Buches »Iratok az igazságszolgáltatás törté-netéböl 3« (Schriften zur Geschichte der Justiz, Band 3, Budapest1994, – der viele interessante Dokumente über die Prozesse derfünfziger Jahre enthält) – nicht identisch mit László Farkas (geb.1914 oder 1919), der zwischen 1945 und 1956 verschiedene Partei-funktionen innehatte und zwischen 1948 und 1950 einer der Stell-vertreter Gábor Péters war.

Sándor Zöld (1913-1951) studiert Medizin in Debrecen; 1932Eintritt in die KPU; 1944 Abgeordneter in der Provisorischen Na-tionalversammlung, Staatssekretär im Innenministerium; 1948Mitglied des ZK, wieder Staatssekretär im Innenministerium;Juni 1950-April 1951 Innenminister; im April 1951 wird die Tätig-

BRIEFE AN DIE REDAKTION173

keit Zölds im Politbüro scharf kritisiert. Der Tod Zölds ist bis zumheutigen Tage nicht geklärt – Rákosi erwähnt selber, daß er vorZölds Tod mit ihm sprach. Es gibt Memoiren, wo berichtet wird,daß Rákosi ihn beschuldigte und mit der Waffe bedroht hat.Zöld wußte, was solche Anschuldigungen zur Folge hatten, daer natürlich das Schicksal seines Vorgängers Rajk und dessenFamilie kannte. (Rajks Frau wurde verhaftet, sein Sohn kam untereinem falschen Namen in ein Kinderheim). Daraufhin ging er nachHause, erschoß seine Familie und nahm sich dann das Leben. Esgibt aber auch Vermutungen, daß es sich um einen politischenMord handelt.

László Sólyom (1908-1950) Offizier; 1941 als Hauptmann desGeneralstabes in den Ruhestand versetzt, arbeitet in der FabrikEgyesült Izzó weiter; 1942 Eintritt in die KPU, Tätigkeit imWiderstand, 1944 Verhaftung, kann aber fliehen; 1945 nach derBefreiung Polizeipräsident von Budapest; 1947 Generalstabschefder Armee; 1950 wird er verhaftet und auf Grund falscherAnschuldigungen zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Dezsõ Nemes (1908-1985) Ausbildung als Polsterer; 1926 Ein-tritt in die KPU; 1931 erstmals in der Sowjetunion; 1933 Rückkehrnach Ungarn; 1935 bleibt er endgültig in der Sowjetunion; 1935-1939 Arbeiter in einer Möbelfabrik; 1939-1943 studiert er nebender Arbeit Geschichte in Moskau; während des Krieges politischeArbeit mit Kriegsgefangenen; 1945-1948 Sekretär des Gewerk-schaftsrates (in Ungarn); 1953-1956 Direktor des ParteiverlagesSzikra; 1956 im Herbst wird er Direktor der Parteihochschule;1957-1961 Leiter des Redaktionskomitees des ParteizentralorgansNépszabadság; 1957-1980 Mitglied des Politbüros der USAP;1965-1966 Direktor des Parteihistorischen Instituts; 1966-1977erst Direktor, dann Rektor der Parteihochschule; 1977-1980Chefredakteur von Népszabadság; 1980-1983 Direktor des Partei-historischen Institutes. (Das in der Veröffentlichung zitierte Buch»Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung.Von den Anfängen bis 1962«, Berlin 1983, wurde von einem Auto-renkollektiv unter der Leitung von Dezsõ Nemes geschrieben.)

Sándor Nógrády (1894-1971) Ausbildung als Dreher und Elek-triker; 1918 Eintritt in die Sozialdemokratische Paartei; 1919Eintritt in die KPU; nach dem Sturz der Räterepublik flieht erin die Tschechoslowakei, ist dort in der kommunistischen Jugend-bewegung tätig, emigiert erst nach Berlin, dann nach Moskau, wirdMitarbeiter der Komintern (Aufträge in Rumänien, in der Tsche-choslowakei, in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz, inFrankreich und in Spanien); 1941 Redakteur des ungarischsprachi-gen Senders Kossuth Rádió; 1944 Kommandant der Partisanen-schule in Kiew, im September des Jahres Einsatz in der Slowakei;1945 Staatssekretär im Ministerium für Industrie; 1946 Leiterder Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK der UKP;1949-1956 Chef der politischen Hauptverwaltung der UngarischenVolksarmee; 1957 Leiter der Abteilung für Agitation und Propa-ganda des ZK der USAP; 1957-1960 Botschafter in Peking undHanoi; Er war nach 1945 ununterbrochen Mitglied des ZK, 1959 -1966 Vorsitzender der Zentralen Revisionskommission.

Györgi Actzél ist 1991,György Marosán 1992,Gábor Péter 1993 undGyula Kállai ist 1996verstorben.

174BRIEFE AN DIE REDAKTION

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Wie es der freundlich gesonnene Vorspruch andeutet: Unser Berichts-zeitraum hat sich vergrößert, was dazu führt, daß die Auswahljener Vorkommnisse, die ich mit Bemerkungen und Anmerkungenbedenke, schwieriger wird. Sei’s drum. Blättern wir zunächst imZentralorgan. Vor einiger Zeit monierte dort ein Leser, daß dasBlatt Hermann Kant zu Worte kommen ließ, der sich ironisch –ja, wie denn sonst? – zu den Inszenierungen der deutschen PEN-Zentren äußerte. Der ND-Leser befand, daß H.K. quasi nicht dasmoralische Recht habe, sich darüber lustig zu machen, sondern ersolle schamhaft schweigen. Schließlich sei auch er am Zustand desPEN mitschuldig. Nun, ja, Kant wird sich daran gewöhnt haben,wofür er alles seinen Kopf hinzuhalten hat – aber Artikelverbot?Unerhört! Obwohl: Ich kann des Lesers Einwand nachvollziehen,befand ich mich doch – kaum hatte ich mich wieder abgeregt –einige Tage später urplötzlich in ähnlicher Verfassung und ertapptemich dabei, mir für einen anderen Schreibverbot – mindestens aberSchreibverzicht – herbeizuwünschen. Als sich nämlich ein einstbeträchtlicher und rangiger DDR-Kulturfunktionär auf der Kultur-seite darüber beschwerte, von einem der Gauck’schen Unrat-Er-fasser ungenau recherchiert und in falsche Zusammenhängegebracht worden zu sein. Dazu muß gewußt werden, daß ebenjener Kulturträger, als er einst im Mai als Akademievorsteher,Theaterleiter und ZK-Mitglied noch in Amt und Macht residierte,gelegentlich zu den Schuriglern erster Güte gehören konnte. Insbe-sondere Journalisten konnten ein Lied von seinem Wirken singen.Und manche, wenn sie nur zurückdenken, singen noch heute. Dennsie haben es nicht vergessen, wie dieser Mann zum Beispiel nahe-

Wir übernehmen ausder »Konkursmasse« der»Berliner Linken Wochen-zeitung« den Medienrück-blick »Festplatte«, der esdort auf vierzig Folgengebracht hatte. Auchwenn in dieser Kolumnevon Wolfgang Sabath in»Utopie kreativ« wegender Erscheinungsweiseunserer Zeitschrift nichtmehr wochenaktuellreagiert werden kann,versprechen wir unsdennoch einen respekt-los-vergnüglichen undunkonventionellen Zuge-winn.

Die Redaktion

176SABATH Festplatte

WOLFGANG SABATH

Festplatte.Die Wochen im Rückstau

zu jegliche Kritik von seinem Theater fernzuhalten wußte; undwenn sich doch ein Journalist erdreistete (und der Chefredakteurabwesend oder unaufmerksam war), die eine oder andere Inszenie-rung dieses hauptstädtischen Theaters nicht zu loben, dann konnteunser Protagonist sehr, sehr heftig mit seinem ZK-Ausweis wedeln– oder er ging zum »Genossen Kurt«, sich beschweren. So etwaskonnte, wie wir wissen, für eine Redaktion fatale Folgen haben.Und wenn es nur der Herzinfarkt für den Chef einer kulturpoliti-schen Wochenzeitung war.

Das ist zum Glück Schnee von gestern? Vielleicht nicht ganz.Denn nach meinen – sicher unmaßgeblichen – Beobachtungenrekrutieren sich gerade aus dieser Spezies Einstgenossen jene, diemir heutzutage gelegentlich mit der vor Scheinheiligkeit geradezutriefenden Frage kommen, ob ich ihnen vielleicht mal den Begriff»Stalinismus« erklären könnte... Jetzt hat der Mann kein Zentral-komitee mehr, bei dem er sich beschweren kann, sondern nur nochdie Kulturseite der Sozialistischen Tageszeitung. Soll er. Nur soll ersich nicht wundern, wenn andere mindestens darüber befremdetsind. Das ist das Wenigste, was ihm heute abgefordert werden muß.Aber vielleicht wundert er sich gar nicht. Weiß man’s?

Nun sind ja Presseerzeugnisse sowieso nicht dazu da, unserenSeelenfrieden zu hüten, obwohl wir natürlich wahrscheinlich alle-samt so gepolt sind, daß wir jene Zeitung (Zeitschrift, Magazin,Rundfunksendung, Fernsehsendung – Zutreffendes bitte unterstrei-chen) favorisieren, die unseren Meinungen und Vorstellungen amehesten entsprechen. Doch es gibt natürlich auch Mischformen.So eine Mischform ist zum Beispiel die »junge Welt«. Sie treibtTag für Tag jedem rechtgläubigen PDSler (und den rechtsgläubigensowieso) ob ihrer weltfremden Radikalität und ihres vermoostenlinken Avantgardismus die Zornesröte ins Gesicht und läßtdie Adrenalinspiegel hochschnellen. Aber die bemüht-kulturvolleund biegsame Ausgewogenheit, derer sich das ND befleißigt(insbesondere im Umgang mit einstigen »Kulturdissidenten«), istja nun auch nicht jedermanns Sache. Da sind die Radikalinskis der»jW« manchmal schon allein durch Überschriften-Formulierungenleserfreundlicher. Am 7. November beispielsweise titelten sie überden Ausgang der amerikanischen Präsidentenwahl:»Billy wieder Klassensprecher«. Und einen Tag zuvor bedachtensie einen anderen Präsidenten mit der Schlagzeile:»Operation erfolgreich: Jelzin mit Tschubaipass«.

Obwohl die zweite Überschrift nicht mehr sehr weit weg istvon Kalau: Ein gewisser Spaß beim Lesen stellt sich allemal ein.Und der muß ja sein.

SABATH Festplatte177

Søren Bald, Peter la Cour, SteenNepper Larsen (Redaktion): Demokrati – 40 indlæg, forlaget Krogerup Humlebæk 1996,258 S.

Linke in Deutschland schauen immer wiedermit leuchtenden Augen auf das dänische So-zial- und Bildungswesen und die Erfolge mitder Basisdemokratie und im Umweltschutz.Sicher ist einiges verklärt durch das Bemü-hen, möglichst nah Alternativen zu sozialerKälte und Politikverdrossenheit in Deutsch-land zu finden. Doch dieser Blick nach Nor-den lohnt durchaus, trotz Verklärung.

Zu den Errungenschaften, die tatsächlichgenauer betrachtet werden sollten, gehörendie Volkshochschulen. Das sind – im Unter-schied zu deutschen Volkshochschulen – In-ternatsschulen, an denen sich Erwachsene inziemlich allen, meist aber in sozial- und gei-steswissenschaftlichen und äußerst selten innaturwissenschaftlichen, Fächern weiterbil-den können. Und obwohl es keinen formellenAbschluß gibt, sind sie gut besucht. Stipen-dien und Staatszuschüsse ermöglichen dieTeilnahme relativ unabhängig vom Geldbeu-tel. Besonders am Beispiel der Volkshoch-schulen wird deutlich, daß Dänemark es ge-schafft hat, eine Tradition wach zu halten, dieBildung als »Wert an sich« sieht und nicht derFrage unterordnet, ob es sich denn rechnet, ei-nen Kurs an der Volkshochschule zu belegen.

Eine der renommiertesten Volkshochschu-len, die Krogerup Højskole in Humlebæk,nördlich von Kopenhagen, wurde vor fünfzigJahren gegründet. Aus diesem Anlaß erschiendie Textsammlung »Demokratie – 40 Beiträge«.

»Demokratie ist ein unbedingter Positiv-Begriff geworden. Es gibt heute in Dänemarksehr wenige erklärte Antidemokraten.« WennDemokratie aber nicht zum Klischee oder zurhohlen Konvention werden solle, so meinendie Herausgeber, gäbe es gute Gründe, überDemokratie zu reden. Und so stellen in denvierzig Beiträgen Politiker, Theologen, Jour-nalisten, Hochschullehrer und sogar Wirt-schaftsleute ihr Demokratieverständnis vor.Ausgangspunkt ist dabei das Buch »Was istDemokratie?«, geschrieben 1946 von Kroge-rup-Gründer Hal Koch. Anstelle eines Vor-

worts enthält die Sammlung einen Auszug ausdiesem, mittlerweile zum Klassiker geworde-nen, Buch.

Die Botschaft lautet: »Demokratie ist dasGespräch«. Demokratie sei eine Lebensform,die angeeignet werden müsse und kein durch-zuführendes System. Für Hal Koch war es da-her absurd, vom »Sieg der demokratischenMächte« zu sprechen. Als Antwort auf dengerade besiegten Faschismus war es für ihndurchaus demokratisch, politische Versamm-lungen mit mehr als fünfhundert Menschen zuverbieten. Überhaupt fand er Mehrheitsent-scheidungen nicht notwendigerweise demo-kratisch, schließlich wurde Hitler ja auch ge-wählt. Damit sind solche Fragen wie die nachder Kompetenz der Mehrheit bzw. nach derKompetenz der überstimmten Minderheitoder die Frage nach der Möglichkeit, parti-kuläre Interessen als allgemeine auszugeben,angesprochen. Ein aktueller Aspekt ist hierauch der vom Verhältnis zwischen Regierungund Opposition bei absoluter Mehrheit derRegierungsfraktion. Eine demokratische Gesell-schaft muß sich dazu bekennen, daß alle Ent-scheidungen relativ sind, daher wird Interessean der Gesamtheit und der Debatte gebraucht.

Dieses Interesse besteht zumindest bei denvierzig Autoren. In bester dänischer liberalerTradition gehen die Auffassungen weit aus-einander. Der Redakteur Seidenfaden wirftKoch vor, sich zu sehr mit anti-demokrati-schen Bestrebungen des 19. Jahrhundertszu befassen und nicht mit den aktuellen, alsoFaschismus und Kommunismus, während derHistoriker Ifversen Koch als anti-politischenKlassiker lobt. Der bürgerliche Ex-Unter-richtsminister Haarder posaunt: »Demokratieist nicht das Gespräch« und reibt sich an der –effektive und nüchterne Entscheidungen be-hindernden – 68er-Diskussionskultur, schreibtaber auch über das »autoritäre Gespräch«,einen in Dänemark politisch brisanten Be-griff. Der durch seine Dia-Reihe »AmericanPictures«, eine schockierende Darstellung derArmut der schwarzen Bevölkerung in denUSA, bekannt gewordene Jacob Holdtschwärmt wie immer von Frieden und Liebeals Mittel gegen Haß und Gewalt und lehntdeshalb die Demonstrationen vor den Wohn-häusern alter und neuer Nazis ab, die 1994immerhin zwei deutsche Nazis zur Rückkehr

178Bücher . Zeitschriften

nach Deutschland zwangen. Schließlichmahnt er, daß Demokratie ohne menschlicheWärme unweigerlich zu »Mehrheitsdiktatur«und »Ghettoisierung« führt. Der Artikel ist fürLeute, die seine Dias nicht kennen, wenigereindrucksvoll, weswegen er sich doch besserauf seine Vorträge konzentrieren sollte.

Der wohl inhaltlich und sprachlich reizvoll-ste Beitrag ist der von Jørgen Knudsen: »DasGespräch und Die Große Maschine«. Nacheiner Anekdote über diskussionsunerfahreneMoskauer Umweltschützer und der Feststel-lung, daß Kochs Vorschlag, Versammlungenmit mehr als fünfhundert Teilnehmern zu ver-bieten, zwar richtig, im Fernsehzeitalter aberzu pathetisch ist, benennt er als Ursache vonGleichgültigkeit jenes »System aus ökonomi-scher Rationalität, aus fortwährender Expan-sion in Produktion und Verbrauch, Investitio-nen, Marketing und Kauf, Entwicklung undWachstum, das den gesamten Erdball um-spannt, und welches wir alle, sowohl als Pro-duzenten und Verbraucher als auch als Besit-zer und als Arbeiter, als Steuerzahler und alsLeistungsempfänger mit aufrechterhalten undgenießen: Die Große Maschine.« (S. 57 ) Unddiese Maschine duldet im Prinzip keinen Wi-derspruch, sie »zwingt uns alle unter ihreMacht; aber wir mögen das nicht«, denn:»›Ei-gentlich‹ wollten wir lieber anders leben, an-ders handeln.« (S. 58 ) Denn weil »unsere Le-bensweise auf lange Sicht eine Bedrohung fürdas Überleben der Erde ist, ist es gut, wenndie Schulkinder ›umweltbewußt‹ werden, in-dem sie an einem bestimmten Tag viele Kilo-meter Strand vom Abfall befreien, und störtuns der ganze Abfall, den wir vor unser Hausstellen, ist es gut, einen Komposthaufen hinterdem Haus zu haben.« (S. 59) Für Knudsengibt es ganze drei Antworten auf die Gesell-schaft, deren fundamentale Spielregeln einWiderspruch zu ebenso fundamentalen mora-lischen Vorstellungen sind, nämlich die Kul-tur, den Wohlfahrtsstaat und die Demokratie..Knudsens Schlußfolgerung aus all dem ist fol-gende:»Selbst wenn das Volk nicht längerTräger irgendeiner Wahrheit ist, so hätte esvermutlich rebelliert, wenn ihm ein Systemmit so offensichtlichen Gefahren für die Zu-kunft von einem Diktator aufgezwungen wor-den wäre. Jetzt ist die Untergrabung der natür-lichen Grundlagen demokratisch legitimiert

und damit beinahe unangreifbar geworden.Vielleicht ist das der Grund, warum die west-liche Form der Demokratie in einem Entwick-lungsland nach dem anderen zumindest Zu-lauf gewinnt: Sie ist die gewandteste und bil-ligste Herrschaftsform, die sich Die GroßeMaschine wünschen kann.« (S. 61f.)

In weiteren Beiträgen geht es unter anderemum die Rolle der Medien, die Aufarbeitungder deutschen Besatzung nach dem ZweitenWeltkrieg, auch die Feststellung eines Un-ternehmers, daß Demokratie »Wettbewerbs-kraft« schafft, fehlt nicht. Und schließlichwird natürlich völlig zu Recht auch der Bei-trag der Volkshochschulen, insbesondere Kro-gerups, zur demokratischen Kultur gewürdigt.

Alles in allem präsentiert die Sammlungzwar keine herausragenden neuen Ansätze,gibt aber einen guten Überblick über aktuelleDebatten. Für Nicht-Dänen ist sie lesenswert(eine Übersetzung würde sich also lohnen, dasErlernen des Dänischen lohnt ohnehin), weildie Problematik aus einer für Deutsche ganzanderen Sicht dargestellt ist und diskutiertwird. Außerdem scheinen sich die Dänen dieZeit zu nehmen, über Themen zu reden, überdie man hierzulande schon lange nicht mehrspricht. Trotzdem fällt auf, daß viele Autorensehr stark auf den westlichen oder skandinavi-schen Demokratiebegriff fixiert sind. Diesmag zwar nicht unbedingt verkehrt sein, im-merhin haben die skandinavischen Länder dieIdeale der Aufklärung wohl am weitesten um-gesetzt, worauf sie auch stolz sein können, da-durch gelingt es aber nicht, mögliche Alterna-tiven (auch zur europäischen Aufklärung) oh-ne einen unterschwelligen Absolutheitsan-spruch und eine gewisse Selbstgefälligkeit zudiskutieren. Dennoch sind die Herausgeberihrem Anspruch, zur Diskussion und zumNachdenken über Demokratie anzuregen, be-stens gerecht geworden. Das Buch ist übri-gens vorwiegend zum Gebrauch an Gymna-sien und Hochschulen gedacht. Es ist also ingewisser Weise ein Schulbuch. Trotzdemkann Knudsen die »freiheitlich demokratischeGrundordnung grundlegend in Frage stellen«.So etwas paßte in Deutschland eventuell insFeuilleton, dürfte in deutschen Schulbüchernaber eher selten anzutreffen sein. Obwohloder vielleicht gerade weil in Dänemark rechtfreizügig über einige Betriebsgeheimnisse

Bücher . Zeitschriften179

unseres Systems geplaudert wird, ist Däne-mark wohl sozial, ökonomisch und politischeines der stabilsten Länder der Welt. Auchmit Minderheitsregierung, »Wildwuchs vonSozialleistungen«, plebiszitären Elementen,Windrädern und Radfahrern.

MARKO HOFFMANN

Elena Poniatowska:Tinissima – Der Lebensroman der Tina Modotti,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996, 480 S. (48,00 DM)

Zum richtigen Zeitpunkt kommt dieser um-fangreiche Roman über das Leben der großenFotografin und politischen Kämpferin TinaModotti in die deutschen Buchläden.

Am 16. August diesen Jahres – oder war esder 17. – wäre Tina Modotti 100 Jahre altgeworden. Schon bei ihrer Geburt schleichtsich etwas mystisches in ihre Biographie. DieKirchenbücher der norditalienischen StadtUdine weisen den 16., das Standesamt den17. August 1896 als Tag der Geburt vonAssunta Adelaide Luigia Modotti aus. Und soboten viele weitere Punkte ihres Lebens im-mer wieder Grund zu Spekulationen. Der Todihres Lebensgefährten Julio Antonio Mella,der Grund ihrer Ausweisung aus Mexiko, ihreRolle in Moskau, Frankreich und Spanien,ihr Verhältnis zu ihrem Landsmann VittorioVidali und nicht zuletzt ihr früher Tod mit46 Jahren. All diese Dingen boten Stoff fürPhantasiegeschichten, die sich gut vermarktenließen.

Von dieser Art der Lebensbeschreibunghebt sich Elena Poniatowskas Roman in ange-nehmer Weise ab. Einfühlsam und mit einemhohen Wissen über Fakten und Dokumenteschildert sie das wechselvolle Leben TinaModottis. Der Roman beginnt mit der stärk-sten Zäsur in ihrem Leben, mit der Ermor-dung ihres Liebhabers, des politischen Emi-granten Julio Antonio Mella, der 1929 vonAgenten des kubanischen Diktators Machadoauf offener Straße erschossen wird. Es folgen

schwere Zeiten für Tina: Hausarrest, tagelan-ge Verhöre und eine Kampagne der Boule-vardpresse gegen sie, letztendlich die Auswei-sung aus Mexiko. In den folgenden Kapitelnwird dem Leser der Lebensweg Tina Modottisbis zu diesem Einschnitt näher gebracht. IhrLeben und ihre Ehe mit Robo Richey, ihrekurze Episode in der Glitzerwelt Hollywoods,Erinnerungen an ihre Kindheit in Norditaliensowie ihre Begegnungen mit Literaten undKünstlern im Westen der USA, besonders diemit dem Fotografen Edward Weston. Manerlebt förmlich die Begeisterung nach, dieWeston bei Tina Modotti für die Fotografieentfachen konnte. Die Zeit, die sie an-schließend mit ihm in Mexiko verbringt, istausgefüllt mit Kontakten zu Künstlerkreisen,literarischen Zirkeln und politischen Grup-pen. Detailliert und mit großer Akribie breitetPoniatowska diese Periode vor dem Leser aus.Diego Riviera, Frieda Kahlo, Lola und Manu-el Alvarez Bravo, Gustavo Ortiz Hernán undnatürlich Edward Weston, das sind nur diebekanntesten Personen, die der Leser ausder mexikanischen Zeit kennenlernt. Mit glei-cher Genauigkeit und hohem Maß an zeitge-schichtlichem Hintergrundwissen baut derRoman auch die Kapitel über Modottis Lebenin Berlin auf. Man erfährt von ihrer Begeg-nung mit der Fotografin und Galeristin LotteJacobi, von ihrem Kontakt mit MünzenbergsAgentur Union-Bild und von der für sie frem-den Form des dort betriebenen Fotojournalis-mus. Weitere Kapitel sind der Moskauer Zeitund ihrer engagierten Arbeit für die Interna-tionale Rote Hilfe (MOPR) gewidmet. Esfolgt ihr Weg über Frankreich in den Spani-schen Bürgerkrieg. In Spanien arbeitete TinaModotti unter dem Decknamen Maria. AlsKrankenschwester in einem Arbeiterkranken-haus gerät sie in ihrer aufopferungsvollenArt an physische und psychische Grenzen.Auch in Spanien ist sie weiterhin für dieRote Hilfe tätig.

Dem historischen Wissen der Autorin ist eszu verdanken, daß weder ein verklärter nochantikommunistischer Blick auf die Zeit desSpanischen Bürgerkrieges vermittelt wird.Gleichberechtigt, als Fakten aus der Ge-schichte, wird der Kampf der POUM und derder Internationalen Brigaden, werden der An-archist Durriti und die Pasionaria gewürdigt.

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Die letzten Buchkapitel sind dem Leben TinaModottis nach diesem Krieg reserviert. Unterfalschem Namen, als spanische LehrerinCarmen Ruiz Sánchez, reist sie im April 1939über die USA in das Land ein, das sie 1930ausgewiesen hatte. Still und zurückgezogenlebt sie bis zu ihrem frühen Tod – am 5. Januar1942 – in Mexico City.

Tinissima ist ein Roman, der voller Span-nung steckt, daß man ihn nicht enden lassenmöchte, zumindest ist es mir beim Lesen soergangen. Die einfühlsame und anteilnehmen-de Art, die in den Fotografien Tina Modottiszu spüren ist – von denen Erwin Egon Kischsagte, sie seien vollkommene Gemälde –, ver-steht die Autorin des Romans stimmungsvollliterarisch umzusetzen. Es entsteht eine Nähezu Tina Modotti und dadurch eine mitreißen-de Lebensgeschichte dieser faszinierenden,außergewöhnlichen Frau. Die Mischung ausFiktion und Biographie, aus historischen Fak-ten und Hintergrundinformationen, das Ganzeaufgelockert durch Passagen aus persönlichenBriefen Tina Modottis und nicht zuletzt durcheine Reihe von Fotos von Edward Weston,Robert Capa und selbstverständlich vielenModotti-Fotos macht das Buch zu einemgelungenen Werk.

Es bleibt nicht verborgenen, daß die Autorindieses Bandes eine zehnjährige intensive For-schungsarbeit über Tina Modotti betriebenhat, in Archiven und Nachlässen stöberte undin unermüdlicher Kleinarbeit Interviews mitwichtigen Zeitzeugen und WegbegleiternModottis führte. Die Liste mit Namen derBefragten füllt allein zwei Seiten im Anhangdes Buches, die durch die Aufreihung derSammlungen, Archive und Forschungsstellenergänzt wird, in denen Poniatowska gearbeitethat. Es ist ihr wirklich hoch anzuerkennen,daß sie all diese Details zu diesem lesenswer-ten Buch zusammengestellt hat. Zu dankenist in diesem Zusammenhang auch ChristianeBarckhausen, selbst langjährige Modotti-For-scherin und -Biographin, die diesen 1992in Mexiko erschienenen Roman übersetzt hatund so dem deutschen Leser zugänglichmacht.

SIEGFRIED BRESLER

Mohsen Massarrat:Endlichkeit der Natur und Überflußin der Marktökonomie. Schritte zum Gleichgewicht,Metropolis-Verlag Marburg 1993,267 S.

Die Problematik der Erschöpfbarkeit vonRessourcen und das Phänomen sinkenderRohstoffpreise auf den Weltmärkten wurdeschon von vielen Autoren behandelt. Massar-rats Analyse ragt hier in einer Reihe vonPunkten heraus, weil sie den Forschungs-gegenstand historisch und allseitig logisch(d.h. auch »ökologisch«) betrachtet und – freivon vermeintlichen Sachzwängen – alternati-ve Lösungsansätze anbietet. Darüber hinausist die Arbeit verständlich geschrieben undsystematisch aufgebaut.

Massarrat beginnt zunächst mit den inzwi-schen weitläufig bekannten Ursachen für dasScheitern des osteuropäischen Staatssozia-lismus – »jahrzehntelang wurde dort von derökonomischen und der ökologischen Sub-stanz gezehrt. Das System war ökonomischnicht dauerhaft, sein Anspruch auf sozialeGleichheit reichte für seine politische Legiti-mation nicht mehr aus und mußte unaus-weichlich an ökonomischen, ökologischenund letztlich auch an sozialen Herausforde-rungen der Gegenwart scheitern« (S. 11).

Doch für die westliche Marktökonomie inihrer heutigen Struktur sind die Aussichtennicht besser. Viele ihrer faszinierenden Eigen-schaften sind Resultat unglaublicher Ver-schwendung und Zukunftsblindheit. Seit Jahr-zehnten werden die Weltmärkte mit erschöpf-baren natürlichen Ressourcen überschwemmt.Die Preise dieser nicht reproduzierbarenGüter sind trotz ihrer Eigenschaft der Er-schöpfbarkeit nicht gestiegen sondern gesun-ken. Diese Erscheinung ist nach Massarrat dasgenaue Gegenteil von einem nachhaltigenUmgang mit den natürlichen Lebensgrundla-gen. Der vermeintliche Überfluß an knappenRessourcen ist zudem auch höchst ungleich-mäßig verteilt. Ein Fünftel der Weltbevöl-kerung konsumiert den überaus größtenTeil der natürlichen Ressourcen – 86 Prozentdes Aluminiums, 81 Prozent des Papiers,

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80 Prozent von Eisen und Stahl sowie 75Prozent der kommerziell erzeugten Energie.Ein Großteil dieser Materialien stammt ausEntwicklungsländern. »Kraß formuliert kanngesagt werden, daß das reiche Fünftel derWeltbevölkerung im Norden nicht nur diekünftigen Generationen ihrer Lebensgrundla-ge beraubt, sondern schon heute den armenvier Fünfteln der Weltbevölkerung ... buch-stäblich die Lebensgrundlage unter den Füßenwegzieht und sie obendrein mit den Schad-stoffen und dem Müll seines Konsums bela-stet. Die Marktökonomie im Norden gedeihtoffensichtlich zu Lasten der Natur, der künfti-gen Generationen und der großen Mehrheitder Menschen in der Gegenwart«. (S. 12)

Massarrat bewertet die rasante ökonomi-sche Entwicklung der Industrieländer unterökologischem Aspekt. Dank der Revolutio-nierung des Transportwesens und geogra-phisch-ökologischer Vorteile konnten dieFrüchte der Natur des gesamten Globus in dienördlichen Wachstumsinseln verfrachtet wer-den. Im Gegensatz zu der bei großen Teilender Bevölkerung verbreiteten Auffassunggeschah dies nicht nur durch Markteffizienzund als Folge der internationalen Arbeitstei-lung, sondern zu einem beachtlichen Teildurch politische und militärische Interven-tion. »So verhinderten die Industrienationeneine den natürlichen Gegebenheiten angepaß-te und nachhaltig ökonomische Entwicklungsowohl im Norden wie im Süden ... künstli-cher Überfluß und politisch regulierte Dum-pingpreise bei erschöpfbaren Ressourcenermöglichten ... das ökonomische Wachstumauf wenigen Wohlstandsinseln...« (S. 12).D.h. auch die »erfolgreichen« marktökonomi-schen Modelle leben von der Substanz undverletzen – tiefgreifender und fundamentalerals die Planwirtschaften – die Gesetze nach-haltiger Entwicklung. Die globalen ökologi-schen und sozialen Folgen des marktökono-mischen Systems dürften folglich für dieMenschheit gravierender sein. Ein Scheiternder jetzigen Politik ist vorprogrammiert, diePerspektiven einer solchen Entwicklungliegen jedoch noch völlig im Dunkeln.

Ungeachtet dieser Bedrohung führt dieNeoklassik den Wohlstand des Nordens wei-terhin auf die hohe Effizienz der Marktökono-mie und die Leistung der Marktteilnehmer

zurück. Sie bestreitet mehr oder weniger,daß dieser Wohlstand zu einem beträchtlichenTeil der übermäßigen Ausbeutung der Naturund der Zerstörung der Umwelt zuzurechnenist. Die Natur ist als Produktionsfaktor ausihrem Theoriengebäude weitgehend verbannt.Die neuerlichen Versuche der Neoklassik,die externen Produktionskosten in den Wirt-schaftsprozeß einzubeziehen, sind nach Mas-sarrat zaghaft und ohne praktische Konse-quenz. Setzten sich die Neoklassiker durch,wäre die Annahme berechtigt, daß sich Markt-ökonomie und nachhaltige Wirtschaft aus-schließen.

Doch dem Marktprinzip ist nicht die ganzeMisere ökologischer wie sozialer Verwerfun-gen anzulasten. »Vielmehr ist es die Ver-schmelzung des Marktes mit Macht, desMarktes mit Sonderinteressen von einflußrei-chen sozialen Gruppen, mit Interessen vonStaaten« (S. 13), die als verhängnisvolle Al-lianz das Überleben der gesamten Menschheitbeeinträchtigt. Daraus leitet Massarrat dieprinzipielle Möglichkeit von Reformen ab,die das Ziel haben müssen, globale ökologi-sche Katastrophen und soziale Explosionennoch rechtzeitig zu verhindern, wobei bei ihmder Festsetzung von Obergrenzen des Ver-zehrs an Ressourcen, der sozial gerechtenVerteilung ihrer Nutzung und der Überwin-dung von Dumpingpreisen für natürlicheRessourcen eine Schlüsselrolle zukommt.

Für Massarrat ist bei der Analyse der Ver-bindung von Markt und Macht das MarxscheTheoriengebäude nach wie vor unverzichtbar.»Dessen Schwäche liegt allerdings darinbegründet, dynamische Marktprozesse nichtbeschreiben zu können. Die Neoklassikschließt dagegen historische und politisch-ökonomische Faktoren aus ihrer Betrachtungaus, verfügt jedoch über Instrumente undErklärungsmuster, die die ökonomischenProzesse in ihrer Dynamik erfassen undbeschreiben können. Eine Verbindung zwi-schen Marx und Neoklassik durch Moderni-sierung des ersteren und Politisierung derletzteren ist daher naheliegend und auchnotwendig...« (S. 14).

Teil eins des Buches ist der historisch-theoretischen Analyse gewidmet. Interessantist hier vor allem die Evolution der Neo-klassik, die bis zum Ende des 19 Jh. natürli-

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chen Faktoren durchaus eine gewisse Knapp-heit zuerkannte. Das spätere periodische Auf-treten von Überproduktion und die sinkendenPreise für Rohstoffe führten jedoch bald zurVerdrängung dieser Ansicht – trotz Erdöl-schock und wachsendem Umweltbewußtseinschienen natürliche Ressourcen jederzeit imnotwendigen Umfang verfügbar zu sein.

Davon ausgehend setzt sich Massarrat mittraditionellen Erklärungsmustern für die nied-rigen oder sinkenden Rohstoffpreise ausein-ander. Sowohl systemkritischen als auch neo-klassischen Erklärungen mangele es an einerganzheitlichen Analyse, die monetäre, phy-sisch-stoffliche und physikalisch-thermody-namische Kategorien erfassen müsse. In die-sem Zusammenhang ist für den Autor die weitverbreitete Auffassung, Marx hätte mit seinerArbeitswerttheorie die ökologischen Fragenweitgehend ausgeblendet, nicht haltbar, wobeier insbesondere auf den dritten Band des»Kapital« Bezug nimmt und verdeutlicht, daßhier sehr wohl Fragen der besonderen Preis-bildung bei erschöpfbaren und/oder monopo-lisierbaren Naturressourcen ausführlich be-handelt sind.

Insgesamt geht es Massarrat jedoch wenigerum die Fehler und Lücken ökonomischerTheorien als vielmehr um die (veränderbaren)Rahmenbedingungen von Marktwirtschaften.In einem historischen Exkurs arbeitet er des-halb ausführlich heraus, daß nicht nur die Mo-bilitätsrevolution zur Verbilligung von Agra-rerzeugnissen und Rohstoffen beitrug, son-dern ebenso die untergeordnete Stellung desSüdens in der kapitalistischen Weltwirtschaftunter Verletzung des Marktregimes (»Dualsy-stem«). Ohne dieses System und globaleDumpingpreise hätte es das fordistische Indu-strie- und Kommunikationssystem in seinerjetzigen expansiven Form nicht geben kön-nen. Erst mit ausreichenden und billigen En-ergieträgern und Rohstoffen wurde die preis-günstige Produktion von Massengütern über-haupt erst möglich. Massarrat bringt hier denausführlichen Nachweis, daß es sich bei denheutigen Rohstoffpreisen nicht um wirk-liche,alle Kostenfaktoren einschließende Markt-preise handelt, sondern um Dumpingpreise.Diese Preise sind auf rein betriebswirtschaftli-che Kosten reduziert. Sie enthalten weder dieRessourcenkapitalkosten noch die (externen)

ökologischen »Kosten« (vgl. 38f.). Im zwei-ten Teil des Buches weist Massarrat schließ-lich nach, daß bei fossilen Energieträgern wieErdöl die Weltmarktpreise tenden-ziell selbstunter die weltweit durchschnittlichen be-triebswirtschaftlichen Kosten auf die jeweilsregional günstigsten notwendigen Aufwen-dungen gedrückt werden, was sich vor allemder wachsenden Interessenverflechtung derÖlmonarchen über Kapitalanlagen mit denKonjunkturen westlicher Wirtschaften ver-dankt – die Profite aus Kapitalanlagen über-steigen längst die Gewinne aus dem Erdöl-Geschäft.

Was beim Öl besonders sichtbar wird, läßtsich auch bei der Preisbildung für vieleandere Rohstoffe nachweisen. Die neoliberaleThese von Freihandel und vollkommenemMarkt ist eine Fiktion. In Wirklichkeit befin-den sich die Länder des Südens durch Mono-kulturen, Umweltzerstörung, Schuldenfalleund Protektionismus in einer außerordent-lich unfreien weltwirtschaftlichen Position.Massarrat resümiert: »Sinkende Rohstoffprei-se sorgen offensichtlich dafür, daß sich dasökonomische System – und damit der Norden– sowohl vom natürlichen System wie vomsozialen System – und damit vom Süden – ab-koppelt und in der gefährlichen illusionärenVorstellung, sich beide Systeme unterwerfenzu können, jene gewaltige Spannung erzeugt,die sich in ungeahnten ökologischen und/odersozialen Katastrophen entladen kann. Diegegenwärtigen Umweltkatastrophen ... sowiedie Migrationsbewegungen von Süd nachNord müssen als zunehmende Warnsignaledes natürlichen bzw. des sozialen Systemsgegenüber dem ökonomischen System inter-pretiert werden« (S. 38).

Wie könnte der Ausweg aus dieser funda-mentalen Widerspruchskonstellation ausse-hen? Massarrat setzt sich mit den verschiede-nen Ansätzen für Entwicklungsalternativenhinsichtlich Problemsicht und Lösungskapa-zität auseinander. Zur neoklassischen Schule,deren prominenteste Vertreter bis zur Behaup-tung von der völligen Ersetzbarkeit natürli-cher Rohstoffe gehen, bemerkt er: »Diefehlende Distanz zur ökonomischen Realität,das fehlende Geschichtsbewußtsein und dieFixierung auf subjektiv definierbare Kate-gorien ... erklärt die ›verblüffende‹ Erkennt-

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nis, daß nicht erneuerbare Güter eigentlichnicht erschöpfbar sind und dagegen ausge-rechnet die erneuerbaren zu knappen Güterngeworden sind«. (S. 106f.) Aber auch Strö-mungen, denen die Umwelt sehr am Herzenliegt, die sich aber nur mit ethisch-normativerOrientierung begnügen, können nicht vielNeues für ein anderes Verhältnis der Ökono-mie zur Natur beitragen. Die sich teilweise anKeynes orientierende Strömung, die »wahrePreise« im Rahmen einer ökologischen Steu-erreform fordert, wird von Massarrat wegenunzureichender Argumentation kritisiert.Es kann nicht nur darum gehen, außer denbetriebswirtschaftlichen Kosten auch dievolkswirtschaftlichen Reparatur- und Folge-kosten zu erfassen. Weil die gegenwärtigeGeneration von der Substanz lebt, müssen dierealen Kosten dieser Existenzweise als Faktorin die Preisbildung der verbrauchten Rohstof-fe mit eingehen. Die damit entstehendenrealen Rohstoffpreise könnten nach Massarrateinen grundlegenden Umbau des ökonomi-schen Systems erzwingen. Durch die Rück-verlagerung des ökonomischen in das ökolo-gische System würde das Zusammenrückenbeider dauerhaft und ein gleichgewichtigesGesamtsystem wäre wieder erreichbar.

Wird bei einer ökologischen Steuerreformjedoch die Fortexistenz des »Dualsystems«ausgeblendet, könnten sich einige nichterwartete, unangenehme ›Überraschungen‹ergeben. Die Atomindustrie könnte von man-chen Steuern profitieren und viele OPEC-Staaten würden verminderte Exporterlösedurch Überproduktion auszugleichen versu-chen. Die Preise blieben niedrig und der über-kommene Mechanismus intakt.

Letztlich bleibt nur übrig, den Rohstoff-/Energieträgerexporteuren des Südens er-kennbare Vorteile zu gewähren. Die Festle-gung von Obergrenzen für den Ressourcen-verbrauch, eine weltweite Energiesteuer mitökologischer Zweckbindung, eine Energie-konvention und eine UN-Energieaufsichts-behörde, der Abbau preisverzerrender Sub-ventionen, gezielte Finanz- und Technologie-transfers in den Süden, Besteuerung derDifferentialrente und öffentliche Kontrolleder strategischen Entwicklungsgebiete spielenfür Massarrat eine wichtige Rolle. Sind dieRahmenbedingungen geklärt, so kann man

den Rest nach Massarrat getrost dem Marktüberlassen.

Der Autor setzt dabei voraus, daß der Aus-stieg aus der Atom-Energie politisch gewolltist und regionale Initiativen (z.B. im EU-Rahmen) Alleingänge erzwingen. So sei eindeutscher Sonderweg, angesichts des hoch-entwickelten Wirtschaftspotentials durchausmöglich, kurzfristige Wettbewerbsnachteilekönnen durch langfristige Vorteile infolgeinnovativer Prozesse wieder ausgeglichenwerden.

Wie schnell sich vernünftige Ansichtendurchsetzen können, ist heute nur schwer ein-schätzbar. Aber Veränderungen des Welt-klimas und die Zunahme umweltbedingterKatastrophen und Krankheiten können dieStimmung für eine radikale Reformvarianteentstehen lassen – vielleicht.

REINHARD GRIENIG

Herbert Brücker:Privatisierung in Ostdeutschland.Eine institutionen-ökonomischeAnalyse,Campus Verlag Frankfurt/New York 1995, 419 S. (98,00 DM)

Zum 31.12.1994 wurde die Treuhandanstalt inBerlin aufgelöst. Ihre ordnungspolitischeAufgabe, die Privatisierung des Volkseigen-tums der DDR, hat sie weitestgehend erfüllt.Als Nebeneffekte sind allerdings die Deindu-strialisierung Ostdeutschlands, der Abbau vonmehr als drei Millionen Arbeitsplätzen undein Milliarden-Defizit in der Abschlußbilanzzu verzeichnen. Angesichts dieser Fakten istkeine konsensuelle Wertung der Tätigkeit derTreuhand möglich. Vielmehr wird diesesThema nach wie vor kontrovers diskutiert,und – je nach Interessenlage und Position –unterschiedlich beurteilt. Um so mehr istes zu begrüßen, daß der Autor vorliegenderStudie den Versuch unternommen hat, dengesamten Prozeß der Privatisierung unvorein-genommen zu analysieren und wissenschaft-

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lich zu durchleuchten. Und zwar in bisherumfassendster Weise, sowohl was die theore-tische Argumentation anbetrifft als auch imHinblick auf die Empirie.

Brücker bedient sich dabei der theoreti-schen Grundlagen und des Instrumentariumsder sogenannten Neuen Institutionenökono-mie. Dieser Ansatz ermöglicht es ihm, dieEigentumsfrage gebührend, das heißt als zen-trale Frage der Wirtschaftstheorie, zu behan-deln. In der klassischen Politischen Ökonomievon Adam Smith bis Karl Marx stand derEigentumsbegriff immer im Zentrum der öko-nomischen Theorie. Dann aber, insbesondereseit Leon Walras, vollzog sich hier ein Bedeu-tungswandel zugunsten des Marktmechanis-mus. Mit der Neuen Institutionenökonomieerfährt die Eigentumsfrage gegenwärtig eineAufwertung, »eine theoretische Renaissance«(S. 23), die sich der Autor zunutze macht.

Die Anlage der Studie folgt einem dedukti-ven Muster. Am Anfgang steht die theoreti-sche Begründung der Privatisierung. Dabeistützt sich der Autor auf zwei Aspekte, aufdie notwendige Kohärenz der Marktwirtschaftund auf das Effizienzargument. In einemzweiten Schritt werden dann die Effizienz-und Verteilungseffekte verschiedener Privati-sierungsverfahren analysiert. Drittens schließ-lich wird, sozusagen exemplarisch, die Pri-vatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt inOstdeutschland untersucht. Dieser Teil derArbeit erstreckt sich auf mehr als die Hälftedes Buches und rechtfertigt den Titel.

Brücker behandelt nicht nur ein interessan-tes und aktuelles Thema. Er tut dies auch aufeine abwechslungsreiche und bemerkenswertgekonnte Art und Weise, so daß sich deranspruchsvolle Text, ausgenommen die Kapi-tel 4 und 12.2., die mathematische Kenntnisseerfordern, recht flüssig liest.

Sehr schlüssig wird im ersten Teil heraus-gearbeitet, daß die Privatisierung der »Durch-setzung einer harten Budgetrestriktion« als»Voraussetzung für die Kohärenz einerMarktwirtschaft« dient. Und daß zweitens»von der Privatisierung ...– sofern keine ex-ternen Effekte auftreten – Effizienzgewinnezu erwarten sind« (S. 79). Im Anschluß daranwerden die Allokationseffekte der wichtigstensechs Privatisierungsverfahren komparativuntersucht. Die Ergebnisse der Analyse blei-

ben jedoch verhältnismäßig abstrakt. EineVerifikation anhand der Resultate unter-schiedlicher Vorgehensweisen in einzelnenTransformationsländern erfolgt nicht.

Sodann wird der »beschränkte Bieterwett-bewerb« als ein wesentlicher Mangel imPrivatisierungsprozeß ausgemacht. Infolgebeschränkter Kompetenzen und Vermögender Bieter einerseits und wettbewerbsunter-bindender Privatisierungsverfahren anderer-seits, erfolgte die Privatisierung faktisch unterBedingungen, die dem Modell eines »bilatera-len Monopols« entsprechen. Die Folge dieserKonstellation ist, daß alle Vorteile bei denKäufern und Investoren konzentriert sind undfolglich die Nettoerträge der Privatisierungnicht dem Verkäufer, sondern dem Käuferzugute kommen. Dies erklärt dann zu einemGutteil die defizitäre Abschlußbilanz derTreuhandanstalt und die Privatisierungs-gewinne der Käufer!

Im fünften Kapitel verläßt der Autor diewirtschaftstheoretische Ebene und widmetsich den Verteilungs- und Wohlfahrtseffektender Privatisierung sowie den damit verbunde-nen ethischen Problemen. Im Zentrum stehtdabei die Frage nach den neuen Eigentü-mern in den Transformationsökonomien. DreiGruppen kommen dafür in Betracht:

die frühere Nomenklatura, die Vertreter dersogenannten Schattenwirtschaft resp. »Mafia«und ausländische Investoren (S. 163). Egal,welche Privatisierungsmethoden angewendetwerden: In jedem Falle erfolgt eine Umvertei-lung öffentlichen Vermögens zugunsten derbesser Gestellten (S. 178). Während dies inRußland, Tschechien, Polen usw. vor allemdie ersten beiden Gruppen sind, partizipiertenin Ostdeutschland zu 90 Prozent westdeutscheUnternehmen an der Privatisierung. Letzteregeriet dadurch zu einem gigantischen Ost-West-Transfer. »Ethisch«, schreibt Brücker,»kann diese Umverteilung nur dann gerecht-fertigt werden, wenn durch sie auch die Wohl-fahrt der am schlechtesten Gestellten erhöhtwird« (S. 178). Ob das auf Ostdeutschland –auch langfristig – zutrifft, bleibt abzuwarten.

Der Erfolg der Privatisierung hängt von denwirtschaftlichen und institutionellen Rahmen-bedingungen ab. Diese wurden in Ostdeutsch-land mit der Währungs- und Wirtschaftsuniongesetzt. Im Unterschied zu den anderen Trans-

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formationsländern existierte damit in Ost-deutschland von Anfang an eine stabileWährung. Die Kehrseite dessen war jedochder Wegfall des Wechselkurspuffers und diesofortige Integration der ostdeutschen Wirt-schaft in den westdeutschen Wirtschaftsraum,in die EU und in den Weltmarkt. Drittens wur-de die ostdeutsche Währung durch den Um-tauschsatz faktisch aufgewertet, während alleanderen Länder des ehemaligen RGWabgewertet haben. Viertens war der Expor-teinbruch für Ostdeutschland besondersschmerzhaft. Fünftens war es nach derdeutschen Vereinigung unvermeidbar, daß dieLöhne stiegen und damit die Faktorkosten.Und sechstens schließlich wird die System-transformation durch hohe Transferzahlungenaus öffentlichen Mitteln gesamtdeutschabgefedert. In bisherigen Darstellungen wer-den diese Besonderheiten der ostdeutschenTransformation immer sehr unkritisch undpositiv gewertet. Brücker betont dagegen ihreZwiespältigkeit, indem er auch die negativenKonsequenzen aufzeigt. So war der wirt-schaftliche Einbruch in keinem Land tieferals in der Ex-DDR. Und nirgends nahm derBeschäftigungsabbau auch nur annäherndsolche Dimensionen an wie in Ostdeutsch-land.

Besonders schwer wiegt in diesem Zusam-menhang die weitestgehende Entwertungdes ostdeutschen Kapitalstocks. Durch dieschockartige Transformation der makroöko-nomischen und institutionellen Rahmenbedin-gungen und die bedingungslose Integrationder ostdeutschen Wirtschaft in den Wirt-schafts- und Währungsraum der BRD wurdedas faktorspezifische, an bestimmte Verwen-dungsbedingungen gebundene Kapital derostdeutschen Unternehmen weitgehend ent-wertet. Die Treuhandanstalt mußte folglicheinen Kapitalstock privatisieren, »der unterden gegebenen Kosten- und Produktivitätsbe-dingungen obsolet geworden ist« (S. 198).Sehr aufschlußreich ist die Analyse der Trans-formation des Rechtssystems im siebentenKapitel. Hier wird nachgewiesen, daß jedenur denkbare Möglichkeit genutzt wurde, ummit den Mitteln des Rechts den Marktpreisdes ostdeutschen Produktionspotentials zudrücken und die Position westdeutscher Bie-ter und Alteigentümer zu stärken. So entbehrt

zum Beispiel die Entscheidung für dieNaturalrestitution jeglicher ökonomischerRationalität und Logik. Sie trug aber nichtunerheblich zu einer Wertsenkung und zurVerunsicherung der Investoren bei (S. 230).

Die Abschnitte über die Treuhandanstaltsind sehr sachlich gehalten. Ihr kritischerCharakter offenbart sich erst bei genauerLektüre. So zeigt der Autor, daß es unmöglichist, binnen vier Jahren 8.482 Betriebe (bzw.14.000 Unternehmen nach erfolgter Aufspal-tung der VEBs) und zahlreiche weitereObjekte in der Land- und Forstwirtschaft, imBergbau usw. nach ökonomischen Gesichts-punkten zu privatisieren. Zwischen 1980 und1987 wurden weltweit (!) nicht mehr als 1.000Unternehmen privatisiert (S. 298). Dies zumVergleich. Offensichtlich war in Ostdeutsch-land von vornherein kein wirklicher Verkaufvorgesehen, sondern ein Transfer, wie er dannja auch stattfand.

Die objektive Seite dieses Prozesses ist inder mit der Währungsunion zwangsläufig ver-bundenen Entwertung des Kapitals zu sehen.Die subjektive Seite tangiert die Tätigkeitder Treuhandanstalt, ihre Geschäftspolitik.Brücker analysiert unter diesem Aspekt dieextrem niedrigen Privatisierungserlöse derTreuhandanstalt (S. 330), die Verkaufsprakti-ken, die Interessenlage der Verkaufsagentender Treuhandanstalt, wovon derzeit 180 unterStrafanzeige stehen (Berliner Zeitung vom 12.Februar 1996), die Zuwendungen der Treu-handanstalt an Investoren in zweistelligerMilliardenhöhe (S. 331) usw. Es spricht vielesdafür, daß die Treuhandanstalt »in vielen Fäl-len ihre Verhandlungsposition geschwächt hatund die Privatisierungsstrategie nicht effizientumgesetzt wurde«. Andererseits hat die Treu-handanstalt »den Käufern in Form von Preis-nachlässen und negativen Verkaufspreisen«Subventionen gewährt für Beschäftigungs-und Investitionszusagen, deren Einhaltungkaum kontrolliert und nur in den seltenstenFällen durchgesetzt wird.

Alles in allem, so resümiert der Autor, hatdie Treuhandanstalt ihren Privatisierungs-auftrag erfüllt und damit zu einer Erhöhungder Produktionseffizienz beigetragen. Dasdies »jedoch nicht zwingend mit derErfüllung anderer wohlfahrtsökonomischerZiele wie Vollbeschäftigung oder hohem

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Wirtschaftswachstum verbunden« sein muß,belegen die Erfahrungen der ostdeutschenTransformation. Angesichts der makroökono-mischen Folgen muß die positive Gesamtwer-tung der Privatisierung, zu der der Autor imSchlußkapitel neigt, in Frage gestellt werden.Hier wäre eine stärker problematisierendeSicht vielleicht zutreffender gewesen.

ULRICH BUSCH

Alister Sparks:Morgen ist ein anderes Land.Südafrikas geheime Revolution,aus dem Englischen von Malte Friedrich,Berlin Verlag Berlin 1995,350 S. (39,80 DM)

Alister Sparks, ein bekannter kritischersüdafrikanischer Journalist hat ein Buchgeschrieben, das für das Ende der DDR nochauszustehen scheint: die Geschichte der akti-ven und schöpferischen Rolle der Geheim-dienste und die Wahrheit von Verschwörungs-theorien für sozialen und politischen Wandel.Gleichzeitig ist es ein Buch über die überra-gende Rolle von Persönlichkeiten in verfein-deten politischen Lagern geworden, die in ei-ner Schlüsselstunde gemeinsame Wege in ei-ne friedliche Zukunft zu gehen bereit waren.Und es ist ein Buch über die mögliche Wan-delbarkeit von Herrschaftsstrategien in derveränderten, nun postsozialistischen Welt.

Natürlich ist der Bezug auf die DDR unddie Rolle der Geheimdienste nur ironisch ge-meint, denn trotz aller Bemühungen sind zwarmarginale Wirkungen der Geheimdienste ausOst und West im Umkreis des Herbstes ´89auszumachen, aber jene rühmliche Rolle, dieS. für sein Land festschreibt, ist hier kaumnachvollziehbar. Dafür ist das Beispiel Süd-afrika aber für die Verhältnisse der DDR unddes vereinten Deutschlands auch deshalbso brennend aktuell, weil es Fragen von Sy-stemtransformation, Vergangenheitsbewälti-gung, vor allem aber Versöhnung bislang po-sitiv beantwortet. Dabei ist es jedoch am Kapder Guten Hoffnung noch offen, ob diese

Zuversicht auf Versöhnung weiter trägt – oderaber, ob die Last der Vergangenheit durch-schlägt und die Wunden neu aufgerissenwerden.

S. zeichnet aus Sicht der politischen Akteu-re in Regierung, Geheimdiensten und ANCdas knappe Jahrzehnt nach, das das Ende derApartheid und den Triumph des ANC, denSieg von »one man – one vote« brachte. BisEnde der 80er Jahre waren alle Reformver-sprechungen der Weißen gleich dem »Ver-rücken der Liegestühle an Deck der Titanic«(S. 16). Da bescherte die Geschichte, »so baldnach Michail Gorbatschows Perestrojka, einweiteres Reformwunder« (S. 21). Mit F.W. deKlerk hatte ein weißer Politiker an der Spitzeder Nationalpartei Konsequenzen aus der ver-änderten Weltlage und der latenten innerenKrise gezogen, seinen politischen ZiehvaterP.W. Botha gestürzt und einen Prozeß in dieWege geleitet, an dessen Ende er sich selbstaus der Macht herausverhandelt hatte.

Es war kein einseitiger Prozeß. Seit 1985hatten Vertreter der Regierung und desGeheimdienstes diese Wandlungen vorberei-tet. Sie erkannten, daß es ihnen nichts nutzte,mit N. Mandela den populärsten ANC-Führergefangen zu halten. Deshalb suchten sie dasGespräch mit ihm, verbesserten seine Haftbe-dingungen, fuhren ihn schließlich heimlichdurch´s Land, um ihn auf seine Freilassungvorzubereiten. Anfänglich war das mit derErwartung verbunden, über die Person Man-delas den ANC im Lande und im Exil gegen-einander auszuspielen, gar Mandela »umzu-drehen«.

Das scheiterte aus zwei Gründen. Einmalerwies sich der innere Widerstand des ANC,von den Massen in den Townships getragen,als nicht zu stoppen. Andererseits ließ Mande-la sich nicht brechen oder korrumpieren. Dereinstige Befürworter des bewaffneten Kamp-fes erkannte selbst die neuen Zeichen und erfand in Teilen der weißen FührungsschichtSympathie für eine friedliche Konfliktlösung,die mit dem Verlust der weißen Vorherrschafteinhergehen mußte.

Eine Szene läßt die neue Lage plastischwerden. Im Juli 1989 ist der damalige Präsi-dent Botha endlich bereit, mit Mandela zusprechen. Unter strengster Geheimhaltung –nicht zuletzt aus Furcht vor einem Anschlag

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weißer Rechtsextremisten – kommt ein Tref-fen zustande. Im Vorzimmer kniet der Chefdes Nationalen Geheimdienstes vor Mandela,um diesem die Schnürsenkel zu binden. DasGespräch bleibt substantiell ergebnislos,aber der Bann ist gebrochen. Botha willallenfalls Scheinkonzessionen, wird aberschließlich von seinen politischen Freundenausgeschaltet.

Was zunächst als Ein-Mann-Aktion Mande-las mit einem Verhandlungsspiel mit derRegierung begann, legitimiert im Endeffektder ANC mit seiner Harare-Erklärung vomAugust 1989 und einem offiziellen Verhand-lungsangebot. Dabei plagen den ANC Zwei-fel, sorgt Mandelas Geheimniskrämerei fürAbstimmungsprobleme. Seine Beharrlichkeitund Prinzipienfestigkeit führten jedoch letz-ten Endes zum Erfolg.

Auf der anderen Seite entwickelt sich derursprünglich konservative de Klerk zumReformer, gibt unverzichtbare Positionenpreis. Die erfolglose Aufstandsunterdrückung,die sich verschärfende Wirtschaftskrise, vorallem der Druck eines – wenn auch inkonse-quenten – internationalen Wirtschaftsboykottslassen den Präsidenten auch die Interessen derWirtschaft überdenken. Und da ist – daraufweist S. immer wieder hin – der Einfluß derPerestrojka. Reformen sind machbar, derKalte Krieg endet. Es ist die Zeit, da sich »dasSowjetreich aufzulösen (begann) und damitdie Phobie Pretorias beseitigte, der schwarzeBefreiungskampf sei eine von Moskau diri-gierte Verschwörung« (S. 143/144).

S. macht allerdings bei aller Analogie deKlerks zu Gorbatschow auf einen Punkt auf-merksam, an dem der Südafrikaner konse-quenter agierte als der Mann im Kreml.»Er stand zu den Veränderungen, versuchtenicht, den Prozeß einzufrieren. Er kam zu derErkenntnis, daß man ein unterdrückerischesSystem nicht reformieren kann: wenn manes lockert, muß man den ganzen Weg gehen.Es konnte keine Perestrojka geben, nur dieAbschaffung. Er hat das akzeptiert, als esevident wurde. Sein eigener Wandlungspro-zeß hat mit den Ereignissen Schritt gehalten,das hat ihn gerettet – und Südafrika.“ (S. 155/156)

Das hinderte de Klerk allerdings nicht daran –hier bleibt S. in seiner Wertung verschwom-mener –, immer wieder über Wege zur »Tei-

lung der Macht« nachzudenken. Legale undnoch mehr illegale Wege werden beschrit-ten, wobei rechtsextremistische faschistischerKräfte augenscheinlich ihren Part spielendurften. Wurde schon in der VergangenheitM. Buthelezi und seine Inkatha zur Gegen-kraft aufgebaut, so kam nach der FreilassungMandelas und parallel zum Fortschreiten derVerhandlungen eine geheimdienstlich undmilitärisch abgesicherte »dritte Kraft« mitblutigem Terror zum Zuge. Nur der Konse-quenz des ANC und Mandelas war es zuverdanken, in dieser Situation die Ruhe zubewahren und die eigene politische Kraft vollin die Waagschale zu werfen. Nicht umsonstkokettierte der ANC mit der »Leipzig-Op-tion« – und er hatte Kraft und Gegenmacht,die schwarzen Massen zu mobilisieren. Wobeiallerdings auffällt, daß allein Politikgeschich-te diese sozialgeschichtliche Dimension,dieses Agieren sozialer Bewegungen zu sehrunterbelichtet.

An einer Wand in einem Township von PortElizabeth findet sich ein Graffiti »Die Straßeder Zukunft ist immer im Bau« (S. 315). Nochist Südafrikas Zukunft nicht entschieden, nachdem Fall der Rassenmauern treten die sozia-len Mauern viel deutlicher hervor. Nochkönnte das Land am Kap der Guten Hoffnungein optimistisches Beispiel für eine erfolgrei-che und progressive Transformation werden.S.s Optimismus für eine neue, große Nationsollte aufgehen. »Die Bauarbeiten sind niezu Ende.« (S. 329)

STEFAN BOLLINGER

188Bücher . Zeitschriften

Susanne Miller: Sozialdemokratie als Lebenssinn.Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hrsg. von Bernd Faulenbach, Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger Bonn 1995, 384 S.

Marlies Buchholz/ Bernd Rother: Der Parteivorstand der SPD im Exil.Protokolle der Sopade 1933-1940,Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger Bonn 1995, 571 S.

Der Band von (und für) S. Miller enthältihre nach Geschichtsperioden geordnetenAufsätze aus den Jahren 1969-1994 (davondie Hälfte aus den achtziger Jahren), dieein breites Themenspektrum umfassen: dieprogrammatischen Grundlagen der Sozial-demokratie, ihr Verhältnis zum Marxismus,zu anderen politisch-ideologischen Strömun-gen (Liberalismus, Antisemitismus), der Wegder SPD nach Godesberg; einige Aspekte derpolitischen Geschichte von SPD und SPÖ,besonders gegen Ende des Ersten Weltkriegesund in der Weimarer Zeit; Widerstand soziali-stischer Exilgruppen gegen den Faschismus;einzelne sozialdemokratische Politiker, Ober-bürgermeister, ParlamentarierInnen, Wider-ständlerInnen gegen Faschismus. Der Anhangenthält neben einer Würdigung durch WillyBrandt anläßlich S. Millers 70. Geburtstagesdie Aufzeichnung eines Gesprächs mit derAutorin 1986 über ihr politisches Engage-ment. Dieses verband sich seit Mitte derdreißiger Jahre mit dem Wirken des Interna-tionalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK)in London, einer vom Göttinger PhilosophenLeonard Nelson begründeten Gruppe, die denethischen Sozialismus vertrat, 1925 aus derSPD ausgeschlossen wurde, gegen Ende derWeimarer Republik sich um die Zusammenar-beit von SPD und KPD bemühte und nach1933 intensiv und opferbereit in Deutschlandund im englischen Exil den Nazis widerstand.Das Wirken dieser Gruppe hinterließ insoferneine sichtbare Spur in der Geschichte der

Nachkriegs-SPD, als ihr Mitglied Willi Eich-ler, seit 1946 wieder in Deutschland, diegeistige Entwicklung der SPD von da an bishin zum Godesberger Programm maßgebendgeprägt hatte. Als dessen Lebensgefährtinund politisch aktive Sozialdemokratin hatteS. Miller diese Entwicklung engagiert beglei-tet. Seit Anfang der sechziger Jahre ist sie alsHistorikerin tätig. Zur Vereinbarkeit des poli-tischen Engagements für eine Partei und»Objektivität als Historikerin« bekennt sie,daß »jeder, der... Geschichte erforscht undGeschichte darstellt, von einem bestimmtenStandpunkt ausgeht«, und so erhebe auch sienicht den Anspruch, daß das, was sie schreibe,objektiv sei; und trotzdem sei sie fähig, »dieGeschichte dieser Partei ... kritisch zu sehenund kritisch darzustellen« (S. 371). Die hiervorgelegten Aufsätze belegen das.

Als ethische Sozialistin beleuchtet S. Millerkritisch die Marx-Rezeption in der deutschenSozialdemokratie des 19. Jahrhunderts, vorallem deren historischen und antropologi-schen Optimismus. Sie räumt aber auch ein,daß es Marx »zunächst um den Menschen,den einzelnen, jeden einzelnen, der in seinerWürde zu achten ist«, gegangen sei (S. 352).Es sei vor allem Bebel gewesen, der Sozialis-mus mit der Sozialisierung des Eigentumsidentifizierte (was »eine große, folgenschwereVerkennung der Natur des Menschen« war)und eine sozialistische Zukunftsvision aus-malte, die naturnotwendig kommen werde(S. 88/89, 85, 174, 356). Kautsky, der offiziel-le Marx-Interpret und Theoretiker (S. 43),hätte »nie den Einfluß erlangt, den er besaß,wäre er von Bebel nicht so gestützt worden«(S. 174). Die Entscheidung der SPD-Reichs-tagsfraktion vom 4. August 1914 und diePolitik der Parteimehrheit im Kriege hält siefür falsch, mag aber die Frage, ob diese damitbewußt Verrat geübt hätten, nicht uneinge-schränkt bejahen, denn die Gründe seienvielfältiger gewesen (S. 41/42). Mehrfachverweist die Autorin auf die Wirkungen desKalten Krieges auf Programm und Praxis derSPD nach 1945. Diesem sei z.B. der Aus-schluß des Marxismus aus der Traditionder Arbeiterbewegung im Godesberger Pro-gramm geschuldet gewesen (S. 361). Die An-passung der SPD an gegebene Stimmungenund Wünsche der Bevölkerung (und den

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jeweiligen »Zeitgeist«?) wird von ihr als einWesenszug dieser Partei beschrieben. So z.B.,wenn sie den Gründen dafür nachgeht, warumder antifaschistische Widerstand der Jahre1933-1945 ebenso wie der nazistische Antise-mitismus kein Thema in der SPD nach 1945gewesen seien (S. 288-292, 347-349); oderwenn sie die Etappen hin zum GodesbergerProgramm beschreibt (S. 297 ff.). Mehrfachstellt sie fest, daß nach dem Ersten Weltkriegdie Programme in der SPD von der jeweiligenParteimehrheit kaum diskutiert, in ihrenwesentlichen Aussagen nicht rezipiert wur-den, so auch das Godesberger Programm(S. 309, 314).

Auffallend in dem Band, daß mehrereBeiträge einzelnen sozialdemokratischenPolitikern (z.B. Friedrich Ebert sen.) undPolitikerinnen (darunter kaum bekannten,z.B. den Frauen des ISK) gewidmet sind.Dazu die Autorin in dem Gespräch von 1986:Sie sei »an Fragen der Theorie verhältnis-mäßig wenig interessiert«; es ginge ihr beson-ders um »Menschen, und ich bin auch derMeinung, daß eine Geschichtsschreibung,die auf Theorien und Strukturen das Hauptge-wicht legt und darüber die lebendigen Men-schen vergißt, ... auf die Dauer uninteressantwird« und ihre Wirkung auf ein breites Publi-kum verliert (S. 372).

Auch wer so manche These und Wertungder Autorin nicht zu teilen vermag (so u.a.ihre Gesamtwertung der Marxschen Theorie,ihre Aussagen über Lenin, die gängigen Urtei-len folgen), sollte Positionen einer überzeug-ten ethischen Sozialistin, für die Sozialdemo-kratie in der Tat den Lebenssinn bedeuteteund auch heute ausmacht, vorurteilslos zurKenntnis nehmen und in das eigene Nachden-ken über Geschichte, Gegenwart und Zukunfteines demokratischen Sozialismus einschließen.

Während S. Miller – nachträglich – als Zeit-zeugin und Historikerin unter anderem auchzur Geschichte des sozialdemokratischenExils der Jahre 1933-1945 einen Beitragleistet, liegt mit den Sitzungsprotokollen derSopade (so bezeichnete sich der im Mai 1933emigrierte – hauptamtliche – Vorstand derSPD) ein Stück dokumentierter Geschichtedieses Exils von Juni 1933 bis März 1940 vor.Es handelt sich um 167 Dokumente, überwie-

gend aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED(heute in der Stiftung Archive der Parteienund Massenorganisationen der DDR im Bun-desarchiv, Berlin), z.T. auch aus dem Archivder sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, sowie weitere dreißig Doku-mente aus Sekundärüberlieferungen. Insge-samt sind 170 Vorstandssitzungen zwischen14. Juni 1933 und 6. Mai 1940 erfaßt unddamit die organisierende und publizistischeTätigkeit der Sopade dokumentiert, die indieser Zeit, bis Frühjahr 1938 von Prag,danach von Paris aus, über ein Netz vonGrenzsekretariaten den sozialdemokratischenWiderstand in Deutschland unterstützte. Inder Einleitung werten die beiden Bearbeiterdie Dokumente inhaltlich aus, indem sie dieGeschichte der Sopade 1933-1940 nachzeich-nen, Aspekte ihrer Organisation (Finanzen,Apparat, Grenzarbeit, Publikationen) be-schreiben, auf Debatten innerhalb des Gremi-ums eingehen und dabei bisherige Aussagenin der Historiographie (darunter der DDR)zum Thema korrigieren bzw. präzisieren. Vonbesonderem Interesse sind die Auskünfteüber Widersprüche und Auseinandersetzun-gen in der Sopade selbst und mit verschiede-nen sozialdemokratischen bzw. sozialisti-schen Widerstandsgruppen in bezug auf dasVerhältnis zur KPD und zur Einheitsfront mitihr, nicht zuletzt aufgrund der Vorschläge zurZusammenarbeit mit Kommunisten, die ausKreisen des sozialdemokratischen Widerstan-des in Deutschland kamen.

ULLA PLENER

Hans-Joachim Krusch:Irrweg oder Alternative?Vereinigungsbestrebungen der Arbeiterparteien 1945/46 undgesellschaftspolitische Forderungen,Pahl-Rugenstein Nachfolger Bonn 1996,272 S. (38,00 DM)

Zum 50. Jahrestag der Vereinigung von SPDund KPD, die im April 1946 von getrenntenund dann einem gemeinsamen Parteitag in

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Berlin für die sowjetische Besatzungszonebeschlossen wurde, sind viele Veröffentli-chungen erschienen. Zu ihnen gehören vorallem solche, die sich auf ehemalige und spä-ter verfaßte Aussagen von Zeitzeugen bezie-hen wie aber auch Wertungen, die mehr eineheutige Sicht widerspiegeln. Die Publikationvon Hans-Joachim Krusch unterscheidet sichdurch zwei, wie mir scheint, nicht unwesent-liche Aspekte.

Erstens stützt sie sich ausschließlich aufDokumente, Stellungnahmen und weitereMaterialien, die bereits 1945/46 erschienenwaren und damit damals die Diskussionen inden beiden Parteien beeinflußten. Zweitensenthält sie Materialien aus allen vier Besat-zungszonen. Eben darin besteht der bleibendeWert der Veröffentlichung.

Es sind fast ausschließlich Stellungnahmen– sowohl der SPD wie der KPD als auchgemeinsame – von Vorständen der einzelnenLänder bzw. Bezirke. Reflektiert wird damitdie »mittlere Ebene«, was um so höher zubewerten ist, weil gerade ihr unter den kon-kreten Bedingungen des Wiederaufbaus bei-der Parteien in den verschiedenen Besat-zungszonen eine besonders hohe Bedeutungund auch eine weitgehende Selbständigkeit inder politischen Meinungsbildung und auch imHandlungsspielraum, darunter zu Grundfra-gen aktueller wie künftiger Entwicklung,zukam.

Entgegen heute verbreiteter Deutungen undmehr aus späteren Entwicklungen gezogenenSchlußfolgerungen reflektieren die Dokumen-te eine beträchtliche Gemeinsamkeit in denAuffassungen. Sie waren in Ost- wie in West-deutschland durchaus ähnlich. In Sachsen wiein Hessen, in Mecklenburg wie in Bayernoder Baden, in Berlin wie in Hamburg über-wog eindeutig das Streben nach Aktionsein-heit von SPD und KPD und auch eine Hin-wendung zur organisatorischen Vereinigung.

Zwei Gründe waren maßgebend. Erstensdie Erkenntnis, daß die Spaltung der Arbeiter-bewegung und der mitunter unversöhnlicheKampf zwischen KPD und SPD wesentlichzum Scheitern der Weimarer Republik, wievorher schon zur Niederlage der Novemberre-volution, damit aber auch zur Machterobe-rung durch das Naziregime und deren ver-derblichen Folgen beigetragen hatten. Zwei-

tens, die damit verständlicherweise verbunde-ne Schlußfolgerung, daß eine konsequente an-tifaschistische und demokratische Entwick-lung wie auch späterhin ein erfolgreichesRingen um einen sozialistischen Umbruch nurdurch das Zusammengehen von SPD undKPD möglich sei. Natürlich waren unter-schiedliche Bewertungen der Vergangenheitdamit nicht überwunden, konnten es auchnicht sein. Auch die Vorstellungen von derunmittelbaren Zukunft, weiteren politischenZielstellungen, Inhalten und Methoden derParteiarbeit blieben oftmals ungeklärt, warenaber weder vordergründig in der Diskussionnoch ein Hindernis für bestehende, ja über-wiegende Gemeinsamkeiten.

Aus meiner Sicht ist die Publikation vonKrusch deshalb für jeden Historiker wie auchüber den heutigen Tag hinaus denkende Poli-tiker, Publizisten oder einfach besorgte Men-schen eine wertvolle Quelle, weil sie den Zeit-geist von 1945/46 authentisch reflektiert.Natürlich sind auch andere Erkenntnisse,insbesondere aus der weiteren Politik vonSED wie SPD, ob in den folgenden Jahrennach 1946 oder in Jahrzehnten später, füreine Bewertung des Vereinigungsprozessesheranzuziehen. Doch den Zeitgeist, die Moti-vation für damalige Handlungen oder auchUnterlassungen, auch die ursprüngliche Sichtvon Hunderttausenden Sozialdemokratenund Kommunisten in ganz Deutschland wer-den mehr aus Dokumenten sichtbar, wie sieder vorliegende Band enthält.

Besonders hervorzuheben ist dabei, daßdieser Vereinigungsprozeß in ganz Deutsch-land von zunächst sich weitgehend ähnlichenStellungnahmen begleitet und getragen war.Schon dadurch wird eine gegenwärtig rechtverbreitete Behauptung von einem ostdeut-schen Sonderweg widerlegt. Zudem beweisendie Dokumente aus den verschiedenstenBezirken in Ost- und Westdeutschland, daßAktionseinheit von SPD und KPD wie dasStreben nach einer organisatorischen Einheitein deutsches Projekt war. Nur vollzog essich unter den Bedingungen des Besatzungs-regimes daher nicht ungestört, blieb abereine politische Aktivität, die primär aus Quel-len der deutschen Geschichte und durchden Aufbruch in Nachkriegsdeutschlandgenährt wurde.

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Ein Mangel der Publikation bleibt trotzdem,daß das Verhalten der Besatzungsmächte, dieja auf allen Gebieten uneingeschränkt dieoberste Gewalt ausübten, nicht genügendberücksichtigt wird. Ich meine nicht Geheim-dokumente, die erst heute und auch nur spär-lich aufgespürt werden, auch nicht schriftlicheoder mündliche Überlieferungen, die zu ei-nem anderen Zeitpunkt entstanden und immerden Stempel späterer politischer Auseinander-setzungen trugen. Masseneinfluß hatten dage-gen 1945/46 Artikel, Kommentare wie auchBerichterstattungen in den Zeitungen derBesatzungsbehörden, auch Rundfunksendun-gen. Sie bewiesen, daß die Besatzungsbehör-den recht unterschiedlich den Vereinigungs-prozeß einschätzten und auch begleiteten.Die sowjetische Besatzungsmacht machte seitEnde 1945 aus ihrer aktiven Förderung derorganisatorischen Vereinigung von SPD undKPD keinen Hehl, während die westlichenBesatzungsmächte, ganz besonders auch diebritische (obwohl oder auch gerade weil inLondon die Labour Party die Regierung gebil-det hatte), ihre definitive negative Haltungzweifelsfrei zum Ausdruck brachten.

Eine historisch entstandene Spaltung auf-rechtzuerhalten oder auch weiterhin zu er-zwingen ist sicher leichter, als Hunderttausen-de in eine neue Partei zu pressen.

Schon deshalb sollten seriöse Historikerden Begriff »Zwangsvereinigung« nicht stra-pazieren. Der von Krusch vorgelegte Bandbeweist aber auch, daß es bis zum Spätherbstin ganz Deutschland einen starken Wunschzum politischen Zusammengehen wie zueiner organisatorischen Vereinigung von SPDund KPD gab. Erst nachdem sich in den dreiWestzonen zentrale Parteileitungen etablierenkonnten, lief die Entwicklung auseinander.Zum wichtigsten Punkt der Auseinanderset-zung wurde die Frage, ob man mit der Über-windung der Spaltung so lange warten sollte,bis die Besatzungsbehörden die Bildungvon gesamtdeutschen Parteileitungen (da-mals sprach man oft von »Reichsleitungen«)zuließen.

Eine Befragung der Mitglieder in Form ei-ner Urabstimmung gab es nur Berlin, nichtaber in den eigentlichen vier Besatzungszo-nen. Die Berliner Ergebnisse sind bekannt,zeigten aber letztlich nur, daß ein großer Teil

der Berliner Sozialdemokraten einen Zusam-menschluß erst zu einem späteren Zeitpunktanstrebte, um dann in ganz Deutschland eineeinheitliche Entwicklung zu ermöglichen. Ge-gen eine Aktionseinheit von SPD und KPDvotierte nur eine verschwindende Minderheitvon 14 Prozent. Die Publikation von Kruschgibt also viele Einblicke in die damalige kon-krete historische Situation, vor allem die ge-meinsamen und unterschiedlichen Vorstellun-gen über die Zukunft. Eine Antwort auf die imTitel gestellte Frage, ob es sich bei der Verei-nigung um einen Irrweg oder eine Alternativehandelte, kann das Buch nicht erteilen. DieNotwendigkeit und auch die Möglichkeit ei-ner historischen Alternative wurde weder imOsten noch im Westen genutzt. Das lag aberweniger am Vereinigungsprozeß, auch nichtan den unterschiedlichen Mängeln und aus-drücklichen Störungen, mit denen er verbun-den war, sondern an den Bedingungen desjahrzehntelang betriebenen Kalten Krieges,den Ambitionen, Unterlassungen und im Wi-derspruch zu den Motiven des Vereinigungs-prozesses selbst wie der 1945/46 vorherr-schenden Stimmungslage und Hoffnungenstehenden Haltung deutscher Politiker.

Heute kann man nur spekulieren, wie sicheine gesamtdeutsche Vereinigung von SPDund KPD ausgewirkt hätte. Sie hätte bestimmteine andere Entwicklung in Deutschland,wohl auch in Europa gefördert.

STEFAN DOERNBERG

Siegfried F. Franke:(IR)RATIONALE POLITIK?Grundzüge und politischeAnwendungen der »ÖkonomischenTheorie der Politik«,Metropolis-Verlag Marburg 1996,151 S. (28,00 DM)

Das als kurze Einführung in die »Ökonomi-sche Theorie der Politik« angelegte Buch vonFranke wendet sich ausdrücklich an Studie-rende wirtschafts- oder politikwissenschaftli-cher bzw. juristischer Studienrichtungen,

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dürfte aber auch für andere Leserkreise vorallem aus dem breiten Spektrum politischerBildungsarbeit von einigem Interesse undNutzen sein. Neben dem klaren, die Erfassungkomplizierter Zusammenhänge wesentlich er-leichternden Stil, in dem das Buch durchgän-gig verfaßt ist, besteht ein weiterer Vorzugdarin, daß es in einem ausführlichen Litera-turverzeichnis dem Leser eine Fülle vonweiterführenden Publikationen offeriert.

In dem in vier Teile und ein Ausblick-Kapitel geliederten Buch werden zunächst dieBasisannahmen der »Ökonomische Theorieder Politik« – rational Choise als Handlungs-prinzip, Mehrparteiensystem, typische Ver-haltensmuster von Parteien und Wählern –entwickelt. Der zweite Teil befaßt sich mit derBedeutung von privaten und politischenGütern, externen Kosten, der Logik kollekti-ven Handelns und einer »GesellschaftlichenWohlfahrtfunktion«. Daran schließt sich dieErörterung der Mechanismen von Grob- undFeinsteuerung in der Politik an. Im viertenTeil werden schließlich politische Anwendun-gen untersucht. Neben der aufschlußreichenDarstellung der Handlungs- und Gestaltungs-muster in einzelner Politikfeldern – Steuer-politik, Arbeitsmarktpolitik, Bildungspolitikund Drogenpolitik (in Schweden) – präsen-tiert hier Franke außerordentlich interessanteÜberlegungen zur Zukunft kleinerer Parteienim an sich bipolaren Parteiengefüge der Bun-desrepublik.

Die im vorliegenden Buch vorgestellte»Ökonomische Theorie der Politik« befaßtsich genaugenommen nur mit Gesellschaften,in denen die politische Sphäre durch einMehrparteiensystem und parlamentarischeKonkurrenzdemokratie geprägt ist. Mit ihrerGrundannahme der wirtschaftlichen wie so-zialen und auch politischen Dominanz desEigennutzenkalküls bei den gesellschaftlichenAkteuren erweist sie sich als komplementärerpolitiktheoretischer Ansatz zur (neo)liberalenWirtschaftstheorie, in der bekanntlich rationa-le Ökonomie auch nur als privateigentümlichverfaßte bürgerlich-kapitalistische gedachtwird bzw. gedacht werden kann. Beide Theo-rien teilen daher nicht nur wesentliche Aus-gangspunkte und Instrumente – wie den »ra-tional Choise«-Ansatz oder den »methodolo-gischen Individualismus« –, sondern auch

dieselben Grenzen. Letztere treten bei derDarstellung Frankes zur »ÖkonomischeTheorie der Politik« vor allem im abschlie-ßenden »Ausblick« plastisch hervor, wo dieoffensichtlichen »Funktionsschwächen« par-lamentarischer Konkurrenzdemokratie insBlickfeld gerückt werden. Genau wie die(neo)liberale Wirtschaftstheorie keine sinn-volle Alternative zur eingestandenermaßenmit funktionalen Defiziten behafteten kapita-listischen Marktwirtschaft kennt, kommt die»Ökonomische Theorie der Politik« zu demSchluß, daß es trotz aller Funktionsschwächen»nach allen Erfahrungen keine bessere Mög-lichkeit der Wertberücksichtigung und derInteressenkoordination auf politischer Ebenegibt« (S. 125) als die parlamentarisch-demo-kratische Regierungsform. Wenn dem so ist,dann besteht a priori keine Möglichkeit, dengrundlegenden Schwächen dieser Regierung-form – die Fixierung der Parlamentarier aufWiederwahl-trächtige Themen und das darineingeschlossene weitgehend desstruktiveGegeneinander von Regierung und Oppositi-on sowie deren »Folgewirkungen« wie Äm-terpatronage und Intransparenz des politi-schen Entscheidungsprozesses – tatsächlichbeizukommen. Zwar verfolgt Franke durch-aus einen richtigen Ansatz wenn er feststellt,daß »nachhaltige Korrekturen nötig sind,damit das parlamentraisch-demkoratischeSystem den drängenden Problemen der Ge-genwart gerecht werden kann« (S. 121), dievon ihm zu diesem Zwecke entwickelten»Ansätze zur Verbesserung« befriedigen al-lem Anschein nach jedoch selbst ihn nicht.»So notwendig sie (die Reformelemente –AH.) auch sein mögen – ihnen ist eigen, daßsie bisherige Strukturen und eingespielteVerfahrensabläufe ändern und damit den be-teiligten Akteuren Nachteile und Unbequem-lichkeiten bringen« (S. 127). Und nicht nurdas, sie berühren auch Herrschaftsinteressen.

ARNDT HOPFMANN

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