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In: Widerspruch Nr. 18 Restauration der Philosophie nach 1945 (1990), S. 39-62 Autor: Alexander von Pechmann Artikel Alexander von Pechmann Die Philosophie der Nachkriegszeit in München (1945-1960). Eine Dokumentation 1945 ruhte erstmals nach 120 Jahren der Münchner Universittsbetrieb. Als am 30.4.1945 die US-Truppen München vom Nationalsozialismus befreiten, lag die Universitt nicht nur materiell 1 , sondern auch ideell in Trümmern. Am 14.5.1945 wurde die Universitt durch Verfügung der US-Militrregierung geschlossen; 80 % des Lehrpersonals (89 % der - damals ungeteilten - philosophischen Fakultt) wurden in der Folge ent- lassen. Hauptgrund sei, wie die Militrregierung mitteilte, die Wahr- scheinlichkeit, da er (der Professor) versuchen wird, gewissen Lehren, die mit der Nazi-Ideologie zusammenhngen oder feindlich gegen die Vereinten Nationen sind, zu vertreten 2 . Die Wiedererffnung verzger- te sich mehrmals, weil die Universittsstellen zwar auf eine rasche Wiederaufnahme des Lehrbetriebs drngten, die Amerikaner aber erst eine gründliche Entnazifizierung des Personals verlangten. Eingezwngt 1 Einen Einblick in das Universittsleben zwischen Trümmern gibt L. Boehm, Die Ludwig-Maximilians-Universitt im Münchner Kulturleben zwischen Kriegszerst- rung, Umerziehung und Richtfesten. In: F. Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Grostadt im Aufbruch, München 1984, S.149-155. 2 zit. nach: U. Huber, Die Universitt München - Ein Bericht über den Fortbestand nach 1945. In: F. Prinz (Hg.), ebd., S.391.

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In: Widerspruch Nr. 18 Restauration der Philosophie nach 1945 (1990), S. 39-62 Autor: Alexander von Pechmann Artikel Alexander von Pechmann

Die Philosophie der Nachkriegszeit in München (1945-1960). Eine Dokumentation

1945 ruhte erstmals nach 120 Jahren der Münchner Universitätsbetrieb. Als am 30.4.1945 die US-Truppen München vom Nationalsozialismus befreiten, lag die Universität nicht nur materiell1, sondern auch ideell in Trümmern. Am 14.5.1945 wurde die Universität durch Verfügung der US-Militärregierung geschlossen; 80 % des Lehrpersonals (89 % der - damals ungeteilten - philosophischen Fakultät) wurden in der Folge ent-lassen. Hauptgrund sei, wie die Militärregierung mitteilte, �die Wahr-scheinlichkeit, daß er (der Professor) versuchen wird, gewissen Lehren, die mit der Nazi-Ideologie zusammenhängen oder feindlich gegen die Vereinten Nationen sind, zu vertreten�2. Die Wiedereröffnung verzöger-te sich mehrmals, weil die Universitätsstellen zwar auf eine rasche Wiederaufnahme des Lehrbetriebs drängten, die Amerikaner aber erst eine gründliche Entnazifizierung des Personals verlangten. Eingezwängt 1 Einen Einblick in das �Universitätsleben zwischen Trümmern� gibt L. Boehm, Die Ludwig-Maximilians-Universität im Münchner Kulturleben zwischen Kriegszerstö-rung, Umerziehung und Richtfesten. In: F. Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch, München 1984, S.149-155. 2 zit. nach: U. Huber, Die Universität München - Ein Bericht über den Fortbestand nach 1945. In: F. Prinz (Hg.), ebd., S.391.

Die Philosophie der Nachkriegszeit in München (1945-1960)

gründliche Entnazifizierung des Personals verlangten. Eingezwängt zwi-schen den Forderungen der Universität nach qualifiziertem Fachpersonal und der Besatzungsmacht nach politischer �Re-education�3 konnte die Münchner Universität erst zum 1.April 1946, später als andere deutsche Universitäten, wiedereröffnet werden. Die folgende Dokumentation möchte den Wiederaufbau der Philosophie in München, soweit aufgrund der heute zugänglichen Quellen möglich, rekonstruieren. Welche Personen und welche philosophischen Richtun-gen gestalteten den Wiederaufbau oder waren daran beteiligt4? In wel-chem Zeitraum konstituierte sich die Philosophie wieder? Welche Inhalte standen im Mittelpunkt, und wie verlief die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit? Kurz: Wie re-institutionalisierte sich in München die Institution 'Philosophie'? Hierzu wird zunächst der Neubesetzung der Lehrstühle, der Schaffung neuer Ordinariate, der Vergabe außerplanmäßiger Profes-suren, den Privatdozenturen sowie der Integration ehemaliger National-sozialisten im Zeitraum von 1946-1960 nachgegangen, um abschließend den Versuch einer Charakterisierung der �Münchner Philosophie� nach 1945 zu unternehmen.

3 So beklagte sich der Entnazifizierungsberater des Gen. L. Clay, W.L. Dorn: �The various faculties of the University of Munich have been denazified in such a way, that the remaining professors are resorting to what amounts to a sit down strike in calling new professors who, I am quite certain, are available. No new appointments to professorial chairs are made so long as there is the slightest chance that one or the other Nazi professor might still be cleared.� (OMGUS: AG 1945-46 /46/5.) 4 Nicht behandelt werden die Lehrkörper des psychologischen Instituts und des pädagogischen Seminars, von denen einige Dozenten, wie Ph. Lersch und E. Lich-tenstein, zwar die Lehrbefugnis auch für Philosophie besaßen, von ihr aber nicht Gebrauch machten. Vom SS 1949 an wurden die Lehrveranstaltungen von Philoso-phie, Psychologie und Pädagogik im Vorlesungsverzeichnis getrennt aufgeführt. - Ebenso wird nicht auf die Dozenten eingegangen, die nur kurzfristig Veranstaltun-gen anboten: Gigon (WS 47), Kaufmann (WS 49), Grimm (WS 49, SS 51), v.Uexküll (SS 52, WS 52) und Merkel (WS 53 - WS 55); sowie auf Dozenten, die erst zum Ende des Berichtszeitraums Lehraufträge erhielten: M. Zahn (WS 58), E. Weber (WS 58) und M. Käsbauer (WS 60).

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I. Die Neubesetzung der Lehrstühle Die NS-Zeit hatte die Tradition der philosophischen Lehrstühle5 völlig zum Erliegen gebracht: der Konkordatslehrstuhl des Seminars I war nach der Zwangsbeurlaubung F.v. Rintelens 1941 nicht wiederbesetzt, der Lehrstuhl des Seminars II 1938 in eine Professur für germanische Philologie und Volkskunde umgewandelt und das Extraordinariat von A. Pfänder bis 1945 von dem Nazi-Philosophen H. Grunsky, der 1945 amtsenthoben wurde, besetzt worden. 1. Der Konkordatslehrstuhl Nachdem zum 1.4.1946 A. Wenzl, Vorstand des philosophischen Semi-nars II (s.u.), die kommissarische Vertretung des Konkordatslehrstuhls übernommen hatte, erhob F.-J.v. Rintelen, der den Lehrstuhl bis zu seiner Amtsenthebung 1941 innegehabt hatte, Ansprüche auf seine Wie-dereinsetzung. Die Berufungsverhandlungen zogen sich jedoch in die Länge, da politisches Belastungsmaterial gegen ihn vorgebracht wurde: er habe sich anläßlich seiner Zwangsbeurlaubung 1941 damit verteidigt, sich nirgends gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen zu haben. Trotz eidesstattlicher Erklärungen seiner Schüler F. Leist und H. Krings über seine antinazistische Gesinnung scheiterte seine Rückkehr auf den Lehrstuhl, zumal er 1947 einen Ruf nach Mainz erhalten hatte6.

5 �Das Philosophische Seminar I geht auf den Konkordats-Lehrstuhl von Georg Graf v.Hertling (1843-1919) zurück und wurde durch seinen Nachfolger Clemens Baeumker (1853-1924) 1912 offiziell gegründet. - Den Lehrstuhl des konfessionell nicht gebundenen Philosophischen Seminars II hatten im 19. Jh. u.a. Schelling und K. Prantl, im 20. Jh. Theodor Lipps (1851-1914), Oswald Külpe (1862-1915) und Erich Becher (1882-1929) inne� (W. Henckmann, Philosophie an der Universität München 1933-1945. In: Widerspruch 13, S.9). Von 1936-1941 hatte Fritz-Joachim v. Rintelen (1898-1979) den Konkordatslehrstuhl inne; 1930-1933 war Richard Hönigswald (1875-1947), 1934-1936 Wolfgang Schultz (1881-1936), NS-Mitglied und enger Freund Alfred Rosenbergs, Vorstand des Semi-nars II. 6 siehe: Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Gespräch mit Prof. Hermann Krings. In: Widerspruch 13, S.29.

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Schließlich wurde zum 20.11.1948 der katholische Kulturphilosoph Alois Dempf (1891-1982) aus Wien auf den Konkordatslehrstuhl berufen. Dempf, in Altomünster geboren, hatte in München zunächst Medizin studiert und am 1. Weltkrieg als Feldarzt teilgenommen. Nach dem Krieg studierte er Philosophie und wurde 1922 mit der Dissertation �Der Wertgedanke in der aristotelischen Ethik und Politik� promoviert. In den 20er Jahren gehörte er der von R. Guardini geführten, katholischen Ju-gendbewegung �Quickborn� an7. Nach seiner Habilitation aufgrund der Arbeit �Das Unendliche in der mittelalterlichen Scholastik und in der kantischen Philosophie� wurde Dempf 1926 zunächst Privatdozent für christliche Philosophie und 1930 außerordentlicher (ao.) Professor in Bonn. Von 1925 bis zu ihrem Verbot 1934 führte er die Redaktion der katholischen Zeitschrift �Abendland� und übersetzte Anfang der 30er Jahre das Buch �Italien und der Faschismus� seines Freundes Luigi Stur-zo, des Gründers der Christlich-Sozialen Partei Italiens. Seine Arbeit zu �Meister Eckhard� (1934) ließ die anschließenden Berufungen nach Bonn (1934) und Berlin (1936), wie er schrieb, am �Zorn Alfred Rosen-bergs� 8scheitern, der das Werk als Affront gegen die NS-Weltanschauung betrachtete. Zum 1.9.1937 wurde Dempf schließlich nach Wien auf den durch die Ermordung M. Schlicks 1936 vakant ge-wordenen Lehrstuhl berufen, bis er ein Jahr später, nach der Annexion Österreichs, amtsenthoben wurde und bis 1945 Zwangspensionär blieb9. 1948 nahm er den Ruf nach München an. Dempf hatte sich zunächst der Ethik und Politik des Mittelalters zuge-wandt und in mehreren kultursoziologischen Arbeiten das Verhältnis von Reich und Kirche, von Herrschafts- und Heilsordnung, behandelt (Ethik des Mittelalters 1929, Sacrum Imperium 1929). In der Folgezeit war er um eine �metaphysische Systematik�10 bemüht, die kritisch Kants

7 A. Dempf, Bekenntnisse junger Katholiken, Rothenfels 1921. 8 Alois Dempf, in: L.J. Pongratz (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. I, Hamburg 1975, S.52. 9 F. Hartmann, Geistiger Anschluss. Die Wiener Philosophie und der Nationalsozia-lismus. In: Information Philosophie Nr.3, Reinach 1989, S.22. 10 Alois Dempf, in: L.J. Pongratz (Hg.), a.a.O., S.78.

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Transzendentalphilosophie, den deutschen Idealismus, die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften in ein umfassendes Gebäude von �Weltord-nung und Heilsgeschichte� (1958) einzubeziehen versuchte (Religions-philosophie 1937, Christliche Philosophie 1938). In den 50er Jahren ergänzte Dempf die religiös-metaphysische Systematik um das mystisch-ästhetische Element (Unsichtbare Bilderwelt 1959). In seiner Münchner Zeit hielt Dempf neben allgemeinen Einführungen in die Philosophie (SS52, WS54, SS57) wiederholt Vorlesungen über die klassischen Gebiete der Philosophie: �Erkenntnistheorie und Logik� (SS50, WS52, SS55, WS57), �Metaphysik� (WS50, SS53, WS55, SS58, WS60), �Anthropologie und Ethik� (SS51, WS53, WS55), �Geschichts-� und �Religionsphilosophie� (SS59, WS59), �(Kultur-) Soziologie� (WS 51, SS 54) sowie �Philosophie der Kunst als Geistesgeschichte� (WS56). 1955 erschien der im Rahmen des �Studium Universale�11 gehaltene Vorlesungszyklus unter dem Titel �Die Einheit der Wissenschaft�. Ne-ben diesen Vorlesungen führte Dempf regelmäßig Lektüreseminare zur Geschichte der antiken, der altchristlichen und der mittelalterlich-scholastischen Philosophie durch. In der Festschrift zum 70. Geburtstag hob sein Schüler und Assistent F. Mordstein Dempfs �heitere barocke Großzügigkeit�12 hervor. Sie kennzeichnete nicht nur seine Person, son-dern auch sein auf eine spezifisch katholische Universalität angelegtes Gesamtwerk13.

11 Das �Studium Universale� war eine Einrichtung der Universität zur �demokrati-schen Umerziehung� der Bevölkerung und der Studenten aller Fakultäten. In ihm wurde aus allen Wissensgebieten Einführungsvorlesungen angeboten; 1949 zunächst �Studium Generale�, ab 1950 �Studium Universale�. Von 1955 an wurde, neben �Vorlesungen zur politischen Bildung� und �Vorlesungen aus allen Fakultäten�, eigens �Philosophie als geistige Grundlage des Studiums� angeboten. 12 F. Mordstein, Nachwort, in: Philosophisches Jahrbuch Nr.68, 1960. Vgl. auch: H. Krings, Alois Dempf. Ein Nachruf. In: Phil. Jahrbuch Nr.80, 1983, S.225-228. 13 Zum Werk: W. Marcus, Antlitz im Werk, Versuch einer Würdigung des Gesamt-werks von Alois Dempf. In: Phil. Jahrbuch Nr.68, 1960, S.23-35. - Weniger freund-lich urteilt das �Bestiarum philosophicum� (Bonn 1976, S.51), das ihn den �Kultur-, Gesellschafts- und Geschichtsdempf in allen Gassen� nennt und in ihm den �frucht-barsten Legefutterverwerter des 20. Jahrhunderts� sieht.

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Zum 31.12.1958 wurde Dempf, der Vizepräsident der �Universitaires d'Europe�, seit 1950 Mitglied der bayerischen Akademie der Wissen-schaften und von 1950 bis 1960 Herausgeber des �Philosophischen Jahrbuchs� der Görres-Gesellschaft war, emeritiert. Sein Nachfolger wurde 1960 Max Müller. 2. Der Lehrstuhl des philosophischen Seminars II Am 16.3.1946, noch vor der Wiedereröffnung der Universität, wurde Aloys Wenzl (1887-1967), damals Abteilungsleiter für das höhere Schul-wesen im bayerischen Kultusministerium, zum Vorstand des philosophi-schen Seminars II und zum kommissarischen Vorstand des Seminars I ernannt. Wenzl schien seines philosophischen Standorts wie seiner poli-tischen Biographie wegen für das Amt prädestiniert zu sein. Er stand in der Tradition des �kritischen Realismus�, der bis in die 30er Jahre die Münchner Philosophie geprägt hatte14, und er hatte politisch eine 'weiße Weste'. In München geboren, hatte Wenzl 1906-1912 hier zunächst Mathematik und Physik studiert. Aus dem ersten Weltkrieg als Pazifist zurückgekehrt, war er während der 'Münchner Räterepublik' 1919 der SPD beigetreten und als Mitglied der Friedensbewegung zeitweilig der 2. Vorsitzende der 'Münchner Friedensvereinigung' gewesen. 1920 wurde er Studienrat am Luitpold-Gymnasium. Ab 1922 studierte er zusätzlich Philosophie und Psychologie und konnte sich 1926 mit seiner Preisschrift �Über das Ver-hältnis der Einsteinschen Relativitätstheorie zur Philosophie der Gegen-wart� (1924) bei E. Becher habilitieren. 1933 zum ao.Prof. ernannt, sys-tematisierte er in seinen Hauptwerken �Wissenschaft und Weltanschau-ung� (1936) und �Philosophie als Weg von den Grenzen der Wissenschaft an die Grenzen der Religion� (1939) den kritischen Rea-lismus seines Lehrers E. Becher und des Naturphilosophen H. Driesch

14 Der �kritische Realismus� vertrat die erkenntnistheoretische Position einer objek-tiven �gestalthaften Wirklichkeit�; er wurde in den 20er Jahren in München von dem Neuscholastiker J. Geyser, dem Naturphilosophen und Psychologen E. Becher und dem Phänomenologen A. Pfänder vertreten.

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und entwickelte ihn im Sinne einer �induktiven Metaphysik� zu einem Natur, Seele und Geist umfassenden System weiter15. - Nach der Macht-übernahme der Nazis verlor Wenzl aufgrund seines politischen und wissenschaftlichen Engagements während der Weimarer Republik seine Stellung: der NS-Dozentenschaftsführer R. Spindler 'entlarvte' ihn als Pazifisten und 'heimtückischen Marxisten' und legte ihm seine Zustim-mung zur Relativitätstheorie Einsteins - nach 1933 Beispiel und Symbol einer undeutschen und �verjudeten Physik� - zur Last. 1938 entzog ihm schließlich die Fakultät wegen weltanschaulicher Untragbarkeit in aller Form die venia legendi, und er wurde aus München ausgewiesen16. - Da Wenzl als ehemaliger Gymnasiallehrer, zeitweiliger Landtagsstenograf und Abteilungsleiter über gute Kontakte zur Kultusbürokratie verfügte, wurde er nach 1945 nicht nur zum Vorstand des wiedererrichteten Lehr-stuhls II ernannt, sondern 1947/48 auch zum Rektor der Universität17 gewählt, und war bis 1951 Prorektor sowie bis 1956 Vertreter der bayeri-schen Hochschulen im Bayerischen Senat. In den Jahren nach dem Krieg wandte sich Wenzl, vom kritischen Rea-lismus ausgehend, neben naturphilosophischen Fragen vornehmlich anthropologischen und ethischen Problemen zu18. Er hielt im Rahmen des �Studium Universale� aufeinander aufbauend Vorlesungen zur �Problemgeschichte als Einführung in die Philosophie� (SS49, SS51, WS53, WS55, WS57), zur Logik, Erkenntnislehre und Ontologie (WS49, WS51) bzw. zur Ontologie und Metaphysik (SS54, SS56), zur Naturphi-losophie (SS50, SS52, SS57) sowie zur Anthropologie und Ethik (WS50, WS52, WS54). Er gab regelmäßig einen Überblick über die �philosophi-

15 Zum Werk: A. Dempf, Aloys Wenzl zum 70. Geburtstag. In: Philosophisches Jahrbuch, Nr.67, 1957, S.1-4. 16 Zur Biographie: A. Neuhäusler, G. Ebel, Aloys Wenzl zum Gedenken, in: A. Neuhäusler (Hg.), Achtzehn Philosophen sehen die Welt, Meisenheim 1973, S.240-243. - Int. Biographisches Archiv: Wenzl. 17 vgl. A. Wenzl, Erinnerungen aus der Geschichte der letzten 50 Jahre unserer Universität. Aus einem Vortrag zur 800-Jahrfeier Münchens. In: Jahrbuch der Lud-wig-Maximilians-Universität München 1957/58, S.53-61. 18 A. Wenzl, Philosophie der Freiheit 1947; ders., Ethik 1947; ders., Unsterblichkeit 1951.

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sche Entwicklung der letzten 50 Jahre� (SS53, SS55, SS58, WS59) und führte fast jedes Semester Kolloquien über philosophische Neuerschei-nungen durch. In seinen Seminaren behandelte er spezielle naturphiloso-phische Werke, u.a. von G.Th. Fechner, H. Lotze und H. Bergson, sowie Fragen des Leib-Seele-Problems, von 'Kausalität, Finalität und Freiheit', des 'Stufenbaus der Wirklichkeit' und des Gedächtnisproblems. Zum 1.3.1955 wurde Wenzl emeritiert, mußte den Lehrstuhl jedoch bis zur Einigung über seine Nachfolge vertreten. Nachdem C.F. v. Weizsä-cker und G. Martin den Ruf nach München abgelehnt hatten, wurde von 13 Fakultätsvertretern, darunter A. Dempf, H. Kuhn (s.u.) an die erste und einzige Stelle der Berufungsliste gesetzt. Eine Minderheit, darunter A. Wenzl und A. Gallinger, votierte hingegen für den ehemaligen Münchner F.-J.v. Rintelen als Wenzl-Nachfolger19. Schließlich nahm wegen der Uneinigkeit in der Fakultät das Kultusministerium die Ver-handlungen mit H. Kuhn auf und berief ihn zunächst am 15.9.1958 zum Vorstand des Seminars II. Drei Monate später wurde zum 15.12.1958 W. Stegmüller zum Nachfolger Wenzls auf den Lehrstuhl II berufen; H. Kuhn wechselte in das philosophische Seminar I20. 1958 unterzeichnete Wenzl, der Mitglied der Deutschen Friedensunion war, den Aufruf von 44 Professoren gegen die Atombewaffnung. Zu seinem 75. Geburtstag richtete die Fakultät am 30.1.1962 eine Feierstun-de aus, in der W. Stegmüller Wenzls Verdienste nach dem Krieg würdig-te und hervorhob, sich um �größtmögliche Durchsichtigkeit in der Ge-dankenführung� bemüht und �nie vom hohen Olymp herunterphilo-sophiert�, sondern im �beständigen und lebendigen Kontakt mit den Einzelwissenschaften�21, der Psychologie, der theoretischen Physik, der Biologie und der Mathematik gestanden zu haben; ein Verständnis von

19 Als Begründung wurde die �Wahrung der Tradition des Lehrstuhls seit Külpe, Becher, Hönigswald� angegeben (U. Huber, Von der Amerika-Kunde zum Amerika-Institut der Universität München. In: Festschrift zum 40-jährigen Bestehen des Amerika-Instituts, München 1989, S.52). 20 Zu den Berufungsverhandlungen siehe: U. Huber, a.a.O., S.51. 21 Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München 1961/62, S.108f.

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Philosophie, das, wie Stegmüller einräumt, mit ihm weitgehend aus der akademischen Philosophie verschwunden sei. 3. Der Lehrstuhl A. Pfänders 1956 wurde auch der dritte Lehrstuhl, das Extraordinariat A. Pfänders, das vom 1.4.1937 bis zum 26.7.1945 von dem Nazi-Ideologen H. Grunsky besetzt gewesen war22, wiedereingerichtet, und zum 1.5.1956 der ehemalige Pfänder-Assistent Joseph Stürmann (1906-1959) berufen, der die Stelle schon ab 24.12.1947 vertreten hatte23. In Münster geboren, hatte Stürmann zunächst in Innsbruck studiert und war 1928 mit der Arbeit über �Franz Brentano und den Psychologismus� zum Dr.scholast.phil. promoviert worden. Nach dem Studium in München promovierte er 1931 mit der Dissertation �Untersuchungen über das Wesen der philosophischen Erkenntnis� zum Dr.phil. bei A. Pfänder, dessen Assistent er bis 1933 war. Im selben Jahr wurde er von den Nazis in �Schutzhaft� genommen und nach seiner Entlassung Angestellter bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank. Nach erneuter Verhaf-tung und Einlieferung ins KZ Dachau war er für die Bank nicht weiter 'tragbar' und ab 1940 Angestellter bei einer Münchner Großhandelsfir-ma. Nach wiederholten Internierungen seit dem Attentat auf Hitler 1944 wurde er nach der Befreiung zunächst Geschäftsführer des �Bayerischen Roten Kreuzes� und als CSU-Mitglied Abgeordneter im �Verfassungs-gebenden Bayerischen Landtag�. Eine Wiederwahl lehnte Stürmann ab, wurde aufgrund der Arbeit �Der Mensch in der Geschichte. Versuch einer philosophisch-anthropologischen Geschichtsbetrachtung� 1946 bei A. Wenzl für Philosophie habilitiert und zum 7.5.1947 zum außerplan-mäßigen (apl.) Professor ernannt.

22 siehe W. Henckmann, Philosophie an der Universität München 1933-1945, a.a.O., S.13-17. 23 Dazu Rektor Köstler: �Das rapide Ansteigen der Hörerzahlen und die Ausweitung der philosophischen Prüfungen auf Lehramtskandidaten aller Fächer lassen die Errichtung des Extraordinariats als vordringlich erscheinen.� (J.N. Köstler, Ludwig-Maximilians-Universität München. Bericht über die Lage im Jahre 1954, München 1954, S.20).

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Vom WS 1947 an hielt J. Stürmann in den ersten Jahren u.a. Vorlesun-gen über Geschichtsphilosophie (WS47, WS48, WS49, SS52), dann re-gelmäßig problem-geschichtliche Einführungen in die Geschichte der Philosophie (WS52, SS53, SS54, WS54, SS55, SS56, WS57, SS58, WS58), darunter des philosophischen Materialismus (WS50, WS51), sowie zur Logik, Erkenntnistheorie und Ontologie (SS49, SS51, SS52, WS53, SS54, WS55, WS56, SS58, WS58). - In der Tradition A. Pfänders bemühte sich Stürmann um die Verbindung von Phänomenologie und Psychologie24: er bot Vorlesungen und Seminare zur phänomenologischen Psychologie des Individuums (SS49, SS53, WS54), der Gesinnungen (SS49, SS58), der Angst (WS50, SS55) sowie des Unbewußten (WS51, WS55) an. Am 11.1.1959 starb Stürmann an den Spätfolgen des KZ25. Nach seinem Tod fiel das Extraordinariat an die Amerikanistik und wur-de in einen ordentlichen �Lehrstuhl für Nordamerikanische Kulturge-schichte� umgewandelt, auf den zum 3.9.1960 F.G. Friedmann berufen wurde26. 4. Der Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie Zum 13.3.1948 wurde für Romano Guardini (1885-1968) der personen-gebundene Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilo-sophie neu eingerichtet. In Verona geboren, war Guardini zur Zeit der Weimarer Republik als 'geistiger Führer' der katholischen Jugendbewe-gung �Quickborn� mit seinen Forderungen nach einer Verlebendigung des Glaubens und der geistigen Öffnung der katholischen Kirche be-kannt geworden. 1923 als ordentlicher (o.) Professor nach Breslau und Berlin berufen, war er 1939 von den Nazis zwangspensioniert und mit Publikationsverbot belegt worden27. Zunächst im 'Untergrund', nach

24 vgl. J. Stürmann, Über das Wesen der phänomenologischen Psychologie. In: Päda-gogisches Lexikon 1951. 25 Zur Biographie: A. Wenzl, Nachruf auf Joseph Stürmann. In: Chronik der Lud-wig-Maximilians-Universität 1958/59, S.13f. 26 siehe U. Huber, Von der Amerika-Kunde..., a.a.O., S.53. 27 vgl. das Gespräch mit Ernesto Grassi in diesem Heft.

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1945, als ordentlicher Professor in Tübingen, öffentlich, war er erneut für eine geistig-religiöse Erneuerung eingetreten28. Nach seiner Berufung nach München29 entfaltete Guardini in den 50er Jahren, vor allem durch seine Vorträge und als auf die Erneuerung der Liturgie zielender Prediger der Ludwigskirche, eine kaum zu überschät-zende Wirksamkeit im außeruniversitären Raum30. - Im Mittelpunkt seiner akademischen Arbeit standen die Vorlesungen zu den Grundlagen einer �Theorie der religiösen Existenz� (WS49, SS50, WS53, SS54, SS55), die 1958 unter dem Titel �Religion und Offenbarung I� erschienen, bzw. einer �Theorie der christlichen Existenz� (WS56, SS57, WS57, SS58, WS58). Er hielt eine mehrteilige Vorlesungreihe zu �Grundfragen der Ethik� (WS50, SS51, WS51, SS52, WS52, SS53, WS53, SS54), von 1954 an zur �Ethik als Lehre von der sittlichen Aufgabe� (SS54, WS54, SS55, WS55), die auch im Rahmen des �Studium Universale� angekündigt waren. Neben diesen Vorlesungen führte Guardini Seminare zur christli-chen Dichtung (Rilke, Dante, Hölderlin) durch. Mit Ehrungen nahezu überhäuft, wurde Guardini mit Wirkung vom 1.4.1964 emeritiert. Auf den persongebundenen Lehrstuhl, den das Kul-tusministerium 1959 schon mit dem �k.w.�-Vermerk (�künftig wegfal-lend�) versehen, diesen 1963 aber wieder gestrichen hatte, wurde als Nachfolger Guardinis zum 25.3.1964 Karl Rahner berufen.

28 siehe zur Biographie und zum Denken Guardinis den Beitrag von H. Bahner in diesem Heft. 29 Guardinis Berufung nach München geschah auf Betreiben des Historikers J. Spörl (H.-B. Gerl, Romano Guardini, 1885-1968. Leben und Werk, Mainz 1985, S.343.) - vgl. auch J. Spörls Beitrag in: �Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Ge-schichtsschreibung und Geschichtsdeutung, hg. von Cl.Bauer, L.Boehm, M.Müller, München 1965, S.760f. 30 vgl. K. Rahner, Festansprache zum 80. Geburtstag von R. Guardini. In: Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität 1964/65, S.74-83; H.-B. Gerl, Romano Guardi-ni, a.a.O., S.346f.

Die Philosophie der Nachkriegszeit in München (1945-1960)

II. Vergabe ordentlicher Professuren Als erster nach 1945 erhielt das langjährige Mitglied des philosophischen Instituts August Gallinger (1871-1959) den Titel eines o.Prof. In Worms geboren, hatte er in München Philosophie und Psychologie studiert und 1901 noch bei Th. Lipps mit der Arbeit �Zum Streit über das Grund-problem der Ethik in der neueren philosophischen Literatur� promo-viert. 1908 hatte er die Approbation zum Arzt erhalten und war 1914 aufgrund seiner �Grundlegung einer Lehre von der Erinnerung� für Philosophie und Psychologie habilitiert worden. Am 1. Weltkrieg hatte er freiwillig als Militärarzt teilgenommen und 1919 aus französischer Kriegsgefangenschaft fliehen können. 1920 war Gallinger zum apl. ao.Prof. ernannt worden. Seiner �nichtarischen Herkunft� wegen war ihm 1934 verboten worden, seine, von Schopenhauer beeinflußten, Vor-lesungen über die �Grundlagen der Ethik und Gesellschaftslehre� zu halten, und die Lehrbefugnis und der Professorentitel entzogen worden. 1939 hatte er die Erlaubnis erhalten, nach Schweden zu emigrieren. Auf Initiative A. Wenzls wurde der 76-jährige 1947 aus der Emigration zurückgerufen und zunächst zum ao.Prof., zum 29.10.1948 zum o.Prof. für Philosophie ernannt. Vom SS 1947 an hielt er wiederholt Vorlesun-gen zur �Geschichte der Philosophie im Zusammenhang mit der Kultur� (SS47, SS50, SS51, WS51, WS52), Vorlesungen und Übungen zu Scho-penhauer und Nietzsche (SS49, SS52) sowie Übungen zum Problem der Willensfreiheit (WS47, SS49, SS51). 1952 trat er nach 60-jähriger Zuge-hörigkeit zum philosophischen Institut in den Ruhestand31. Zum 16.11.1948 erhielt Ernesto Grassi (*1902) eine ordentliche Profes-sur für Philosophie des Humanismus. In Mailand geboren, war er 1937 Honorarprofessor in Freiburg und 1938 o.Prof. in Berlin geworden. Er war dort für den geistigen Austausch der deutschen Philosophietradition mit der italienischen Philosophie eingetreten und vertrat nach 1945 in

31 siehe: Nachruf von A.Wenzl. In: Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München 1958/59, S.17ff. - W. Henckmann, Philosophie an der Universität Mün-chen 1933-1945, a.a.O., S.20.

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München eine neue, bislang nicht repräsentierte Richtung: die am italie-nischen Neuidealismus orientierte Erforschung der Geistesgeschichte des Renaissancehumanismus32. In den 50er Jahren bot Grassi Vorlesungen und Seminare vor allem zu Problemen des �Beginns des modernen Denkens� in der humanistischen Überlieferung (SS50, WS50, SS54, SS55, WS55, SS57, WS57) und zu den antiken Voraussetzungen der humanistischen Philosophie (SS49, SS50, WS50, WS53, WS54, SS56, WS60) sowie, gemeinsam mit Thure v. Uex-küll, zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften (SS49, WS49, SS50, WS50, SS51) an. Er war in den 50er und 60er Jahren zudem Her-ausgeber der Reihen �Rowohlts Deutsche Enzyklopädie� und �Rowohlts Klassiker der Literatur�. Zum 24.2.1961 wurde Grassis Professur in das Extraordinariat für Philo-sophie des Humanismus (mit �k.w.�-Vermerk) und 1963 in das Seminar für Philosophie und Geschichte des Humanismus umgewandelt. 1971 wurde E. Grassi, der Mitglied der Italienischen Akademie seit 1937 und Sekretär des Centre international des études humanistes in Rom gewesen war, emeritiert. Als Nachfolger wurde 1974 Stephan Otto berufen. Zum 13.5.1953 erhielt Helmut Kuhn (*1899) auf Initiative A. Dempfs eine ordentliche Professur für amerikanische Kulturgeschichte und Phi-losophie. In Lüben/Schlesien geboren, hatte Kuhn zunächst als Freiwil-liger am 1. Weltkrieg teilgenommen, ab 1919 in Breslau und Berlin alte und neue Sprachen sowie Philosophie u.a. bei dem Neukantianer R. Hönigswald studiert. 1923 promovierte er mit �Der Begriff des Symboli-schen in der deutschen Ästhetik bis Schiller� bei E. Kühnemann und habilitierte sich 1930 mit dem Werk �Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik� in Berlin , wo er bis 1936 Privatdozent war. Nach einer Vortragsreise in die Niederlande denunziert, war Kuhn, der jüdi-scher Abstammung ist, 1937 in die USA emigriert und hatte von 1938-1948 eine Professur für Philosophie und amerikanische Geistesgeschich-

32 Zur Biographie vgl. das Gespräch mit Ernesto Grassi in diesem Heft.

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te zunächst an der University of North Carolina, ab 1947 an der Emory University (Georgia) inne. 1944 unterzeichnete er das �Programm für ein demokratisches Deutschland� des ev. Theologen P. Tillich und war 1944/45 im �Re-education-Programm� tätig. 1948 kehrte Kuhn aus dem Exil zurück und wurde 1949 zunächst o. Prof. für Systematische Philo-sophie in Erlangen. Nach längeren Verhandlungen wurde Kuhn auf-grund amerikanischer Gutachten33 1953 schließlich zum Direktor des Amerika-Instituts und ord. Professor nach München berufen. Nach der Rückkehr aus den USA vertrat Kuhn eine Philosophie des konservativen Liberalismus, die sich politisch an der amerikanischen Verfassung und philosophisch an der platonischen Idee des Guten orien-tierte, und befaßte sich kritisch mit der Existenzphilosophie34. Die Schwerpunkte seiner Münchner Lehrtätigkeit waren zunächst Vorlesun-gen zur Geschichte der amerikanischen Philosophie (SS54, WS56), zur anglo-amerikanischen Gegenwartsphilosophie (WS54), zum konservati-ven Liberalismus (SS55) und zur amerikanischen Philosophie (WS57); im weiteren Veranstaltungen zur antiken Philosophie, insbesondere Platons (WS54, SS55, SS56, SS57, SS58, WS58, WS59, SS60, WS60). Daneben las Kuhn, der in den USA mit K.E. Gilbert das Standardwerk �A History of Esthetics� (1939) verfaßt hatte, über Ästhetik (SS54, WS57, SS60). Zum 15.9.1958 wurde Kuhn, der 1956 vom Protestantismus zum Katho-lizismus übergetreten war, nach seinem Ausscheiden aus der Professur

33 Im Zentrum der Verhandlungen stand die Frage, warum ein deutscher Philosoph Vorstand des Amerika-Instituts werden solle. - Dazu die Gutachten von G.C. White, Präsident der Emory University: �... it is my conviction that he is well qualified for the position and that his ability and experience will enable him to make an important contribution to mutual understanding and good will between Germany and the United States of Amerika.� - E.M. Warburg: �... Auch ist seine ganze Einstellung während all der Jahre eine so außerordentlich positive in der Frage des amerikanisch-deutschen Sich-Verstehens und Von-Einander-Wissens gewesen, daß ich mir von dieser Ernennung in der Tat außerordentlich Segensreiches verspreche� (zit. nach: U. Huber, Von der Amerika-Kunde..., a.a.O., S.46). 34 vgl. u.a. H. Kuhn, Begegnung mit dem Nichts. Ein Versuch über Existenzphiloso-phie, 1950; Begegnung mit dem Sein. Meditationen zur Metaphysik des Gewissens, 1954; Das Sein und das Gute, 1962.

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für amerikanische Kulturgeschichte als o. Prof. für Philosophie zunächst formell Nachfolger von A. Wenzl auf dem Lehrstuhl des Seminars II und zum SS 1959 Lehrstuhlinhaber der neu geschaffenen 2.Abteilung des philosophischen Seminars I. Kuhn, der Mitbegründer und -herausgeber der �Philosophischen Rundschau� (ab 1953) und der �Zeit-schrift für philosophische Forschung� (ab 1952), 1957-62 Präsident der �Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland� und 1960-70 Rektor der �Hochschule für Politik� in München war, wurde zum 31.3.1967 emeritiert35. Zu seinem Nachfolger wurde 1968 Hermann Krings berufen. Zum 9.7.1956 wurde Wilhelm Britzelmayr (1892-1970) zum o.Prof. für Logistik ernannt. In Passau geboren, hatte Britzelmayr in München Volkswirtschaft studiert und war 1929 mit einer Arbeit über �Vermö-genssteuer oder Nachlaßsteuer?� zum Dr.oec.publ. promoviert worden. Von 1942 und 1956 war er Direktor der Süddeutschen Bodencreditbank in München. Unmittelbar nach dem Krieg gründete er in München ein privates �Büro für logistische Forschungen�, das in enger Verbindung mit der Logistikschule von H. Scholz in Münster stand, Kontakte zu Logistik-Instituten in den USA aufnahm und ab 1947 �logistische Collo-quien� durchführte, auf denen u.a. A. Konrad, G. Schischkoff, U. Klug und K. Schilling referierten36. Anfang 1947 erhielt Britzelmayr auf Vor-schlag A. Wenzls einen Lehrauftrag für Logistik, der zum 14.1.1949 in eine Honorarprofessur umgewandelt wurde. 1956 wurde ihm der Titel, die akademischen Rechte und Pflichten eines o.Prof. verliehen und 1962 sein Lehrgebiet in �Logik und Grundlagenforschung� umbenannt37. Vom WS 1947 an hielt Britzelmayr regelmäßig Einführungsvorlesungen in die Geschichte und die Grundzüge der Logistik und führte jedes Se-mester Seminare zu ausgewählten Problemen oder neueren Forschungs-

35 Zur Biographie: Helmut Kuhn. In: L.J. Pongratz (Hg.), a.a.O., Bd.III, S.236-283. 36 Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. I,4, 1947, S.607; Bd. II,4, S.606f. 37 Zur Bibliographie (1927-50): A. Menne, A. Wilhelmy, H. Angstl, Kontrolliertes Denken. Untersuchungen zum Logikkalkül und zur Logik der Einzelwissenschaften (Festschrift für Wilhelm Britzelmayr), München 1951, S.120ff.

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arbeiten der Logistik durch. Ab WS 1959 kündigte er 4-stündige �logisti-sche Arbeitsgemeinschaften� an. Britzelmayr war Mitherausgeber der Reihe �Orbis academicus� (ab 1952), des �Archivs für Mathematik, Lo-gik und Grundlagenforschung� (ab 1957) und �Erfahrung und Denken� (ab 1958). 1968 ging Britzelmayr, der das Fundament für die �Münchner Logikschule� (M. Drömmer, F. v. Kutschera, W. Hoering, W. Essler)38 gelegt hatte, in den Ruhestand. III. Vergabe außerplanmäßiger Professuren Neben die Berufung ordentlicher Professoren trat als weiteres Element des Neuaufbaus des Philosophie die Vergabe außerplanmäßiger (apl.) und Honorarprofessuren. Sie differenzierten und erweiterten zum einen das Lehrangebot39, und sie eröffneten zum anderen Philosophen, deren akademische Laufbahn vom NS-Regime verhindert worden war, oder die aufgrund der politischen Nachkriegsordnung hatten emigrieren müssen, einen neuen Wirkungskreis. So wurde schon 1945 Alexander Varga Ritter von Kib�d und Makfalva (1902-1986) zum �Lehrbeauftragten Professor der Universität Budapest� ernannt. In Szentgerice (Siebenbürgen) geboren, hatte er in Berlin, Jena, Heidelberg und Szegedin studiert. 1924 promovierte er mit der Arbeit �Die transzendentale Deduktion bei Kant�, wurde 1929 aufgrund des Werks über die Wertphilosophie �Sein und Wert� habilitiert und im selben Jahr Privatdozent für Erkenntnistheorie und Wertphilosophie in

38 vgl. M. Käsbauer (Hg.), Logik und Logikkalkül. Festschrift für Wilhelm Britzel-mayr, Freiburg 1962. 39 Die Notwendigkeit, aber auch Problematik einer qualifizierten Erweiterung des Lehrangebots verdeutlichen das �rapide Ansteigen der Hörerzahlen� (Fn.23) (Philo-sophische Fakultät: SS 1946: 1113; WS 1949: 2106; Quelle: Studentenkanzlei) einer-seits, der durch Krieg und Entnazifizierung bedingte Ausfall des Lehrpersonals sowie �die fast vollständige Unterbrechung des geistigen Kontakts mit dem Ausland und der nahezu gänzlich fehlende Austausch der wissenschaftlichen Literatur während der jüngsten Vergangenheit� (U. Huber, Von der Amerika-Kunde..., a.a.O., S.43) andererseits

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Budapest. 1934 wurde er ao.Prof. in Budapest, war Ministerialrat im königlich-ungarischen Kultusministerium und Mitglied der Kommission der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Budapest. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ungarn 1944 war er emigriert. Varga von Kibéd bot, in der Tradition des Neukantianismus' von Rickert und Bauch stehend, Übungen über die kritische Philosophie Kants, Fich-tes (WS51, WS53, SS56, SS58) und den Neukantianismus (SS52, SS54) an und gab vom SS 1953 an regelmäßig �geschichtliche Einführungen in die Grundbegriffe der Philosophie�. Zum 13.7.1951 wurde er apl.Prof. für Philosophie, 1959 zudem pl. ao.Prof. und zum 17.1.1963 o.Prof. an der Pädagogischen Hochschule München. Varga von Kibéd war ab 1953 Kommendador des Ordens St.Johannis vom Spital zu Jerusalem und von 1957 an Präsident des Zentralrates der ungarischen Calvinisten in West-europa40. 1973 wurde er emeritiert. Zum 2.10.1946 erhielt Fedor Stepun (1884-1965) eine Honorarprofessur für russische Geistesgeschichte. In Moskau geboren, hatte Stepun dort das Gymnasium besucht und zu Beginn des Jahrhunderts bei Windel-band und Jellinek in Heidelberg studiert, wo er 1910 mit einer Arbeit über den russischen Philosophen Solowjew promovierte. Nach dem 1. Weltkrieg, an dem Stepun als zaristischer Offizier teilgenommen hatte, und der anschließenden Oktoberrevolution emigrierte er 1922 nach Deutschland. 1926 erhielt er an der TU Dresden eine pl.ao. Professur für Soziologie, wurde jedoch 1937 wegen 'politischer Untragbarkeit' vorzei-tig in den Ruhestand geschickt, da er in der sich ankündigenden Kon-frontation Hitlers mit der Sowjetunion �trotz Stalin ... (ein) überzeugte(r) Verteidiger Rußlands�41 geblieben war. Sein Versuch, 1945 in die Sow-jetunion zurückzukehren, scheiterte an unüberwindlichen ideologischen Gegensätzen mit dem Stalinismus42.

40 vgl. A. Varga von Kibed, Wesen und Schicksalsfrage des Emigrantentums, Mün-chen 1976. 41 F. Stepun, Vergangenes und Unvergängliches (Lebenserinnerungen), 3 Bde, Mün-chen 1947-50, Bd. III, S.241. 42 ebd., S.263.

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Vom SS 1948 an hielt Stepun, der von der christlich-russischen Philoso-phie Solowjews, Bulkakows und Berdjajews beeinflußt war, in München - z.T. im Rahmen des �Studium Universale� - Vorlesungen und Übun-gen zur russischen Literatur (Dostojevskij, Tolstoi, Solowjow und Berd-jajew) sowie zur Kultursoziologie Rußlands, insbesondere der russischen Revolution und des Bolschewismus (WS49, SS52, SS56)43. Stepun, der u.a. Mitglied der �Deutschen Gesellschaft für Osteuropa-Kunde� war, trat 1957 in den Ruhestand. Zum 19.8.1948 erhielt Anton Anwander (1887-1977) eine Honorarpro-fessur für vergleichende Religionsgeschichte und Religionswissenschaft. In München geboren, hatte er 1916 promoviert, war danach Pfarrer gewesen und hatte 1932 eine umfangreiche Arbeit über �die allgemeine Religionswissenschaft im katholischen Deutschland während Aufklärung und Romantik� verfaßt. 1937 war er in Münster über �Das Prinzip des Gegensatzes in den Religionen� zum Dr.theol. promoviert worden. Als Benefiziat der katholischen Kirche hatte er seine Forschungsschwer-punkte auf dem Gebiet der Patrologie und der allgemeinen Religionswis-senschaft, über die er SS und WS 1950 auch las. 1951 ging Anwander in den Ruhestand. Am 28.6.1952 wurde eine Honorarprofessur für Philosophie an Arnold Metzger (1892-1974) vergeben. In Landau/Pfalz geboren, hatte er in Jena Philosophie studiert und 1914 bei R. Eucken mit einer �Untersu-chung zur Frage der Differenz der Phänomenologie und des Kantianis-mus� promoviert. 1914 war er als Freiwilliger in den Krieg eingetreten und 1917 in russische Kriegsgefangenschaft geraten. 1918 zum Vorsit-zenden des Soldatenrates von Brest-Litowsk gewählt, wurde er im fol-genden Jahr Leiter des Kulturdezernats der �Reichszentrale für Heimat-dienst�, für das u.a. M. Scheler, G. Radbruch, K. Korsch, A. Zweig ar-beiteten. Von 1921 bis 1924 war Metzger in Freiburg Assistent bei Husserl gewesen. Nachdem seine Habilitation 1933 bei E. Spranger in

43 vgl. ders., Der Bolschewismus und die christliche Existenz, München 1959.

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Berlin wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nazis verhindert worden war, wurde er 1934-37 Dozent für Philosophie an der 'Lehran-stalt für die Wissenschaft des Judentums' in Berlin. Nach den Ju-denprogromen ging er 1938 ins Exil, zunächst nach Frankreich, dann nach England, 1941 schließlich endgültig in die USA und wurde ameri-kanischer Staatsbürger. Von 1946 bis 1948 lehrte er am Simmons College in Boston. 1950 kehrte er anläßlich des Philosophiekongresses in Bre-men nach Deutschland zurück und erhielt 1951 in München zunächst eine Gastprofessur für amerikanische Philosophie44. Zum WS 1952 nahm Metzger seine Vorlesungstätigkeit mit der �Einfüh-rung in die Phänomenologie und die phänomenologische Metaphysik� auf und suchte in der Folgezeit nach Verbindungen von Phänomenolo-gie mit Existenz-, später zunehmend mit sozialphilosophischen Proble-men. Neben Einführungsvorlesungen in die phänomenologische Philo-sophie Husserls und Schelers (SS53, SS55, WS57) setzte er sich u.a. mit Fragen der �Überwindung des 'Existenzialismus'� (WS54, WS58, WS60) auseinander und gab ab 1955 regelmäßige �Einführungen in Probleme der Sozialphilosophie� (WS55, SS56, SS58, SS59, SS60). Metzger trat 1974 in den Ruhestand. Zum SS 1953 wurde Johann Baptist Aufhauser (unbesoldeter) �Lehrbe-auftragter Professor der Universität Würzburg für Religionsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung Ostasiens�. In Moosham bei Regens-burg geboren, hatte er 1908 in München in Theologie, 1910 in Philoso-phie über �Das Drachenwunder des heiligen Georg� promoviert und war ab 1918 pl. ao.Prof. der Theologischen Fakultät gewesen. Nach Auflösung der Fakultät zum Ende des WS 1938 durch die Nazis45 war er bis 1947 ao.Prof. in Würzburg. Als Emeritus hielt er bis zum WS 60 u.a. Einführungen in die Religionsgeschichte (WS53, WS57) und Lichtbilder-vorträge über die religiöse Kultur Ostasiens (Tibet, Japan, Indien, China).

44 Zur Biographie: A. Metzger, Phänomenologie der Revolution, Frankfurt 1979. 45 siehe L. Boehm, Die Ludwig-Maximilians-Universität..., a.a.O., S.149f.

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Im WS 1949 erhielt Hedwig Conrad-Martius (1888-1966) zunächst einen Lehrauftrag für Naturphilosophie, der zum 18.3.1955 in eine Honorar-professur umgewandelt wurde. In Berlin geboren, hatte sie in Rostock, Freiburg, München und Göttingen studiert und 1912 mit der Preisschrift �Die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Positivismus� bei A. Pfänder in München promoviert. Sie hatte dem �Göttinger Phänomeno-logenkreis� um Husserl angehört und war eng mit Edith Stein befreun-det46. Als Vertreterin einer christlich geprägten Phänomenologie und der Gruppe um die Zeitschrift �Hochland� nahestehend, hatte sie 1941 von den Nazis Publikationsverbot erhalten. Conrad-Martius, die es unternommen hatte, im Anschluß an die phäno-menologischen Methode Husserls eine �Realontologie� des stufenweisen Aufbaus der Wirklichkeit zu entwickeln47, führte ab 1949, unregelmäßig, Seminare zu ontologischen Problemen von Raum und Zeit (SS52, WS52, SS53, SS55, WS55, WS57), zu den �Grundkategorien des Lebendigen� (SS54, WS54), den verschiedenen �Gegebenheitsweisen der realen Welt� (SS56) sowie über das Leib-Seele-Problem (SS58, WS58) durch. Mit dem SS 1961 beendete sie ihre Vorlesungstätigkeit. IV. Privatdozenten Die dritte Gruppe neben den ordentlichen und außerordentlichen Pro-fessoren bildeten nach 1945 die Privatdozenten. Sie gehörten der jünge-ren Generation an, die ihre Ausbildung im Nationalsozialismus und während des Krieges gemacht bzw. begonnen hatten und sich erst nach 1945 habilitierten. Zwar wurden die meisten im Laufe des Zeitraums zu Professoren ernannt; ihre Sondersituation, als �Nachwuchskräfte� das

46 siehe: Edith Stein. Briefe an Hedwig Conrad-Martius, hg. von H. Conrad-Martius, München 1960. 47 H. Conrad-Martius, Schriften zur Philosophie, 3 Bde., hg. von E. Ave-Lallement, München 1963ff. - Zu Leben und Werk auch: U. Ave-Lallement, Ein philosophi-sches Seminar im Rahmen der Freundeskreisarbeit. In: Freundesbrief der ev. Aka-demie Tutzing, Nr.17/1964, S.1ff.

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Lehrangebot zu erweitern und neu zu prägen, läßt es jedoch sinnvoll erscheinen, sie als eigene Gruppe zusammenzufassen. Schon zum SS 1946, mit der Wiedereröffnung des Lehrbetriebs, erhielt Henry Deku (*1909) einen Lehrauftrag für antike Philosophie. Er hatte in Berlin klassische Philologie, Philosophie und Mathematik studiert und 1937 für seine Dissertation den �Bonitz-Preis� der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erhalten. 1938 wurde er im KZ Buchen-wald inhaftiert und konnte danach in die USA emigrieren. Als Honorary Fellow der Yale University kam er mit der US-Armee 1945 zurück und sorgte in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die Kontakte zwischen der US-Armee und Universität. Nachdem sein Habilitationsantrag in der philosophischen Fakultät abgelehnt worden war, erhielt Deku seit 1946, neben Lehraufträgen in Paris, Salzburg und der Hochschule für Politi-sche Wissenschaften in München, einen regelmäßigen Lehrauftrag für antike Philosophie, der zum 25.4.1984 in eine Honorarprofessur für Philosophie umgewandelt wurde. Der Schwerpunkt der Lehrtätigkeit von Deku, der sich die Vermittlung der philosophischen Tradition zur �Hauptaufgabe�48 gemacht hat, war in den 50er Jahren die Textlektüre der antiken und mittelalterlichen Philo-sophie (u.a. Platon, Aristoteles, Plotin, Cicero und Augustinus, Thomas von Aquin). Daneben gab Deku - z.T. im Rahmen des �Studium Univer-sale� - Einführungen in die Gebiete der Religions- (SS47, SS48, WS49, SS50, SS52, WS55, SS58, WS60), der Sprach- (SS47, SS48, WS50, WS53, SS56, WS58) und Staatsphilosophie (WS48, WS50, SS53, SS56, WS60) sowie der philosophischen Anthropologie (WS49, SS50, SS51, WS51, WS55, SS59). 1989 beendete Deku nach über 40 Jahren seine Vorle-sungstätigkeit. Zum 6.3.1947 erhielt Andreas Konrad (1902-1980) die venia legendi für Philosophie. In Szekelyhid (Ungarn) geboren, hatte er 1939 in Jena mit der Dissertation �Irrationalismus und Subjektivismus. Eine immanente Kritik des Satzes des Bewußtseins in Nicolai Hartmanns Erkenntnisme- 48 W. Beierwaltes, Für eine humane Vernunft. Henry Deku wird 80. In: SZ, 13.12.1989.

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taphysik� promoviert. In den 50er Jahren wandte er sich vor allem er-kenntnistheoretischen und individualpsychologischen Problemstellungen zu, die er im Spannungsfeld von Subjektivismus, Phänomenologie und kritischem Realismus behandelte49. In der ersten Zeit hielt er einführende Vorlesungen in die Geschichte der neueren Philosophie (WS48, SS49, WS49, WS50, SS53, WS53, SS58), ab WS 1950 wiederholt Einführungen in die Logik, Erkenntnistheorie und philosophische Kritik. Daneben bot er vom SS 1951 bis zum WS 1954 �psychagogische Kolloquien� und Seminare zu Fragen der Lebensbewältigung, dann Veranstaltungen zu Problemen der Ethik (WS56, WS57, SS58, WS58, SS59, SS60) an. Kon-rad, der seit dem 19.2.1947 eine Diätendozentur verwaltet hatte, wurde am 4.12.1953 zum ao.Prof. für Philosophie ernannt. 1970 trat er in den Ruhestand. Zum 5.11.1947 erhielt Fritz Leist (1913-1974) die Lehrbefugnis für Phi-losophie und Religionsphilosophie. In Saarbrücken geboren, hatte er zunächst in Freiburg, dann in München Philosophie, Theologie und Tiefenpsychologie studiert und 1938 mit der Arbeit über �Die sensus interiores bei Thomas von Aquin� bei F.-J. v.Rintelen promoviert. Er hatte in Freiburg der katholischen Jugendbewegung �Quickborn� ange-hört und war 1936 23-jährig von der Gestapo verhaftet worden. In Mün-chen war er in Kontakt zur Widerstandsgruppe �Weiße Rose� um Willi Graf und den Geschwister Scholl gestanden50. Leist brachte am intensivsten die Erfahrung der unmittelbaren Existenz-bedrohung während der NS-Zeit und ihre religionsphilosophische Refle-xion in die Münchner Nachkriegsphilosophie ein. Er hielt Vorlesungen u.a. zur Existenzphilosophie, Existenzialphilosophie und zum Existenzialismus (WS48, SS54, WS56, WS57, WS59) sowie zum Phäno-men der Krankheit bzw. Heilung der Seele (SS49, WS53, SS54, WS56, SS59, WS60). Daneben bot er Einführungen in den abendländischen Atheismus und Nihilismus (WS50, WS52, SS58, WS59, WS60) und einen 49 vgl. A. Konrad, Prinzipielle Subjektivierungsgrenzen. In: J. Hanslmeier (Hg.), Natur-Geist-Geschichte. Festschrift für A. Wenzl, München 1950, S.67-96. 50 siehe: Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, a.a.O., S.28, 32.

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mus und Nihilismus (WS50, WS52, SS58, WS59, WS60) und einen vier-teiligen Zyklus zur �Geschichte des Gottesproblems im Abendland� (WS54, SS55, WS55, SS56) an. - Anläßlich der Ringvorlesung 1965/66 �Die Deutsche Universität im Dritten Reich� führte Leist aus, daß ihn �diese Jahre des inneren Widerstandes� geprägt hatten: der Verführung durch die Diktatur nicht zu erliegen, sondern �zu leben und nicht zu lügen und seiner eigenen Lüge nicht zu glauben�, sei das �Al-lerschwerste� gewesen. Daß dies möglich war, so Leist, �verdanken die meisten ihrer geistigen Heimat in der Kirche, aber nicht in der Kirche als Kirche einfachhin, ... sondern in jenen Bünden der Jugend, die entschei-dend zu der notwendigen immer neuen Reform beider Kirchen beigetra-gen haben�51. 1952 erhielt Leist eine apl. Professur für Philosophie und Religionsphilo-sophie, 1967 wurde er wissenschaftlicher Rat. Zum 22.10.1948 wurde Reinhard Lauth (*1919) habilitiert. In Oberhau-sen geboren, hatte er von 1938-44 Philosophie, Romanistik, Physiologie und Medizin in Bonn, München und Kiel studiert. 1942 promovierte er mit der Arbeit �Naturerkenntnis, Sinngebung und Verwirklichung in der modernen französischen Literatur und Kunst� bei F. Weinhandl in Kiel zum Dr.phil. und 1944 zum Dr.med. Auf Vorschlag A. Wenzls konnte er sich mit den Arbeiten �Ich habe die Wahrheit gesehen. Die Philosophie Dostojewskijs in systematischer Darstellung� und �Die Frage nach dem Sinn des Daseins� in München für allgemeine Philosophie habilitieren. Lauths Veranstaltungen behandelten zunächst existenzphilosophische Themen: das Problem der menschlichen Freiheit (SS49), die Frage nach dem Sinn des Daseins (WS49) und existentialistische Ethik (SS53) sowie die Philosophie Tschaadaews (WS49) und Dostojewskis (WS50). Zu Beginn der 50er Jahre bot Lauth auch Veranstaltungen zur nachidealisti-schen Philosophie an: Feuerbach (SS51, WS52), Marx (SS51, WS52, WS54), Proudhon (WS51) u.a. In der Folgezeit hielt Lauth vor allem Vorlesungen und Seminare zu Grundfragen der Transzendental- und 51 F. Leist, Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes. In: H. Kuhn (Hg), Die Deutsche Universität im Dritten Reich, München 1966, S.193, 207.

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Systemphilosophie Kants, Fichtes, Schellings und Hegels und führte vom SS 1957 bis SS 1959 eine fünfteilige Reihe unter dem Titel �Ver-nunft und Idee� durch, die die �transzendentale Dialektik�, �System und Geschichte� sowie �das Absolute� behandelten. Am 1.4.1955 erhielt Lauth eine apl. Professur für allgemeine Philosophie; er ist seit 1962 Herausgeber der Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenpräsident der Int. Dostoevsky Society. Er wurde 1985 emeritiert52. Am 9.3.1950 wurde Josef Hanslmeier (1914-1977) in Philosophie habili-tiert. In Grüngiebing geboren, hatte er in München Philosophie und Psychologie studiert und im Jahre 1941 seine Arbeit über �Die literari-schen Quellen als Erkenntnismittel in der heutigen Psychologie� als Dissertation eingereicht. Seine Promotion scheiterte zunächst, da er zur Wehrmacht eingezogen wurde, und konnte erst nach Wiedervorlage der Arbeit zum 1.4.1947 vollzogen werden. Von 1949 bis 1954 war Hansl-meier wissenschaftlicher Assistent von A. Wenzl am Lehrstuhl II und hielt in dieser Zeit Vorlesungen und Übungen zur Geschichte der Philo-sophie ab. 1954 wurde er als ao.Prof. an die Philosophisch-Theologische Hochschule Passau berufen. Zum 1.11.1951 habilitierte sich Hermann Krings (*1913) für Philosophie mit der Schrift �Fragen und Aufgaben der Ontologie�. In Aachen gebo-ren, hatte er zunächst in Bonn, ab 1936 in München Philosophie, Ge-schichte und Theologie studiert und 1938 mit der Arbeit �Ordo. Philo-sophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee� bei F.-J. v. Rintelen promoviert. Von 1938-49 war er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl I. Krings hatte der katholischen Jugendbewegung angehört und sich in München der Gruppe um Fritz Leist angeschlossen53.

52 Zur Biographie: K. Hammacher und A. Mues (Hg.), Erneuerung der Transzenden-talphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. Festschrift für R. Lauth zum 60. Geburtstag, Bad Cannstatt 1979, S.8. 53 siehe: Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, a.a.O., S.30-34.

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Krings behandelte in seinen Veranstaltungen vom SS 1952 an zunächst vor allem die spätere Philosophie Schellings (SS52, WS52, SS54, WS58); im folgenden historische und systematische Grundfragen der Ontologie: Sein und Denken (WS54, SS55), die Seinslehre von Thomas von Aquin (WS55, SS60), Ontologie der Freiheit (WS56) und der Erkenntnis (SS59). Am 21.5.1958 wurde Krings apl.Prof. und 1959 Fakultätsvertreter der Nichtordinarien im Akademischen Senat. 1960 wurde er nach Saarbrü-cken berufen und zum 1.6.1961 o.Prof. Von 1968 bis zu seiner Emeritie-rung 1980 war er als Nachfolger H. Kuhns Vorstand der 2.Abteilung des philosophischen Seminars I in München. 1970-75 hatte er den Vorsitz im deutschen Bildungsrat inne und wurde 1973 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Krings ist geschäftsführender Herausge-ber des �Philosophischen Jahrbuchs� sowie Vorsitzender der Redaktion zur Herausgabe des �Staatslexikons� der Görres-Gesellschaft54. Schließlich erhielt zum 5.4.1955 Anton Neuhäusler (*1919) die venia legendi in Philosophie. In München geboren, hatte er 1950 mit der Ar-beit �Psyche und Materie. Untersuchungen über die Berechtigung einer psychistischen Materieauffassung� bei A. Wenzl promoviert, war von 1951-1958 dessen wissenschaftlicher Assistent gewesen und hatte sich 1955 mit der Arbeit �Zeit und Sein� habilitiert. - Neuhäusler knüpfte an den kritischen Realismus an und führte die Tradition der �induktiven Metaphysik� von A. Wenzl weiter. Er hielt Vorlesungen und Seminare u.a. zur Erkenntnistheorie (WS56, WS60) und Naturphilosophie (WS58), zum Leib-Seele- (WS55) bzw. dem Unsterblichkeitsproblem (WS55) sowie zur Abstammungslehre (SS56, WS60). In den späten 50er Jahren hatte Neuhäusler öffentlich gegen die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik Stellung bezogen55. Am 18.12.1958

54 Zum Werk: H.M. Baumgartner, Bibliographie Hermann Krings zum 75. Ge-burtstag. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1/89, S.163-171. 55 �Wir sind Gegner des atheistischen Materialismus, wenn auch nicht der Menschen, die glauben, in ihm läge das Heil. Aber wir dürfen nicht eine politische Praxis üben,

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wurde er zunächst ao.Prof. und zum 1.1.1961 Vorstand und o.Prof. für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule der Universität München und blieb seit der Integration der PH in die philosophische Fakultät bis zu seiner Emeritierung 1981 o.Prof. der philosophischen Fakultät. - In den 70er Jahren wurde er unter dem Pseudonym �Franz Ringseis� als Verfasser bairischer Gedichte bekannt. V. Die Integration ehemaliger Nationalsozialisten Auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens wurde nach dem Sieg über den Hitler-Faschismus von den Alliierten die Entfernung ehemali-ger Nationalsozialisten aus einflußreichen Stellungen und ihre Bestrafung angeordnet. Aufgrund des �Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozia-lismus und Militarismus� vom 5.3.1946 wurden Spruchkammern, an der Münchner Universität der sog. �Reinigungsausschuß�, eingerichtet, die die Entnazifizierung durchzuführen hatten. Von den wenigen übrigge-bliebenen Dozenten für Philosophie in München wurden alle - bis auf Ph. Lersch - amtsenthoben: H. Grunsky, R. Pauli, K. Schilling und R. Dingeldey. Nach 1945 war Richard Pauli (1886-1951) der erste, der als ehemaliges Mitglied der NSDAP wieder die Lehrbefugnis erhielt. Er hatte in Psychologie und Religionsphilosophie promoviert und war 1914 Privatdozent und 1920 apl.Prof. in München geworden. Er hatte 1919 das Standardwerk �Psychologisches Praktikum. Leitfaden für experimentell-psychologische Übungen� (6. Aufl. 1957) verfaßt und gehörte dem Psychologenkreis um E. Becher und A. Fischer an. Vor 1933 Mitglied der SPD, war er ab 1933 zunächst förderndes Mitglied der SS und 1940 Mitglied der NSDAP geworden und war zeitweise kommissarischer Vorstand des Psychologischen Instituts gewesen56.

die praktisch atheistisch und materialistisch ist.� (A. Neuhäusler, Das Dilemma des Christenmenschen. In: Sonder-Abdruck aus Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln 1960, S.8).

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Vorstand des Psychologischen Instituts gewesen56. Nach seiner Entnazi-fizierung, an der seine ehemaligen Kollegen A. Wenzl und Ph. Lersch beteiligt gewesen sein dürften, wurde er 1947 zunächst nichtbeamteter, 1948 ao.Prof. für Psychologie und Philosophie. Vom WS 1947 an führte er regelmäßig psychologische Praktika durch und betreute, zusammen mit Ph. Lersch, die psychologischen Arbeiten für Fortgeschrittene. 1950 wurde er Konservator am psychologischen Institut. Nach 1945 bot Pauli nur zum WS 1949 eine Vorlesung über Religionsphilosophie an. Zwei Jahre später konnte auch Kurt Schilling (1899-1977) wieder lehren. In München geboren, hatte er 1926 in Göttingen promoviert und war nach seiner Habilitation über den frühen Schelling �Natur und Wahr-heit� 1932 Privatdozent für Philosophie und zum 28.3.1938 nichtbeam-teter ao.Prof. in München geworden. 1944-45 war er kommissarischer Vorstand des Lehrstuhl I und wurde 1945 amtsenthoben. Schilling, der seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen war, konnte neben Pauli als einziger Philosophiedozent von 1933 bis 1945 lehren. Er gehörte jedoch nicht der �Münchner Gruppe� um Pfänder und Becher an, sondern vertrat eine am Mythisch-Seelenhaften orientierte, nationale Kulturphilo-sophie und Geistesgeschichte. Am 27.8.1948 wurde Schilling nach sei-nem Entnazifizierungsverfahren die Lehrbefugnis wieder erteilt, und er zum 6.10.1949 wieder Privatdozent und apl.Prof. für Philosophie. Schillings Vorlesungen in den 50er Jahren knüpften im wesentlichen an die Themen an, die er schon bis 1944 vorgetragen hatte: Geschichte der Philosophie und Kunstphilosophie, Schopenhauer und Nietzsche sowie der deutsche Idealismus. So bot er Vorlesungen zur Geschichte der Phi-losophie an, die er nach nationalen Gesichtspunkten in griechische (SS50, WS52, WS54, SS57, WS59), englische (WS49, WS52, WS57, SS60) und französische (SS53, WS55, WS58, WS60) Philosophie gliederte, und hielt Vorlesungen über Fichte, Schelling und Hegel (SS55, SS58, SS57) sowie über Schopenhauer und Nietzsche (SS51, WS53, SS57, SS59). Er gab weiterhin regelmäßig Einführungen in die Ästhetik und Kunstphilo- 56 vgl. W. Henckmann, Philosophie an der Universität München 1933-1945, a.a.O., S.20.

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sophie (SS50, WS50, SS53, SS56, WS59). Neu kamen Vorlesungen zur �Geschichte der sozialen Ideen� (WS54, WS56) hinzu, die Schilling 1957 veröffentlichte. 1965 wurde er in den Ruhestand versetzt. Zum 2.1.1950 erhielt Walther Schulze-Sölde (1888-1984) einen Lehrauf-trag für Metaphysik in München. In Dortmund geboren, hatte er, nach einem Jura-Studium, ab 1913 in Heidelberg Philosophie studiert und 1916 bei H. Driesch promoviert. 1920 war er Privatdozent, 1927 nicht-beamteter ao.Prof. in Greifswald geworden. Nach der Annexion Öster-reichs wurde Schulze-Sölde 1939 o.Prof. und Vorstand des Lehrstuhls für Philosophie und Pädagogik in Innsbruck. 1945 erfolgte, als Reichs-deutscher, seine Ausweisung aus Österreich. Schulze-Sölde, der sich in seinen Schriften nach 1933 als überzeugter Nationalsozialist zu erkennen gegeben hatte und in seinem Werk �Politik und Wissenschaft� (1934) vom Geist als �Prinzip des völkischen Wer-dens� geschrieben und das Konzept einer neuen �völkischen Wissen-schaft� vertreten hatte57, wurde entnazifiziert, erhielt 1950 in München einen Lehrauftrag und wurde mit der Versetzung in den Ruhestand auf-grund des �Gesetzes zur Unterbringung vertriebener Professoren� zum 1.1.1952 zugleich �Lehrbeauftragter Professor der Universität Inns-bruck�, die ihn 7 Jahre zuvor ausgewiesen hatte. Zum 13.11. 1964 wurde er schließlich nachträglich noch als o.Prof. emeritiert. - Seine zweistündi-gen Lehrveranstaltungen pro Woche beschränkten sich in den 50er Jah-ren nahezu ausschließlich auf Einführungen in die Metaphysik. Am 4.10.1957 schließlich wurde Hugo Fischer (1897-1975) Privatdozent und apl.Prof. für Philosophie in München und begann zum WS 1957 seine Vorlesungen über �Kultursoziologie�. In Halle geboren, hatte er 1921 promoviert und war nach seiner Habilitation bei Hans Freyer 1925 Privatdozent und 1937 pl. ao.Prof. Leipzig geworden. Von 1926 bis 1934 war er Herausgeber der �Blätter für deutsche Philosophie� gewesen. Fischer hatte vor 1933 dem nationalbolschewistischen Kreis um E. Nie- 57 G. Butzer, Die Erneuerung der Wissenschaft aus dem Geist der Politik. In: Wider-spruch Nr.13, S.98f.

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kisch angehört, dem auch E. Jünger nahegestanden hatte. 1932 hatte er �Karl Marx und sein Verhältnis zu Staat und Wirtschaft� veröffentlicht58; 1933 konnte sein Buch �Lenin - der Machiavell des Ostens� wegen �na-tionalbolschewistischer Tendenzen� nicht mehr erscheinen. 1935 mit E. Jünger auf einer Reise in Norwegen59, ging er dort ins Exil und wurde zunächst Direktor einer Forschungsabteilung in Oslo. Während des zweiten Weltkriegs befand er sich in England, wo er über die Geschichte des englischen Theaters arbeitete, und wurde 1949 Universitätsprofessor in Benares (Indien). 1957 kehrte er nach Deutschland zurück. In der Folgezeit befaßte er sich in seinen Lehrveranstaltungen insbesondere mit Problemen der Kultursoziologie (WS57) und -philosophie (SS60) und hielt eine Vorlesung über �Struktur und Aufbau der geschichtlichen Welt� sowie eine Übung über �Denkordnungen der Frühkulturen� (WS60). 1965 veröffentlichte er eine �Theorie der Kultur�. 1967 ging Fischer in den Ruhestand. Wenngleich Fischer kein Mitglied der NSDAP war, sondern in der Wei-marer Zeit die Ideologie der mit Hitlers Partei konkurrierenden, antide-mokratischen Kreise der �Konservativen Revolution� vertreten hatte und deshalb auch ins Exil ging, so bleibt doch erklärungsbedürftig und weiteren Nachforschungen vorbehalten, wie und warum er - ähnlich wie W. Schulze-Sölde - nach 1945 (von Benares aus?) Professor der Münch-ner philosophischen Fakultät werden konnte. VI. Die Situation der �Münchner Philosophie� nach 1945

58 vgl. G. Lukács, Zur Kritik der faschistischen Ideologie, Berlin 1989, S.105 und S.157. 59 siehe: A. Mohler, Die Konservative Revolution 1918-1932, Darmstadt 1972 (Bib-liographie).

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Der Vergleich des Lehrpersonals in der Philosophie mit dem vor 1933 zeigt einen nahezu vollständigen Bruch und personellen Neubeginn nach 1945. Die zur Zeit der Weimarer Republik vorhandene �Münchner Gruppe� war von den Nazis �schrittweise aufgelöst�60 worden. D. v. Hildebrand, 1939 in die USA emigriert, war nicht zurückgekehrt, F.-J. v. Rintelens Bewerbung nicht entsprochen worden; die anderen Dozenten waren gestorben (A. Fischer, A. Pfänder, R. Hönigswald, K. Huber er-mordet), emeritiert (J. Geyser) oder als NS-Mitglieder (zunächst) diskre-ditiert (R. Pauli, K. Schilling). Bis auf A. Wenzl, - kurzzeitig - A. Gallin-ger und J. Stürmann konnte personell an diese Tradition nicht mehr angeknüpft werden. Anstelle des �kritischen Realismus� und der Phänomenologie, die sich in den Jahren der Weimarer Republik mit aktuellen philosophischen Prob-lemen der Naturwissenschaften bzw. der Lebenswelt befaßt hatten, wur-de nun für die Nachkriegsphilosophie in München die Neubelebung der antik-christlichen Tradition und damit die philosophie- und geistesge-schichtliche Orientierung prägend. Diese hatte zwar in der Neuscholastik (G. v. Hertling, Cl. Baeumker und J. Geyser) ihren Vorläufer gehabt, fand aber nach 1945 unter neuen Bedingungen statt. Erstens wurden das psychologische Institut und das pädagogische Seminar, deren Kooperati-on mit den philosophischen Seminaren in den 20er Jahren äußerst fruchtbar gewesen und schon in der NS-Zeit aufgelöst worden war, endgültig selbständig. Zweitens wurden fast nur Ordinarien von auswärts berufen: Dempf kam aus Wien, Guardini aus Tübingen, Grassi aus Ber-lin und Kuhn aus Erlangen. Und schließlich wurden drittens neue Lehr-stühle bzw. ordentliche Professuren eingerichtet: neben den Konkordats-lehrstuhl und den Lehrstuhl des Seminars II traten der Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie sowie die ordentli-chen Professuren für Geistesgeschichte des Humanismus und - als Aus-druck der Reedukationsbemühungen - für amerikanische Kulturge-schichte und Philosophie.

60 W. Henckmann, Philosophie an der Universität München 1933-1945, a.a.O., S.19.

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Gegenüber der Zeit der Weimarer Republik verschoben sich damit die Schwerpunkte der Münchner Philosophie: von der Erarbeitung erkennt-nistheoretischer Begründungskonzepte hin zur Wiederbelebung der traditionellen metaphysischen und ontologischen Fragestellungen. Nach 1945 suchte die Philosophie in erster Linie nicht mehr Antworten auf �neue Fragen�, der Physik, Biologie oder Psychologie, sondern Antwor-ten auf die �alten Fragen�, die vornehmlich im Kontext des Philosophie- und Geistesgeschichte thematisiert wurden. Diese grundsätzliche Neuorientierung schloß zwar die Weiterführung der vormals in München dominierenden Richtungen nicht aus; sie konnten jedoch nach 1945 ihre konzeptionelle Fruchtbarkeit nicht wieder erlan-gen. A. Wenzl und A. Neuhäusler repräsentierten zwar weiterhin den kritischen Realismus, H. Conrad-Martius, der ehem. Husserl-Assistent A. Metzger und der ehem. Pfänder-Assistent J. Stürmann knüpften wieder an die Phänomenologie an, A. Varga v.Kibéd und A. Konrad vertraten den Kantianismus und die Scholastik hatte in H. Deku ihren Vertreter - diese Kontinuitäten entfalteten sich in der Nachkriegszeit aber nicht in einer, den 20er Jahren vergleichbaren, Weise. - Ebenso bot die Neuori-entierung auch für die nach 1945 aktuelle Existenzphilosophie keinen fruchtbaren Boden: die jüngeren, nach 1945 habilitierten Philosophen F. Leist, R. Lauth und H. Krings brachten anfangs existenzphilosophische Impulse ein, wandten sich im Laufe der 50er Jahre aber neuen Problem-feldern zu. Augenfällig wird diese neue Schwerpunktsetzung einmal an dem großen Umfang, den das Angebot der �klassischen Philosophie� in den 50er Jahren einnahm61; sie wird aber auch an den Urteilen der Repräsentanten der �Münchner Philosophie� über das Zeitgeschehen, also den Faschis-

61 Die Liste der angebotenen Autoren von 1946-60 enthält zu fast einem Drittel antike und mittelalterliche Autoren. Nach Kant mit 57 Nennungen folgt Platon (44), Hegel (19), Fichte und Aristoteles (17), Schelling und Nietzsche (15), Augustinus und Descartes (13), Thomas und Heidegger (12), Plotin (9), Schopenhauer und Husserl (8).

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mus, und über das Selbstverständnis und die Gegenwartsaufgaben der Philosophie deutlich: Auch die Philosophie hatte nach 1945 einen �geistig-moralischen Wis-senschafts-, Bildungs- und Erziehungsauftrag� und ihre �staatsbürgerli-che Erziehungsaufgabe�62 - insbesondere im Rahmen des �Studium Universale� - zu erfüllen. Diesen wurde in München vor allem durch Bemühungen entsprochen, die geistig-sittliche Substanz der christlich-abendländischen Tradition wiederherzustellen: es dominierten Erklärun-gen, die die Ursachen des Faschismus und das Wesen der jüngsten Er-eignisse im modernen Autonomiestreben sahen, und die Kritik daran an eine Rückbesinnung auf ethische Grundwerte banden. So rückte R. Guardini als öffentlichkeitswirksamster Philosoph dieser Zeit immer wieder den Autonomiegedanken unmittelbar ins Zentrum seiner Zeitkri-tik. Für ihn war der Begriff der Freiheit zwar kennzeichnend für die gesamteuropäische Geschichte, die �sich freilich in der Idee der Auto-nomie übersteigerte und - eine innere Konsequenz, die gern übersehen wird - in die Knechtschaft der Diktatur umschlug... Der Anspruch (auf Autonomie)�, so Guardini, �war zutiefst unwahr, denn der Mensch ist nicht autonom�63. Es gelte demgegenüber, sich der Verantwortung ge-genüber und der inneren Bindung an Gott, d.h. der Religion, als dem Ort der wahren Freiheit der Person bewußt zu werden. Ähnlich argumentier-te A. Dempf, wenn er den neuzeitlichen, geschichtsimmanenten und fortschrittsorientierten Rationalitätstyp als Ursache einer verhängnisvol-len politischen und sozialen Dynamik behauptete, die im Faschismus ihre katastrophalen Folgen hatte64. Der Begriff von Geschichte als eines 62 L. Boehm, Die Ludwig-Maximilians-Universität..., a.a.O., S.155. 63 R. Guardini, �Es lebe die Freiheit!�. Festrede, gehalten bei der Enthüllung des Mahnmals für Professor Kurt Huber und seinem studentischen Widerstandskreis am 12. Juli 1958. In: Jahrbuch der Ludwig-Maximilians-Universität 1957/58, S.102 und S. 107. 64 �Hegel, Comte, Spencer, Feuerbach, Nietzsche, Spengler sind die verhängnisvolls-ten unter ihnen mit dem verschiedenartigsten Verhältnis zur ernsthaften Wissen-schaft und gänzlich verschiedenen Zukunftsprognosen, aber einig im Atheismus und Nihilismus, in der Leugnung des persönlichen Gottes und des wahren, unsterblichen Selbst, sowie einer unbedingten, überzeitlichen, normativen Ethik�. (A. Dempf, Die Krisis des Fortschrittsglaubens, Wien 1947, S.9).

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weltimmanenten Prozesses habe dazu geführt, daß nach biologischen Entwicklungsnotwendigkeiten gesucht wurde, die endlich im Mythos der Rasse gefunden wurden. Diesem Mißverständnis gegenüber gelte es nun, Geschichte wieder im Sinne christlicher Heilsgeschichte zu konzipieren. Und H. Kuhn schließlich übertrug den autonomiekritischen Grundge-danken auf die politische Philosophie und Staatstheorie: der moderne Staat sei kein �autonom-rationales ... Gebilde, sondern eine Ordnung, die �gespeist wird von dem ihm vorgeordneten religiösen und geistigen Leben, das der von ihm gehüteten Freiheit einen Inhalt gibt�65. Eben dies hätten die mißverstanden, die den Staat als Menschenwerk, als ein, wie immer geartetes, Werk der Vernunft verkannten. Gegenüber der Dominanz dieses Selbstverständnisses von Philosophie als Trägerin und Vermittlerin überzeitlich-ewiger Werte und als Gegnerin des Aufklärungs- und Autonomiekonzepts der Moderne blieben Ansätze unterrepräsentiert, die entweder auf eine grundlegende Erneuerung der Gesinnung nach 1945 orientierten66, oder die nicht in der Rationalität der Moderne, sondern in deren Zerstörung die Ursachen des Faschismus sahen67. Chancenlos blieben hier in München, am Hort der �kritischen Gegner des Materialismus�68, alle materialistischen, an sozial-ökonomischen Interessenskonstellationen orientierten Erklärungsmuster des Faschismus. Diese Neuausrichtung der Philosophie an einer christlich geprägten �phi-losophia perennis� war nun einerseits die Grundlage dafür, daß die

65 Helmut Kuhn. In: L.J. Pongratz (Hg.), a.a.O., S.282. 66 Am deutlichsten F. Leist, der rückblickend bemerkte: �Ich möchte mit Absicht keine weiteren Namen nennen... Jedoch macht es nachdenklich, wenn man sieht, wie rasch diejenigen, die damals mithalfen, daß auch die Ideologie an unserer Universität Eingang fand, Jahre danach offensichtlich ihre Vergangenheit vergessen oder ver-drängt haben.� (F. Leist, Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes. In: H. Kuhn u.a. (Hg.), Die Deutsche Universität im Dritten Reich, München 1966, S.204). 67 Am ehesten noch A. Wenzl. Vgl. ders., Nietzsche, Versuchung und Verhängnis 1947. 68 A. Wenzl, Hundert Jahre philosophische Tradition in München. In: Geistige Welt. Vierteljahreszeitschrift für Kultur- und Geisteswissenschaften, Heft 2, München-Pasing 1947, S.48.

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�Münchner Philosophie� - wie die Biographien belegen - nicht mit den Kontinuitätsproblemen etwa der hermeneutischen oder lebensphiloso-phischen Schulen belastet war, wie sie etwa in Köln (Heimsoeth), Bonn (Rothacker)69 oder Tübingen (Spranger)70 bestanden; andererseits blieben die immanenten Prozesse der säkularen Welt - und damit sowohl die konkreten Entstehungsgründe des Faschismus als auch die gesellschaftli-chen Entwicklungen nach 1945 - weitgehend unbegriffen. Die herr-schende Philosophie bildete gleichsam einen moraltheologischen Über-bau, unterhalb dessen die gesellschaftlichen Bereiche und auch die insti-tutionalisierte Philosophie sich - mit einigem Anstand - restaurieren und wieder �normalisieren� konnte. So stand jene prinzipielle Distanz zum Faschismus nicht im Widerspruch dazu, daß im Laufe der 50er Jahre u.a. auch ehemalige Nationalsozialisten in den Lehrkörper integriert werden konnten. K. Schilling, W. Schulze-Soelde und auch H. Fischer konnten sich insofern einfügen, als sie nahezu ausschließlich philosophie- und kulturgeschichtliche Themen behandelten71. Nach dieser Phase des Versuchs, traditionelle Wertbestände zu restaurie-ren, kündigte sich die Öffnung der Philosophie in München für neue Aufgabenstellungen - zumindest im Rückblick - Mitte der 50er Jahre mit der Umwandlung der Honorarprofessur von W. Britzelmayr in eine ordentliche Professur für Logistik an, die 1962 in �Logik und Grundla-genforschung� umbenannt wurde. Sie setzte sich fort mit der Berufung W. Stegmüllers auf den Lehrstuhl des philosophischen Seminars II Ende 1958 und der damit verstärkten Rezeption der Gegenwartsphilosophie und Wissenschaftstheorie sowie mit der vermehrten Vergabe von Lehr-aufträgen für Spezialgebiete (WS 1958: E. Weber für �Sozialphilosophie und amerikanische Kulturgeschichte�, M. Zahn für �transzendentale

69 vgl. die eindringliche biographische Darstellung von K.-O. Apel, Zurück zur Normalität? Oder könnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? In: Forum für Philosophie (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1988, S.94-100. 70 siehe: W.F. Haug (Hg.), Deutsche Philosophen 1933, Berlin/West 1989. 1918-1932, Darmstadt 1972 (Bibliographie). 71 W. Henckmann, Philosophie an der Universität München 1933-1945, a.a.O.

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Phänomenologie�; WS 1960: M. Käsbauer für �Logistik�). Mit diesen neuen Tendenzen endete die Phase der unzeitgemäß gewordenen Nach-kriegsphilosophie.