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Landestheater Linz - GroBes Haus

Premiere 26. September 1992

In franzosischer Sprache mit deutschen Ubertiteln

Carmen

Oper in drei Akten (vier Bildern) von Henri Meilhacund Ludovic Halévy nach der Novelle von Prosper MériméeMusik von Georges Bizet

Musikalische LeitungInszenierungAusstattungChoreinstudierungChoreographie

Regieassistenz undAbendspielleitungInspizientSouffleuseTechnische LeitungTechnische Einrichtungund BeleuchtungKostiimherstellung

Masken und Frisuren

Ubersetzung undEinrichtung der UbertitelFranz. Sprachassistenz

Martin SieghartDavid AmitinKurt PintErnst DunshirnVirgil Stanciu

Nicolas TreesOliver MitterschiffthalerHannelore KopplReinhard Hagen

Rudolf SchwarzBruno Hauer/Brigitte HerndlDetlef Uhlir

Robert MinderFlorence Launay

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ZunigaMoralesDon JoséEscamilloDancairoRemendadoLillas PastiaBergfiihrerFrasquitaMercedesCarmenMicaela

William MasonLeopold K6pplZachos TerzakisYu ChenPiotr BeczalaSamuel L. CookAlbert MessanyAugusto CarusoRuth BormannGabriele UherValerie MarestinLaurie Gibson

Chor und Extrachor des LandestheatersKinder der Musikschule Harbach;Einstudierung: Eva-Maria Kleinhanns

Bruckner-Orchester Linz

Eine PauseAufftihrungsdauer: ca. 31/4 StundenBtihnenrechte: Alklor-Edition, Kassel

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Das EndeVon Prosper Mérimée

"Du liebst also Lukas?" fragte ich. - "Ja, ich habe ihn geliebt,wie dich, einen Augenblick, vieUeicht weniger als dich. Jetztliebe ich nichts mehr, und ich hasse mich, daB ich dich geliebthabe. "Ich warf mich ihr zu FiiBen, ergriff ihre Hande, netzte sie mitmeinen Tranen. Ich erinnerte sie an alle Stunden des Gliicks,die wir zusammen verbracht hatten. Ich bot ihr an, Rauber zubleiben, um ihr zu gefallen. Alles, Herr, alles; ich versprach ihralles, wenn sie mich nur wieder lieben wollte.Sie sagte: "Dich noch zu lieben ist unmoglich. Mit dir leben willich nicht."Wut packte mich. Ich zog mein Messer. Ich wollte, daB sieAngst bekam und mich um Gnade bat, aber diese Frau war einDamon."Zum letzten Mal", schrie ich, "willst du bei mir bleiben?""Nein, nein, nein!" rief sie, mit dem FuB stampfend, zog einenRing vom Finger, den ich ihr geschenkt hatte, und warf ihn insGebiisch.Ich stach zweimal zu. Es war das Messer des Einaugigen, dasich genommen hatte, als meines zerbrochen war. Sie fiel beimzweiten Stich ohne Laut. Immer noch sehe ich ihre groBen,schwarzen Augen starr auf mich geheftet; dann wurden sie trii­be und schlossen sich. Ich blieb vernichtet wohl eine Stundevor der Leiche stehen. Dann erinnerte ich mich, daB Carmenmir oft gesagt hatte, sie mochte in einem Wald begraben sein.Ich hob mit meinem Messer ein Grab aus und legte sie hinein.Lange suchte ich ihren Ring; endlich fand ich ihn und legte ihnmit einem kleinen Kreuz neben sie in die Grube. Vielleicht tatich unrecht. Darauf bestieg ich mein Pferd, galoppierte nachCordoba und gab mich dem ersten Wachposten zu erkennen.Ich sagte, daB ich Carmen getotet habe, wollte aber den Platznicht nennen, wo sie lago Der Eremit war ein frommer Mann.Er hat fiir sie gebetet! Er hat eine Messe gelesen ftir ihre See­le ... Armes Kind! Die cales haben Schuld, die sie so erzogenhaben.

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CarmenWahrend Soldaten, an ihrerSpitze Sergeant Morales, vor ei­ner Wache auf ihre Ablosungwarten, nahert sich ihnen Micae­la, die den Sergeanten Don Josésucht. Dieser jedoch tritt erstmit dem nachfolgenden Kom­mando seinen Dienst ano Kaumist die Wachablosung vollzogen,

(Werbung) kommen Arbeiterinnen, unterihnen die Zigeunerin Carmen,aus der Mittagspause in die Ta­bakfabrik zurtick. Carmen, vonallen Mannern begehrt, wird aufden ihr gegentiber gleichgtiltigenJosé aufmerksam; bevor sie indie Fabrik zurtickgeht, wirft sieihm eine Blume zu. Micaelabringt José einen Brief von sei­ner Mutter, die ihren Sohn ger­ne mit Micaela verheiratet sehenwtirde. Kurz danach gibt es inder Fabrik einen Aufruhr: Car-

men hat einen blutigen Streit vom Zaun gebrochen. LeutnantZuniga laBt sie verhaften. José solI sie ins Gefangnis bringen. Ererliegt jedoch ihren Verfuhrungsktinsten und laBt sie entfliehen.An ihrer Stelle muB er selbst eine vierwochige Gefangnisstrafeauf sich nehmen.In der Schenke von Lillas Pastia herrscht ausgelassenes Treiben,unter den Gasten sind auch die Freundinnen Frasquita und Mer­cedes, die Schmuggler Dancairo und Remendado und JosésVorgesetzter Zuniga. Escamillo, ein popularer Stierkampfer,zieht mit seinen Freunden von Lokal zu Lokal und stattet daherauch Lillas Pastia seinen Besuch ab. Er macht auf Carmen einengroBen Eindruck. Von Zuniga erfahrt Carmen, daB José heuteaus dem Gefangnis entlassen wird. Dieser betritt die Spelunkeund ist von der temperamentvollen Carmen vollig gefangenge­nommen: Sie bedeutet fur ihn die groBe Liebe. Carmen aller­dings will nicht nur Liebesgestandnisse horen, sondern seinerestlose Hingabe. Das heiBt fur sie, er solI desertieren und sichihrer Schmugglerbande anschlieBen. Der abendliche Zapfen­streich ertbnt, José ist zwischen soldatischer Pflichterfullungund seiner neuen Liebe hin- und hergerissen. Er entscheidet sichftir die Rtickkehr in die Kaserne. Erst als er in Zuniga seinenRivalen in der Gunst um Carmen erkennen muB und er die Waf-

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Carmen ist eine Oper iiber die Liebe und denTod. Vor allem ist es die Gesehiehte einerFrau, die wiihlt, ihrer Begierde zu folgen,selbst wissend, dafJ der Preis der Tod sein wird.Fiir diese Frau existieren weder Vergangenheitnoeh Zukunft, es gibt nur die Gegenwart. DieWirkliclzkeit der Liebe zwiselzen Don José undCarmen im ersten Akt ist aueh bereits eineWirkliehkeit des Todes. Er begreift keine Liebeo/me Besitz(anspruch), sie kann keine Liebeo/me Freiheit akzeptieren.Dieser Kernpunkt des Dramas ist geniigendstark, um von aller Folklore und allem Pitto­resken abzusehen. Diese Version von Carmenspielt nieht in Andalusien, und die Sehmugglersind keine Zigeuner. Carmen ist weder eineHexe noclz eine diaboliselze femme fatale. Sieist einfach eine Frau von heute, die darumkiimpft, zu wiihlen, was sie begehrt.

David Amitin

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Dialoge waren fiir me opéracomique obligatorischVon Wolfgang Domling

Bizets vierter und letzter Oper "Carmen", dem Werk eines Sie­benunddreiBigjahrigen, dtirfte man nach der Premiere , am3. Marz 1875 in der Pariser Opéra-Comique, kaum ein besseresSchicksal vorhergesagt haben als seinen frtiheren Btihnenwer­ken: einen Durchschnittserfolg alIenfalIs. Nach jedem Akt wurdeder Beifall schwacher; was auch solIte man mit einer opéra corni­que anfangen, die einem blutigen Ende zusteuerte, die zudemausschlieBlich unter Arbeitern und Zigeunern, Soldaten undGaunern spielte, in einer sozialen und moralischen Halbwelt, dieobendrein nicht pittoresk gemeint war, sondern todernst? DiesesMilieu, das als Abbild der Dnmoral der Zeit empfunden wurde,hat die damalige offizielle Kritik "Carmen" in erster Linie vorge­worfen; aber auch die Musik wurde als unoriginelI, blaB, undra­matisch bemangelt. Heute jedoch kann man davon ausgehen, daBletzten Endes der Reiz des Sujets ebenso wie die Qualitat der Mu­sik den raschen Siegeszug dieser Oper herbeigeftihrt hat. Bereitsum die Jahrhundertwende ging allein in Paris die tausendste Auf­ftihrung tiber die Btihne; auch auf deutsch - in der sprachlichunglticklichen, aber zahlebigen Version von Julius Hopp - wuBtebald jeder Musikfreund, daB "die Liebe von Zigeunern stam­met", und das "Auf in den Kampf, Torero" kann es an Populari­tat mit Schiller-Zitaten aufnehmen.Georges Bizet war ein musikalisches Wunderkind. Der Zehnjah­rige wird 1848 ins Pariser Conservatoire aufgenommen, studiertdort KIavier, Orgel und Komposition, erringt Preise, man pro­phezeit ihm eine glanzvolle Pianistenkarriere. Der Siebzehnjahri­ge schreibt eine Symphonie; bescheiden, wie er zeit seines kurzenLebens gewesen sein solI, zeigt er das fertige Werk niemandem,man entdeckt es erst achtzig Jahre spater wieder und ist entzticktvon der perfekten Eleganz des Handwerkes. 1856 gewinnt Bizeteinen von Jacques Offenbach ausgeschriebenen Operettenwett­bewerb, im nachsten Jahr den begehrten "Prix de Rome", derzugleich das Studium abschlieBt. In den nicht einmal zwanzig Jah­ren, die ihm an Lebenszeit bleiben, komponiert Bizet viel undmit leichter Hand: neben den vier vollendeten Opern, zwei Ope­retten und einer Reihe Fragment gebliebener Btihnensttickenoch KIavierwerke, Chorsatze und drei Dutzend Lieder.Die Anfange der Entstehung von "Carmen" bleiben undeutlich.1m Juni 1872, kurz nach der Premiere von "Djamileh" schreibt'Bizet einem Freund: "Soeben hat die Opéra-Comique ein dreiak­tiges Sttick bei mir bestelIt; Meilhac und Halévy werden den Textschreiben, er wird heiter sein ..." Auch die Musik, die ihm dazu

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vorschwebt, charakterisiert Bizet im voraus: "Frohlichkeit, dieStil erlaubt". Offenbar ging es erst nur um die Fixierung einesAuftrags; vom "Carmen"-Sujet ist noch keine Rede, und es gibtkeine weiteren Dokumente zur eigentlichen Entstehungsge­schichte. 1m Frtihjahr 1874 - dazwischen liegen andere Komposi­tionsarbeiten - war die Oper fertig, im Sommer die Orchester­partitur geschrieben. 1m Oktober begann die langwierige Pro­benarbeit: allein 85 Ensembleproben waren notwendig; es gabendlose Schwierigkeiten, vor allem mit dem Chor, der sich tiber­fordert sah, zahlreiche Ànderungen in der Partitur, Vereinfa­chungen, Striche. Andererseits kamen drei groBe Solostticke erstin dieser letzten Arbeitsphase hinzu, die Habanera, das Torero-

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Lied und die Micaela-Arie, die Bizet aus einem seiner unvollen­deten Biihnenwerke iibernahm.Den raschen und buchstablich weltweiten Erfolg von "Carmen"zu erleben, war Bizet versagt; er starb ein Vierteljahr nach derPremiere. 1m Oktober 1875 fand bereits die Wiener Erstauffiih­rung statt; mit ihr war eine einschneidende und folgenreiche Ver­anderung des Werks verbunden. Fiir die Wiener Hofoper, undsicherlich auch schon im Hinblick auf eine mogliche Auffiihrungvon "Carmen" an der Pariser Grand Opéra, wurden die Dialogezu (naturgemaB im Text erheblich kiirzeren) Rezitativen umge­formt; Halévy schrieb die neuen Verse, die Musik dazu kompo­nierte, unter behutsamer Verwendung originaler Motive, ErnestGuiraud, ein Freund des Verstorbenen. Einem unumstoBlichenReglement zufolge waren namlich fiir die Institution der Opéra­Comique gesprochene Dialoge obligatorisch, fiir die Grand Opé­ra hingegen Rezitative (und Ballett). Diese sogenannte "Rezita­tivfassung" Guirauds setzte sieh - auBerhalb Frankreichs - seitetwa 1880-90 allmaWich durch. (In Paris wurde "Carmen" erst1959 versuchsweise als "Grand opéra" gegeben.)

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Das Libretto - ein dramatischerGeniestreichVon Winton Dean

Die Adaption einer Novelle fiir die Btihne ist ein riskantes Unter­fangen, da die beiden literarischen Gattungen formaI so weit aus­einanderliegen. Noch schwieriger ist die Aufgabe ftir einen Li­brettisten, wenn die Vorlage ein so groBartiges Werk ist wie Pro­sper Mérimées "Carmen" und ihr Stil so weitgehend das Werkselbst bestimmt. Um die Geschichte von Faszination und Verbre­chen beim Leser moglichst tief wirken zu lassen, bringt Mériméesie ihm sehr nahe; seine beiden hauptsachlichen Mittel sind, daBer erstens seine Beschreibungen sprachlich offen und ntichternbalt und in klassischer Weise objektiviert und zweitens die Ge­schichte einer seiner Gestalten in den Mund legt: José erzahlt sieMérimée am Abend vor seiner Hinricbtung, ganz ahnlich wieChevalier Renato des Grieux die Geschichte von "Manon Les­caut" erzahlt - auch in dieser Oper steht die mannliche Hauptfi­gur im Mittelpunkt des Interesses, obwohl das Werk nacb derweiblichen heiBt (dies hat Ernest Newman entdeckt). Die Libret­tisten konnten mit diesen beiden Technil<en nicht arbeiten; derKomponist konnte dagegen die erstgenannte zumindest ein StOckweit in seine Arbeit mit aufnehmen. Sie muBten sich dagegen diean der Novelle so tiberzeugende Ausgeglicbenheit auf anderemWege beschaffen. Aus einer beilaufigen Bemerkung Mériméesberaus entwickelten sie Micaela, eine vollig neue Rolle, undmacbten sie zum Gegensttick fiir Carmen; auBerdem entwickel­ten sie Escamillo - den nie redenden, etwas undurchsichtigenLucas der Novelle - in gleicber Weise auf Don José zu, dennwenn das Theaterpublikum die Situation Carmens und Don Josésbis in alle Randzonen hinein erfassen soli, muB aucb eine Figurwie Micaela angemessen auf der Btihne auftreten - oder wie El­len Terry einst vollig zu Recht bemerkte: Wenn man exzentrischsein will, muB man zuvor wissen, wo das Zentrum des KreisesIiegt, aus dem man heraustreten will. Der Novellist kann vieleWege beschreiten, um sich an den Leser zu wenden; der Drama­tiker hat dagegen nur die eine Moglichkeit, seinem Publikum al­les das vorzufiihren, was es begreifen solI, und um einen Kontrastzu zeigen, mtissen eben beide kontrastierenden Elemente auf derBtihne erscheinen. Der Kern von Mérimées "Carmen" Iiegt nundarin, daB aus dem einfachen, unbescholtenen Soldaten DonJosé ein Morder wird; um das im Theater versteben zu konnen,muB man beides zu sehen bekommen. Deshalb ist Micaela zwei­erlei: ein MaBstab zur Beurteilung Carmens und ein Symbol fiirJosés Charakter und psycbische Situation, bevor er Carmen zuseben bekam (dies ist in einer russischen Bearbeitung, die

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Konstantin Lipskerow unter dem Titel "Carmencita und der Sol­dat" herstellte, noch weiter fortgesponnen: Der Part der Micaelawird dort auf drei Sanger verteilt, um mit ihnen die Stimme wah­rer Liebe in Josés Herz auszudriicken). Die Librettisten habensich also mit ihrer Neukonzeption der Micaela keineswegs an Mé­rimée versiindigt; sie ist vielmehr sein engster Bundesgenosse.

Mérimées Handlung muBte zusammengezogen werden; die Li­brettisten taten dies mit groBtem Geschick. Ihr zweiter Akt ist einSammelbecken fiir unterschiedlichste Ereignisse der Novelle; inihr treten die Schmuggler erst spater auf, und das Duell mit Zuni­ga, der bei Mérimée anders heiBt (den Namen gewannen die Li­brettisten aus einer Quellenangabe in einer FuBnote), findet inder Novelle an anderer Stelle statt. Ebenso gewandt iibernahmensie Mérimées Konzeption der Charaktere: Die Habanera driicktin wenigen Worten aus, was Mérimées Carmen ist, und die Segui-

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dilla, die die Rollen Josés und Carmens aufeinander hin entwik­kelt und gleichzeitig die Handlung vorantreibt, die Blumenarie,die Kartenszene, das in seiner Dramatik iiberwaltigende Finaledes dritten Akts, die kIeine Szene unmittelbar vor der Katastro­phe, wo Frasquita und Mercédes Carmen vor dem in der Mengeauf sie lauernden José warnen - sie alle sind erst die ErfindungMeilhacs, Halévys und Bizets. Daneben wurde das SchluBduettgeringfugig verandert, aber vieles von Mérimées Originaldialo­gen beibehalten; der wesentliche Unterschied ist nur, daB dieseSzene bei Mérimée in einer einsamen Bergesschlucht stattfindetund damit endet, daB José Carmen im Wald beerdigt, wie sie essich gewiinscht hatte, bevor er nach Sevilla reitet, um sich selbstanzuzeigen. Die Veranderung der Szene in eine Stierkampfare­na, in der der Beifall fur Escarnillos Sieg mit Josés letzten, ver­zweifelten Worten und der Bluttat zusammenfallt, war ein dra­matischer Geniestreich.

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Fantasia sopra CarmenVon Theodor W. Adorno

Alle auf der Btihne wissen sogleich, daB Carmen die Heldin ist,als ob sie die Oper bereits gesehen hatten; die versammeltemannliche Jugend erkundigt sich nach ihr, wenn die Zigaretten­arbeiterinnen zur Mittagspause die Fabrik verlassen, und lauertinmitten der htibschen lockeren Madchen nur auf sie, die aus pu­rem Freiheitsdrang, dem Gegenteil von Tugend, heute ungescho­ren bleiben will von der Liebe. Die Opernkonvention, welche dieHauptperson den Mitspielern von Anbeginn unmiBverstandlichdesigniert - im gleichen Geiste wie der Chronist des Erwahltensich und die Leser tiber leichte Verluste in der Schlacht damittrostet, daB es sich nur um Nebenpersonen handle -, dieseOpernkonvention laBt in voller Unschuld, gewissermaBen ausdramaturgischer Bequemlichkeit und ungetrtibt von metaphysi­schen Vorsatzen die Ordnung von Wesen und Erscheinung auf­leuchten, die das Gebilde sonst sorgsam abblendet: Nur imIdeenhimmel hinter dem tiefen Blau des anderen ist die Carmen­cita wichtiger als die Kameradinnen, die ihr ahneln. Freilichmacht sie es mit ihrem Incognito keinem allzu schwer: Sie be­nimmt sich auffallig unter den Auffalligen, eine weiBe Hindin in­mitten des Freiwilds. Beim Verhor singt sie, anstatt zu antwor­ten, und hat es wiederum bloB der schonenden Oper zu verdan­ken, daB daraus keine groBere Affare entsteht. Ihre ztingelndeund pfeifende Unverschamtheit hat den archaischen Dirnenstolzdem btirgerlichen Repertoire zugeeignet, und heute noch gebie­tet ein ehrwtirdiger Brauch - meist auf Kosten der nicht minderdringlich geforderten Anmut - der Carmen, die Rocke zu hebenund den hilflos nordischen Sergeanten provokativ anzurempeln.Die Aufmerksamkeit reiBt sie an sich als AusgestoBene, nichtrecht Domestizierte, und man darf wohl dem Urteil des Ensem­bles vertrauen: "Carmen begann den Streit", die kindisch-anar­chische Rauferei, den destruktiven Ausbruch, der Vorgange insRollen bringt, denen danach bereits kein gutes Ende zu prophe­zeien ware. Denn Carmen ist Zigeunerin.Zunachst wird darauf kein allzu groBer Wert gelegt, auBer daB sieeben besser singen und tanzen kann als die bodenstandige Bevol­kerung von Sevilla und daB ihre Degagiertheit dem Sergeanten,auf den sie ihr besessenes Auge warf, zu Kopfe steigt. Auch dieZigeunerszene des zweiten Aktes bleibt in der Opernkonvention,die ja seit Preziosas Tagen an Zigeunerchoren ihr Vergntigen fin­det und sich nicht genug tun kann im Neid auf das farbige undungebundene Leben derer, welche in der btirgerlichen Welt derArbeit geachtet, zu Hunger und Lumpen verdammt sind und beidenen jene doch all das Gltick vermutet, das sie sich mit der Un­vernunft ihrer Vernunft abschneiden muB. Auch Carmen ist

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eine jener Opern der Exogamie, deren Reihe von der Jiidin undder Afrikanerin iiber Aida, Lakmé und die Butterfly bis zur Ber­gischen Lulu reicht, Lobpreisungen des Ausbrochs aus der Zivili­sation ins UnerfaBte.Zurn Bilde wird das kostiimierte Zigeunerwesen erst in der fal­lenden Handlung, irn dritten Akt, nachdem Carmen dern unzu­friedenen Geliebten, den sie unter die Gauner verschleppt hat,die Versahnung verweigert und auf seine Frage, ob sie sich dennnichts rnehr aus ihrn rnache, rnit einer lateinischen Genauigkeit,die jeden ihrer Satze als Protokoll fiir ein ganzlich unbekanntesGericht scharft, erklart, so viel jedenfalls sei gewiB, daB sie ihnviel weniger liebe als zuvor und daB es darnit iiberhaupt sein Endebatte, wenn er ihr nicht die Freiheit lieBe zu tun, was ihr gefallt.Die Folgen seien ihr gleichgiiltig. Kaurn bricht der Dialog baseab, als auch schon die beiden Stammesgenossinnen undSchmugglerkarneradinnen mit Karten hantieren und alle drei sichanschicken, sich selber zu wahrsagen. Die Musik besinnt sichnicht lange; wo der Ring urnstandlich vorn sich selbst entrollen­den Rade orakelt, beginnt sie hier in einer Streicherfigur allegret­to zu rollen, als ware sie ein Roulette, ohne daB auch nur einWort es kommentierte. Mit erreichtem a-MolI zeichnet die Musikeinen Zauberkreis und markiert ihn mit ein paar stechenden Ak­korden, so wie man beim Kartenspielen von Stichen redet. Siekennt die Affinitat der Karten zur Stichelei als dem Reiz zum Un­heil, das nichts anderes ist als das Rollen des Zufalls, die Blind­heit des Schicksals selber.Auf Transzendenz und Sinn ist in der Karten-Szene, wie in derCarmen insgesarnt, verzichtet; ja, die Frage nach beiden kommteiner Konzeption gar nicht bei, die rnit so viel und freilich auch sowenig Recht positivistisch heiBen diirfte wie die der Madame Bo­vary. Das Schicksal, das da waltet und das nichts Menschlichesaufhalt, ist der Sexus selber, vorweltlich und vorgeistig. Die Men­schen werden als bloBe Naturwesen vorgefiihrt, eben damit aberals bestimmt durch ein ihnen ganz Unidentisches, Auswendiges;nichts anderes als bIoBes Dasein, sind sie sich selber ganz und garfremd und unbegreiflich, und am Ende weiB buchstablich DonJosé, der Tater, nicht, was er tat. Nietzsche hat die "in die Naturzuriickiibersetzte Liebe" in Carmen wohl vernommen, "die Liebeals Faturn, als Fatalitat, zynisch, unschuldig, grausam - und ebendadn Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihremGronde der TodhaB der Geschlechter ist! - ich weiB keinen Fall,wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe macht, so strengsich ausdriickte, so schrecklich zur Formel wiirde wie im letztenSchrei Don Josés, rnit dem das Werk schlieBt: "Ja! !ch habe siegetatet, ich - meine angebetete Carmen!" Der Gegensatz zuWagner, um dessentwillen Nietzsche, der Binsenweisheit zufol­ge, Bizet auf den Schild hob, ist wahrhaft vollkommen: bei Wag­ner alles, jeder Satz, jeder Gestus, jedes Motiv und der

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Zusammenhang des Ganzen sinngeladen, bei Bizet die Un­menschlichkeit und Harte des Formens, ja die Gewalt der Formselber daran gewandt, noch die letzte Spur von Sinn zu tilgen,nicht die leiseste Illusion aufkommen zu lassen, es ware, was imLeben geschieht, mehr, denn als was es erscheint.Nach der Idee des Gliicks, die seiner Musik heilig ist, wird zurKardinalsiinde die Liige, jetzt und hier sei Gliick iiberhauptschon moglich. Darin ist die Carmen, die man nicht asketischerIdeale bezichtigen kann, asketischer als irgend etwas vom entsa­genden Wagner, und die limpidezza, die Transparenz trockenerLuft, die Nietzsche entziickte, bar eines jeglichen schmiickendenZuviel, wird ihr dank solcher Askese zutei1.Aber nicht jene alleino Wahrend Carmen die Immanenz des Na­turzusammenhangs strikt wahrt und nichts duldet als den Aus­druck der Leidenschaft und das ausdruckslose Spiel, zielt sie,kraft jenes Fatalismus, bei dessen gewaltsamem Lob Nietzscheverharrt, auf Freiheit, ein Stiick wahrer Aufklarung, feind demIdol des Menschen: um seiner Emanzipation willen. Nicht um­sonst findet Freiheit in dem Werk als einzige Idee sich angerufen,und in ihrem Namen stirbt die Heldin ... Das MiBverstandnisder Liebe berichtigt Carmen: Sie bekennt deren Egoismus ein.Ihre Generositat ist es, keine Generositat zu behaupten und dar­um nichts besitzen, nichts halten zu wollen, in dieser Welt so we­nig wie in der anderen. Dieser Gestus der EntauBerung, derPreisgabe jeglichen herrschaftlichen Anspruchs des Menschen­wesens durch Carmens Fatalismus, ist eine der Gestalten vonVersohnung, die dem Menschenwesen gewahrt werden. Verspre­chen der endlichen Freiheit. Das Verbot von Transzendenzsprengt den Schein der Natur, mehr zu sein als sterblich. Das istdie genaue Funktion der Musik in Carmen. Die psychoanalyti­sche Theorie denkt Musik als Abwehr der Paranoia und diese alsden permanenten, alles iiberfiutenden Traum. Ware sie es, mankonnte Musik deuten als Versuch des Erwachens und den Weck­ruf als ihr Urphanomen: Durch den Laut macht der angstvollTraumende den Damonen sich gleich wie durch Kultmasken, unddavor fliehen sie. An Gespenstergeschichten kann erst der sichfreuen, der vom Aberglauben genas, und solche Genesung laBtdie Musik der Carmen dem angedeihen, was auf der Szene ge­schieht. 1m Verschwinden des damonischen Scheins tritt Naturdurch Selbstbestimmung aus dem Kreis der Vernichtung, den dieGewalt ihrer blinden Selbstsetzung zieht. Sie gibt sich anheim.Das ist der Ratselcharakter der ausdruckslosen Schicksalsmelis­men und Flotenfiguren: Als gnadenloses, sterngleiches Bild einesNaturgesetzlichen sind sie zugleich das Echo seliger Geborgen­heit, auf einer Schwelle, die das Einschlafen kennt. Was Nietz­sche der entzauberten Carmen ironisch bezeugt, gilt unironischund ohne Riicksicht auf jene Diatetik der Seele, der zuliebe erseinen Gegenpapst zu Wagner kiirte: "Auch dies Werk erlost."

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Carmen - so etwas me einweiblicher CowboyVon Esther Vilar

Zutreffend scheint mir die These von der freiheitsliebenden Car­men als weiblicher Identifikationsfigur. Denn zumindest die jtin­geren Frauen stehen ja alle mehr oder weniger vor CarmensWahl: sie konnen sich ftir ein btirgerliches Leben entscheiden,mit Heim, Kindern, einem ergebenen Don José als Ehemann,oder eben ftir jenes andere, mit langen Jahren voller Leiden­schaft, auf das Carmen setzt. Kein Zweifel, daB die zweite Vari­ante reizvoller ist. Aber eben auch riskanter: denn was kommt,wenn die guten Jahrzehnte vorbei sind und die Manner wegblei­ben? Man bewundert dieses Zigeunermadchen, weil es den Muthat, ohne Furcht vor den Konsequenzen das zu tun, wozu manselbst zu feige ist. Fiir viele von uns ist Carmen wohl so etwas wieein weiblicher Cowboy.Und hier beginnt nun nach meiner Meinung das MiBverstandnis,das so alt ist wie diese Geschichte selbst. Denn jene Carmen istweder frei noch hat sie die Absicht, es zu werden - sie redet vonihrer Freiheit, doch sie erlebt sie nicht. Ihre Existenz spielt sich inder strengen Hierarchie der Zigeuner ab: sie ist nach auGen binfrei, in den Augen der prtiden spanischen Gesellschaft, nach in­nen bleibt sie stets in die Gesetze ihrer Sippschaft eingebunden.Nach diesem Kodex ist Sinnlichkeit kein Vergehen: was immersie in der Welt da drauBen tut, sie weiB stets, wohin sie zurtick­kehren kann. Frei ware sie erst, wenn sie nach den Regeln derGegenseite "anstandig" wtirde; also sich etwa zu einem btirgerli­chen Leben entschlosse und einen SpieBer wie Don José heirate­te. Denn dann wtirde man sie in ihrem eigenen Milieu rticksichts­los verstoBen.Don José ist der, der alles auf eine Karte setzt. Und am Ende derGescbichte hat er dann alles verloren: Carmen, seine Karriere,seine Verlobte, in seinem Heimatdorf ist er verfemt, seine Kirchehat ihn ausgestoBen, und sogar seine geliebte Mutter - die einzi­ge, die noch zu ihm hielt - liegt auf dem Sterbebett. Wie wenigriskiert Carmen im Vergleich.Auch wenn sie Gott nicht zu ftirchten scheint, respektiert sieeben doch die Karten. Wie konnte man jemanden, der so absolutan die Vorbestimmtheit seines Scbicksals glaubt, einen freienMenschen nennen? AlI dies ist seit jeher in dem Carmen-Stoffklar zu erkennen. Doch da man in unserer Zeit der immer groBerwerdenden individuellen Freiheit dringend Vorbilder braucht,die einem zeigen, wie man mit diesem Geschenk fertig wird, willman es nattirlich nicht sehen.Und dann wird auch ganz deutlich, daB dieser vermeintlichen

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Freiheitsheldin auch die Unfreiheit des Zigeunermilieus nochnicht gentigt. Das Ziel ihrer Verfiihrungsktinste ist nicht, Mannerserienweise in ihr Bett zu locken, obwohl sie diesen KompromiBsicherlich genieBt. 1m Grunde sucht Carmen genau wie Don Josédie Sklaven einer groBen Leidenschaft. Trotz gelegentlicher Be­teuerungen ist ihr Traum nicht ein Mann, der ihr ihre FreiheitlaBt, sondern einer, der ihr gestattet, diese bei ihm abzugeben.Ihr Pech ist, daB die Manner, denen sie begegnet, fiir die ihnenzugedachte RoBe so wenig taugen: keiner entztindet mehr alsvortibergehend ihre Leidenschaft. Wenn Liebe etwas mit Abso-

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Page 19:  · in dieser letzten Arbeitsphase hinzu, die Habanera, das Torero-. Lied und die Micaela-Arie,die Bizet aus einem seiner unvollen deten Biihnenwerke iibernahm. Den raschen und buchstablich

lutheit zu tun hat, wenn man den andern zur Religion macht ­zum "Angebeteten" -, dann ist dieser Don José ftir die psychi­schen Bediirfnisse dieser Carmen von Anfang an denkbar unge­eignet: wie konnte sie jemand zu ihrem Gott befOrdern, der sovor ihr im Staub kriecht. Erst am SchluB, bei der sich anbahnen­den Liaison mit dem Stierkampfer, schopft sie wieder Hoffnung- denn vielleicht ist dieser Draufganger ja endlich der, auf densie schon so lange wartet: einer, der nicht in die Knie vor ihrgeht? "Noch nie habe ich einen Mann so geliebt wie diesen!" ruftsie ihren Freundinnen noch zu. DaB José sie daftir taten konnte,

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schreckt sie wenig. Und als er es dann tut, stirbt sie nicht fiir ihreFreiheit, sondern fiir die Unfreilieit, die ihr neue Leidenschaftverspricht. Und falls hier jemand noch einen Schritt weiter gehenmag: Was ware geschehen, wenn Don José Carmen nicht ermor­det hatte und der Torero wirklich der gewesen ware, von dem sietraumte? Dann hatte diesmal sie einem Mann zu FiiBen gelegenund dieser hatte nach und nach das Interesse an ihr verloren!Falls Liebe etwas mit Anbetung zu tun hat, muB sie notgedrun­gen eine ziemlich einseitige Sache bleiben: ein Gott, der zuriick­betet, wirkt fiir die Gegenseite auf die Dauer wenig erhaben.Man beobachtet es iiberall: etliche Monate gemeinsamer Leiden­schaft, und falls nicht ein Wunder geschieht, zerfallt dann dasPaar unweigerlich in einen TeiI, der immer mehr und einen, derimmer weniger empfindet. Einen, der zu fliehen beginnt und ei­nen, der ilin verfolgt, ohne ilin je wieder einzuholen. Vor allem,weil der Fliichtende - der ja auch den Wahnsinn einer groBenLeidenschaft sucht - vielleicht bald schon hinter einem Drittenher ist, der seinerseits vor ihm davonlauft. Wer uns sagen konnte,wie man diesem dumpfen Mechanismus entgeht, hatte die For­mei fiir das GIiick gefunden.

Der krankhafte Todestrieboder Carmen aus der Sicht derPsychologieVon Erwin Ringei

Sicher haben Sie sich wahrend des vierten Aktes der Oper oftgesagt: SeItsam, wie sich Carmen verhalt. Da wird sie von ilirenFreundinnen gewarnt, daB ihr Don José auflauere, und dennochbleibt sie wie angewurzelt auf dem PIatz vor der Arena stehen, alsob sie ihn erwarte. Dann beginnt der Stierkampf in der Arena,und ihr neuer Liebster, Escamillo, wird gefeiert. Und wer solltedabei anwesend sein, wenn nicht sie, Carmen? Und doch handeltsie so, als ob sie ein geheimes Rendevouz mit Don José hatte,eine Zusammenkunft zu zweit, in einer Ieergefegten Gegend, wosie der Gefahr, die von Don José moglicherweise ausgeht, ohneHilfe anderer wehrIosausgesetzt ist. Dann kommt es zu dieserBegegnung. Don José fleht, sie moge die Beziehung zu ihm nichtabbrechen, sie aber antwortet: "Und was mein Las auch sei, zwi­schen uns ist es vorbei." Man konnte also sagen, Carmen provo-

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ziert geradezu ihr tragisches Ende, oder um es anders auszudriik­ken: Sie Hiuft gleichsam ins Messer Don Josés, diesmal nicht inder iibertragenen Bedeutung des Sprichwortes, sondern im rea­len Sinn.Als Sigmund Freud den Begriff des Todestriebes erfand, wurdediese wichtige Entdeckung von seinen Gegnern als eine weitereAbsurditat seines Denkens lacherlich gemacht. Heute wissen wirlangst, daB jeder Mensch einen "natiirlichen" Todestrieb in sichtragt.Unter bestimmten Umstanden aber wird dieser normale Todes­trieb in einen krankhaften verwandelt, in dem Sinne, daB er be­wuBt oder unbewuBt auf eine friihe Beendigung des Lebensdrangt. Wir wissen heute, daB ein unbewuBtes Schuldgefiihl zuden entscheidenden Symptomen jeder Neurose gehort, und daBdieses unbewuBte Schuldgefiihl, ebenfalls unbewuBt, auf Bestra­fung drangt, welche sich dann je nach dem Schweregrad in Selbst­schadigung, SelbstzerstOrung und Selbstvernichtung auBert.Der Selbstvernichtungswunsch kann bewuBt werden und sich vorallem in Selbstmordtendenzen manifestieren; er kann aber auchunbewuBt bleiben und dann auf verborgenen Wegen das eigeneUntergehen ansteuern: so zum Beispiel in der Erzeugung psycho­somatischer Krankheiten, die mitunter durchaus den Tod zu Fol­ge haben konnen, ferner in der Entwicklung eines Lebensstils(Nikotin, Alkohol, Siichtigkeit, Arbeitswut, iibertriebene Ver­gotzung des Leistungsprinzips, sich "aufopfern"), der friiher oderspater zum Exitus fiihren muB. Auch der Fahrstil, den viele Men­schen mit ihrem Auto zeigen, erinnert oft an das, was Stengel als"Gottesurteil iiber Leben und Tod" bezeichnet bat, nach der De­vise: Geht es noch einmal gut, ist es gut; geht es scblecht aus, istes auch gut.Es gibt also, wie wir geseben baben, sehr viele Griinde fiir einenbewuBten oder unbewuBten krankbaften Todestrieb, der die ei­gene AuslOschung verursacht oder beschleunigt, und es gibtebenso viele bewuBte und unbewuBte Formen, in welchen dieserTodestrieb sich durchsetzt. Bei Carmen ist die Form klar: sie war­tet auf ihren Tod, der ibr in der Gestalt des Don José entgegen­tritt. Die Ursache dieses Verbaltens freilich ist vieldeutig, und ichmochte hier nur die zwei wabrscheinlichsten zur Diskussion stel­len.Erste Deutung: Don José ist einer jener Mannertypen, die offen­bar eine solche "Anhanglicbkeit" an eine Frau entwickeln kon­nen, daB es fast unmoglich wird, eine Beziehung mit ihnen aufnormalem Wege zu beenden. Auch die psychiatrische Erfahrungzeigt, daB es eben Manner sowohl wie Frauen gibt, die eine sol­che Fixierung an ein Objekt zeigen, daB nur der Tod des einen(Mord) und oft sogar beider Beteiligten (Mord und anschlieBen­der Selbstmord) die Beziehung aufzulOsen vermag. Vieles sprichtdafiir, daB Carmen - freilich zu spat, aber doch - diese Situation

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erkennt, und daB sie eher bereit ist zu sterben, als diese Bezie­hung "ewig" mit sich zu schleppen. In diesem Sinne ware ihr fana­tischer Ausruf zu interpretieren: "Frei will ich sein, selbst nochim Tod." Mit anderen Worten: Ich will reinen Tisch machen,selbst um den Preis meines Endes.Zweite Deutung: Ihrer Vorgeschichte nach muB man Carmen alsflatterhafte Frau verstehen, deren Liebesgefiihle ebenso raschverschwinden, wie sie im Augenblick entstehen. Gilt dies auchfiir ihre Empfindungen Escamilla gegeniiber? Sie sagt: "Escamil­la, ich liebe dich und ich kann es dir schworen, daB noch nie einenMann ich geliebt so wie dich." Wenn dieser Satz ernst zu nehmenist, muB sie dann nicht Angst haben, daB auch diesmal ihre Zu­neigung sich rasch verbrauchen wird? Konnte nicht dadurch eineSehnsucht entstehen, auf dem Hohepunkt dieser einmaligen Lie­be zu sterben und sie damit nicht der Gefahr der Abniitzung aus­zusetzen?

Nachweise: W. Domling aus dem Begleitheft der Platteneinspielung derDeutschen Grammophon GmbH.. W. Dean aus "Georges Bizet - Le­ben und Werk", Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1988· Th. W. Ador­no aus "Quasi una fantasia - Musikalische Schriften II'', Frankfurt amMain 1963 . E. Vilar aus Musik und Theater, Heft 7/1984 . E. Ringel aus"UnbewuBt - h6chste Lust ~ Oper als Spiegel des Lebens", VerlagKrenrnayr & Scherian, Wien 1990 . P. Mérimée aus "Carmen", VerlagPhilipp Reclam lun., Stuttgart 1963 . Szenenfotos: Fotostudio PeterPe­ter.

Spielzeit 1992193, Hefi 1 . Premiere im GroBen Haus am 26. September1992.Medieninhaber und Herausgeber: Landestheater Linz, Promenade 39,4020 Linz, Tel. 073 2/76 11-0 . Intendant: Dr. Roman Zeilinger . Fiirden Besetzungszettel verantwortlich: Robert Minder . Anzeigenverwal­tung: Osterreichische Werbegesellschaft KG, SchillerstraBe 46, 4020Linz, Tel. O73 2 / 66 30 91 . Druck: Druckerei und Zeitungshaus J.Wimmer GmbH., Promenade 23, 4020 Linz . Redaktion und Gestal­tung: Dr. Ulrich Scherzer.

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