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Informatik zwischen Konstruktion und Verwertung Materialien der 3. Arbeitstagung „Theorie der Informatik“ Bad Hersfeld 3. bis 5.4.2003 hrsg. von Frieder Nake, Arno Rolf & Dirk Siefkes Bericht Nr. 1/ 04 Universität Bremen Fachbereich Mathematik & Informatik Bezugsquelle (Editor‘s address): Prof. Dr. Frieder Nake Universität Bremen Fachbereich Mathematik und Informatik Postfach 330 440 D-28334 Bremen [email protected] ISSN 0722-8996 Mai 2004

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Informatik zwischenKonstruktion und Verwertung

Materialien der 3. Arbeitstagung „Theorie der Informatik“Bad Hersfeld 3. bis 5.4.2003

hrsg. von Frieder Nake, Arno Rolf & Dirk Siefkes

Bericht Nr. 1/ 04Universität Bremen

Fachbereich Mathematik & Informatik

Bezugsquelle (Editor‘s address):Prof. Dr. Frieder NakeUniversität BremenFachbereich Mathematik und InformatikPostfach 330 440D-28334 [email protected]

ISSN 0722-8996 Mai 2004

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ZusammenfassungAnfang April 2003 fand in Bad Hersfeld die dritte Arbeitstagung zu Fragen nach einerTheorie der Informatik statt (nach Vorgängern in Heppenheim a.d.B. im Jahr 2001 undin Bad Hersfeld, 2002). Die Tagungen wiesen weder einen institutionellen Träger aufnoch fanden sie im Auftrag einer wissenschaftlichen Gesellschaft, Vereinigung oder an-deren Organisation statt. Sie versuchten vielmehr, als eine Basis-Unternehmung inte-ressierter Enthusiasten Fragen aufzunehmen, die 1988 von Wolfgang Coy formuliert, ineiner Arbeitsgruppe und auf Tagungen unter seiner Leitung verfolgt sowie im Sammel-band Sichtweisen der Informatik (Vieweg 1992) zusammengefasst worden waren.

Die Herausgeber der vorliegenden Schrift hatten es übernommen, der Aufregung, dieder technische Ausfluss der Informatik – nämlich die Informationstechnik – bei der fort-gesetzten und beschleunigten Umwälzung aller als fest oder gesichert erscheinendengesellschaftlichen Verhältnisse, Verfahren und Verfasstheiten verursacht, einen Augen-blick des Zurücklehnens und Nachsinnens entgegenzusetzen.

Anlass und Ziel bildeten dafür die Vermutung und Behauptung, nachdem die Informatikals institutionalisierte Anstrengung bereits über die Zeit von etwa einer Generation exis-tiere, sei es angebracht, deren begrifflichen, methodischen und praktischen Gegeben-heiten und Entwicklungen mit der Frage zu Leibe zu rücken, welchen Sinn das allesmache, worauf es fuße und worauf es hinaus laufe. Auch dem Zweifel an einem sol-chen Unterfangen stand das Treffen offen. – Dieses Heft versammelt die zur Tagungvorgelegten Stellungnahmen und Anregungen vieler der Teilnehmenden, in z.T. über-arbeiteten Versionen, sowie Zusammenfassungen der Ergebnisse der beiden Arbeits-gruppen. Die Beiträge sind keinem Begutachtungs-Prozess unterworfen worden,wurden allerdings redaktionell bearbeitet.

Ein für das Jahr 2004 vorgesehenes Treffen fand in reduzierter Form in Hamburg statt.In unterschiedlicher Konzentration verfolgen Einzelne und kleine Gruppen die Thematikweiter.

Diese Reihe Technischer Berichte nimmt in unregelmäßiger Folge wissenschaftlicheBeiträge aus dem Studiengang Informatik der Universität Bremen auf. Es handelt sichum Originalveröffentlichungen, die frühzeitig einem begrenzten Kreis von Interessiertenbekanntgemacht werden sollen. Neben Einzelbeiträgen aus der Forschung erscheinenauch umfassendere Berichte aus Projekten oder aus der Lehre (in Ausnahmefällenauch aus Studienprojekten), Konferenzberichte und Konferenzbeiträge, gelegentlichauch (Auszüge aus) Dissertationen oder Diplomarbeiten.

Die Reihe wird im Auftrag der Hochschullehrer und -lehrerinnen der Informatik an derUniversität Bremen herausgegeben von Frieder Nake.

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informatik zwischenkonstruktion & verwertungkritisches selbstverständnis aus theoretischer reflexionmaterialien der 3. arbeitstagung „theorie der informatik“in bad hersfeld vom 3. bis 5. April 2003

herausgegeben vonfrieder nake, arno rolf & dirk siefkes

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Inhalt

Informatik, von Bad Hersfeld aus betrachtet 5 Frieder Nake

Einladung zur Tagung 9 Frieder Nake, Arno Rolf, Dirk Siefkes

Arbeitsgruppe „Informatik im interdisziplinären Kontext.Wie wird Identität konstruiert?“ 11 Corinna Bath, Ralf Streibl, Ulrike Wilkens

Arbeit am Begriff: Zur sozialen Konstruktion informatischer Identität 14 Corinna Bath

Informatik: eine praktische und undisziplinierte Inter-Disziplin! 20 Johannes Busse

Informatik zwischen Werkzeug und Medium 28 Daniel Cermak-Sassenrath

Informatik im interdisziplinären Kontext. Gedanken zum Selbstverständnis 31 Bleicke Eggers

Mateteethemamathematisierung. Oder: Wie wird Identität konstruiert? 37 Andreas Genz

Spiel mit Identitäten zwischen Fach, Kontext, Person und Umwelt 38 Susanne Grabowski

Vom Nutzen der Fachdidaktik. Zur Diskussion der Theorie der Informatik 42 Ludger Humbert

Von inter- und intradisziplinärer Identität. Behauptungen und Fragen 50 Matthias Krauß

Informatik – Ansichten und Einsichten 53 Susanne Maaß

Wozu Informatik? Ein Antwortversuch aus pädagogischer Sicht 59 Werner Sesink

Zur Identitätsfindung in der Informatik 63 Rüdiger Valk

Vermittlungsprozesse. Von Vorstellungen und Bildkorrekturen 65 Ulrike Wilkens

Rahmen für eine Theorie der Informatik 71 Dirk Siefkes

Arbeitsgruppe„Theorie der Anwendungen in Wertschöpfungsprozessen“

81Peter Brödner, Kai Seim, Gerhard Wohland

Die blinden Flecke der Wiirtschaftsinformatik 84 Alex Bepple

Anwendung und Reflexion 91 Paul Drews

Wer hat die Religion der InformatikerInnen geschaffen? 97 Frank Eckert

Anwendungen. Welche Anwendungen? 99 Martin Fischer

Vom Praxisproblem zur Informatik und zurück 105 Dorina Gumm

Kriterien für eine Angewandte Informatik 111 Jochen Koubek

Was bestimmt die Informatik? Eine systemorientierte Sicht 113 Daniel Moldt

Von der Theoriearbeit der Informatik zur Gestaltung 115 Arno Rolf

Ein Fazit aus der Arbeitsgruppe 122 Peter Brödner, Kai Seim, Gerhard Wohland

Liste der Teilnehmenden 126

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Informatik, von Bad Hersfeld aus betrachtet

Frieder Nake, Universität Bremen

Es ist Herbst 1963. Im Zug von Stuttgart nach Bad Hersfeld. Als noch selbständiges Unter-nehmen findet sich dort die Konrad Zuse KG. Der Meister-Ingenieur hatte noch einmal eineKonstruktion geliefert. Die Universität Stuttgart, die noch Technische Hochschule hieß,hatte eines der ersten Exemplare des Graphomaten Zuse Z64 geordert: eine programmgesteu-erte Zeichenmaschine. Kein Plotter, wie die Amis sagten, und wenn es schon müsste, dannwenigstens flat bed plotter. Denn das macht einen Riesenunterschied im Material.

Der Student der Mathematik, Hilfskraft im Rechenzentrum, hatte die Aufgabe be-kommen, Software zu entwickeln, die jeder benötigt, der den Graphomat verwenden will.Außer mit der Zuse Z22 sollte man auch mit dem Standard Elektrik Lorenz ER56 Zeichnun-gen herstellen können. Algorithmen mussten ersonnen werden, deren Ergebnisse Zeichen-programme sein würden, auf Lochstreifen codiert zur Steuerung des Graphomat. Später wür-de man sagen: die grafische Grundsoftware galt es zu entwickeln, ein Basic Plotter Package.

Der Adept hatte im Rechenzentrum zwei, drei solcher Streifen komputieren lassen,sie stecken in seiner Tasche. Auf der Holzbank im Zug liest er im Tractatus1, um den Gedan-ken andere Richtung zu geben. Er versteht wenig, obwohl er sich anstrengt. Er wird in einemHotel übernachten, auf Kosten der Firma, wird am Abend essen gehen, durch die Altstadtschlendern, sich aufgeregt zu Bett legen. Rechtzeitig will er am Morgen in der Firma erschei-nen. Die Streifen sollen auf die Probe gestellt werden, sein Programm, er selbst also auch.

Fast vierzig Jahre später kommt er nun wieder nach Hersfeld. Mit dem Auto diesesMal, mitgenommen von jungen Leuten. Um eine Theorie der Informatik soll es gehen, um eineWissenschaft, die es 1963 im Wort nicht, in Gedanken aber doch gab, in Taten gar: er hattedoch den Lochstreifen bei sich gehabt. Die Aufregung ist jetzt weniger groß als damals. Einefast alltägliche Dienstreise. Wie fachliche Identität sich herausbilden könne, soll diskutiertwerden. Eine merkwürdige Frage, sagt er sich, die die jungen Leute da stellen. Sie studierendas doch. Er weiß, denkt er, wie das geht mit der Identität, an einer winzigen Stelle hat er siedoch geschaffen. Kann er das sagen, ohne dass es ihm als pure Angeberei angekreidet würde?

Als sein abendlicher Zug 1963 auf Bad Hersfeld und die Zuse KG zu fuhr, war Infor-matik noch DV oder EDV und keine Wissenschaft. Das Wort, stellte sich später heraus,hatte schon jemand benutzt. Mittlerweile war die Disziplin fest etabliert, man übte sich in ihrin großer Zahl. Hoffnung auf einen guten Verdienst schwang mit, auf Sicherheit des Arbeits-platzes, wo viele nur noch Unsicherheit kannten. Ganz andere Zeiten waren es geworden.Vierzig Jahre war es her, nicht mehr als das, was man als Maß einer Generation nimmt.

Identität? Theorie? War denn nicht davon auszugehen, dass es diese Identität ganzzweifelsfrei gab, da es die Disziplin doch zu großem Erfolg, zu Ruhm, zu Bedeutung weltweitgebracht hatte? Leitbild war das Komputieren geworden, das er als junger Mann im Falle desLinienzeichnens sich hatte ausdenken dürfen. „Mit dem Gehirn gemalt“, ging es ihm durchden Sinn, etwas ungerecht gegenüber jenen, die sich mit Fuß und Mund quälten beim Malen, 1 Gemeint ist Ludwig Wittgensteins epochale Schrift, ohne die man nicht Informatik studieren sollte,

Tractatus logico-philosophicus – gerade weil der Wittgenstein spatter alles anders sah.

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weil der Krieg ihnen die Arme abgerissen hatte. „Mit dem Gehirn malen“ – das traf, schienihm. Das war es doch, oder nicht, was die Identität ausmachte, die die jungen Leute suchten.

Die Welt war, was der Fall war. Konnte es klarer gesagt werden als so wie im rotenSuhrkamp-Bändchen? Was der Fall war: das konnte man sagen, so hatte er damals noch festgeglaubt, als es zur Zuse KG ging. Und jetzt? Einen festen Glauben hatte er längst vollständigverloren, und es ging auch nicht zu den Maschinen, sondern zu den Theorien. Klar sollte manalles sagen, was man sagen wollte, oder lieber gar nichts. So war es damals.

Jetzt? Die Künstliche Intelligenz, die so gern Fakten in Frames oder als Agenten beses-sen hätte, hatte zwar einen kräftigen Schlag vor den Bug bekommen. Darüber hatte man sichdiebisch gefreut, wenn einem die Verzauberung einer Maschine in eine Intelligenz schon im-mer als total abgeschmackt erschienen war. Aber der Glaube an Objekte war ein herrschenderTrend geworden. Die Philosophen glaubten zwar längst nicht mehr ans Objekt, aber die In-formatiker rechneten sogar mit Ontologien. Der Geisteszustand der Akteure der Program-mierkunst warf ihm Rätsel auf bei seiner zweiten Annäherung an Bad Hersfeld.

Und doch fragte sich das Häuflein beflissener junger Menschen und auch die nachZahlen unterlegenen älteren Herrschaften (zu denen er sich nun im Hessischen zählen lassenmusste) ernsthaft, was es grundlegend mit ihrer Disziplin auf sich haben könnte, wie mandiese endlich theoretisch so unterfüttern könnte, dass sie im Kreise anderer Disziplinen mitWürde Bestand haben und behalten könnte. Andere nämlich stellten die Disziplinhaftigkeitdes Spätankömmlings in Frage. Es gehörten ja Begriffe, Methoden, Ergebnisse hierzu, und dasähe es mau aus bei der Komputational-Wissenschaft. Also könne man sie degradieren zueinem Ingenieurfach, auf die Fachhochschule, zu einem Trainingsprogramm vielleicht.

Was ihm so, sich Bad Hersfeld nähernd und die Spanne der Zeit überklammernd,durch den Sinn ging und nach dem Sinn fragen ließ, das erstaunte ihn nicht gering. Die Zeich-nungen vor vierzig Jahren, die waren doch zweifellos der Beginn von etwas ganz Neuem gewe-sen. Mittlerweile machte Hollywood auf diese Weise seine Filme. Kein TV-Programm, keineWerbung kam ohne das aus. Die Welt war, wo sie Bild war, eine andere geworden. Die dama-lige harmlos-naive Praxis, an die er sich erinnerte, so lang war das nicht her (würde er in BadHersfeld etwas wieder erkennen?), sie hatte sich zu einer industriellen Kraft ausgedehnt. DiePraxis gab es, sie war millionenschwer, in Dollars gemessen. Brauchte es da Theorie? Wozu?Schlapper Gedanke, aus Feigheit geboren vermutlich oder aus Überfluss.

Viele hätten, wenn anderswo tätig, die Frage für bestenfalls unwichtig, eher aber fürabsurd gehalten. Kam man zusammen, um über Belangloses zu reden, sich im Kreise zu dre-hen, im eigenen Saft zu kochen, sich in der eigenen Unbedeutendheit einzurichten und wohlzu fühlen, sich vom Mainstream abzugrenzen? Was, wenn nicht solches, wollte man erreichen,da doch klar war, dass ein Haufe von 30 oder 35 Leuten keine Theorie würde schreiben kön-nen. Bestenfalls kämen ein paar Anekdoten und, wäre jemand da mit Formulierungsgabe,einige Aphorismen heraus, die rasch vergessen werden würden. Ein Aufwand, der wundernmachte, den die Schar in Bad Hersfeld aber nicht zu scheuen schien. Das jedenfalls war anzu-nehmen, sollte der Schluss nicht gezogen werden, dass es sich hier um eine überaus verant-wortungslose Zeitvergeudung handle. Also lassen wir das!

Absicht.Informatik und Informationstechnik stehen im Lichte besonderer öffentlicher Aufmerksam-keit. Was dem Industriezweig gilt, wirft etwas Licht und Schatten auch auf die wissenschaft-liche Disziplin. Ist sie das: eine anerkannte wissenschaftliche Disziplin?

Den Anschein hat es, als brauchten InformatikerInnen nur auf Ergebnisse ihrer Ar-beit zu verweisen, um deren Bedeutung für die gesellschaftliche Praxis zu belegen. Fragennach Begriffen und Methoden, nach dem Paradigma der Disziplin verstummen, scheinen

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nicht opportun. Dabei ist fraglich, wieweit das, was die Gesellschaft als Informationstechniknimmt, aus der Informatik stammt (und nicht aus Elektro- oder Nachrichtentechnik, Ma-thematik, Psychologie oder Ökonomie, aus dem Design gar).

Andererseits sind Buchläden und Kaufhäuser voller dicker Handbücher, die eine be-stimmte Software zum Gegenstand haben. Und das Internet! Informatikerinnen setzen sichangestrengt mit ihrer Disziplin auseinander, um den Mädchen zu erläutern, worum es da gehtund wie die das tun sollen. In Hersfeld setzte man situativ hier an. Der Grundlagen wolltenalle sich vergewissern und brachten ihre Vorurteile mit.

Wie erinnerlich, ist die Informatik als eigene wissenschaftliche Disziplin Ende dersechziger Jahre von Menschen ausgerufen und gebildet worden, die vor allem aus der Mathe-matik und Elektrotechnik kamen. Das Fach selbst kam vielleicht doch aus dem Rechner, wiedie amerikanische Bezeichnung Computer Science sagt. F. L. Bauer sprach 1974 in seinem pro-grammatischen Aufsatz „Was heißt und was ist Informatik?” sybillinisch von einer „Ingeni-eur-Geisteswissenschaft”. Schon 1971 nannte Heinz Zemanek die Informatiker „Ingenieureabstrakter Objekte”. Inzwischen ist deutlich, dass die Informatik – direkter als andere Wis-senschaften – von Entwicklungen in tendenziell allen sozialen und kulturellen Bereichen sostark geprägt wird, wie sie diese prägt.

Vor eineinhalb Jahrzehnten (1988) hat sich ein Arbeitskreis des Fachbereichs „In-formatik und Gesellschaft” der Gesellschaft für Informatik, gefördert vom BMFT, unter Lei-tung von Wolfgang Coy die Frage gestellt, wie eine Theorie der Informatik aussehen könnte,die mit den vielfältigen praktischen Bezügen der Informatik fundiert umzugehen erlaubte.Als Ergebnis erschien 1992 der Band Sichtweisen der Informatik1 Er betont die Vielfalt der Zu-gänge, die Anspruch auf theoretische Begründung erheben.

Heute scheint eine Öffnung der Informatik bei gleichzeitiger Besinnung auf ihreSpezifika immer dringlicher zu werden. Als ob sie die Disziplin der Grenzenlosigkeit sei. DieUmwelt hat sich verändert, der Globus wird neu umsponnen, Erwartungen von Beteiligtenund Beobachtern sind gestiegen oder verschoben, die erste Generation von Lehrenden trittab. Veränderungen der Curricula, Forschungsthemen und Fachgebietsbezeichnungen, dieAusrufung neuer Studiengänge und -abschlüsse zeigen, dass die Disziplin sich wandelt.

Auf drei Arbeits-Treffen – 2001 in Heppenheim a.d.B., 2002 und 2003 in Bad Hers-feld – sowie einer kurzen Verständigung 2004 in Hamburg hat sich ein gewisses, wenn auchnoch vorläufiges Einverständnis über Richtung und Ziel theoretischer Fundierung gezeigt.

Wenn die Informatik auch keine klassische Wissenschaft zu sein scheint, deren In-halte, Methoden und Begriffe relativ stabil kanonisiert werden könnten, so braucht sie doch,um Disziplin zu sein und nicht Alltags-Beliebigkeit, der Vergewisserung ihres Gegenstandes.Dieser kann nur außerhalb ihrer selbst liegen und muss eines der Ziele gesellschaftlicher Sor-ge sein. Gegenstand der Informatik (im wörtlichen Sinne des ihr Entgegen-Stehens) ist zwei-felsfrei die Maschinisierung der Kopfarbeit, der geistigen Potenzen menschlichen Tuns2.

Darin liegen, heute gut sichtbar, einige einfache Folgerungen und Weitungen derDisziplin, die sie vor anderen auszeichnet, gleichzeitig mit vielen in Berührung bringt. Auf derHersfelder Tagung, aus der hier einige Papiere vorgelegt werden, ist dies in vielfältigen For-men deutlich geworden, man lese nach! Man wird dabei in den Beiträgen von Dirk Siefkesund Arno Rolf, und in anderen mehr, bemerken, wie bestimmte Auffassungen sich nun dochallmählich zu einer Begrifflichkeit verfestigen, die sich in vielen Publikationen der letztenzwanzig und mehr Jahre abzeichnet. Doch ein Durchbruch ist noch nicht festzustellen.

Es ist doch so. Wird wieder einmal ein Angriff der Berechenbarkeit auf eine der geis-tigen Kapazitäten des gesellschaftlichen Menschen gestartet, so ist schlichtes Scheitern zuerwarten, falls dies nicht mit Semiotisierung, Formalisierung und Algorithmisierung vorberei-

1 Herausgegeben von W. Coy, F. Nake, J.-M. Pflüger, A. Rolf, J. Seetzen, D. Siefkes, R. Stransfeld2 1977 ist das erstmals publiziert worden.

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tet wird, die in Maschinisierung gipfeln, stets auch Routinisierung, Schematisierung, Standar-disierung verlangend. Was nicht berechenbar gemacht wird, kann nicht berechnet werden. Soeinfach ist die Moral der Informatik. Was aber nicht seiner Stofflichkeit entkleidet, in dieWelt der Zeichen transformiert wird und dort die Reduktion auf Signale, also den Verlustaller Bedeutung und allen Sinnes erleidet, das ist auch nicht berechenbar zu machen.

Gewaltige Ironie: Der ewige Sinn-Sucher, der Mensch, erreicht die höchsten Gipfelseines Suchens dort, wo alle Kontexte, Zusammenhänge und Situationen verschwinden, woalso gerade das verloren geht, was Sinnstiftung und Sinnfindung ausmacht. Ein einziger Kon-text bleibt dort noch erhalten: der nämlich, einen Unterschied machen zu können. Der be-rühmte Vorwurf Null und Eins. Denn was in dieser grandiosesten aller informatischen Faktenidentifiziert wird, ist exakt dies: die Fähigkeit, eines von einem anderen unterscheiden zukönnen. Wohlgemerkt, nicht nach den Qualitäten der unterschiedlichen Erscheinungen vonDingen und Prozessen, sondern lediglich im Faktum ihres Unterscheidbar-Seins.

Wenn ich nichts mehr feststellen kann außer der Tatsache, dass Eines dies Eine undein Anderes ein Anderes ist, dann bin ich beim puren Zählen angelangt, ganz ohne Beachtungvon irgend etwas sonst. Mit dem Zählen sitze ich aber auf der Schwelle des Rechnens, unddamit in jener Tür, die in die Unendlichkeit der komputationalen Wissenschaft führt.

Menschen können jene gnadenlose Reduktion auf nichts als die Differente (wenn ichsie so nennen darf) nicht wirklich, lebendig leisten. Das ist uns unmöglich, weil wir leiblicheWesen mit Geschichte und Interesse sind. Hubert Dreyfus und Joseph Weizenbaum habenuns das seit Jahrzehnten aufs Schönste vor Augen geführt. Aber einige einsame Genies unteruns haben Maschinen und Verfahren ersonnen – Turing, Church, von Neumann, Zuse, Gödel–, die uns vor Augen führen, dass es das gibt, dass das geht, und dass es die Welt, die dochunsere ist, so sehr verändert, dass wir sie nicht wieder erkennen und doch begeistert sind.

Mit einer wahrlich be-geisternden Disziplin haben wir es zu tun! Dem Wahren, Gu-ten, Schönen werden wissenschaftliche Anstrengungen gewidmet. Das Wahre ist bei uns dasKorrekte geworden. Es ist uns so selbstverständlich, dass es heute nur noch im Kern, dortallerdings in allergrößter Schärfe, zu finden ist. Ansonsten heißt es „Stil statt Wahrheit!“1 undwir sehen hieran den Einbruch der Ästhetik in eine wissenschaftliche Disziplin, wie er krasserbisher nicht vorkam. Schon grassieren aesthetic computing und computational aesthetics, von Dut-zenden von Spielarten der Visualisierung und digitalen Künste ganz zu schweigen.

Die ethische Dimension ist aber ebenso heftig und unentwirrbar in die informatischeTextur hinein gewoben. Denn Informatik ist Wissenschaft im Zustand der Wissenschaft alsunmittelbarer Produktivkraft2. Sie kann sich nicht mehr darauf hinausreden, wie die Mathe-matik vielleicht es am stärksten konnte, dass der Wissenschaftler eines täte und der Kapita-list damit ein anderes vorhabe, den sog. Missbrauch, wie Moralisten sagen, der doch nichts istals kluger, von Interesse geleiteter Gebrauch. In der Informatik geht das politisch-ökonomi-sche Verwertungsinteresse Hand in Hand mit dem idealistischen Erkenntnisinteresse.

Unserer Disziplin lässt sich keine umfassende Definition aufdrücken. Die Vielfalt undGrenzenlosigkeit müssen wir als eine Besonderheit der Disziplin begreifen, als ihre Stärke, nichtSchwäche. (Deswegen die angestrengte Rede von der Transdisziplin!) Das enthebt uns nichtdavon, nach dem Wesentlichen zu fragen, nach Zentrum und Grenze. Informatik scheintWissenschaft zu sein, die von vornherein nur kritisch angegangen werden kann, von Stand-punkten aus, die von Technikpessimismus ebenso weit entfernt sind wie von Fortschrittsgläu-bigkeit. Vielleicht begegnen wir gerade deswegen so oft dem borniertem Blick geradeaus.Denn eine Theorie der Informatik gilt es noch immer zu gewinnen.

In dieser Sammlung klingt eine Stimme von außerhalb besonders hell und klar: dievon Stimme von Werner Sesink, der sich auf Günther Anders stützt. 1 Lambert Wiesing behandelt unter diesem Titel Ludwig Wittgenstein und Kurt Schwitters, ohne vor-

dergründig an die Informatik zu denken. Vielleicht ein Beitrag zur Theorie der Informatik.2 Zu diesem Begriff, es tut mir leid, muss man bei Karl Marx im Kapital nachlesen.

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Einladung zur Tagung

Frieder Nake, Arno Rolf, Dirk Siefkes

Liebe Kollegin, lieber Kollege,seit geraumer Zeit ist der 1989 begonnene Diskurs um eine "Theorie der Informatik" wiederaufgelebt. Mit zwei kleinen Arbeitstagungen haben wir unser Selbstverständnis als Informa-tiker und Informatikerinnen kritisch reflektiert:

• "Informatik: Aufregung zu einer Disziplin. Praktiken, Begründungen, Orientierun-gen", Heppenheim, Frühjahr 2001

• "Wozu Informatik? Theorie zwischen Ideologie, Utopie, Phantasie"Bad Hersfeld, Frühjahr 2002

Den Bericht zur Tagung in Heppenheim finden Sie unter http://tal.cs.tu-berlin.de/siefkes/Heppenheim, Informationen zur Tagung in Bad Hersfeld liegen unter http://tal.cs.tu-berlin.de/siefkes/Hersfeld.

Zur Zeit [Ende 2002] finden Sie dort neben Einladungs- und Eröffnungstext eine Re-flexion zum Ergebnis der Tagung mit dem Titel "Konturen einer Theorie der Informatik"sowie Aufrufe und Berichte zu den drei Arbeitsgruppen "Kulturelle und Geschlechterper-spektiven der Informatik", "Theorie der Anwendungen der Informatik" und "Informatik alsHybridwissenschaft". Ein Berichtsheft mit diesen Unterlagen und den Positionspapieren istin Arbeit und soll bis zum Jahresende fertig sein.

Die Teilnehmenden der Tagung in Bad Hersfeld hatten sich zum Abschluss geeinigt,die Arbeit hin auf eine Theorie der Informatik im Frühjahr 2003 mit einer dritten Tagungfortzusetzen. Ausgangspunkt der Erörterungen sollen zwei Fragen sein:

• Wie konstruieren wir informatische Identität im Kontext anderer Wissenschaften?• Bei welchen Arbeitsformen kann EDV-Einsatz die Produktivität erhöhen oder ver-

mindern?

Von zwei verschiedenen Seiten her also fragen wir: Was charakterisiert informatische Denk-und Arbeitsweisen und ihre Produkte; wo liegen die Grenzen sinnvoller informatischer Ar-beit; was also ist in Innen- und Außensicht "Informatik", was soll und kann sie sein? Die the-oretische Reflexion soll uns zu einem kritischen Verständnis der Informatik in ihrer ganzenBreite von universitärer Wissenschaft bis zu verwertbarer Technologie führen.

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Wir laden ein zu:

„Informatik zwischen Konstruktion und Verwertung.Kritisches Selbstverständnis aus theoretischer Reflexion“Arbeitstagung in Bad Hersfeldvon Donnerstag, 3.4.03, 14 Uhr, bis Samstag, 5.4.03, 17 Uhr.

Die meisten von Ihnen hatten wir schon im April 2002 von Vorhaben und Termin infor-miert. Peter Bittner hat die organisatorische Leitung, das Tagungshaus ist dasselbe wie imletzten Jahr. Der Rahmen soll zu intensiver Arbeit vor Ort verleiten. Zu den beiden Fragestel-lungen bieten Teams von jeweils drei Teilnehmenden der letzten Tagung Arbeitsgruppen an:

[1] Informatik im interdisziplinären Kontext. Wie wird Identität konstruiert?Moderation:Corinna Bath (Bremen, [email protected])Ralf Streibl (Bremen, [email protected])Ulrike Wilkens (Bremen, [email protected])

[2] Theorie der Informatikanwendungen in VerwertungsprozessenModeration:Peter Brödner (Institut Arbeit und Technik, Gelsenkirchen, [email protected])Kai Seim (Gerling EL, Wiesbaden, [email protected])Gerhard Wohland (Diebold, Leinfelden-Echterdingen, [email protected])

Die Einladungspapiere der Arbeitsgruppen finden Sie unter http://tal.cs.tu-berlin.de/siefkes/Hersfeld03.

Wir werden bemüht sein, während der Tagung Verbindungen zwischen beidenGruppen herzustellen und so, wie angesprochen, weiter auf eine Theorie der Informatik hin-zuarbeiten.

Sie sind herzlich zur Tagung eingeladen. Bitte geben Sie uns umgehend, d.h. bis zum5. Dezember 2002, auch nur mit „Ja“ oder „Nein“ Bescheid, ob Sie mitmachen wollen undkönnen.

Wenn Sie mitmachen, erwarten wir von Ihnen keinen Vortrag, sondern bis zum 6.Januar 2003 ein Papier, in dem Sie zum Thema einer der Arbeitsgruppen Position beziehen.Sie tragen zur Diskussion um eine Theorie der Informatik bei, wenn Sie Ihrem Papier einekritische Orientierung geben. Schreiben Sie lieber zwei Seiten aus dem Nachdenken über dieThematik der Tagung als zehn über etwas, an dem Sie ohnehin gerade arbeiten. Die Posi-tionspapiere werden allen Teilnehmenden vor der Tagung zugänglich gemacht und bildeneine Grundlage der gemeinsamen Arbeit. Wir hoffen auf ergiebige Diskussionen und nach-denkenswerte Ergebnisse. (Wir denken daran, ausgewählte Beiträge zu den drei Tagungen ineinem Band zusammenzufassen.)

Die Tagung wird einschließlich Übernachtung und Vollpension 160 Euro kosten.Näheres zur Organisation erfahren Sie rechtzeitig.

Bitte schicken Sie Ihre Antwort und Ihr Positionspapier an uns Vier:[email protected], [email protected],[email protected], [email protected].

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Arbeitsgruppe „Informatik im interdisziplinären Kontext.Wie wird Identität konstruiert?“

Corinna Bath, Ralf Streibl, Ulrike Wilkens

Die Rückschau

Informatik ist nur im interdisziplinären Kontext zu betreiben und zu verstehen. Dieser Satz kämeeiner Beschreibung unserer gemeinsamen Erkenntnis am nächsten, wenn sich die Arbeit inder AG „Informatik als Hybridwissenschaft“ auf der Arbeitstagung 2002 überhaupt kurzzusammenfassen ließe.

Die Frage nach Erhaltung und Entwicklung der Informatik stand im Zentrum derDiskussion. Wir Teilnehmenden haben uns in konstruktiver Atmosphäre darüber gestritten,ob wir Antworten auf die Frage „Was ist Informatik?“ überhaupt suchen wollen und ob Ant-worten auf die Frage „Was tut Informatik?“ ausreichen, um Informatik als Disziplin zu be-schreiben und ihre Grenzen – als Identifikationsmerkmal oder als Begegnungsraum – zu defi-nieren. Es gab Bestrebungen, die Disziplin als etwas „Geschlossenes“ zu beschreiben, und eswurde der Ansatz vertreten, Informatik aus ihrer Entwicklung heraus zu verstehen und als„kulturellen Prozess“ zu erklären. Beide Auffassungen haben ihre Berechtigung und könnennebeneinander bestehen, wenn man das eine als Momentaufnahme aus einer bestimmten Per-spektive und das andere als Prozess der Identitätsbildung in unterschiedlichen Kontextenbegreift.

Die Kooperation mit anderen Disziplinen haben wir als zentralen Aspekt ausge-macht, durch den die Erhaltung und Entwicklung der Informatik geprägt wird. Dies führenwir auf den speziellen Charakter informatischen Tuns zurück. Gegenstand der Informatik istdie Formalisierung und Algorithmisierung von Prozessen aus allen Lebensbereichen. Diedaraus resultierenden Produkte stellen InformatikerInnen den Menschen zur Verfügung. DieWirksamkeit der Produkte wird entfaltet, wenn sie von Menschen in Gebrauch genommenwerden. Wesen und Wirksamkeit informatischer Zeichen (Software) resultieren also insbe-sondere aus ihrem Doppelcharakter, zugleich Signal für die Maschine und Zeichen für denMenschen sein zu können. Informatik betreiben heißt, die gegensätzlichen Welten von Men-schen und Maschinen mittels formaler Ausdrücke zu hybridisieren. Soll dies verantwortungs-voll geschehen, sind InformatikerInnen auf die Kooperation mit Nachbardisziplinenangewiesen.

Dieser Begriff wirft allerdings neue Fragen auf: Es muss bestimmt werden, wodurchdie Zugehörigkeit zu dieser Kategorie definiert wird, welcher Art die Beziehung ist und obsich möglicherweise der Grad von Nähe oder Distanz bestimmen lässt. Die Antworten fallenunterschiedlich aus, je nachdem, ob wir Informatik als Wissenschaft (Forschung und Bildung)oder als Praxis betreiben, ob wir Informatik eng oder weit auffassen, auch abhängig davon, inwelchem Teilgebiet der Informatik wir uns bewegen und auf welche Gegenstände sich unsereSicht konzentriert.

Also alles mehrdimensional und sowieso ein multifaktorielles Bedingungsgefüge –und damit beliebig? Ganz bestimmt nicht.

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Der Ausblick

Wir betrachten Informatik als kulturelle Entwicklung im Kontext. Auf diesen Ausgangspunkt füreine neue Arbeitsgruppe im Jahr 2003 haben wir uns geeinigt. Wir wollen die Arbeit der AG„Informatik als Hybridwissenschaft“ unter diesem Aspekt fortführen und Ansätze aufgreifen,die in den anderen beiden Arbeitsgruppen – der AG „Kulturelle und Geschlechterperspekti-ven auf die Informatik“ und der AG „Havarie und Sanierung. Theorie der Anwendungen derInformatik“ – diskutiert wurden. Kein Zufall und ein Glücksfall, dass die Einladung zu einerneuen Arbeitsgruppe in 2003 von drei Bremer WissenschaftlerInnen vorbereitet wird, die in2002 jeweils in einer der drei AGs mitgearbeitet haben.

Die Frage nach dem Verhältnis von Erhaltung und Entwicklung bleibt im Zentrum.Wir fragen nach der Wechselwirkung zwischen der Disziplin Informatik und dem gesell-schaftlichen, transkulturellen und interdisziplinären Kontext, in dem sie betrieben wird. Wirfassen dies auf als Frage nach der Konstruktion von Identität.

Mit Bezug auf diese Begriffe wollen wir der Theoriesuche eine besondere Richtunggeben. Wir erwarten dadurch interessante und – eben – richtungweisende Antworten aufunsere Frage.

Die Frage

Wie wird Identität konstruiert? Als Aussage gewendet, stellen wir mit dieser Frage zwei Annah-men zur Diskussion:

Erstens: Zu jedem Zeitpunkt lässt sich sowohl für die Informatik als auch für Infor-matikerInnen eine Identität bestimmen.

Zweitens: Identität wird im gesellschaftlichen Kontext konstruiert. Es interessierenweniger die Ergebnisse als vielmehr die Mechanismen, die zur Identitätsbildung beitragen:Als Zuschreibung von Identität „von außen“, also fremdgesteuerte Konstruktion oder Gestal-tung durch Kulturen, Institutionen, Interessenverbände, Gruppen … Und als Konstruktionvon Wirklichkeit „von innen“, durch das Individuum, das sich kontextabhängig verschiedeneIdentitäten zu eigen macht.

Wir differenzieren die Fragestellung und unser Vorgehen, indem wir drei „Untersu-chungsdesigns“ zur Auswahl stellen

1. Wie entwickelt sich Fachidentität durch interdisziplinäre Erfahrungen?Wir wollen einen Querschnitt durch den Gegenstandsbereich betrachten und ver-

schiedene Fachdisziplinen in den Blick nehmen. Uns interessieren Formen der Verbindungder Informatik mit anderen Disziplinen. Wir wollen Fallbeispiele sammeln, aus denen sichRückschlüsse über den Einfluss transkultureller oder interdisziplinärer Erfahrungen auf dieHerausbildung von Fachidentität(en) ziehen lassen. Wohin führt die Begegnung zwischen denDisziplinen und den Fachkulturen? Ändert sich das Selbstverständnis? Entwickeln sich neueUmgangsformen, Interaktionsmuster? Werden Beziehungen neu definiert? Und können wiraus der Identitätsbildung in anderen Fachdisziplinen Rückschlüsse auf die Entwicklung derInformatik ziehen?

2. Welche Schließungsprozesse finden durch die Professionalisierung der Informatik statt?Hier konzentrieren wir uns auf die Frage der Professionalisierung im Zeitwandel.

Wir gehen davon aus, dass die Identität des Faches Informatik und der darin wirkendenMenschen durch Formalismen, Ordnungen, Rituale etc. beschrieben und durch Lehrbücher,

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Konferenzen, Zitierpraktiken u.v.m. gesichert wird. Von der Etablierung des ersten Informa-tikstudiengangs bis zur aktuell allerorten zu beobachtenden Differenzierung in modularisierteund gestufte Spezialstudiengänge mit Informatikanteilen lassen sich durch die Zeit wissen-schafts-, bildungs- und technologiepolitische Maßnahmen und Mechanismen identifizieren,die die formale Existenz der Disziplin sichern und die professionelle Identität ihrer Mitglie-der prägen. Rahmenprüfungsordnungen, Curricula, Abschlüsse, Zertifikate, Zulassungsrituale,professionelle Berufsverbände, Förderprogramme, ethische Richtlinien … Wie etabliert undverändert sich die Identität des Faches durch seine Professionalisierung? Und welche Mög-lichkeiten gibt es, Festschreibungen und Schließungen aufzubrechen?

3.Wie geht die Sozialisierung von Studierenden der Informatik vonstatten?Mit dieser Frage nehmen wir eine längsschnittliche Perspektive auf die Studierenden

in der Informatik ein: Welche Identität versuchen wir zu stiften? Welche Orientierung kön-nen wir benennen, vermitteln, erzeugen …? Bilden wir TechnikerInnen, IngenieurInnen,GestalterInnen aus? Welche Möglichkeiten haben und benutzen wir, um Orientierungen inunserem Sinne zu geben? Mit welchem Selbstverständnis verlassen Studierende nach einemInformatikstudium die Universität? Sagen Studierende: „Ich bin Informatikerin!“ oder sagensie: „Ich habe mal Informatik studiert und arbeite jetzt als das und das …“? Und welche Ein-flüsse auf das Selbstverständnis hat die berufliche Praxis, die den Studierenden nach demAbschluss eines Informatikstudiums offen steht (oder nicht mehr offen steht)? (Wie) hat sichdie Identität der Absolventen seit Bestehen der Informatik geändert? Welche Veränderun-gen wünschen wir uns hier?

Die Beiträge

Wir haben den Aufruf zur Mitarbeit in unserer AG und die Bitte um eigene Beiträge also alsFrage formuliert.

Wir wünschen uns für die Arbeitsgruppe, dass Sie sich bei dem Entwurf Ihrer Beiträ-ge auf eines dieser Untersuchungsdesigns einlassen, eventuell auch zwei Perspektiven mitein-ander kombinieren, wenn Sie so bestimmten Aspekten, die Ihnen als Theoriesuchendenbesonders am Herzen liegen, am besten gerecht werden können.

Wir erhoffen uns Beiträge in Form von Fallbeispielen, Analysen, Antworten. Erlaubtsind auch unverrückbare Positionen, theoretische Betrachtungen, das Aufwerfen neuer Fra-gen oder das vorsichtige Anmelden von Zweifel.

Wir sind neugierig und gespannt.

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Arbeit am Begriff:Zur sozialen Konstruktion informatischer Identität

Corinna Bath, Universität Bremen

Der Titel der Arbeitsgruppe „Informatik im interdisziplinären Kontext: Wie wird Identitätkonstruiert?“ scheint zwei Provokationen zu enthalten. Die eine besteht in der Annahme,dass die Informatik eine Identität habe, die andere darin, dass diese „konstruiert“ sei. In mei-ner Dissertation – und meinen Diskussionsbeiträgen zur Arbeitsgruppe – werde ich den bei-den Thesen eine dritte, möglicherweise noch provokativere hinzufügen. Mit der programma-tischen Aussage „Ko-Konstruktion von Technik und Geschlecht“ bzw. „Ko-Produktion vonTechnik und Geschlecht“ geht es mir u.a. darum aufzuzeigen, dass die Kategorie Geschlechtin den Identitätskonstruktionen der Informatik eine wesentliche Rolle spielt, und zu fragen,wie diese Herstellungsprozesse gefasst werden können.

Im vorliegenden Positionspapier möchte ich mich jedoch darauf beschränken, einigeVoraussetzungen für eine Auseinandersetzung mit der Identität der Informatik als Disziplinzu formulieren. Die Notwendigkeit einer solchen „Arbeit am Begriff“ ist mir in den vorberei-tenden Diskussionen zur Tagung deutlich geworden. Sie haben mich dazu herausgefordert,die im Titel verwendeten Kernbegriffe „Konstruktion“ und „Identität“ zu erläutern und ge-genüber möglichen Verständnissen von technischer Konstruktion und anderen „Konstrukti-vismen“ bzw. gegenüber modernen Identitäts- und Subjektauffassungen abzugrenzen.

Was also ist soziale Konstruktion? Und was ist sozialer Konstruktivismus? Da so viele erhitzte Lei-denschaften mit von der Partie sind, könnte man meinen, zunächst sei eine Definition vonnöten, umklar Schiff zu machen. Das Gegenteil ist der Fall, wir müssen uns zunächst auf die Frage einlassen,was es mit den Analysen sozialer Konstruktion auf sich hat. Fragen wir nicht nach der Bedeutung derWörter, sondern fragen wir nach dem Sinn der Sache.

Ian Hacking 1999

Die Informatik ist eine konstruierende Disziplin. Durch informatische Tätigkeit entstehenArtefakte wie Algorithmen, neue Programmiersprachen, Rechnernetze, UML-Notationen,Workflow-Managementsysteme, anthropomorphe Interface-Agenten u.v.m. Als Gegenstandder Arbeitsgruppe verstehe ich jedoch weniger die Untersuchung der Produkte informati-scher Tätigkeit, deren Entwicklung, Gestaltung und technische Konstruktion oder derenAuswirkungen auf soziale, gesellschaftliche oder globale Prozesse – selbst wenn diese Zusam-menhänge mit im Blick bleiben müssen. Vielmehr geht es hier m.E. um die Frage nach derIdentität der Informatik und um die Analyse der Prozesse, die zur Herstellung dieser Identi-tät beitragen. Um es zuzuspitzen: Nicht nach der Konstruktion von Software oder der Kon-struktion von Wirklichkeit durch Software, sondern nach der Konstruktion einer wissen-schaftlichen Disziplin, ihrer Grenzen, ihrer Fachkultur und ihres Wandels ist hier in ersterLinie gefragt.1

1 Sicherlich sind diese drei Ebenen eng miteinander verwoben. Doch erst auf der Grundlage einer analy-

tischen Trennung als Ausgangspunkt einer Untersuchung des Zusammenspiels ist es m.E. mög-lich, „die Informatik“ besser zu verstehen und eine Theorie der Informatik zu entwickeln.

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Insofern erscheint ein Konstruktionsbegriff, dessen Hauptaugenmerk auf die Mög-lichkeiten und Bedingungen der Erkenntnis von Wirklichkeit und damit auf epistemologischeFragen in der Modellierung, Erzeugung und Nutzung informatischer Produkte gerichtet ist,hier weniger geeignet. Ein solcher Ansatz könnte eher für die Untersuchung der Prozesse derEntstehung, Entwicklung und Wirkung informatischer Artefakte relevant sein. Mit der Fo-kussierung auf die Identität einer Disziplin werden Abgrenzungen gegenüber verschiedenenSpielarten des Konstruktivismus nötig, die einigen InformatikerInnen nahe liegen mögen.Um dem angestrebten „Sinn der Sache“ näher zu kommen, erscheint es aus den erläutertenGründen kaum hilfreich, auf die konstruktivistische Wissenschaftstheorie z.B. der ErlangerSchule1, zu rekurrieren oder auch auf den Radikalen Konstruktivismus (insbesondere seinerkognitionstheoretischen Ausprägung), dessen Vertreter sich auf systemtheoretische Vorstel-lungen sowie auf Einsichten der Neurophysiologie berufen (z.B. Maturana, Varela, Ciompi,Roth). Ebenso wenig voranzubringen vermag der Empirische Konstruktivismus, der aus derPerspektive der Wissenschaftsforschung auf die Fabrikationsprozesse „naturwissenschaftli-cher Tatsachen“ schaut (z.B. Knorr-Cetina, Latour & Woolgar). Denn eine Bezugnahme aufdiese Laborstudien2 würde das hier verfolgte Vorhaben vermutlich allenfalls in Form einerMethode zur empirischen Untersuchung befruchten.

Aussichtsreicher erscheint dagegen die auf Berger & Luckmann zurückgehende Tra-dition des Sozialkonstruktivismus. Denn deren Anliegen bestand im Rückgriff auf die Phä-nomenologie (insbesondere den Wiener Sozialphilosophen Alfred Schütz) vor allem darin, diefür selbstverständlich genommene und erfahrene Welt, die jede Person mit anderen teilt,genauer zu begreifen. Die uns hier interessierende „Welt“ beschränkt sich zwar im wesent-lichen auf „die Informatik“. Doch lassen sich soziologische Erkenntnisse darüber, wie alltags-weltliche „Wirklichkeit“ und ein Vertrauen in diese Realität hergestellt wird, übertragen aufdie soziale Praxis und die als akademisches Fach erlebte Informatik sowie auf die Herausbil-dung ihrer community. Denn Berger und Luckmann fragen zugleich danach, wie soziale Ord-nung von Menschen produziert, alltäglich immer wieder auch reproduziert und gleichzeitigals äußerliche, gegebene oder auch „objektive“ erfahren wird.

So inflationär mittlerweile Studien mit „soziale Konstruktion von ...“ betitelt werdenund so vielfältig der Begriff selbst in der erläuterten speziellen Tradition noch verstandenwerden mag3, scheint doch dessen Verwendung zumeist ein Konsens über die zugrunde lie-gende Intention vorauszugehen. Nach Hacking sind soziale KonstruktivistInnen kritischgegenüber dem Status Quo. Sie „neigen dazu, folgendes in Bezug auf X zu behaupten: (1) Xhätte nicht existieren müssen oder müsste keineswegs so sein, wie es ist. X – oder X, wie esgegenwärtig ist – ist nicht vom Wesen der Dinge bestimmt. Es ist nicht unvermeidlich.“ (S.19) Ferner komme die Behauptung, X sei sozial konstruiert, gerade dann auf, wenn die Vor-aussetzung feststeht: „(0) Beim gegenwärtigen Stand der Dinge wird X für selbstverständlichgehalten; X erscheint unvermeidlich“ (S. 28). Ersetzen wir nun X durch „die Informatik alsDisziplin“, so erscheint es auf den ersten Blick plausibel, dass das dargelegte Verständnissozialer Konstruktion – allen hier vorgenommenen Reduktionen zum Trotz – einen wunder-baren, wenn nicht gar notwendigen Ausgangspunkt für die Entwicklung kritischer Theoriean-sätze der Informatik darstellt.

Auf den zweiten Blick gilt es jedoch nachzufragen: Was heißt es, dass die Informatiknicht so sein müsste, wie sie (jetzt) ist? Soll hier die Informatik etwa prinzipiell in Frage ge-

1 Vgl. hierzu etwa die kürzlich geführte Debatte im Informatik-Spektrum: Ortner 2002a, Schefe 2002,

Janich 2002 sowie Ortner 2002b2 Laborstudien sind ein mikrosoziologischer Ansatz der neueren Wissenschaftsforschung. Mit den

Instrumentarien der anthropologischen Feldforschung werden „Science in the Making“, also diealltägliche Arbeit der NaturwissenschaftlerInnen im Labor beobachtet, aufgezeichnet sowie In-terviews dazu durchgeführt.

3 Vgl. Hacking 1999, insbesondere S. 11f sowie die Fußnote auf S. 61

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stellt werden? Oder geht es dabei „nur“ um die spezifischen Ausprägungen, wie die Informa-tik beispielsweise an deutschen Hochschulen betrieben und in Studienordnungen, Regle-ments oder sozialen Konventionen festgeschrieben, wie sie gelebt und von Beteiligten wieAußenstehenden erfahren wird? Für die Diskussionen der Arbeitsgruppe würde ich pragma-tisch für letztere Interpretation plädieren. Dennoch muss die Frage „social construction ofwhat?“1, also die Frage danach, was hier genau unter der Disziplin Informatik gefasst werdensoll, offenbar noch weiter geklärt werden.

Darüber hinaus wäre auf der Basis eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes zu disku-tieren, was als Konstruktionsinstanz2 betrachteten Prozesse der Identitätskonstruktion ge-dacht wird. Mit der Abgrenzung vom Radikalkonstruktivismus ist die einfache Antwort „dasGehirn“ bereits ausgeschlossen. Denn unter einem Sozialkonstruktivismus im Kontext unse-rer Fragestellung der Tagung lässt sich zunächst die Annahme verstehen, dass das, was alsInformatik gilt und anerkannt ist, in sozialen Prozessen herstellt wird. Damit ist jedoch nochnicht festgelegt, ob die sozialen Prozesse innerhalb der akademischen Disziplin oder inner-halb wirtschaftlicher Anwendungen liegen (Welche sozialen Praxen sollen betrachtet wer-den?). Geht es eher um Selbstbilder oder Fremdbilder? Oder gar um Aushandlungsprozesseund Machtkämpfe innerhalb des bestehenden Wissenschaftsgefüges, welche die Einschlüsseund Grenzen der jeweiligen Disziplinen mit definieren? Weiter bleibt mit dem Bezug auf diesozialen Prozesse offen, inwieweit „das Soziale“ eher soziale Beziehungen oder Diskurse (wel-che?) meint. Und geht es möglicherweise um bereits verfestigte soziale Ordnungen oder vorallem um die Subjekte, welche die Informatik konstituieren (welche wären das?).

Die wesentlichen Konstitutionsfaktoren der Disziplin Informatik müssten also zu-nächst identifiziert werden und auch ihre Verwobenheit untereinander bedarf noch einergenaueren Analyse. Für dieses Vorhaben kann eine Auseinandersetzung mit der Debatte umden zweiten essentiellen Begriff des Arbeitsgruppentitels, Identität, weitere Anregungengeben.

Der Begriff Identität wird zumeist subjektbezogen verstanden. Von der lateinischenidentitas abgeleitet bezeichnet er eine Weseneinheit, einen Zustand der Übereinstimmungund Gleichheit. Die Rede von der Identität hat in den Sozial- und Kulturwissenschaften seiteiniger Zeit Hochkonjunktur. Denn das moderne Subjekt, das als unversehrte, autonome undfeststehende Einheit begriffen wurde, schien mit der sog. Postmoderne dem Zerfall ausge-setzt. Viele TheoretikerInnen sehen darin jedoch keinen Verlust, sondern betrachten dieEntwicklungen als Chance, sich gegenüber der Pluralität und Heterogenität von Denk- undLebensweisen zu öffnen.3 Auffassungen von Einheit, Homogenität und Festschreibung wei-chen nun vielerorts einem Verständnis von hybriden und flexiblen Identitäten. Dass diesesfragmentierte, vielstimmige, heterogene und fließende Selbst eng mit dem „Life on theScreen“ verknüpft ist, hat Sherry Turkle in ihrem gleichnamigen Buch überzeugend dargelegt.„RL [Real Life, C.B.] ist nur ein Fenster unter vielen und es ist gewöhnlich nicht mein bes-tes“, gibt dort eine ihrer Interviewpartnerinnen zu (Turkle 1998: 16). Das Bildschirmfensteravancierte zur Metapher für die postmodern-multiple Subjektkonstitution.

Gleichzeitig haben auch bislang unhinterfragte kollektive Identitäten im Zuge desso genannten cultural turn Umdeutungen erfahren und gelten seither als Effekte vorangegan-gener Selbst- und Fremdzuschreibungsprozesse. Lange Zeit stabile Kategorien wie Klasse,Rasse, Nation und Geschlecht lassen sich damit nicht mehr als deskriptive auffassen, denn 1 So der Originaltitel von Hackings Buch2 Den Hinweis darauf, dass es in diesem Zusammenhang auch notwendig ist, über Konstruktionsinstan-

zen nachzudenken, habe ich Mona Singer (1996) entnommen.3 VertreterInnen der Postmoderne haben Zusammenhänge zwischen der durch Aufklärung und Ration-

alität geprägten Moderne und Totalitarismus aufgezeigt. Feministischen Theoretikerinnengelang es, das Subjekt der Moderne als ein eurozentristisches und männlich dominiertesnachzuweisen. Insofern folgt das Aufgeben einer modernen Subjektposition emanzipatorischenIntentionen.

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damit würde ihnen ein zugrunde liegender ‚natürlicher’ Status unterstellt. Postmoderne Posi-tionen wenden sich gegen essentialistische Auffassungen, sie betrachten Menschen als gesell-schaftliche, geschichtliche und sprachliche Artefakte.

Judith Butler geht dabei noch einen Schritt weiter. Sie definiert Identität im An-schluss an Foucault nicht mehr als Substrat, sondern als Effekt von Diskurs und Praxis derSignifikation. Seit der Veröffentlichung des Buches Gender Trouble (1991) werden ihre Kon-zepte von Inszenierung und Performativität diskutiert, welche auf den kontingenten, proviso-rischen und gestaltbaren Charakter von Identität verweisen. Ihr Performanzbegriff betontdie Theatralität von Handlungen und scheint gewisse Möglichkeiten, z.B. die Wahlfreiheit inder Selbstrepräsentation in Aussicht zu stellen. Butlers Performativitätskonzept dagegenfokussiert auf soziale Normen, welche die voluntaristische Verfügbarkeit und Inszenierungs-fähigkeit einer beliebigen Identität wiederum stark einschränken. Es beschreibt die alltägli-che Verfestigung von Identität durch das für alle Beteiligten zwangweise Zitieren hegemo-nialer Normen. Indem diese Normen jedoch in ständiger Wiederholung aktualisiert werdenmüssen, um aufrechterhalten zu bleiben, besteht die Chance bedeutungsverschiebender Ein-griffe und störender Praxen, die eine Verwirrung der Ordnung stiften können. PolitischeHandlungsfähigkeit, die mit dem in postmodernen Ansätzen fehlenden Bezug auf ein ein-heitliches Subjekt verloren gegangen schien, wird auf diese Weise doch wieder hergestellt.

Was können wir nun von diesen aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen De-batten um personale wie kollektive Identitätskonstruktion lernen, um die Herstellungspro-zesse professioneller und fachlicher Identität der Informatik besser zu begreifen? Zunächstlässt sich „die Informatik“ auf dieser Grundlage als historisch, kulturell und lokal variabel, alsfragmentiert und flexibel sowie als strukturell und sozial veränderbar auffassen. Wichtig er-scheint mir ferner darauf hinzuweisen, dass die vorgestellten Konzepte von Performativitätund Performanz/ Inszenierung die im Aufruf zur Arbeitsgruppe gewählten Begriffe von Erhal-tung und Entwicklung der Informatik handlungstheoretisch zuspitzen und präzisieren.

Eine weitere nützliche Erkenntnis besteht darin, dass soziale Normen besonderswirksam sind, wenn sie im Alltagswissen nicht oder nur selten thematisiert werden. Denngerade dann erscheinen sie evident und selbstverständlich. Eine kritische Reflexion der In-formatik – ich will hier nicht den hochgestochenen Begriff einer Theorie der Informatik be-mühen – hätte demzufolge in erster Linie die Aufgabe, den gelebten Alltag und die unhinter-fragte Normalität der Informatik offen zu legen, zu analysieren und darzustellen: Auf welchenAnnahmen beruhen die Tätigkeiten von InformatikerInnen? Welche Selbstverständnisse undRoutinen haben sie? Worin bestehen charakteristische Handlungspraktiken und disziplinäreNormen?

Ein Vergleich mit den Identitätskonstruktionen anderer Disziplinen und ihren diszi-plinierenden Funktionen verdeutlicht, warum die gewählten theoretischen Ausgangspunktezur Analyse der Identität von Informatik beitragen können. Wenn wir etwa mit BettinaHeintz davon ausgehen, dass für die Mathematik der Beweis identitätskonstitutiv ist (Heintz2000:14), so stellt sich für die Informatik entsprechend die Frage, worüber hier eine diszipli-näre Identität hergestellt wird. Sind es Artefakte wie „der Computer“ und „die Software“? Istes – wie es in den Erzählungen über die Entstehung der Informatik in Deutschland heißt –„die Information“? Reduziert sich die Gemeinsamkeit des Grundverständnisses der Informa-tik nicht letztendlich doch – wie das klischeehafte Außenbild der Disziplin nahe legt – auf dasProgrammieren? Oder sind es eher Methoden und Denkweisen wie z.B. die Softwaretechnikoder die Softwareentwicklung? Die Vielfalt möglicher Antworten lässt Zweifel aufkommen:Gibt es überhaupt ein Pendant zum Beweis in der Mathematik, an dem sich die Identität derInformatik festmachen ließe?

Angesichts der Schwierigkeit, eindeutige Antworten zu geben, möchte ich einen Per-spektivenwechsel zur Wissenschaftsforschung vorschlagen. Rudolf Stichweh charakterisiertDisziplinen „durch (a) einen relativ geschlossenen und von einer wissenschaftlichen community

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getragenen Kommunikationszusammenhang [...], (b) gemeinsam anerkannte Lehrmeinungen,Fragestellungen und paradigmatische Problemlösungen sowie (c) disziplinenspezifische Kar-rierestrukturen und institutionalisierte Sozialisationsprozesse“ (nach Heintz 2000:189). Einesolche Bestimmung von Disziplinen differenziert nicht nur den in Bad Hersfeld 2002 disku-tierten, tautologisch anmutenden Satz: „Informatik ist das, was Informatiker tun.“ bzw. spe-zieller: „Informatik ist das, was in Promotionskolloquien als Informatik zugelassen wird.“ Siegibt zugleich einen Hinweis zur Beantwortung der oben noch offen gelassene Frage nach demSozialen als Konstruktionsinstanz der Disziplin Informatik.

Dennoch bleibt letztendlich unklar, ob sich die Informatik mit dieser Herangehens-weise genauer fassen lässt. Denn einige KritikerInnen werden dem sicherlich entgegenhalten,dass sich Informatik einer solchen Bestimmung weitgehend entzieht, indem sie sich ständigwandelt, verändert und vor allem expandiert. Es erscheint eher typisch für das Fach und dieProfession, dass Disziplingrenzen (nämlich die anderer Disziplinen) überschritten werden.InformatikerInnen betätigen sich im jeweiligen Anwendungsfeld oder als SoziologInnen undEthnologInnen in der Anforderungsanalyse, als SprachwissenschafterlerInnen und Psycholo-gInnen in der KI etc. pp.. Informatiker sind heute „Patchworker, die Informatik ist längst eininterdisziplinärer Bereich geworden. Sie gehen dabei mit den Erkenntnissen anderer Diszipli-nen eher unbedarft um, zuweilen wie Kannibalisierer“ fasst Arno Rolf (2001) zusammen.Doch auch mit der selbst definierten Zusammensetzung aus theoretischer, praktischer, tech-nischer und angewandter Informatik präsentiert sich die Disziplin bereits im engeren Sinneeher inter- oder zumindest multidisziplinär.

Der Wissenschaftssoziologe Wolfgang Krohn hat auf der ersten Theorietagung 2001in Heppenheim behauptet, dass die Informatik eine „postmoderne Wissenschaft“ sei, inso-fern sie sich jeder Identitätslogik, einer einheitlichen Bestimmung oder deduktiven Beschrei-bung sperrt. Damit scheint nun aber die Frage „Was ist Informatik?“ im Sinne einer Positiv-bestimmung, die eine umfassende Beschreibung des gegenwärtigen Stands gibt, obsolet zuwerden. Wenn gleichzeitig allerdings Heinrich Mayr und Jörg Maas als Vertreter der GIglaubwürdig davon sprechen, dass die Informatik sich zur Leitdisziplin des 21. Jahrhundertsentwickelt (Mayr & Maas 2002:177), bedarf diese Frage einer angemessenen Antwort. Die hiervorgeschlagene Auseinandersetzung mit dem Performanz- und dem Performativitätskonzept,welche sich bereits auf „postmoderne Identitäten“ beziehen, kann dafür produktiv sein undalternative Denkwege eröffnen.

Literatur

Berger, Peter & Thomas Luckmann 1977: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie derWissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer (Amer. Orig. 1966)

Butler, Judith 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. (Amer. Orig.: Gender Trouble 1990)Butler, Judith 1995: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag (A-

mer. Orig.: Bodies That Matter 1993)Hacking, Ian 1999: Was heißt ‚soziale Konstruktion’? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften.

Frankfurt a.M.: Fischer (Amer. Orig.: Social Construction of What? Harvard University Press1999)

Heintz, Bettina 2000: Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin.Wien, New York: Springer

Janich, Peter 2002: Peter Schefe und die konstruktive Wissenschaftstheorie. Informatik-Spektrum 25,Heft 5, S. 383-385

Knorr Cetina, Karin 1984: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft. Frankfurta.M.: Suhrkamp

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Latour, Bruno & Steve Woolgar 1979: Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts. BeverlyHills: Sage

Mayr, Heinrich C. & Jörg Maas 2002: Perspektiven der Informatik. Informatik-Spektrum 25, Heft 3, S.177-186

Ortner, Erich 2002a: Sprachingenieurwesen. Empfehlung zur inhaltlichen Weiterentwicklung der(Wirtschafts-)Informatik. Informatik-Spektrum 25, Heft 1, S. 39-51

Ortner, Erich 2002b: Die Zukunft der (Wirtschafts-)Informatik. Informatik-Spektrum 25, Heft 5, S. 385-389

Rolf, Arno 2001: Bericht zur AG „Gestalterische Aufregung”. In: Nake, Frieder, Arno Rolf, Dirk Sief-kes (Hrsg.): Informatik. Aufregung zu einer Disziplin. Arbeitstagung mit ungewissem Ausgangin Heppenheim vom 6.-8. April 2001. Bericht Nr. 235 des FB Informatik der UniversitätHamburg, S. 85

Schefe, Peter 2002: Konstruktivismus nicht-konstruktiv – Eine Antwort auf E. Ortners Versuch der„Rekonstruktion” der Informatik. Informatik-Spektrum 25, Heft 3, S. 230-233

Singer, Mona 1996: Konstruktion, Wissenschaft und Geschlecht. In: Frankfurter Frauenschule (Hrsg.)1996: Facetten feministischer Theoriebildung. Materialität, Körper, Geschlecht. Materialien-band 15, Frankfurt a.M., S. 69-103

Turkle, Sherry 1998: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Amer.Orig.: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York 1995)

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Informatik:eine praktische und undisziplinierte Inter-Disziplin!

Johannes Busse, Universität Heidelberg

Informatik ist ein Studiengang, der mindestens drei unterschiedliche Aspekte zuintegrieren versucht: Eine „theoretische" Dijkstra-Informatik, Software-Enginee-ring, sowie eine "praktische", um Anwendungen in sozio-technischen Kontextenbemühte Informatik. Diese Aspekte sind so heterogen, dass sie drei unter-schiedlichen Disziplinen zuzuordnen sind. Informatik ist daher ein genuin inter-disziplinärer Studiengang. Leider gibt sich die Lehre in Informatik noch zumultidisziplinär; sie sollte transdisziplinär stärker zusammenwachsen.Der Studiengang Informatik bereitet seine Absolventen auf vorwiegend tech-nisch gestaltendes Handeln vor. Wenn dieses Gestalten in strengem Sinneauch praktisch sein will, sollten aus professionalisierungstheoretischen Überle-gungen heraus auch seine sozio-technischen und normativen Aspekte im Stu-dium expliziter und theoretisch fundierter thematisiert werden.

Kontext und Fragestellung

Der vorliegende Text zu unserer AG „Informatik im interdisziplinären Kontext: Wie wirdIdentität konstruiert?“ versucht die Diskursstränge zu unseren drei Fragestellungen (und dreiGruppen) Interdisziplinarität, Professionalisierung und Sozialisierung zusammenzuführen. DerText versteht sich als erweitertes Positionspapier, das (m)eine (subjektive) Wahrnehmung desZwischenstandes einer Tagungsreihe in Form von Setzungen und Thesen dokumentieren will,um die weitere gemeinsame Arbeit am Thema vorzubereiten.

Methode

Die Argumentation ist deduktiv gegliedert. Die Hauptaussage steht hinten, die einzelnenArgumentationsschritte werden vorgezogen. Die Argumentationsschritte gliedern sich in dreiTypen:

• Stipulationen: analytische Kriterien (d.h. begriffliche Schneidewerkzeuge) werden alsStipulationen (an)gesetzt, um mit ihnen den Diskursbereich in ein analytisch-kategoriales System zu pressen. Die „Wahrheit“ dieser Argumentationsschritte musssich aus der begrifflichen Nachvollziehbarkeit, nicht jedoch aus der faktischen Zu-stimmung zu diesen Setzungen ergeben. Streiten sollte man über diese bloßen Begrif-fe nicht, es lohnt sich nicht.

• Thesen: Mit Hilfe der eingeführten Setzungen als begriffliches Gerüst werden Thesenformuliert, die sich nicht tautologisch aus diesen Setzungen ergeben. Bezüglich die-ser Thesen wird vom Leser faktische Zustimmung oder Widerspruch eingefordert.Über diese Thesen sollte man streiten!

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• Sublime Unterstellungen: Die Argumentation bedient sich der natürlichen Sprache zumTeil aus der Informatik, zum Teil aus den Sozialwissenschaften. Sehr Vieles musshier implizit bleiben, kann nicht, darf nicht problematisiert werden, um die interdis-ziplinäre Verständigung nicht auf Grund ihrer schieren begrifflichen Komplexitätzum Schweigen zu bringen. Gleichwohl verbergen sich hier die größten Potentiale,um sich – oft unbemerkt! – misszuverstehen. Auch lohnt es sich nicht zu streiten,wohl aber immer wieder nachzufragen.

Bildlich gesprochen: In einen größeren Raum von unscharfer, sublimer Terminologie wirdmit den Stipulationen quasi ein begriffliches „Skelett“ eingezogen, um in Form von Theseneine argumentative Gestalt aufzubauen.

Professionalität

Unter Praxis soll im Folgenden einzelfallbezogenes Handeln in einer Gemeinschaft verstan-den werden. Ein solches Handeln ist typischerweise stark mit Werthaltungen und Normenimprägniert im Kontext der Konkurrenz um knappe Ressourcen. Praktische Akteure sind inihrem Handlungskontext involviert, und das heißt u.a. durch Eigeninteressen befangen, sozialabhängig. Ohne hermeneutische Distanz zu ihrem eigenen Tun sind sie keine distanziertenBeobachter, sondern Mitspieler, die Regelsystemen und Sachzwängen unterworfen sind.

Unter einem Thema soll ein typisches spezifisches Problem, aus der Praxis verstandenwerden. Ein Beruf lässt sich dann als ein spezifisches Kompetenzprofil beschreiben, das zurerfolgreichen Bearbeitung von bestimmten Themengruppen befähigt.

These: Informatik will in ihrem Selbstverständnis praktisch sein. Das heißt: Ein Stu-dium der Informatik soll zu praktischem Berufshandeln qualifizieren; Produkte (und mehrnoch Dienstleistungen) aus Informatik werden nur selten um ihrer selbst willen, sondern fastimmer in Hinblick auf praktische Zwecksetzungen hin entwickelt; und die Theoriebildung inder Informatik verfolgt zu einem guten Teil das Anliegen, für informatische Praxis hand-lungsleitend brauchbar zu sein.

Ein (Hochschul-)Studium war einstmals (und ist es auch heute noch, wenn man dieLernformen betrachtet) hauptsächlich zur Ausbildung von Wissenschaftler-Nachwuchs ge-dacht. Heute zahlenmäßig weit bedeutender, soll es zu einer praktischen Berufstätigkeit„draußen“ außerhalb der Wissenschaft hinführen. Kennzeichen eines Hochschulstudiums (imGegensatz etwa zu einem Fachhochschul-Studium) ist ein höherer Theorie- und ein geringe-rer Praxisbezug. Wer in seinem Studium temporär an Wissenschaft teilhaben darf, übt nichtso sehr „anwendbare“ Fertigkeiten ein, sondern erweitert durch theoretische Reflexion dasSpektrum derjenigen Fähigkeiten, die sich anzueignen er potentiell in der Lage ist (diesesSpektrum soll Fähigkeiten genannt werden). Diese theoretisch-reflexive Orientierung soll esden Absolventen ermöglichen, in ihrer Berufspraxis auch zukünftige praktisch Herausforde-rungen zu lösen, auf die in einer praxisbezogeneren Ausbildung noch nicht vorbereitet wer-den könnte – oder auch solche kritisch zu prüfen und ggf. zurückzuweisen!

Genau letzteres ist aber z.B. nach Oevermann (1995) das Kennzeichen von Wissen-schaft: Nämlich die kritische Reflexion von Herausforderungen und Geltungsansprüchendurch zeitweises Heraustreten aus der Praxis, durch Herstellen von hermeneutischer Distanz,durch Generalisierung, durch Abstraktion vom Einzelfall.

Wissenschaft produziert u.a. Theorien, die man ganz grob in zwei Klassen einteilenkann: Erstens so genannte deduktiv-nomologische Theorien als generalisierende Erklärungs-Schemata, die insbesondere zur Vorhersage von Zuständen der unbelebten Welt herangezo-gen werden können; zweitens eher individualisierende Verstehens-Schemata, die insbesonde-re zum rechtfertigenden oder entlastenden Nachvollzug von Zuständen aus der human-

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sozialen Welt herangezogen werden können. Beide Theorietypen wurden früher unter dersog. Erklären-Verstehen-Debatte kontrovers gegeneinander ausgespielt. Die Methodologiemoderner Sozialwissenschaften hingegen weiß beide Ansätze sich fruchtbar ergänzend aus derErkenntnis heraus zu vereinen, dass sich die Leistungsfähigkeit jedes Ansatzes erst aus derpositiven Kenntnis der Stärken und Schwächen des anderen Ansatzes erweist.

These: Die Landschaft der praktischen Themen und der Theorien der Wissenschaftlässt sich zwar gliedern – allerdings nur in sehr unterschiedlicher, kaum vergleichbarer Weise.Aus fast jedem Thema der Praxis lassen sich Bezüge zu sehr vielen Theorien herstellen; undjede einzelne wissenschaftliche Theorie lässt sich für viele praktische Themenfelder fruchtbarmachen. (Etwas vereinfacht gesagt, ist Praxis immer interdisziplinär.) Daraus entsteht einTheorie-Praxis-Problem. Weder befähigt Theorie unmittelbar zu praktischem Handeln, nochlassen sich praktische Probleme unmittelbar durch Theorien „lösen“. Manchen m.E. sehrernst zu nehmenden Positionen zufolge sind Theorie und Praxis durch einen Hiatus, d.h.durch einen klaffenden Abgrund, voneinander getrennt.

Dieser Hiatus kann zwar überbrückt werden, jedoch nicht allgemein, abstrakt, theo-retisch, sondern nur jeweils in einem konkreten, praktischen Einzelfall. Nach Oevermannbesteht der Kern von Professionalität darin, durch praktisches berufliches Handeln in einervom autonomen Klienten angefragten, zeitlich begrenzten, auf den Kompetenzbereich desProfessionals fokussierten „Therapiebeziehung“ eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit desKlienten durch Vermittlung zwischen Wissenschaft und Praxis wieder herzustellen. Ein sol-ches Handeln muss selbstverständlich unter starken normativen Randbedingungen stehen,die explizit formulierte Berufsnormen (Standeskodex), das eigene professionelle beruflicheSelbstverständnis sowie mit dem Wertesystem des Klienten kompatible, subjektiv anerkann-te Sorgepflichten in stimmiger Weise zusammenbringen.

Erste abschließende These: Ein solches professionelles Handlungsverständnis zu ent-wickeln, ist immer auch Aufgabe desjenigen Ausbildungssystems, das auf praktische Tätigkeitvorbereitet. Eine Lehre, die das Thema der eigenen Professionalisierung nicht expliziert,thematisiert und lehrt, verfehlt den eigenen Anspruch: Sie ist nicht nur unpraktisch, sondernauch unprofessionell.

Interdisziplinarität

Rückschau: Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Frage „Was ist Informatik“ vornehm-lich unter einem professionalisierungstheoretischen Aspekt mit dem Ergebnis verhandelt,dass im Studium der Informatik dem Aspekt der Professionalisierung, d.h. der normativ im-prägnierten Überbrückung von Theorie und Praxis, mehr Aufmerksamkeit gezollt werdensollte. Der Begriff der Theorie blieb dabei vergleichsweise unbestimmt.

Vorschau: Im Folgenden soll es darum gehen, mit welchen „Typen“ von Theorie (o-der mit welchen anderen Begriffen aus dem Wortfeld „Wissenschaft“) sich die Informatikzutreffend charakterisieren lässt. Einen Nukleus der Argumentation bildet dabei die teilszweckrational, teils normativ begründbare Forderung, dass es bezüglich bestimmter – jedochnicht aller! – Aspekte der Wissenschaft „kohärent“ zugehen muss. Wenn man den Begriff derStimmigkeit nun eng genug fasst, werden manche wissenschaftliche Praxen, manche For-schungsansätze, und sicherlich manche Studiengänge eher als inkohärent auszuzeichnen sein.Die Argumentation untersucht, bezüglich welcher Aspekte der Informatik Inkohärenz alsMangel oder als Tugend zu interpretieren wäre.

In den Strukturwissenschaften wird Konsistenz gemeinhin als Widerspruchsfreiheiteiner nicht selbstbezüglichen Aussagenmenge definiert. Seit der Entdeckung der Russel'schenMengen-Antinomien weiß man, dass man das zugehörige Ableitungs- oder Argumentations-verfahren tunlichst nicht selbst als Teil der zur Disposition stehenden Aussagenmenge zulas-

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sen sollte. Selbstbezügliche Argumentationssysteme führen oft – aber nicht immer! – zu fata-len Selbstwidersprüchen.

Als kohärent soll die Eigenschaft eines hoch selbstbezüglichen Systems gelten, sich in„wesentlichen“ Aspekten nicht selbst zu widerlegen. Kohärent wäre es etwa, einen Satz vomausgeschlossenen Dritten zu beweisen, indem man sich argumentativ einer zweiwertigen Lo-gik bedient. Ein kohärentes System muss eine der drei möglichen Positionen im Münchhau-sen-Trilemma einnehmen: unendlicher Regress, Begründungs-Abbruch, oder „Beweis“ dereigenen Beweis-Voraussetzungen.

Als wissenschaftliche Disziplin soll ein kohärentes System mit den Elementen Ge-genstandsaspekte, Erkenntnis- oder Handlungs-Interessen, Problemtypen, Methoden, Lehr-meinungen (Dogmen) und unhinterfragten Glaubensvorstellungen und Wahrheitsbegriffenverstanden werden. Nicht jede an einer Universität als Institution geführte Fakultät, nichtjede wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Thema, nicht jeder Studiengang lässt sich alskohärentes System dieses Typs (und damit als Disziplin i.S. der Definition) beschreiben. EinigeDisziplinen, die m.E. eine vergleichsweise hohe Kohärenz aufweisen, sind im Folgenden (kur-siv gedruckt) aufgeführt, grob geordnet nach den vier großen Fakultäten, die schon in Goe-thes Faust als Standard-Einteilung üblich waren: „Habe nun, Ach! Medizin, Juristerei undPhilosophie, und leider auch Theologie studiert“:

• Theologische Fakultätevangelische Theologie,katholische Theologie

• Gesellschaftswissenschaftliche FakultätJuraWirtschaftswissenschaftenSoziologieEthik

• Medizinische FakultätAllopathieHomöopathie

• Philosophische FakultätStrukturwissenschaften (z.B. Mathematik, Logik)Buchwissenschaften (z.B. Philosophie, Geschichte, Religionswissenschaft)Sprachwissenschaften (z.B. Latein, Linguistik, Germanistik)Naturwissenschaften (z.B. Physik, Biologie, Chemie etc.)Ingenieurwissenschaften (z.B. Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauingenieurwesen)

Wo wäre in dieser Aufzählung die Informatik einzuordnen? These: Informatik in ihrer Ge-samtheit kann nicht als wissenschaftliche Disziplin aufgeführt werden. Denn sie ist zu breitund bearbeitet einen zu vielfältigen Gegenstandsbereich, als dass dabei starke, Disziplin kon-stituierende Kohärenzbedingungen eingehalten werden könnten. Die Informatik teilt sichdiese Breite mit einigen anderen an der Universität vertretenen Instituten. (Mit Bedachtebenfalls nicht in diese Liste eingefügt wurden folgende Studiengänge: Rechtsgeschichte,Psychologie, Erziehungswissenschaft, Medien-, Bio-, Medizininformatik u.v.m.) Es stellt sichdie Frage: Welcher Typ von Entität ist die Informatik aber dann, wenn nicht eine (einzige,eindeutig identifizierbare) Disziplin?

Unter Fach sei eine wissenschaftliche Auseinandersetzung in sehr engem Fokus aufein spezifisches Thema verstanden, z.B. Brasilianistik, Erwachsenenbildung, Radiologie, Brü-ckenbau, Komplexitätstheorie und mehrere hundert andere. Normalerweise sind Fächerschwerpunktmäßig einzelnen Leitdisziplinen zuordenbar, auch wenn sie gut beraten sind, auf

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Grund ihrer höheren Themenorientierung aus Nachbardisziplinen Theorien zu importierenund den Transfer auf die eigene Fragestellung zu leisten. Allerdings gibt es auch typischeinterdisziplinäre Fächer wie z.B. Rechtsgeschichte. Ein einzelnes Fach ist typischerweise zu„klein“, um einen eigenen Studiengang zu begründen.

Unter (Diplom-)Studiengang sei eine Zusammenstellung verschiedener Fächer ver-standen. Intradisziplinär ist ein solcher Studiengang, wenn die beteiligten Fächer sich ergän-zen und einer gemeinsamen Disziplin zuzuordnen sind. Ein Beispiel für Intradisziplinaritätliegt vor, wo etwa Informatiker, Robotiker, Elektrotechniker und Maschinenbauer gemein-sam zusammen daran arbeiten, einem Roboter das Fußballspielen beizubringen.

Ein Studiengang oder ein Fach, das sich nicht durch disziplinäre Geschlossenheitauszeichnet, sondern seine Bestandteile aus verschiedenen Disziplinen bezieht, soll interdiszi-plinär genannt werden.

Interdisziplinäre Wissenschaften, die einen recht genau abgrenzbaren Praxisbereichmit einem breiten Disziplin-, Methoden- oder Theorienspektrum angehen, werden Integrati-onsdisziplinen genannt. Dazu gehört z.B. die Sozialarbeitswissenschaft, die einerseits vielfältigeBezüge zu Pädagogik, Medizin, Recht, Psychologie, Soziologie u.a. herstellt, gerade in diesemNetz an Bezügen eine eigene autonome Wissensbasis reklamiert. Um die Informatik als In-tegrationsdisziplin einzuordnen müsste man genau abgrenzbare Praxisbereiche der Informa-tik identifizieren – ein Ansinnen, das mit der oft eingeklagten Ubiquität ihrerAnwendungsmöglichkeiten in direktem Widerspruch steht.

Eine interdisziplinäre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema sollmultidisziplinär genannt werden, wenn Wissenschaftler verschiedener disziplinärer Herkunftzwar im (typischerweise auch größeren) Team, jedoch vorwiegend arbeitsteilig zusammenar-beiten. Jeder einzelne Wissenschaftler repräsentiert „seine“ Wissenschaft und tritt unange-fochten als Experte auf. Wissenschaftliche Grenzen werden durch gemeinsame Diskurse zuüberbrücken versucht. Als typisches Produkt von gemeinsamer Forschungstätigkeit entstehtein Herausgeberband, der ein interdisziplinäres Thema in verschiedenen Aufsätzen von ver-schiedenen Seiten her beleuchtet.

Auch ein Magister-Studiengang, in dem verschiedene „abgespeckte“, sachlogischweitgehend unkoordiniert bleibende Studiengänge nebeneinander studiert werden können,wäre in diesem Sinne als multidisziplinär zu bezeichnen. Tatsächlich scheint Multidisziplina-rität heute der Regelfall in der Ausgestaltung von praxisbezogenen, fakultätsübergreifendenStudienplänen zu sein. Aber auch innerhalb einzelner Fakultäten wird Multidisziplinaritätgepflegt; Beispiele:

• ein Mathematiker lehrt in der Psychologie Statistik,• ein Elektrotechniker lehrt in der Informatik Chipentwurf,• ein Mathematiker lehrt in der Philosophie formale Logik,• ein Psychologe lehrt in der Wirtschaftsinformatik Konfliktmanagement.

Transdisziplinär soll (in Anlehnung z.B. an Mittelstraß 1989: 75ff) das wissenschaftliche Bemü-hen genannt werden, ein Thema interdisziplinär so zu bearbeiten, dass sich seine vielfältigendisziplinären Bezüge in einer gemeinsamen Darstellung kohärent integrieren. Wissenschaftlerarbeiten hier im (typischerweise eher kleineren) Team mit geringer Arbeitsteiligkeit. Manerkennt zwar wechselseitig seine disziplinären Expertisen an, erhebt jedoch den Anspruch,selbst soviel Kompetenz bezüglich der Anwendung dieser Fachexpertise auf das gemeinsameThema aufzubauen, um in Auseinandersetzungen miteinander (und auf das gemeinsameThema bezogen) ein ebenbürtiger Partner zu sein.

Echte Transdisziplinarität ist in der Wissenschaft vergleichsweise selten. Sie wirdetwa dort gepflegt, wo ein Sozialwissenschaftler sich so intensiv in die Statistik einarbeitet,

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dass er Experte für die Anwendung quantitativer Verfahren in der experimentellen Sozialfor-schung wird.

These: Die Informatik ist in der BRD ein multidisziplinärer Studiengang. In ihm wer-den Fächer verschiedener und zum Teil ungeklärter disziplinärer Herkunft parallel gelehrt,die in kohärenter Weise nicht unmittelbar aufeinander bezogen werden können. Informatikals Studiengang gibt sich undiszipliniert.

Insbesondere die für jede praktische Wissenschaft sachsystematisch hoch relevantensozialwissenschaftlichen Studienanteile finden sich in den einschlägigen Studienordnungennicht ausreichend wieder. Welche Relevanz diesen Aspekten zukommt, zeigte in der 90erJahren die Aufmerksamkeit, die Dijkstras Brandmauer-Debatte auch in der deutschen Infor-matik auf sich ziehen konnte.

Wie kann die Wissenschaftlichkeit der Informatik erhöht werden? Hier sind ver-schiedene, sich ergänzende Ansätze denkbar:

• Disziplinierung: Identifikation von Disziplinen, aus denen der Studiengang Informa-tik besteht; es ist dabei durchaus zu erwarten, dass sich „typische informatische“ Dis-ziplinen herauskristallisieren, die in der disziplinären Landschaft der Wissenschaftzwanglos eine wichtige Position einnehmen können.

• Professionalisierung: explizite Bearbeitung des Verhältnisses der verschiedenen in-formatischen Disziplinen und der Praxis.

• Erhöhte Herstellung von Transdisziplinarität.

Diszipliniertheit

These: Am Studiengang Informatik sind mindestens drei Disziplinen, d.h. drei kohärente Sys-teme aus Gegenstandsaspekten, Erkenntnis- oder Handlungsinteressen, Problemtypen, Me-thoden, Lehrmeinungen (Dogmen) und unhinterfragten Glaubensvorstellungen undWahrheitsbegriffen beteiligt.

These: Ein Gliederungskriterium, das geeignet ist, im Studiengang Informatik diesedrei Teilgebiete grob zu unterscheiden, die als (in sich dann definitionsgemäß kohärente)Disziplinen erkennbar sind, ist Lehmanns Problemtypen-Klassifikation:

• bei einem S-Problemen stammen die Beschreibung eines Problems ebenso wie seineLösung aus dem Bereich einer Strukturwissenschaft. Rein formale Probleme werdenrein formal, ohne jeden lebensweltlichen Bezug gelöst;

• bei einem P-Problem lässt sich das Problem zwar formal beschreiben, eine Lösung istjedoch für einen praktischen Einsatzkontext intendiert und meist nur in Näherungmöglich. Der lebensweltliche Einsatzkontext der Problemlösung gibt die Randbedin-gungen vor, unter denen die Zweckmäßigkeit der Näherung zu beurteilen ist;

• ein E-Problem ist ein P-Problem, das so in eine Praxis eingebettet ist, dass seine Lö-sung selbstbezüglich die Bedingungen seiner eigenen Beschreibung verändert.

Eine erste, konsensual als „informatisch“ bezeichnete Disziplin zeichnet sich dadurch aus,dass sie sich auf S-Probleme konzentriert. Sie versteht es als ihre Aufgabe, hier Wissen zuentwickeln, das dann an P- oder E-Wissenschaften weitergegeben werden kann.

Eine zweite, auch in der Außenwahrnehmung von Informatik konsensual als „infor-matisch“ bezeichnete Disziplin zeichnet sich dadurch aus, dass sie P-Probleme bearbeitet,und zwar durch Modellierung im typischen informatischen Dreischritt Modell – Algorithmus –Maschine. Ein wichtiger Teil der P-Informatik ist das Software-Engineering.

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Die dritte am Studiengang Informatik beteiligte Disziplin konzentriert sich auf E-Probleme der Informatik. Ein wichtiger Teil der E-Informatik ist das Requirements Engi-neering sowie die sozio-technische Implementierung von Informatik-Artefakten. Innerhalbder Informatik besteht heftiger Dissens, ob die Bearbeitung von E-Problemen zur Informatikgehören soll. Dies ist eine normative Frage, die sich nicht rein (wissenschafts-)theoretisch,sondern nur in praktischen Diskursen befriedigend beantworten lässt. Ein gewichtiges Argu-ment wurde oben schon als These formuliert: Gemäß ihrem Selbstverständnis will Informatikpraktisch sein. „Anwendung“ ist in der Informatik fast immer mitgedacht, der Anspruch in-formatischen Handelns zielt fast immer auf den faktischen (und idealerweise auch angemes-senen) Einsatz informatischer Artefakte in der Praxis ab. Reiner theoretischer Schöngeist istder Informatik eher fern; selbst der Mathematik nahestehende Teile der Theoretischen In-formatik stellen sich auch innerdisziplinär regelmäßig dem Anspruch, die Relevanz ihrer „rei-nen Konstruktionen des Geistes“ in Bezug auf ihre Praxisrelevanz zu begründen. WennInformatik allerdings praktisch sein will, dann hat sie in diesen sozialwissenschaftlichen As-pekten derzeit noch mit massiven Problemen zu kämpfen:

„Die Erwartungen an das soziale System … werden jedoch nicht explizit gemacht undsomit auch nicht einem Diskurs zugänglich. Dieses Defizit ist … Ausdruck systematischerDefizite sowohl in der theoretischen Grundlegung der Informatik als auch bzgl. des Metho-denkanons, den sie entwickelt hat und zur Anwendung bringt.“ (Herrmann 2001:45)

Interdisziplinarität

Sich zu streiten, welche der am Studiengang Informatik beteiligten Disziplinen nun so etwaswie den „Kern“ der Informatik darstellt, lässt ein wesentliches Charakteristikum der Infor-matik aus dem Blick verlieren.

These: Charakteristisch für Informatik – sowohl als Studienplan wie auch als Praxis –ist der enge Zusammenhang zwischen S-, P- und E-Informatik. Die S-Informatik produziertformale Konstrukte, die von der P-Informatik in Technik instantiiert und von der E-Infor-matik in ihrer nicht-formalen Bedeutung in Praxis eingebettet werden.

Falls diese Charakterisierung zustimmungsfähig wäre, könnten daraus einige Verbes-serungsvorschläge für den Studiengang Informatik gefolgert werden:

• Die E-Informatik ist als eigenständige Disziplin stark auszubauen.• Da sich Querbezüge zwischen so verschiedenen Disziplinen wie S-, P- und E-Infor-

matik nicht ganz selbstverständlich ergeben, erfordert die interdisziplinäre Orientie-rung auch auf wissenschaftlicher Ebene selbst eine explizite Thematisierung undTheoretisierung, z.B. durch ein Pflichtfach „Interdisziplinarität“.

• Interdisziplinarität alleine ist nicht das geeignete Instrument, den Hiatus zwischenTheorie und Praxis zu überbrücken. Die theoretischen wie praktischen Herausforde-rungen in diesem Bereich sind groß genug, um das Pflichtfach „informatische Professio-nalisierung“ anzulegen – das sachsystematisch in der E-Informatik gut aufgehobenwäre.

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Literatur1

Bromme, R. 2000: Beyond one's own perspective: The psychology of cognitive interdisciplinarity.http://wwwpsy.uni-muenster.de/inst3/AEbromme/web/veroef/2000/Bromme3.htm

Combe, A., W. Helsper (ed.) 1996: Pädagogische Professionalität: Untersuchungen zum Typus pädago-gischen Handelns

Heckhausen 1987: Interdisziplinäre Forschung zwischen Intra-, Multi- und Chimären-DisziplinaritätHugger, Kai-Uwe 2001: Medienpädagogik als Profession: Perspektiven für ein neues Selbstverständnis.

KoPäd VerlagKäbisch, Markus (ed.) 2001: Interdisziplinarität: Chancen, Grenzen, Konzepte. Leipziger Universitäts-

verlagKäbisch, Markus 2001: Sprachlogische Einheitskonzeptionen der Wissenschaft und Sprachvielfalt der

Disziplin: Überlegungen zu theoretischen und praktischen Ansätzen von InterdisziplinaritätKocka, Jürgen (ed.) 1987: Interdisziplinarität: Praxis, Herausforderungen, Ideologie. Frankfurt a.M.:

SuhrkampKrüger, Lorenz 1987: Einheit der Welt -- Vielheit der WissenschaftMittelstraß, Jürgen 1989: Über Disziplinartät, Transdisziplinarität und das Wissen in einer Leibniz-

Welt. Frankfurt a.M.: SuhrkampMittelstraß, Jürgen 1998: Die Häuser des Wissens: Wissenschafstheoretische Studien. Frankfurt a.M.:

SuhrkampOevermann, Ulrich 1996: Theoretische Skizze einer Theorie professionellen HandelnsWeingart, P., Nico Stehr (ed.) 2000: Practising Interdisciplinarity. Toronto: Toronto University Press

1 Es stimmt, liebe Lesende, nicht alle Angaben hier sind in Übereinstimmung mit den sonst gepflegten

Formaten. Sorry. – Anm. des Redakteur

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Informatik zwischen Werkzeug und Mediumoder: Brauchen wir nun auch eine Werkzeug-Informatik?

Daniel Cermak-Sassenrath, Universität Bremen

Die Informatik gewinnt Identität durch das, was wir als Informatiker machen, womit wir unsbeschäftigen. Insofern möchte ich hier eher nach dem „Tun“ als nach dem „Sein“ der Infor-matik fragen (vgl. den Aufruf zu dieser Arbeitsgruppe, in diesem Band). Was tun wir also?

Bevor es die Informatik gab, gab es den Computer1. Dann kam die Informatik. Ausdem Computer. Die Informatik beschäftigt sich also offenbar mit dem Computer. Nun müs-sen wir nur noch wissen, was der Computer ist. Eine populäre Antwort darauf scheint „einMedium“ zu sein, eine weniger populäre „ein Werkzeug“. Dies ist bekannt und soll hier nichtnoch einmal ausgebreitet und behauptet, sondern aus einer bestimmten (und, wie ich mir ein-bilde, neuen) Perspektive beleuchtet und argumentativ hinterfragt werden. Die inzwischenklassische Frage nach dem Computer als Werkzeug und Medium ist zum Teil die (und Teilder) Frage nach dem Gegenstand und der Aufgabe der Informatik (Coy et al. 1992, Nake et al.2001). Physiker und Germanisten scheinen zu wissen, worum es in ihren Disziplinen geht undwas sie machen, was ihre grundlegenden Theorien und Sichtweisen sind. In der Informatik istdas über dreißig Jahre nach ihrer akademischen Ausrufung noch nicht so. Ein erster Ansatzmag daher sein, sich über den Gegenstand klar zu werden. Dazu werde ich versuchen, einenVorschlag zu formulieren.

Weithin unwidersprochen wird seit einiger Zeit die Beobachtung proklamiert, dassder Computer sich vom Werkzeug zum Medium wandele (Andersen et al. 1993, Bolz et al.1994, Schelhowe 1997, Friedewald 1999, auch Hallnäs & Redström 2002). Genauer gesagtsehen wir ihn in zunehmendem Maße als Medium und gehen mit ihm als Medium um, derComputer verändert sich dabei nicht. Nun, er verändert sich doch – er bekommt Lautspre-cher und Lenkräder, die Anwendungen werden bunter und lauter als zuvor – seine Immersivi-tät steigt. Ist das der Grund, aus dem wir den Computer nun als Medium und nicht mehr alsWerkzeug sehen? Und entscheidet das nun über die Identität der Informatik? Es entscheidetvielleicht nicht über sie, „ob der Computer als Werkzeug und/oder Medium genutzt wird“(worauf auf Plakaten am Rande der Tagung hingewiesen wurde), aber der Inhalt der Disziplinbleibt natürlich nicht „unberührt davon“ (ebd.), was wir als Informatiker machen, sondernliegt genau in der Beschäftigung mit Werkzeugen und Medien, was nicht diskutiert zu wer-den scheint. Entweder ist das selbstverständlich und wird in der Diskussion jederzeit implizitangenommen oder nicht.

Ich vermute, dass man um eine Definition von Werkzeugen und Medien auf der Su-che nach der Identität der Informatik nicht herumkommt. Dabei nehme ich weiterhin an,dass es einen Unterschied zwischen Werkzeug und Medium gibt, der über das Sprachliche

1 Die Computer-Hardware ist eine Maschine. Die Computer-Software enthält die Anweisungen, den

Plan, wie die Maschine abzulaufen hat. Sie ist damit Teil dieser Maschine, ihr Programm. Hard-und Software gehören zusammen; die Hardware funktioniert ohne die Software nicht und um-gekehrt. Betrachten wir hier also beide zusammen.

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hinausgeht, und möchte versuchen, ihn hier, wenn schon nicht zu benennen, doch im Ansatzzu charakterisieren. Um zu einer ersten Annäherung zu gelangen, betrachte ich einige Bei-spiele.

Woran macht man fest, dass etwas ein Werkzeug oder ein Medium ist, und was sindihre Kennzeichen?

Exemplarisch möchte ich als Werkzeuge den Hammer, den Haushaltsmixer und dasAuto anführen und der Frage nachgehen, welche Merkmale sie miteinander verbinden. DerHammer ist so konstruiert, dass er mit dem Stiel in meine Hand hinein passt, während derKopf geeignet ist, einen Nagel einzuschlagen. Der elektrische Haushaltsmixer nimmt mir dieArbeits des Rührens ab, wenn Strom, eine passende Rührschüssel u.a. vorhanden sind. DasAuto befördert mich von einem Ort zu einem anderen, wenn u.a. ausreichend Benzin getanktist und eine Straße dorthin führt. In bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraus-setzungen sind mir der Hammer, der Mixer und das Auto zu bestimmten Zwecken und Er-gebnissen nützlich. Diese Instrumentalität, die über das manipulative Einwirken auf Objektehinausgeht, erwächst aus einer teils sorgsamen, teils beiläufigen oder sogar zufälligen Anpas-sung an einen bestimmten Kontext, die ich hier als Integration bezeichnen möchte.

Als typische Medien möchte ich das Buch, die Fensterscheibe, die Theatervorstel-lung und den Film aufgreifen. In Büchern erlebe ich eine andere als diese Welt und vergesseoft für Stunden, wo und wer ich bin und was ich tue, nämlich lesen. Durch eine Fenster-scheibe, die vielleicht schon alt, fleckig und in einer Ecke etwas gesprungen ist, glaube ichtrotzdem, genau zu sehen, was draußen vorgeht. Obwohl die Schauspieler im Theater in of-fensichtlicher Weise lügen und nur so tun als ob, nehmen mich die Handlungen auf der Büh-ne gefangen und fordern meine Reaktion heraus. Filme nehmen mich mit auf eine körperloseReise durch unwahrscheinliche Perspektiven und fremde Menschen. Ein definierender As-pekt im Umgang mit diesen Medien scheint der Moment zu sein, in dem ein transparentesMedium den Blick frei gibt auf einen Inhalt, an dem ich trotz aller Defizite überzeugt teil-nehme. Für dieses vermittelte Eintauchen verwende ich den Begriff der Immersivität.

Einige Dinge, bei denen mir eine Einteilung schwer fällt, sind Telefone, Schrauben-schlüssel, Putzlappen und menschliche Körper. Warum ausgerechnet bei diesen Dingen, undwarum kommt mir das so vor? Einerseits verändern wir mit diesen Dingen, die an einen be-stimmten Zweck und an eine konkrete Situation angepasst sind, die Welt, andererseits neh-men wir durch sie auch die Welt wahr. Ein Telefon ist sowohl ein Mittel, um Stimmen überEntfernung hörbar zu machen, als auch ein Mittler der damit ermöglichten Unterhaltung. EinSchraubenschlüssel dreht eine Schraubenmutter, vermittelt mir aber auch gleichzeitig, wiefest sie ist. Ein Putzlappen säubert eine Oberfläche, verschafft mir aber auch eine spezielleSensation der Erhebungen und Vertiefungen ihrer Struktur. Und dann sind da unsere Körper,mit denen und durch die wir in den Verlauf des Geschehens dieser Welt eingreifen und indenen und durch die wir diese Welt erleben. In diesen Dingen treffen offenbar Kennzeichenerheblicher Integration und Immersivität auf einander, ohne einander zu widersprechen; imGegenteil, die Natur dieser Dinge scheint gerade in ihrer Dualität angelegt zu sein.

Diese kurze Betrachtung weist auf einen überraschend schlichten, aber doch nahelie-genden Umstand hin: Die Unterscheidung von Dingen in Werkzeuge und Medien gleichteiner graduellen Abschätzung – alle Dinge sind immer schon instrumentale Medien (Schelho-we 1997) und mediale Werkzeuge – Hämmer, Autos, Bücher, Scheiben, Putzlappen und Kör-per.

Gilt nun das, was für andere Dinge gilt, auch für den Computer? Meine Vermutungist, dass Immersivität die Medialität und Integration die Instrumentalität des Computerskennzeichnen, ermöglichen und begrenzen. Immersivität sehe ich dabei als die technischeEinbeziehung der menschlichen Sinne (etwa durch ein Force Feedback Interface oder ein HeadMounted Display), Integration als die Anpassung einer Hard- und Software an eine Umgebung,einen Zusammenhang, einen Zweck (etwa bei einem Fahrkartenautomaten oder einem Soft-

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ware-Tool). Auch dabei gilt: Beides schließt sich gegenseitig nicht aus und widerspricht sichnicht, sondern ergänzt sich und geht graduell ineinander über (vgl. auch den Aufruf zur An-wendungs-Arbeitsgruppe, in diesem Band, in dem neben anderem sowohl der Werkzeug-Charakter als auch die Medialität von DV-Systemen gefordert wird). Die Entscheidung, et-was als Werkzeug oder Medium einzusetzen, fällt spontan und unbewusst in einer konkretenSituation. Die bewusste Reflektion über die Handlung findet hinterher (vgl. (Suchman 1987))unter anderen Umständen statt, und das gilt für den Computer genauso wie für andere Dinge.

Computer sind also Werkzeuge und Medien, mit ihnen gehen wir um, wenn es unsum Informatik geht. Dieser Argumentation folgend, liegt der Kern der Informatik in der an-gestrebten völligen Transparenz und Immersivität der Inhaltsübermittlung des Mediums1

sowie im kontext-angepassten instrumentalen Charakter des Werkzeugs Computer.Die hier beobachteten Eigenschaften werden nicht nur dem Computer oder der Soft-

ware zugeschrieben. In einem etwas anderen Zusammenhang werden ähnliche Argumente inBezug auf den Doppelcharakter des Zeichens als Anweisung für die Maschine und Bedeutungfür den Menschen angeführt. Die entsprechende Frage, ob und in welcher Form Parallelitätenzwischen den Begriffen des Zeichens und des Werkzeugs sowie des Mediums bestehen, sollhier nur angedeutet werden (vgl. dazu Nake 2001).

Abschließend halte ich als erste, vorläufige und einzige, möglicherweise aber auchschon hinreichende Beobachtung fest, dass es in Gestalt des Computers offenbar etwas gibt,in dem sich Werkzeug und Medium, Instrumentelles und Mediales, Angepasstes und Trans-parentes und damit Integration und Immersivität treffen, manifestieren und sogar und insbe-sondere vereinigen. Weiterhin, und damit komme ich zum Anfang dieses Textes zurück, gibtes die wissenschaftliche Disziplin, die sich genau damit beschäftigt2: die Informatik.

Literatur

Andersen, Peter Bøgh, Berit Holmqvist, Jens F. Jensen (Hrsg.) 1993: The Computer as Medium. Cam-bridge: Cambridge University Press

Bolz, Norbert, Friedrich Kittler, Christoph Tholen (Hrsg.) 1994: Computer als Medium. München: Wil-helm Fink

Coy, Wolfgang, Frieder Nake, Jörg-Martin Pflüger, Arno Rolf, Jürgen Seetzen, Dirk Siefkes, ReinhardStransfeld (Hrsg.) 1992: Sichtweisen der Informatik. Braunschweig: Vieweg

Friedewald, Michael 1999: Der Computer als Werkzeug und Medium: Die geistigen und technischen Wurzeln desPersonal Computers. Berlin: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik

Hallnäs, Lars, Johan Redström 2002: From Use to presence: On the expressions and aesthetics of every-day computational things. ACM Trans. Computer-Human Interaction 9, No. 2, 106-124.

Nake, Frieder 2001: Das algorithmische Zeichen. In: W. Bauknecht, W. Brauer, Th. Mück (Hrsg.)2001: Informatik 2001, Tagungsband der GI/OCG Jahrestagung. Bd. II, 736-42

Nake, Frieder, Arno Rolf, Dirk Siefkes (Hrsg.) 2001: Informatik: Aufregung zu einer Disziplin. Ar-beitstagung mit ungewissem Ausgang in Heppenheim vom 6. bis 8. April 2001. UniversitätHamburg: FB Informatik, FBI-HH-B 235/01

Schelhowe, Heidelinde 1997: Das Medium aus der Maschine. Frankfurt: CampusSuchman, Lucy A. 1987: Plans and situated actions: The problem of human-machine communication. Cambridge:

Cambridge University Press

1 Dazu müssten wir bei Luhmann und wohl gegensätzlich bei McLuhan nachlesen.2 Oft mit den Anwendungen, selten mit dem Phänomen selbst.

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Informatik im interdisziplinären KontextGedanken zum Selbstverständnis

Bleicke Eggers, TU Berlin

Vorbemerkung

Während der Arbeitstagung wurden verschiedene Themen in Gruppen diskutiert. Eine Gup-pe befasste sich mit der Frage nach der Identität der Informatik im interdisziplinären Kon-text. Dabei wurden zwei Kategorien erörtert:

1. Extension: interdisziplinär verwendete identische Bezeichnungen für Bestandteileund Gegebenheiten der Welt, die unter Begriffe zu bringen sind;

2. Intension: Wahrnehmungen, Handlungen und Reflexionen der InformatikerInnen,die als Möglichkeiten von Dispositionen und als Bedingungen für Orientierungen derenSelbstverständnis prägen.

Die Extensionalität betrifft die Konstitution (Verfasstheit) der durch die Informatikgeprägten Welt und deren zugehörige Erkenntnis. Sie ist ontologisch, d.h. seinsnotwendiginter-disziplinär bestimmt, was in den unterschiedlichsten Disziplinen und Lebensbereichendurch die übergreifenden Termini erkennbar ist, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen:Information, Kommunikation, System, Modul, Modell, Programm, Struktur, etc..

Die Intensionalität betrifft das Selbstverständnis als Identität von Sein und Wissender Betroffenen in der Berufs- und Lebenswelt. Ein solches Selbstverständnis bedarf zur Ori-entierung und organisierten Handlungsfähigkeit der oben genannten Begrifflichkeit als derentechnischer und die Technik übergreifender kommunikativer Grundlage. Sie kann als eineBedingung abstrakter Zuhandenheit – vgl. dazu (Heidegger 1927) – aufgefasst werden undkann daher nicht durch ausschließliche Beurteilung von berufenerer Seite – etwa durch re-nommierte Philosophen – ersetzt werden, wiewohl eine solche aus historischen, epistemolo-gischen und ethischen Gründen zu Urteilsbildungen und für Bewertungen unerlässlich ist.Aus allem ergeben sich letztlich Bedingungen und Dispositionen, die als Voraussetzungen fürdie beruflichen Tätigkeitsfelder fungieren, die in irreversiblen Veränderungen einmünden, dieman als Rekonstitution (Neuverfasstheit) der Welt, in der wir leben, auffassen kann.

Der Zyklus der Rekonstitution

Die Informatik ist eine wirkungsuniverselle Disziplin. Das liegt letztlich an der ihr zu Grundeliegenden algorithmischen Universalität. Die Informatik hat sich aber im Laufe einer verhält-nismäßig kurzen Zeitspanne zu einer pragmatisch universellen Technik entwickelt mit An-wendungen, die alle gesellschaftlichen und privaten Bereiche durchdringen. OhneÜbertreibung kann man ihre Entwicklung als in jeder Hinsicht dramatisch charakterisieren:von der technischen Dimension des Mooreschen Gesetzes, nach der sich alle 18 Monate dieSpeicherdichte verdoppelt bis hin zur pragmatischen Wirklichkeit, in der etwa in der Verwal-tung Beschäftigte während ihres Berufslebens mehrere technische und damit auch pragmati-

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sche Paradigmenwechsel erlebt haben1. Die aufsteigende Autonomie technischer Artefaktevom ursprünglichen Werkzeug als zuhandenem Gegenstand über die Maschine als implemen-tierte Theorie mit deren Generalisierung des Automaten als programmierter Maschine sowieletztlich bis zum Computer als programmierbarem Automaten hat zu einer von keinem ein-zelnen Menschen mehr fassbaren Vielfalt von implementierten Theorien geführt, die in Formvon Benutzungsoberflächen mehr oder weniger wahrnehmbar und mit mehr oder wenigerBenutzer-freundlichen Gebrauchsanweisungen ihren Zwang struktureller Gewalt ausüben.Implementierte Theorie bedeutet, dass software oder hardware als für einen jeweiligen Gebrauchvergegenständlichtes Konstrukt, also als Werkzeug verstanden wird (implementiert) und eineroperationalen Logik gehorcht (Theorie); vgl. dazu (Eggers 1996). Damit ist die Schnittstellevon der Syntax (Form) zur Pragmatik (Verwendung) im Prinzip vorgegeben: Korrektheit(formale Semantik) vorausgesetzt, garantiert die der Spezifikation entsprechende Handha-bung die jeweilige erfolgreiche Anwendung; bei Verstoß gegen die Gabrauchsvorgaben wirdvon Prinzip wegen nichts garantiert: Man kann in eigener Verantwortung in einer Waschma-schine Kaffe kochen oder nach einem Paso Doble Tango tanzen.

Verwendungen treiben Weiterentwicklungen der Technik voran. Dadurch schließtsich der Kreis von der jeweiligen Verfasstheit der Welt in einer Zeit zu ihrer durch Weiter-entwicklung und erneuter Nutzung von Technik bedingten Emergenz in der realen Welt, diedamit neu verfasst wird: Informatik als universelle Technik kann also als die Wissenschaftvon der Rekonstitution der Welt aufgefasst werden.

Die einzelnen Phasen des Kreislaufs der Rekonstitution können je nach Granulationder Zustände mit ihren zugehörigen Relationen unterschiedlich detailliert dargestellt werden.Ein Zyklus durchläuft eine Folge von operationalen Instanzen, die grob wie folgt beschriebenwerden können: Konstitution der Welt, Modellbildung, Spezifikation, Repräsentation, Imp-lementierung, Anwendung, Rationalisierung, Normung, Rekonstitution der Welt. Die In-stanzen können durch vielfältige Beziehungen miteinander verknüpft sein, insbesonderedurch solche subzyklischer Art. Z.B. werden Artefakte als Ergebnis von Implementierungengegen Systeme als Ergebnis einer Repräsentation solange getestet, bis – nach welchen Krite-rien auch immer – die Abnahme erfolgen kann; Modelle werden gegen die Welt auf ihre An-gemessenheit geprüft etc..

Offene und geschlossene Systeme

Der Zyklus der Rekonstitution ist das Ergebnis eines Versuchs eines Ansatzes systemanalyti-scher Betrachtungsweise mit dem Zweck, eine von Hypothesen geleitete, wenn auch vorläufi-ge Definition der Fachdisziplin Informatik zu präsentieren, d.h. wesentliche Eigenschaftendes in Rede stehenden Fachs unter tragfähige Begriffe zu bringen. Die Tragfähigkeit mußsich darauf gründen, dass die die Informatik als definiendum kennzeichnenden Eigenschaftenim definiens als relationale Konstituenten zum Verständnis der Begrifflichkeit wesentlichbeitragen2, was in diesem Rahmen natürlich nur skizziert werden kann. Dennoch soll einederartige nichtformale Systemskizze zur kommunikativen Förderung des Selbstverständnis-ses, und damit zur Komprehension beitragen. Skizzieren heißt, dass die definierenden Be-standteile wohlverstanden sein müssen, so z.B., dass der Begriff eines Modells wohlverstandensein muss. Das ist natürlich nicht der Fall. Gleichwohl existieren pragmatische Verwendungs-zusammenhänge, die gemeinschaftliche Verständigungen über die Ebenen des Gebrauchs inihren historischen Entwicklungen begründen (Mahr 2003). 1 Weitere bedeutsame Beispiele gibt es viele, z.B. die Automatisierung der Produktion im Autmobilbau

oder in der Druck- und Satztechnik in den Medien.2 Vgl. dazu Definitionen wie Ein Kilowatt sind zwei Pfund Schlick oder Ein Jungeselle ist ein Mann, dessen

Frau Witwe ist (definitio obscuris per obscurius).

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Zum Systembegriff allgemein ist fächerübergreifend vieles erörtert und sehr viel pub-liziert worden (Weizsäcker 1986, Maurin et al. 1981, Kornwachs 1984). Insbesondere gilt diesfür die Eigenschaften von Systemen, offen oder geschlossen zu sein. Nach Kornwachs ist etwaein System offen, „wenn es Verknüpfungen gibt, die Elemente innerhalb und andere Elementeaußerhalb der Systemgrenze in Relation setzen“ (Kornwachs 1984:115). Danach ist der Com-puter technisch ein geschlossenes, pragmatisch hingegen ein offenes System. Letzteres wirddurch den Terminus Normung gekennzeichnet. Sie charakterisiert die oben genannte Emer-genz und soll durch zwei Beispiele pars pro toto erläutert werden.

Der geschlossene Kreis der Rekonstitution, als System betrachtet, ist natürlich offen,enthält aber schon die Technik als offenes Subsystem: Zwar ist die Technik als Gesamtheitaller implementierten Theorien für sich auf der Ebene ihrer formalen Funktionalität ein ge-schlossenes System der Mathematik (Eggers 1996:216); andrerseits ist aber die Technik überihre Pragmatik durch ihre Verwendungen über deren Wirkungszusammenhänge ständigenWandlungen ausgesetzt. Derartige Veränderungen können im Verwendungszusammenhang,etwa durch Erweiterung von Anwenderprofilen, erwirkt werden (Pragmatik). Sie können sichaber auch schon im Bereich der Konstruktivität selbst ergeben (Praxis). Exemplarisch für diePragmatik sei das Internet angeführt, das bekanntlich ursprünglich als operatives, verteiltes,lokales Informationssystem einer Forschergemeinschaft entworfen und implementiert wor-den war und sich danach weltweit ausbreitete, mit Konsequenzen in sämtlichen ortsübergrei-fenden Dimensionen, insbesondere in der Weltwirtschaft: Vom in der östlichen Ferneausgelösten Bankzusammenbruch in Großbritannien, ausgelöst durch eine einzige Person, bishin zu allen Erscheinungen der Globalisierung, die durch Schlagworte wie Information als Roh-stoff der Wertschöpfung oder Das Ende der Volkswirtschaften gekennzeichnet sind.

Als Beispiel für eine durch Technik hervorgebrachte Veränderung ihrer Praxis sei dergenerative Compilerbau angeführt. In ihm hat sich eine überraschende neue Verwendung einund desselben Kalküls durch „Missbrauch“ der Semantik der Parameter von Zweistufen-Grammatiken als Platzhalter von Übersetzungen ergeben, durch deren Weiterentwicklungnunmehr ein extensional vollständiger geschlossener Kalkül automatisch erzeugbarer Com-piler entstanden ist, womit die Offenheit – zugegebenermaßen etwas salopp ausgedrückt –selbst auf Syntax reduziert ist (Demuth et al. 1997) Damit ist gezeigt, dass zwar das Mensch-Maschine-System der Programmierung offen ist, seine Produkte aber selbst in generativerExtensionalität wie der Computer selbst in technischer Sicht geschlossen bleiben können.

Die Offenheit von Mensch-Maschine-Systemen kann in der Gegenüberstellung Formvs. Verwendung zur Unterscheidung der extensionalen und intensionalen Sichtweise der Funk-tion und der Wirkung des Computers herangezogen werden: Man weiß zwar, dass der Com-puter alles kann, aber, was er alles kann, das weiß man nicht!

Interdisziplinarität und Kontexte

Interdisziplinäre Tätigkeiten sind wesentlich durch unterschiedliche Kontexte der an derjeweiligen Kommunikation beteiligten Agenten gegeben. Daher kann man Kommunikationextensional als die Teilung von Welten durch die Agenten begreifen. Dies wird insbesonderedurch den interdisziplinären Charakter der oben unter Extensionalität aufgeführten Bezeich-nungen für Begriffe nahegelegt. Wir hatten schon die Problematik einer Explikation vonBegriffen wie Modell oder System erwähnt. Explikation bedeutet, sinnlich Erfassbares untereinen Begriff zu bringen, d.h. die Extension von Gegenständen, Funktionen oder Beziehun-gen prägnant zu beschreiben, damit ein für allemal nachvollziehbar im festgelegten Rahmen,eben der Extension, ihr Gebrauch operativ, argumentativ und kommunikativ dokumentiertwerden kann. Technisch und pragmatisch bedeutet das, dass man die Bezeichnungen imRahmen ihrer festgelegten Extension als Begriffe verwenden kann.

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Die Informatik steht – wie jede ingenieurwissenschaftliche Disziplin – zwischen ih-ren durch Formalisierungen gegebenen implementierbaren Theorien als der Sicht ihrer Tech-nik und der Gesamtheit ihrer Anwendungen als der Sicht ihrer Pragmatik. Obwohl die Sichtder Technik sich ihrem Schein nach leichter durch Begriffsexplikationen erschließen lässt1,gibt es doch auch technologisch viele durch ständigen Gebrauch gegebene Begriffe, die weitvon einer durch Formalisierung gesicherten eindeutigen Verwendbarkeit entfernt sind. Bei-spiele sind etwa die teils oben genannten Termini Modul, Objekt und Information. Die Prob-lematik einer interdisziplinär universell akzeptierten Festlegung des Begriffs Informationbeschäftigt die Wissenschaft nun schon seit weit über einem halben Jahrhundert, ohne dassein Ende in Sicht wäre. Angesichts der Namensgebung der Fachdisziplin Informatik liegt derGedanke gar nicht so fern, dass in ihrem Namen ihre eigene Unverstandenheit zum Ausdruckkommt.

Aus Gründen der Konkretisierung beschließen wir diesen Abschnitt mit einer skiz-zenhaften Beschreibung einer in der Informatik typischen Szenerie der Programmierung, diedas kennzeichnet, was die so oft beschworene interdisziplinäre kommunikative Kompetenzausmacht.

Programme werden von Menschen für andere Menschen oder Institutionen erstellt.Daher ist jede Theorie der Programmierung eine Disziplin, die neben ihrem inhärenten tech-nischen Kern eine Dimension berührt, die, falls sie außerhalb ihrer eigenen Praxis liegt, imjeweiligen Anwendungsgebiet, also im Komplement der Technik angesiedelt ist. Das hat u.a.zur Folge, dass jede Kompetenz im Bereich der Programmierung die Technik überschreiten-de Fähigkeit einschließt, Programme so zu dokumentieren, dass sie aus verschiedenen Sichtenverstanden und bewertet werden können. Das bedeutet beispielsweise, dass eine in einem et-waigen Anwendungsgebiet vorgegebene Aufgabenstellung – genannt Spezifikation – in derSprache eben dieses Anwendungsgebiets formuliert und an die Vertreter der Technik zurProgrammierung übergeben wird, was eine Verständigung sowohl hinsichtlich der Transforma-tion in technische Termini als auch bezüglich der Angemessenheit der Spezifikation relativ zur ange-strebten Problemlösung darstellt. Nach Erstellung des Programms tritt das Verständigungs-problem in umgekehrter Sicht erneut hervor: Die Dokumentation muss vom Nutzer korrektverstanden werden können, damit sie als Gebrauchsanweisung fungieren kann. In beiden Rich-tungen muss also der Verständigung eine Abstraktion zugrunde gelegt werden: in Richtungvon der Anwendung zur Technik – vom Zweck des Produkts zur technischen Funktionalität; inRichtung vom fertigen Programm zur Anwendung – von der Implementierung zur Parametrisie-rung (observable behaviour). Die die kommunikative Kompetenz bestimmenden Eigenschaftenbeinhalten aus der Sicht der Informatik also zwei Fähigkeiten: Erstens muss ein Grundver-ständnis des in Rede stehenden Anwendungsgebiets bereits vorhanden sein oder – durchbereits gemachte Erfahrung bedingt und gefördert – akquiriert werden können, das zum Ver-ständnis der Funktion des zu erstellenden Programms aus der Sicht der anwendungsorientier-ten Zweckbestimmung notwendig ist; zweitens muss die Kompetenz zur Reduktion besagterZweckbestimmung auf die technische Funktionalität gegeben sein, deren anwendungsorien-tierte Dokumentation nach Lösung des Problems dann die umgekehrte Verständigung mit-tels Abstraktion ermöglicht. Neben der technischen Kompetenz, der zugehörigen Erfahrungund den Kenntnissen aus dem in Rede stehenden Anwendungsgebiet gehört zu den anzustre-benden Qualifikationen daher als kommunikative und soziale Kompetenz auch die Fähigkeitzu angemessener Reduktion des jeweiligen Problems und seiner Lösung auf die Technik alsdie Sicht nach innen sowie zur Abstraktion von der Technik bis auf die Schicht des Anwen-dungsgebiets als die Sicht nach außen.

1 So ist z.B. der Begriff des Algorithmus’ mit einer Zustimmung zur These von Church geklärt. Ähnlich

kann man bezüglich des Begriffs eines Programms oder einer Spezifikation argumentieren.

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Die hier exemplifizierte Fähigkeit von InformatikerInnen zur die Fachdimension ü-bergreifender Verständigung kann als eine Art der Kompetenz zur didaktischen Reduktion –hier: der Technik auf ein Anwendungsgebiet – verstanden werden.

Bemerkungen zur Komplexität und Kognition

Im abendlichen Plenum der Tagung wurde engagiert über den Komplexitätsbegriff diskutiert.Zwar ist die Komplexitätstheorie eine wohlverstandene Teildiszipiln der Informatik. Diesewurde jedoch teils eher als eine Theorie der Kompliziertheit von Algorithmen charakterisiert.Ohne dass hier näher darauf eingegangen werden kann, fragen wir: Was ist also komplex?

Es versteht sich von der Natur der Fragestellung her, dass an dieser Stelle kein Raumfür eine umfassende Erörterung gegeben ist. Aus Gründen der Interdisziplinarität sei aber aufeine Arbeit aus der Sicht eines ehemaligen Ministerpräsidenten eines Bundeslandes verwie-sen, die als Beispiel einer didaktischen Reduktion der Politik auf die Informatik angesehenwerden kann (Biedenkopf 1994).

Allgemein kann man feststellen, dass Komplexität etwas damit zu tun hat, dassStrukturen von realen Objekten und Artefakten nicht ganzheitlich erfasst werden könnenoder gar nicht erkennbar sind, so dass deren Wahrnehmung oder Handhabung oder eineReflexion erschwert wird oder letztlich unmöglich ist. Danach ist ein reales Objekt oder einArtefakt komplex, wenn ihm wesentlich die gerade genannte Eigenschaft seiner schwierigenganzheitlichen Kognition zukommt. Eine kognitive Schwierigkeit dieser Art ist durch dasObjekt, also „objektiv“ vorgegeben. Danach sind Programme oder Systeme „groß“, wenn sieso unübersichtlich sind, dass sie in ihrer Ganzheit nicht mehr erfassbar, also nicht „transpa-rent“ oder nicht „zuhanden“ sind. Ihre technische Unübersichtlichkeit führt in der Dimensi-on ihrer Verwendung zu weiterem Verlust ihrer Struktur, was als Wachstum von Entropiecharakterisiert werden kann (Belady & Lehmann 1979). Seit der viel zitierten Softwarekrisewird immer wieder versucht, der Komplexität der Softwareprodukte, die wesentlich durchschwer durchschaubare Herstellungsprozesse bedingt ist, durch immer neue und intentionalverbesserte Strukturvorgaben Herr zu werden, so z.B. jüngst etwa durch erneute Berufung aufdas von Frege eingeführte Prinzip der Kompositionalität (de Roever et al. 1998).

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Wie schwierig ganzheitliche Erfassungen von Programmstrukturen schon in ihrerexplikativen, also prädefinitorischen Dimension sind, kann man an der lebhaften Diskussionüber das Gebiet der Softwaremetrie verfolgen, das in seiner Substanz der philosophischenTeildisziplin der Messtheorie entstammt (Leinfellner 1980), und das zu einer andauerndenKontroverse unter Fachleuten geführt hat: SIGPLAN nennt es „the Battle of Berlin“ (s. dazu(Zuse 1991, Konrad 1992)). Da es unter anderem dabei auch um ein Komplexitätsmaß fürFlussdiagramme, allgemein also um eine ganzheitliche Erfassung von endlichen Graphen geht,sei an dieser Stelle an das Isomorphie- und Codierungsproblem für Graphen erinnert (Read &Corneil 1977), das nach meiner Meinung das hervorragendste, weil methodisch bestreduzierteBeispiel für komplexe Objekte der Informatik im Sinne oben gegebener Kennzeichnung dar-stellt: Welche der folgenden vier Graphen sind strukturell identisch, also isomorph? Kannman das „sehen“ oder muss man rechnen?

Literatur

Biedenkopf, Kurt 1994: Komplexität und Kompliziertheit. Informatik-Spektrum 17, 82-86Belady, L.A. & M.M. Lehmann.1977: The characteristics of large systems. In Wegner, Peter (ed.) 1977:

Research directions in software technology. Cambridge, MA: MITDemuth, J., S. Weber, S. Kannapinn, M. Kröplin 1997: Echte Compilergenerierung. Effiziente Imple-

mentierung einer abgeschlossenen Theorie. Berlin: Technische Universität FB 13 Bericht1997/6

de Roever, W.-P., H. Langmaack, A. Pnueli, (eds.) 1998: Compositionality: The significant difference. Berlin,Heidelberg: Springer

Eggers, Bleicke 1996: Computer und Natur. In Erdmann, J.W., G. Rückriem, E. Wolf (Hrsg.) 1996:Kunst, Kultur und Bildung im Computerzeitalter 3. 193-244 Berlin: HdK

Eggers, Bleicke, Bernd Zimmermann 1985: Zur didaktischen Systemanalyse des wissenschaftlichen Pro-grammierunterrichts. Int. J. Appl. Enging. Bd. 1, 229-238

Heidegger, Martin 1927: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer (1993) 68-71Konrad, Erhard 1992: Review of Zuse, Horst: Software Complexity – Measures and Methods. Zentral-

blatt für Mathematik / Mathematics Abstracts, 731/68003Kornwachs, Klaus (Hrsg.) 1984: Offenheit – Zeitlichkeit – Komplexität. Zur Theorie der offenen Systeme.

Frankfurt a.M., New York: CampusLeinfellner, Werner 1980: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Mannheim: Bibli-

ographisches InstitutMahr, Bernd 2003: Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs.

Manuskript: Private KommunikationMaurin, K., K. Michalski, E. Rudolph (Hrsg) 1981: Offene Systeme II. Stuttgart: Klett-CottaRead, R.C., D.G. Corneil 1977: The graph isomorphism disease. J. Graph Theory 1, 339 - 363Rie, Theo 1799: de definitione obscuris per obscurius. Wahrheit und die Mode locus urbi et orbiWeizsäcker, Ernst Ulrich von (Hrsg.) 1986: Offene Syteme I. Stuttgart: Klett-CottaZuse, Horst 1991: Software Complexity – Measures and Methods. Berlin: de Gruyter

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Mateteethemamathematisierungoder: Wie wird Identität konstruiert?

Andreas Genz, Universität Bremen

Wie entwickelt sich Fachidentität durch interdisziplinäre Erfahrung? Ich bin Informatiker,fühle mich in der Computergrafik1 beheimatet und möchte Erfahrungen skizzieren, die ichwährend interdiziplinärer Projektarbeiten und Lernveranstaltungen in sechs Jahren in Bre-men, zunächst als Student, ab 1998 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, gewonnen habe.

Innen.

Informatiker in der Computergrafik sehen sich erstens als keine Informatiker und zweitensals die einzig wahren Informatiker. Sie sind keine Informatiker, weil sie nicht langweilig seinmüssen und auch schon mal zum Künstler werden. Das erlaubt ihnen, mit Leichtigkeit zu-zugeben, dass sie Informatiker sind.

Die einzig wahren Informatiker sind sie aber, weil sie sich intensiv mit Algorithmenbeschäftigen, also das tun, was im Kern die Informatik von anderen Disziplinen unterschei-det. Die Computergrafik ist für ein Teilgebiet der Praktischen Informatik ungewöhnlichstark theoretisch durchdrungen. Sie kann sogar durch eine einzige Formel – Kajiyas RenderingEquation2 – kategorisiert werden. Dieses Bemühen bleibt vielen verschlossen. BerechneteBilder aber wurden zur Popkultur.

Außen.

Kommt es zu einer Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, die in meinem Fall künstle-risch oder geisteswissenschaftlich geprägt sind, so lassen sich zwei Effekte beobachten:

1. Ein Einlassen auf das Andere. Informatiker werden weich.2. Eine Konzentration auf das Wesentliche. Informatik begrenzt sich selbst. Auf das,

was sie besser oder nur sie kann. Das sind das Abschätzen, was mit Entwicklungssystemen imgegebenen Zeitraum unmöglich ist, die Fertigkeit des Programmierens und die Fähigkeit desAlgorithmisierens.

Effekt 1 ist Bedingung für den Erfolg eines Projektes oder einer interdisziplinärenLernveranstaltung. Effekt 2 tritt auf, wenn die Informatik der anderen Disziplin Vertrauenschenkt und diese es gern und mit Selbstbewusstsein füllt. Ist das der Fall, so kann sich Effekt3 einstellen:

3. Ein von Fachlichkeit und Expertentum befreites Lernen oder Arbeiten. Es gehtnicht mehr um die Herkunft der Teilnehmenden, sondern um den gemeinsamen Prozess desLernens oder das Ziel des Projektes.

Natürlich aber ist niemand ohne Heimat. Gerade Ideen sind nicht heimatlos. Theo-rie braucht Basis und bildet Basis. Algorithmen.

Dank an Franziska, Funky, Ivan, ohne die jetzt alles anders wäre.

1 Computergrafik ist Grafische Datenverarbeitung ist Computer Graphics: Bildsynthese.2 J.T. Kajiya: The Rendering Equation. Proc. SIGGRAPH '86, 143-150

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Spiel mit Identitätenzwischen Fach, Kontext, Person und Umwelt

Susanne Grabowski, Universität Bremen

Um die Frage der Konstruktion von Identität soll es also bei der diesjährigen Tagung in BadHersfeld gehen. Die Leitung der Arbeitgruppe wünscht eine Position zu einem der drei dar-gestellten Untersuchungsdesigns, bei denen die Wahl schwer fällt, weil sie doch alle mit ein-ander verquickt zu sein scheinen, und ich dennoch versuchen möchte, mich auf die Fragenach der Entwicklung einer Fachidentität durch interdisziplinäre Erfahrung auszurichten.Meine Schilderung wird eher von Vermutungen als von wissenschaftlicher Fundierung getra-gen sein. Ich hoffe, damit ein paar Denkanstöße zu einer umfassenden Thematik beizutragen.

Wie entwickelt sich Fachidentität durch interdisziplinäre Erfahrung?Betrachten wir die Frage etwas genauer, tritt vor allem zweierlei in den Vordergrund:

Fachidentität und interdisziplinäre Erfahrung. Was meint das?Wie entwickeln wir Identität in einem Fach – hier der Informatik – das es mit der

Formalisierung und Algorithmisierung von Prozessen aus allen Lebensbereichen zu tun hat?Betrachten wir zunächst, was verschiedene Schriften zum Begriff der Identität zu sa-

gen haben.Der Duden bietet hierzu lediglich „Identität = völlige Gleichheit“ an. Bei der Identi-

tätssuche sollte es uns demnach also um die Gleichheit in unserem Fach, der Formalisierungund Algorithmisierung von Prozessen, gehen. Es sollte uns um das Gemeinsame gehen, dasjenseits der unterschiedlichen Lebensbereiche bzw. Kontexte liegt. Es wäre also notwendig,vom Kontext abzusehen, ihn zur Seite zu schieben und ihn nicht zum Identität förderndenMoment zu stilisieren. Der Kontext wäre ja genau das, was unsere Identität als Informatikerbricht. Interdisziplinäres Arbeiten – als die Form des Herangehens an den Kontext einerWissenschaft – wäre dementsprechend der Identitätsfindung eher hinderlich als förderlich.

Verhält es sich aber so? Ist es überhaupt denkbar, die unterschiedlichen Kontextevom Kern der Informatik wegzudenken? Wir brauchen nur einen Blick auf die eigene Insti-tution, hier die Universität Bremen, zu werfen, um festzustellen, dass ein Fachbereich, dersich „Mathematik / Informatik“ nennt, in unterschiedliche Arbeitsgruppen unterteilt ist, diebereits in der Institution selbst ihren jeweiligen Kontext andeuten. Da gibt es beispielsweisedie AG Sichere Systeme, die AG Informatik und Gesellschaft, die AG Grafische Datenver-arbeitung und Interaktive Systeme, die AG Rechnernetze, die AG Sozio-Informatik u.a.Würden wir nun die einzelnen Mitglieder dieser Arbeitsgruppen zu ihrem Verständnis derGebiete anderer Arbeitsgruppen befragen, würden die Antworten wohl in einem Spektrumzwischen „keine Ahnung“ bis „mittlere Kenntnisse“ liegen. Expertentum zeigt sich nur imeigenen Umfeld bzw. Kontext. Dennoch verzeichnen wir das Tun all dieser Personen unterdem Namen „Informatik“.

Woraus schöpfen wir aber die Identität, uns als Informatiker zu fühlen? Aus demKern, dem Kontext oder aus der Verbindung von beiden? Oder verhält es sich ganz anders?

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Erinnern wir uns noch einmal an die „völlige Gleichheit“ des Identitätsbegriffes, sokönnten wir ein Szenario zeichnen, das den Kern der Informatik als Identität bildendes Mo-ment einer Fachgruppe zeigt, die sich selbst im Zentrum sieht. In sich fühlt sich diese Grup-pe stark, aber sie könnte ins Wanken geraten, sobald etwas an sie herangetragen wird, was siemit eigenen Mitteln, Methoden oder Theorien nicht bestreiten kann. Sie empfände das alsUngleichgewicht und versuchte, dieses durch entliehene Sichtweisen zu kompensieren. Solchein Szenario hielte ich für leicht naiv und wenig Identität fördernd.

Unsere Arbeitsgruppen-Leitung schlägt deshalb eine prozessorientierte Sichtweisevor, die Informatik als eine Disziplin begreift, die sich aus der Kultur herausgebildet hat undsomit selbstredend in ihre Kontexte eingebettet werden muss. Ist das neu? Was sonst meintedas Reden vom Konstruktivismus und den selbstreferentiellen Systemen, frage ich mich. Esist zumindest das, was mir als erstes in den Kopf schießt.

Die Gegenstände, die die Informatik hervorgebracht hat, sind heute längst gesell-schaftliche Tatsachen. Die computerisierte Welt ist unsere soziale Welt, sie ist Teil unsererGesellschaft, unserer Kultur und es liegt an uns, sie weiter zu gestalten. Ich halte es damit nurfür verständlich, von einem Anspruch auf dynamische Bedingungszusammenhänge auszu-gehen.

Systemische Ansätze lehren uns, dass Veränderung eines Elementes eines Systems dieVeränderung aller übrigen nach sich ziehen kann. Wir befinden uns somit in einem ständigenProzess von Veränderung, Wandlung und Entwicklung. Dies gilt für soziale Systeme genausowie für biologische, wobei die unterschiedlichen Systeme natürlich aufeinander bezogen sind.Wir müssen so auch Wissenschaft als ein System begreifen. Einzelne Disziplinen stehennicht für sich, sondern sind untrennbar mit anderen verschachtelt und ineinander verwoben.Wie können wir hier Identität gewinnen?

Sehen wir uns dazu weitere Definitionen von „Identität“ an. Das PhilosophischeWörterbuch definiert Identität zunächst als Dieselbigkeit, Einerleiheit, völlige Übereinstim-mung (von lat. Idem, „dasselbe“). „A. ist identisch mit sich selbst, wenn es in den verschie-densten Sachlagen und Umständen immer dasselbe bleibt, so dass es als dasselbe identifiziertwerden kann.“

Allerdings: „Ein reales Ding bleibt nicht mit sich selbst identisch (Dialektik), es än-dert sich, wird identoid (= sich selbst ähnlich); ebenso ist die Identität des Bewusstseins mei-ner selbst in verschiedenen Zeiten in Wahrheit keine Identität, sondern eine Kontinuitätoder eine Entwicklung, wohl aber die des Ich“. (Schischkoff 1991:323)

Identität wird hier als subjektiv (individuell), dialektisch und als sich in Entwicklungbefindlich beschrieben.

Das Pädagogische Wörterbuch bietet neben subjektiven Identitätsdefinitionen Fol-gendes an: „Habermas unterscheidet […] zwischen persönlicher Identität (als Einheit einerunverwechselbaren Lebensgeschichte), sozialer Identität (als Zugehörigkeit eines Indivi-duums zu verschiedenen Bezugsgruppen) und Ich-Identität (als Balance zwischen beiden).“(Böhm 1994:326)

Als nächstes habe ich in einem dicken Buch zur Entwicklungspsychologie nachge-schlagen (Oerter & Montada 1995) und fand dort recht Beeindruckendes in einem Kapitelüber die Entwicklung der Identität im Jugendalter (Oerter & Dreher 1995). Dabei drängtesich mir der Gedanke auf, ob die Informatik als noch recht junge Disziplin nun den Sprungins Erwachsenenalter wagt. Solche Parallelen zu ziehen, scheint zunächst recht absurd, trotz-dem möchte ich ein paar Gedanken daraus vorstellen.

(Oerter & Dreher 1995) bieten einen Überblick über verschiedene Konzepte zur Ent-wicklung sozialer Identität an. Diese bestehen aus psychologischen und soziologischen Schrif-ten, wie etwa von Mead (1934/1973), Goffman (1963) oder Krappmann (1973). Es geht dabeisehr verallgemeinert um Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung als die beiden Prozesse derIdentitätsentwicklung, die als gesellschaftliche Spiegelung aufzufassen sind. Identität gewinnt

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man nicht aus dem Nachdenken über sich selbst (oder über die eigene Disziplin), sondern aufdem Umweg über eine bedeutungsvolle Umwelt. Wer wir sind, erfahren wir erst aus den An-deren!

Ebenso interessant für unseren Zusammenhang fand ich das Identitätskonzept vonMarcia (1966)1. Er unterscheidet vier Formen:

• Die erarbeitete Identität (sie entsteht aus selbst gewählten Festlegungen).• Das Moratorium (man befindet sich in einer gegenwärtigen Auseinandersetzung).• Die übernommene Identität (sie wird von anderen vorgeschrieben oder übernom-

men).• Die diffuse Identität (es gibt keine Festlegung).

Die diffuse Identität tritt häufig in multikulturellen Gesellschaften auf, sie wird dort sogar zueiner regulären Form der Identität. Es scheint besser zu sein, sich nicht festzulegen, um densozio-kulturellen Anforderungen, die durch Unverbindlichkeit, Offenheit und Flexibilität ge-kennzeichnet sind, besser gerecht zu werden.

Elkind (1990) spricht in diesem Zusammenhang von einer Patchwork-Identity, die oh-ne integrative Kraft zusammengesetzt ist und keinen einheitlichen Identitätskern besitzt.Personen mit einer Patchwork-Identity können durchaus erfolgreich sein, sie erreichen abernicht den Status einer persönlich erarbeiteten Identität, der für die Persönlichkeitsentwick-lung von besonderer Bedeutung ist.

Ich habe diesen Ansatz herausgegriffen, weil ich mich frage, ob Informatik eine Dis-ziplin mit Patchwork-Identity ist, also eine, die aus von anderen Disziplinen adaptierten Sicht-weisen zusammengewürfelt wurde: ein wenig Mathematik, ein wenig Ingenieurarbeit, ein we-nig Gestaltung, ein wenig Linguistik, Psychologie, Pädagogik, Soziologie und immer von demTeil ein wenig mehr, der zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders gefragt ist. Ich möchteauf diese Frage keine Antwort geben, sondern sie zum Nachdenken im Raum stehen lassen.

Wenn wir diese Frage allerdings verneinen, fragen wir uns, wie wir zur ersten Stufevon Marcia, zur erarbeiteten Identität, gelangen können? Anscheinend gehört die Empfin-dung von Identität zu den Bedürfnissen der Menschen (und auch der Disziplinen). Dazu bau-en wir starke Bindungen zu Personen, Dingen, Inhalten etc. auf. Wir fühlen uns wohl in unse-rer Disziplin, respektieren aber auch, dass es andere Disziplinen und verschiedene Denk-weisen gibt. Wir fühlen uns autonom und abgegrenzt von anderen. Doch eine wirkliche Ent-wicklung kann dann nur schwer stattfinden. Denn nehmen wir wieder den Gedanken vomSystem auf, müssen wir uns als auf andere Disziplinen bezogen betrachten. Wir sind auf dereinen Seite unabhängig, auf der anderen aber abhängig aufeinander bezogen. Wir erkennenWidersprüche und Unvereinbarkeiten, wissen aber nicht recht, wie mit ihnen umzugehen.M.E. können solche Widersprüche nur dialektisch aufgearbeitet werden. Nach Riegel (1980)sind Widerspruch und dialektische Verarbeitung Wesensmerkmale von Identitätsbemühun-gen im Stadium der erarbeiteten Identität. Widersprüche, die erst durch die Beziehung zuanderen Disziplinen entstehen, können demnach als Motor zur Entwicklung der eigenen Dis-ziplin betrachtet werden.

Verweilen wir noch ein wenig bei diesem Entwicklungsgedanken. Die Frage nach derHerausbildung einer Identität innerhalb einer Disziplin richtet sich m.E. auf sich verändern-de Individuen und deren Handeln2 in sich verändernden Gruppen in einer sich wandelndenUmwelt. Es geht also um Entwicklung (von Menschen in einem fachlichen Zusammenhang),welche ich in Anlehnung an Oerter (1995:86) als ein Sich-Fortbewegen von einer Region ineine andere auffassen möchte. Dementsprechend möchte ich das „Betreten“ einer anderen 1 Auch hier handelt es sich wieder um ein Konzept zur Persönlichkeitsentwicklung.2 Handeln ist für Kurt Lewin (1946) ein Sich-Umherbewegen (Lokomotion) im Lebensraum. (Oerter

1995:85-86)

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Disziplin als Entwicklung der eigenen Disziplin verstehen und dieses Betreten sei nicht aufLiteraturstudien beschränkt sondern auch auf reale Kontaktformen, die Begegnung mit Men-schen.

Mit dem Betreten der anderen Kultur dringen wir in sie ein, wirken auf sie ein, undsie wirkt auf uns zurück. Auf beiden Seiten findet eine Transformation statt.

Und trotzdem: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ (Faust). Wir müssen ein-fach lernen, das auszuhalten!

Fazit. Wir können Menschen und Disziplinen – und damit auch Identität – nicht oh-ne Beziehung zur Umwelt (also zu anderen Menschen, Disziplinen, Gegenständen etc.) hin-reichend beschreiben. Disziplinen sind immer Disziplinen im Kontext und Identität istimmer Identität im Kontext. „Dieser Kontext ist … die Entwicklungsnische, die die Kulturbereitstellt, und der Lebensraum, der aus physikalischen Komponenten und Deutungsele-menten besteht.“ (Oerter & Dreher 1995:361)

Literatur

Böhm, Winfried (Hrsg.) 1994: Wörterbuch der Pädagogik. Stuttgart: Kröner (14. Aufl.). 325-326Drosdowski, Günther (Hrsg.) 1986: Der Duden in 10 Bänden. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches

Institut (19. Aufl.). 341Oerter, Rolf 1995: Kultur, Ökologie und Entwicklung. In: Rolf Oerter & Leo Montada (Hrsg.) 1995:

Entwicklungspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union (3. Aufl.). 84-120Oerter, Rolf, Eva Dreher 1995: Jugendalter. In: Rolf Oerter & Leo Montada (Hrsg.) 1995: Entwicklungs-

psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union (3. Aufl.). 310-361Schischkopf, Georgi (Hrsg.) 1991: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner (22. Aufl.). 323

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Vom Nutzen der Fachdidaktik.Zur Diskussion der Theorie der Informatik

Ludger Humbert, Berlin

Geschichte der Informatik?

Die Diskussion um die „Theorie der Informatik" ist – nach fast zehnjähriger Pause – in denletzten Jahren mit den Tagungen in Heppenheim (Nake et al. 2001) und Bad Hersfeld (Nakeet al. 2003) in den Jahren 2002/03 wieder aufgenommen worden. Bei Untersuchungen zurwissenschaftlichen Fundierung der Schulinformatik (Humbert 2003) werden im Zusammen-hang mit der Diskussion der Beziehungen zwischen Wissenschaftstheorie und Informatik u.a.einige geschichtlich bedeutsame Beiträge dokumentiert.1 So haben beispielsweise AnitaKrabbel und Bettina Kuhlmann Widersprüche, Risse, Ungereimtheiten in der Herausbildungder Wissenschaft Informatik aufgezeigt und stützen die These von der geschichtslosen Wis-senschaft Informatik (Krabbel et al. 1994).2

Zur (fach-)didaktischen Reflexion

Bei der didaktischen Untersuchung schulfachbezogener Fragestellungen wird deutlich, dassdie Trennung und Isolierung der Phänomene von ihrem geschichtlichen Kontext diese „blut-leer” und „unspannend“ machen. Noch so trockene Materie hingegen, die zur Entwicklungund Herausbildung, ja häufig mit dem Streit um die Kernideen – im Sinne von (Gallin & Ruf1990) – vorgetragen wird, erlaubt es den Menschen, den durchaus biographisch und lebensge-schichtlich gefärbten Sinn hinter abstrakten Konzepten als subjektiven Anker wahrzunehmenund in konstruktivistischer Weise in einen größeren Kontext einzuordnen (von Glasersfeld1997:283-309). Mit diesem Ansatz werden Konzepte3, die eine von den Schülerinnen (aberauch von den Lehrenden) unabhängige Fachsystematik propagieren, nicht obsolet, treten aberfür den konkreten curricularen Gestaltungsprozess in den Hintergrund.

Neuere Ansätze zur allgemeinen Didaktik beginnen, das reale Subjekt des Lernpro-zesses erheblich stärker für die (Re-)Konstruktion zu berücksichtigen (Hericks et al. 2001),

1 Dabei wurde deutlich, dass die Geschichte der Informatik bisher ein Schattendasein zu führen scheint.

Abgesehen von dem "Interdisziplinären Forschungsprojekt Sozialgeschichte der Informatik"(http://tal.cs.tu-berlin.de/ifp/) in den Jahren 1993 bis 1997 finden sich typischerweise eher tech-nisch orientierte Beiträge zur Geschichte der Informatik: von der GI wurde die Fachgruppe 8.2Informatik- und Computergeschichte etabliert (1993) und ein Präsidiumsarbeitskreis -Geschichte der Informatik - eingerichtet (1997). Beide sind allerdings nach meinem Eindrucktechnisch ausgerichtet, wie die Darstellungen http://www.informatikgeschichte.uni-bremen.de/,http://www.gi-ev.de/pak/gdi/ belegen. Aspekte, die mit konkreten Personen verbunden sind, wer-den in (Siefkes et al. 1999) und (Broy & Denert 2002) dokumentiert.

2 Hinweis: In diesem Dokument wird das generische Femininum verwendet - Männer mögen sich nichtausgeschlossen fühlen, sie sind ausdrücklich auch gemeint.

3 So das Konzept der „Fundamentalen Ideen” der Informatik (Schwill 1993).

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als dies in den älteren Ansätzen geschieht. Hiermit stellen sich Sichten auf die Bildungspro-zesse (nicht nur des Individuums) ein, die sich mit den bisherigen Methoden nur schwerlichgewinnen lassen. Andererseits wird in der Diskussion um Theorien des Lernens zunehmenddie Subjektorientierung1 der verbreiteten Lerntheorien in Frage gestellt. Die Trennung zwi-schen Genotyp und Phänotyp (also zwischen genetisch „festgeschriebenen Möglichkeiten“und „Umweltfaktoren“) wird aufgehoben (Scheunpflug 2001), um so zu einer ganzheitlichenSicht auf emergentes Lernen zu gelangen. Die Konsequenzen dieser Ansätze hinsichtlich derReformulierung der Basisannahmen der Didaktiken sind bisher (noch) nicht greifbar, den-noch scheint an dieser Stelle ein „Paradigmenwechsel“ möglich.

Wissenschaftstheorie und Informatik

Über die Frage nach den Gegenständen und Methoden der Wissenschaft Informatik gelan-gen wir zu den aktuellen Diskussionsbeiträgen, wie sie u.a. auf den beiden zurückliegendenTagungen zur „Theorie der Informatik“ dokumentiert wurden.

Information als zentrale – aber nicht definierbare – Kategorie der InformatikTrotz der Hoffnungen, die mit der Ausweisung des Begriffs Information als zentraler Katego-rie der Informatik verbunden werden, fehlt bis heute eine von der Gemeinschaft der Infor-matikerinnen getragene Definition dieses Begriffs. Eine anerkannte, tragfähige Typologiekonnte erst in Ansätzen vorgelegt werden. Die Frage nach der Wortbedeutung von Informa-tik führt etymologisch zu dem Begriff Information. Um diesen Begriff zu definieren, kann ineiner ersten Näherung die Shannonsche Informationstheorie herangezogen werden. DieserInformationsbegriff hat sich für die Informatik nicht als durchgängig tragfähig erwiesen, daInformation in dieser Theorie auf den Aspekt der Übertragung von Daten (oder Nachrich-ten) reduziert wird. Dies ist für die Informatik nur in Teilbereichen von Interesse. Weitereim Zusammenhang mit der Informatik bedeutsame Dimensionen des Begriffs Informationgibt Christiane Floyd an. Information ist

• „personal, um Kognition allgemein und insbesondere die Interpretation von Datendurch Menschen zu kennzeichnen,

• organisationsbezogen, um die Rolle von Information bei Aktion und Entscheidungs-findung zu zeigen,

• medial, um Informationen als eigenständiges, speicherbares und weitergebbares Gutzu betrachten“ (Floyd 2001:43).

Im Kontext der Informatik können mit Information nicht nur technische Ziele, sondernauch Absichten (von Menschen) verbunden sein. Diese Absichten lassen sich nicht angemes-sen formalisieren. Bis heute ist es den Informatikerinnen nicht gelungen, den grundlegendenBegriff Information für ihre Wissenschaft zu definieren (Claus & Schwill 2001:303f).

Methoden der InformatikEine „pragmatische Charakterisierung der Informatik“ kann zusammenfassend nach (Floyd1997:238f) beschrieben werden als „Herstellung und Einsatz von Informatiksystemen unter

1 Sowohl der Behaviorismus (Skinner), der Kognitivismus (diverse Protagonisten), aber erst recht der

Konstruktivismus (von Maturana und Varela ausgehend) gehen (qualitativ zunehmend) bezüglichihrer Ansätze davon aus, dass das interessierende Element der Lernprozesse die einzigartigenExemplare der Klasse Mensch sind und orientieren ihre Theoriebildung an subjektgebundenenErgebnissen. Dies beginnt bei einfachen Reiz-Reaktions-Schemata und führt bis zu komplettselbst (im Subjekt) erzeugten Welten (mit der Gefahr des Solipsismus).

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Berücksichtigung des Kontextes und ihrer Beziehung zur menschlichen geistigen Tätigkeit“.Unter Benutzung der Begriffe operationale und autooperationale Form wird die Frage nachdem informatischen Handeln in (Floyd 2001:49) wie folgt beantwortet: „Informatik betreibenbedeutet, operationale Form zu modellieren und als autooperationale Form verfügbar zu ma-chen“. Bezogen auf diese Zielbestimmung kommt der Methode zur Formalisierung als Vor-aussetzung zur Herstellung und Automatisierung zur Umsetzung in Informatiksysteme eineSchlüsselrolle zu. Aktivitäten zur Umsetzung der o.a. Zielvorstellung werden als informati-sche Modellierung bezeichnet. Informatische Modelle zeichnet aus, dass sie eine Umsetzungerfahren, die das Modell wirksam werden läßt. Damit besteht eine enge Wechselwirkungzwischen der informatischen Modellierung und dem modellierten Realitätsausschnitt. DieModellierung wirkt durch das erstellte Informatiksystem in den modellierten Bereich zurückund verändert diesen. Christiane Floyd und Ralf Klischewski charakterisieren in (Floyd &Klischewski 1998) die informatische Modellierung durch die Metaphern „Fenster zur Wirk-lichkeit“ zur Wahrnehmung der (ggf. virtuellen) Realität und „Handgriff zur Wirklichkeit“zur Entwicklung und Verwendung von Informatikmodellen.

Die Vorgehensweise zur Modellierung kann nach (Floyd & Klischewski 1998:22)durch drei miteinander verschränkte Schritte dargestellt werden:

• Informatisierung (Anwendungsmodell des Gegenstandsbereichs),• Diskretisieren (Spezifikation durch ein formales Modell) und• Systemisieren (Definieren durch eine Menge von berechenbaren Funktionen).

Um die mit der Methode der informatischen Modellierung verbundenen Probleme zu ver-deutlichen, ist darauf hinzuweisen, dass ausgehend vom Problembereich eine Dekontextuali-sierung vorgenommen wird, die im Zuge des Einsatzes als Teil eines konkretenInformatiksystems eine Rekontextualisierung erfährt. Zur Charakterisierung dieses Span-nungsverhältnisses werden die Begriffe autooperationale Form (Floyd 1997), Hybridobjekte(Siefkes 2001) und algorithmische Zeichen (Nake 2001) vorgeschlagen.

Diesen Begriffsbildungen ist gemeinsam, dass der Verantwortung der Informatike-rinnen in dem Prozess der oben skizzierten Modellierung Rechnung getragen werden soll.Nur die Berücksichtigung der sozialen Bedingtheit in allen Phasen der Modellierung führtdazu, dass Informatiksysteme als Werkzeuge soziale Prozesse unterstützen. Diese Berück-sichtigung ermöglicht eine partizipative Softwareentwicklung. Dies führt zu spiralförmigenund rückgekoppelten Prozessen, die eine evolutionäre Softwareentwicklung berücksichtigtund die methodisch nicht ohne Schwierigkeiten umgesetzt werden können.

Zunehmend wendet sich auch die Philosophie der in der Informatik diskutiertenModellierung zu. Dabei werden erste Hypothesen über „technisch erzeugte Welten“ formu-liert. „Die Möglichkeit einer technischen Welterzeugung für ein Subjekt schafft die Basiseiner sinnlichen Erfassung derjenigen Aspekte der realen Welt, die zugunsten anderer Aspek-te unrealisiert bleiben, i.e. sie erlaubt eine Erkenntnis von Möglichkeitsaspekten der realenWelt. Sie schafft gleichzeitig durch Modifikationen gemäß und innerhalb der unterschiedli-chen Idealtypen eine Basis für die sinnliche Erfahrung des eigenen Selbst, wie es auch hättesein können, d.h. sie erlaubt eine Erfahrung mit Bezug auf die Möglichkeitsaspekte des eige-nen Selbst.“ (Helmut Linneweber-Lammerskitten zitiert nach Münker 1996)

Die Rolle der Entwicklung theoretischer Ergebnisse im Kontext der Informatik alsWissenschaft wird zunehmend bezogen auf eine deutlichere Praxisorientierung diskutiert.Die anfängliche Euphorie bezüglich der Nutzung formaler Methoden zur Erstellung vonSoftware wird inzwischen kritisch gesehen. Aus der Entwicklung soll durch eine stärkereBerücksichtigung der Beziehungen zwischen Theorieentwicklung und Praxiswirksamkeit, derRelevanz und Anwendbarkeit theoretischer Ergebnisse und der Wichtigkeit von Experimen-ten eine Neuorientierung der theoretischen Informatik erreicht werden. Peter Wegner for-

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dert ein Überdenken des traditionellen Modells, indem er die Grenzen der Church-Turing-These plakativ darstellt (Wegner 1997). Van Leeuwen und Wiedermann fordern, dass „theclassical Turing machine paradigm should be revised (extended) in order to capture the formsof computation that one observes in the systems and networks in modern information tech-nology“ (van Leeuwen & Wiedermann 2000:622). Als eine Lösung schlagen sie die Turing-Maschine „mit Beratung“1 vor.

„Die aus der Mathematik übernommene Theoretische Informatik ist ebenso wenigwie die Theorien anderer Nachbardisziplinen geeignet, Hybridisierung als genuine Aufgabeder Informatik sichtbar zu machen. Eine evolutionäre Theorie kann eher bei der gemeinsa-men Entwicklung der gegensätzliche Bereiche der Informatik helfen“ (Siefkes 2001:802).

Erheblich über die vorgenannten Ansätze hinaus gehen die Forderungen, die Metho-den der Informatik als dritte Modalität grundsätzlicher methodischer Ansätze der Wissen-schaften auszuweisen. Vollmar formuliert die zentralen Gedanken: „In den Natur- undIngenieurwissenschaften bildet [das informatische Vorgehen ...] neben theoretischem undexperimentellem Vorgehen die dritte Säule der wissenschaftlichen Arbeitsweise“ (Vollmar2000:8). Ergebnisse aus den Bereichen Algorithmisierung, Formalisierung, Komplexitätsun-tersuchungen, Untersuchung komplexer Systeme liefern für diese neue Methodologie derInformatik die Voraussetzungen (Vollmar 2000:6f). „Wesentliche Fortschritte werden dabeierzielt durch Simulation und Visualisierung“ (Vollmar 2000:7). „Die Informatik erweitert diedurch Theorie und Experiment gebotenen Möglichkeiten beträchtlich, insbesondere in denbisher nicht zugänglichen Bereichen komplexer Systeme [...] Komplexe Vorgänge werdenverstehbarer, es können Voraussagen über ihr (künftiges) Verhalten gemacht werden, dieauch dazu benutzt werden können, entsprechende [...] Prozesse zu optimieren“ (Vollmar2000:8).

Im Einzelfall kann gezeigt werden, dass sich für die Unterstützung von Klärungspro-zessen, die nicht primär in ein Informatiksystem gegossen werden sollen, eine Analyse mitInformatikmethoden als nützlich und hilfreich erweist. Beispielsweise konnten durch infor-matikbasierte Strukturierung mittels Petrinetzen Klärungsprozesse für den Gegenstandsbe-reich kommuniziert werden, die in dieser Klarheit von der dem Gegenstandsbereichzugrunde liegenden Wissenschaft2 vordem nicht geleistet worden sind (Hinck et al. 2001).

Exkurs: Sichtwechsel in der Softwaretechnik? Die Schwierigkeiten in der Benutzung ak-tuell verfügbarer Informatiksysteme bestehen m.E. darin, dass – trotz der viel beschworenenBenutzerorientierung – Informatiksysteme den Benutzerinnen häufig als unveränderbare,gleichzeitig aber fragile Einheit gegenübertreten. Mit Blick auf die Softwareentwicklung istfestzustellen,

• dass – diesseits der von Dijkstra konstatierten „Brandmauer“ – einer Benutzerin z.B.verwehrt wird, jeden beliebigen Text, der auf dem Bildschirm zur Anzeige gebrachtwird, auszuwählen und in einen anderen Text einzufügen,

• dass immer noch auf rein textueller Basis Programmtexte geschrieben werden – dieso genannte graphische Programmierung Programmtexte erzeugt, die (nur für Anfän-ger?) nicht durchschau- und verstehbar sind,

• dass die Entwicklung von so genannten Frameworks nicht den gewünschten Erfolg beider komponentenbasierten Softwareentwicklung hatte. Hingegen konnten mit Hilfevon Entwurfsmustern (Gamma et al. 1996) die von ihrer Granularität zwischen einerMethodik (der objekt-orientierten Modellierung) und Frameworks anzusiedeln sind,

1 Im Original: „Turing machine with advice” (van Leeuwen & Wiedermann 2000:621)2 Beispiele aus der Soziologie: (Köhler et al. 2001), (Valk 2002), aus Sozialwissenschaften (Cassens

2001:36f)

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erfolgreich Elemente der Wiederverwendung von typischen Entwurfsentscheidungenkommuniziert werden,

• dass nach wie vor hierarchisch organisiertes Datenmanagement für gängige Betriebs-systeme verbindlich ist, d.h. die Benutzerinnen nicht darin unterstützt werden, dieDatenorganisation nach selbst festgelegten und änderbaren Kriterien für alle Inhalteihren Bedarfen entsprechend vornehmen zu können.

Modulkonzept für die Schulinformatik

Da Unterricht in der gymnasialen Oberstufe (auch) eine wissenschaftspropädeutische Funkti-on hat (KMK 1999), kommen zentralen Ansätzen und Aspekten einer Fachdidaktik, die aufdie Schulinformatik bezogen sind, eine wichtige didaktische Gestaltungsaufgabe zu1.

Neben den Beziehungen zwischen Wissenschaftstheorie und Informatik wurdenausgewählte Ergebnisse der Theorien des Lernens und Unterrichtens berücksichtigt, so dasseine konzeptionelle Grundlage entwickelt werden konnte, die als Modulkonzept bezeichnetwird (Humbert 2002). Als grundlegende Elemente eines modernen Informatikunterrichtswurden die informatische Modellierung, Rechnernetze und verteilte Informatiksysteme iden-tifiziert. Die Umsetzung der Konzepte in konkreten Informatikunterricht erfolgt problemo-rientiert, d.h. ausgehend von einem Problembereich werden Probleme identifiziert, dieunterrichtlich bearbeitet, gegebenenfalls modelliert werden. Dabei wird die fachdidaktischeOrientierung an den von der Gesellschaft für Informatik vorgeschlagenen Leitlinien zu Grundegelegt: „Interaktion mit Informatiksystemen, Wirkprinzipien von Informatiksystemen, In-formatische Modellierung, Wechselwirkungen zwischen Informatiksystemen, Individuumund Gesellschaft. Die unter diesen Leitlinien strukturierten Kenntnisse und Fertigkeitenwerden auf unterschiedlichem Niveau in der Primarstufe, in der Sekundarstufe I und in derSekundarstufe II erworben, wobei stets an die Lebenswelt der Lernenden anzuknüpfen ist“(GI 2000:379).

Um die fachlichen Anforderungen zu strukturieren, bietet sich ein modularisiertesKonzept an. Folgende Module wurden expliziert:

• Informatiksysteme verstehen und verantwortlich nutzen,• Erkenntnisse der theoretischen Informatik im Anwendungskontext,• Modellierung – zentrales Feld informatischer Arbeit2.

Bei der Sequenzierung ist zu bedenken, dass die Arbeit der Schülerinnen mit demkonkreten schulischen Intranet auf einer informatischen Fachbasis zu erfolgen hat. Darausfolgt, dass dem Modul „Informatiksysteme verstehen und verantwortlich nutzen“ eine priori-täre Rolle zugestanden werden muss. Elemente dieses Moduls müssen vor Beginn der Arbeitmit den schulischen Informatiksystemen erschlossen werden.

Bei der Prüfung dieser Konzeption wurde deutlich, dass diese Grundlage über den(engen) Bereich der allgemeinen Bildung in der Sekundarstufe II hinaus sowohl zur Analyse(in der allgemein bildenden Sekundarstufe I), aber auch für Gestaltungsanforderungen anInformatiksysteme als Lernhilfen für den Informatikunterricht tragfähig sind (Humbert2003). Die Untersuchung des „Bildes der Informatik bei Schülerinnen“ in der Sekundarstufe

1 Ich vermeide den Terminus „didaktische Reduktion”, da es häufig fachdidaktisch unverantwortlich ist,

Gegenstände und Methoden des Faches zu „reduzieren”, sondern die Aufgabe der Didaktikdarin bestehen muss, „handhabbare” Gestaltungen zu finden, um einen Vermittlungs- und Ex-plorationsraum aufzubauen, der es Schülerinnen ermöglicht, die Tiefe und Breite des jeweiligenElements zu entdecken und auszuloten. Genau dies wird aber nicht durch „Reduktion” erreicht.

2 objektorientierte, wissensbasierte und funktionale Modellierung

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II macht deutlich, dass ein Pflichtfach Informatik in der Sekundarstufe I notwendig ist, daabgesehen von dem allgemein bildenden Charakter der Informatik die Zuschreibung vonMöglichkeiten der Informatik durch den Informatikunterricht in der Sekundarstufe II kaumnoch erfolgreich aufgearbeitet werden kann.

Offene Fragen

Um Überlegungen, die über den engeren Forschungszusammenhang hinausweisen, deutlichzu machen, werden hier Fragen formuliert, die im engeren Forschungskontext nicht näheruntersucht wurden.

Wo wird zur Didaktik der Hochschulinformatik geforscht? Auffällig ist die schmale Veröf-fentlichungslage im Bereich der Didaktik der Hochschulinformatik. Bei näherer Analyselassen sich (auch international) nur wenige Arbeiten finden, die deutlich machen, dass es sehrwohl Überlegungen in dieser Richtung gibt (Kaasbøll 1998). Diese ignorieren m.E. das doku-mentierte Erfahrungswissen aus allgemein bildenden Kontexten.

Was kann die Hochschulinformatik von der Didaktik der Schulinformatik lernen? Der Ein-fluss der Ergebnisse der Forschungen zur Schulinformatik ist nicht feststellbar, obwohl dieseder Didaktik der Hochschulinformatik einige Impulse zu geben in der Lage ist (etwa Projekt-unterricht υνδ Projektgruppen).

Gibt es Wege, um die Missverständnisse zwischen Schulinformatik und Hochschulinformatikzu überwinden? Inzwischen finden an einigen Hochschulen sowohl interaktive Tests für Schü-lerinnen, um die individuelle Eignung für ein Informatikstudium zu prüfen1, wie Vorkurse fürdas Informatikstudium statt2. Damit wird deutlich, dass die Verbindung zwischen dem Schul-fach Informatik in der Sekundarstufe II und dem Informatikstudium offenbar gestört ist.Anstatt sich stärker aufeinander zu beziehen3, werden vorhandene Missverständnisse ver-stärkt – bis hin zu Forderungen von Hochschullehrerinnen, in der Schule keinen Informatik-unterricht mehr stattfinden zu lassen, in dem programmiert wird (Zopfi 1992). DieSchulinformatik ist derzeit eher kontraproduktiv. Sie vermittelt ein Bild von der Informatik,das den Schülern eine falsche Basis für ihre Studien-Entscheidung an die Hand gibt. Diemeisten Studenten kommen mit der Erwartungshaltung, dass es sich in der Informatik nurum einen Programmierkurs handelt, der im schlimmsten Fall noch auf Programmiersprachenwie BASIC basiert (König 1993:6).

Literatur

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Cassens, Jörg 2001: Zum Verhältnis der Informatik zu anderen Fachdisziplinen. In: Nake u.a. 2001, S.36-38

Claus, Volker & Andreas Schwill (Hrsg.) 2001: Duden Informatik: ein Fachlexikon für Studium und Praxis.3. Aufl. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut

1 exemplarisch: http://www.pms.informatik.uni-muenchen.de/eignungstest/, geprüft 31. Mai 20032 exemplarisch: http://ls7-www.cs.uni-dortmund.de/VKInf/, geprüft 31. Mai 20033 Neben der Einrichtung von Lehrstühlen zur Didaktik der Informatik sollten auch Veranstaltungen

(mit Seminarcharakter) von den Informatikfachbereichen der Hochschulen angeboten werden,die – speziell für Lehrerinnen – Fachinhalte der Informatik zum Gegenstand haben und disku-tieren, wie Umsetzungen im Informatikunterricht gestaltet werden können.

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Gallin, Peter & Urs Ruf 1990: Sprache und Mathematik in der Schule. Auf eigenen Wegen zur Fachkompe-tenz. Illustriert mit sechzehn Szenen aus der Biographie von Lernenden. Zürich: Verlag Lehre-rinnen und Lehrer

Gamma, Erich, Richard Helm, Ralph Johnson, John Vlissides 1996: Entwurfsmuster: Elemente wiederver-wendbarer objektorientierter Software. Bonn: Addison-Wesley

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Hinck, Daniela, Michael Köhler, Roman Langer, Daniel Moldt, Heiko Rölke 2001: Organisationetablierter Machtzentren: Modellierungen und Reanalysen zu Norbert Elias. Hamburg: Fach-bereich Informatik und Institut für Soziologie der Universität, Arbeitsberichte des For-schungsprogramms „Agieren in sozialen Kontexten”, FBI-HH-306/01

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Humbert, Ludger 2003: Zur wissenschaftlichen Fundierung der Schulinformatik. Witten: pad-Verlag (an derUniversität Siegen eingereichte Dissertation)

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Köhler, Michael, Daniel Moldt, Heiko Rölke 2001: Modelling a sociological case study. Sozionik aktuell(2001), Nr. 3

König, Gerhard 1993: Informatikunterricht aus der Sicht der Hochschule – Ergebnisse einer Umfrage.ZDM 25, Nr. 1, S. 1-8

Krabbel, Anita, Bettina Kuhlmann. Klaus Brunnstein, Horst Oberquelle (Hrsg.) 1994: Zur Selbstver-ständnis-Diskussion in der Informatik. Universität Hamburg, Fachbereich Informatik. For-schungsbericht FBI-HH-B-169/94

Langlet, Jürgen 2001: Wissenschaft – entdecken & begreifen. Unterricht Biologie 25, Heft 268, S. 4ffLeeuwen, Jan van, Jiri Wiedermann 2000: On the Power of Interactive Computing. In: Jan van Leeu-

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Scheunpflug, Anette 2001: Biologische Grundlagen des Lernens. Berlin: Cornelsen ScriptorSchwill, Andreas 1993: Fundamentale Ideen der Informatik. ZDM 25 Nr. 1, S. 20-31Siefkes, Dirk 2001: Informatikobjekte entstehen durch Hybridisierung. Techniken der Softwareent-

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Siefkes, Dirk, Anette Braun, Peter Eulenhöfer, Heike Stach, Klaus Städtler (Hrsg.) (1999): Pioniere derInformatik - Ihre Lebensgeschichte im Interview. Berlin: Springer

Valk, Rüdiger 2002: Informatik als Methodendisziplin - am Beispiel interdisziplinärer Arbeit mit derSoziologie. Positionspapier zur Arbeitstagung Bad Hersfeld 2002 Arbeitsgruppe: Informatikals Hybridwissenschaft

Vollmar, Roland 2000: Von Zielen und Grenzen der Informatik. Universität Karlsruhe. Leicht erwei-terte Fassung des zur 10-Jahres-Feier der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld am12.5.2000 gehaltenen Vortrages

Wegner, Peter 1997: Why interaction is more powerful than algorithms. CACM 40 Nr. 5, S. 80-91.Zopfi, Emil 1992: Studieren oder Programmieren? Die Weltwoche Nr. 13, März 1992 S. 35

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Von inter- und intradisziplinärer IdentitätBehauptungen und Fragen

Matthias Krauß, Universität Bremen

Der erste Satz des Aufrufes zur Arbeitsgruppe lautet: „Informatik ist nur im interdisziplinä-ren Kontext zu betreiben und zu verstehen. Eine gewagte Behauptung. Im Folgenden werdeich versuchen, diese Behauptung nachzuvollziehen und darzulegen, warum ich sie für gewagthalte.

Ein Beispiel: Wenn ein Architekt ein Schulgebäude plant, tut er sicherlich gut daran,sich über das zu informieren, was später in dem Gebäude stattfinden soll. Vielleicht konsul-tiert er dazu Lehrer. Vielleicht arbeitet er dazu mit Erziehungswissenschaftlern zusammen.Vielleicht werden durch das Gebäude neuartige Lehr- und Lernmethoden ermöglicht. Wirddas Schulbauprojekt für den Architekten dadurch interdisziplinär? Vermutlich. Hat diesesProjekt Einfluss darauf, was Architektur bedeutet? Vielleicht. Kann ein solches Projekt dasweitere Handeln des Architekten nachhaltig verändern? Sicherlich. Aber hat ein solches Pro-jekt wesentlichen Einfluss auf die Identität der Architektur? Ich bezweifle dies.

Die Informatik ist diesbezüglich der Architektur ganz ähnlich: Auch sie leistet imerheblichen Maße Dienste für informatikfremde Bereiche. Dadurch können sich sicherlichErkenntnisse und Anregungen sowohl für die Informatik als auch für die anderen Bereicheergeben. Aber rechtfertigt dies die Schlussfolgerung, die Informatik beziehe ihre Identitätprimär aus diesen Erfahrungen?

Selbst wenn wir diese Aussage akzeptieren, wird dadurch die Beantwortung der Fragenach der Identität der Informatik nicht notwendigerweise vereinfacht. Das Problem wirdverschoben und anders fokussiert. Wenn sich die Suche der Identität mit der Frage nacheinem Punkt innerhalb eines Volumens gleichsetzen ließe, bedeutete die obige Aussage, dassfür die Suche des Punktes die Oberfläche des Volumens relevant sei. Das mag sogar sein. Undes wäre vielleicht ein guter Anfang. Aber lässt sich so die ursprüngliche Frage bereits beant-worten?

Trotzdem ist der behauptete Zusammenhang zwischen Informatik und anderen Dis-ziplinen nicht von der Hand zu weisen. Offensichtlich hat die Informatik einerseits einenDienstleistungsaspekt, der zu vielfältiger Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen führt, undandererseits hat sich die Informatik im Rahmen dieser Zusammenarbeit vielerlei neue The-mengebiete zu Eigen gemacht.

Vielleicht ergibt sich die Eigentümlichkeit der Informatik daraus, dass die wichtigsteihrer Fragen – die nach der Algorithmisierbarkeit – mit der Turing-Maschine und derChurchschen These beantwortet ist und damals die Gelegenheit verpasst wurde, die Informa-tik als wissenschaftliche Disziplin zu beenden. Seither suchen die Verbleibenden der Gruppenach neuen Anwendungen, die diese Antwort widerlegen und ihnen somit eine neue Daseins-berechtigung geben. Das Ergebnis ist die mittlerweile unüberschaubare Zahl von Unterdiszi-plinen und Bindestrich-Informatiken.

Zugegeben: Diese Vermutung hat einige Haken. Beispielsweise fehlt der Turing-Ma-schine die Interaktivität. Dennoch bleibt ein fader Beigeschmack. Und vielleicht gibt dieseIdee einen Hinweis darauf, wie die eigenartige Zweigleisigkeit der Informatik – einerseits der

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Anspruch, einen eigenen Kern zu beinhalten, und sich andererseits aus ihren Anwendungenzu definieren – zu deuten ist.

Zudem fällt eine Asymmetrie der Interdisziplinarität der Informatik auf: Es existierteine Vielzahl von Projekten zwischen der Informatik und anderen Disziplinen, in denen einbestimmter Bereich der anderen Disziplin informatisch unterstützt werden soll – die Infor-matik also zur Dienstleisterin für andere Disziplinen wird. Hier ist zu fragen, ob der interdis-ziplinäre Aspekt für beide Disziplinen gleichwertig ist bzw. inwiefern diese interdisziplinäreBegegnung für beide Bereiche neue Einsichten ermöglicht. Und selbst wenn diese Möglich-keit bestünde: Nutzt die Informatik diese Impulse tatsächlich? Will sie es überhaupt? Dieandere Art von Interdisziplinarität – diejenige, in der die Informatik aus anderen DisziplinenNutzen zieht – scheint in weit weniger Projekten vorhanden zu sein.

Ein Beispiel ist die interdisziplinäre Forschung im Bereich der Künstlichen Intelli-genz. Nach einer anfänglichen Euphorie in den 60er und noch gar 80er Jahren ist – abgesehenvon einigen Algorithmen – nicht mehr viel geblieben. Kürzlich meinte selbst Marvin Minsky,einstiger Verfechter der starken These der KI, die Künstliche Intelligenz sei gehirntot1. Wa-rum? Könnte es sein, dass die Erkenntnisse des interdiziplinären Ausfluges ihre Ablösung vonihrem Ursprung und ihren Weg zurück in die Kerndisziplin nicht geschafft haben, weil sichdie Informatik eine eigenartige und erstaunliche Beratungsresistenz angeeignet hat? Von wel-chen Disziplinen – mit Ausnahme ihrer Ursprungsdisziplinen Mathematik, Logik und Elek-trotechnik – hat sich die Informatik jemals etwas sagen lassen? Wo ist ein Aspekt freundlich,bewusst und erfolgreich aus einer fremden Disziplin aufgenommen worden?

Erweiterungen der Informatik können bei der Identitätssuche auch nicht ohne Wei-teres herangezogen werden. Es gab und gibt eine Menge von Bestrebungen, die Informatik anihrer Peripherie zu erweitern. Beispielsweise könnte e-Learning als ein Fall für Interdiszi-plinarität der Informatik genannt werden. Sicherlich entsteht hier am Rande der Informatiketwas Neues und sicherlich erwerben hier Informatiker Kenntnisse über Lerntheorien. Aberes ist nicht absehbar, ob diese Projekte die Identität der Informatik nachhaltig ändern kön-nen. Stattdessen werden aus Informatikern Amateurdidaktiker.

Es gibt andere Fälle, in denen eine Fremdbefruchtung hätte stattfinden können,wenn die Informatik es nicht verpatzt hätte. So zum Beispiel bei Usability. Hier wurden Re-gelwerke geschaffen, deren Befolgung benutzbare Benutzungsoberflächen garantieren sollten.Trotzdem schaffen es „echte” Designer nicht selten, Interfaces zu gestalten, die diejenigender Informatiker um Längen übertreffen, obwohl sie konsequent jegliche Usability-Gesetzebrechen. Woran kann das liegen?

Ich bin überzeugt davon, dass andere Disziplinen eine Menge zu bieten haben, dasfür uns nützlich sein könnte. Insbesondere Geistes- und Kulturwissenschaften bieten einenreichen Fundus, der bislang nur spärlich von der Informatik erschlossen wurde. Um ihn zunutzen, bedürfte es allerdings einer neuen Bescheidenheit – und des Willens, sich nicht nurergebnis-orientiert auf die Inhalte zu stürzen, sondern sich auch ernsthaft und unvoreinge-nommen mit einer gänzlich anderen Wissenschaftskultur auseinanderzusetzen. Und ich glau-be, dass es in den letzten Jahren erste Bestrebungen dafür gibt. Ein mögliches Beispiel dafürist Aesthetic Computing2. Ich hoffe, dass diese Bemühungen nicht so schnell belächelt werden,wie es offensichtlich bei vielen früheren Ansätzen der Fall war.

Was ich allerdings nicht glaube, ist, dass sich der Begriff „Interdisziplinarität” nochretten lässt. Vielleicht wird er noch eine gewisse Zeit lang für Forschungsmittelanträge nütz-lich sein, mehr nicht.

1 http://www.wired.com/news/technology/0,1282,58714,00.html, 30.5.20032 Unter diesem Titel fand im Sommer 2003 ein Dagstuhl-Seminar statt, Leitung Paul Fishwick, Roger

Malina, Christa Sommerer. Bei MIT Press soll ein Sammelband entstehen. An der Aarhus Uni-versity gibt es ein Center for Digital Aesthetics und Bemühungen um Aesthetic Programmingund Aesthetic Interaction. – Anm. des Redakteur

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Ich fasse meine Position in folgenden Behauptungen zusammen:

1. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der Identität der Informatik lässt sich nicht mitInterdisziplinarität erklären oder begründen.

2. Um den interdisziplinären Anteil (sofern er wirklich relevant sein sollte) zu ver-stehen, ist zunächst ein intradisziplinärer Anteil von Informatik-Identität zu klären.Wahrscheinlich bedarf es einer klareren begrifflichen Trennung.

3. Die gegenwärtige Konnotation des Adjektivs „interdisziplinär” ist kein guter Aus-gangspunkt für tiefer gehende Diskussionen.

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Informatik – Ansichten und Einsichten

Susanne Maaß, Universität Bremen

Auf der Suche nach dem Vorverständnis

Was macht die Informatik aus? Eine Arbeitsgruppe bei der Tagung „Theorie der Informatik“in Hersfeld 2003 fragte unter der Überschrift „Informatik im interdisziplinären Kontext“nach den Konstruktionsprozessen für das Bild der Informatik, nach den Akteuren innerhalbund außerhalb der Disziplin. Es ging sowohl um das Selbstbild (und seine Außendarstellung),als auch um Fremdbilder, Zuschreibungen und Einflussnahmen. In diesem Kontext berichtetmein Positionspapier über das Fach-Vorverständnis und die Erfahrungen von Studierendender Informatik.

Informatik ist ein Fach mit hoher Sichtbarkeit. Alle Welt redet über Informations-technologie, die damit verbundenen gesellschaftlichen Chancen und die möglichen gesell-schaftlichen Folgen ihres Einsatzes. Das Informatikstudium wird stark nachgefragt. WelcheVorstellung vom Fach entwickeln SchülerInnen vor ihrer Entscheidung für (oder gegen) einInformatikstudium? Woher beziehen sie ihre Informationen? Was erwarten sie und was soll-ten sie von Anfang an wissen?

Ein Projekt im Bremer Informatik-Hauptstudium (ISI1) zielte darauf ab, Informatio-nen über die Informatik im Internet anzubieten. Ausgehend von gängigen Bildern der Infor-matik und der InformatikerInnen wollten die Studierenden ein vielfältiges und realistischesBild der Informatik zeichnen. Sie wollten klar machen, dass nicht nur Technik-Freaks undsozial Gehemmte das Fach studieren, um durch Technikbeherrschung und im Umgang mitFormalismen Sicherheit zu finden, sondern dass gerade Menschen mit einem breiten Inter-essenprofil, das mathematisch-technische Interessen einschließt, hier gut aufgehoben sind.Auch wollten sie zeigen, dass man als InformatikerIn ausgesprochen viel „mit Menschen tunhat” (ein Wunsch, der schon manche Frau vom Informatik-Studium abgehalten hat) undnicht nur am Computer sitzt und programmiert. Deutlich werden sollte, dass es verschiedeneSichten auf die Informatik gibt, dass Faszination sich aus unterschiedlichen Quellen speisenkann und die Vielfalt der Inhalte eine Herausforderung für Lehrende und Lernende darstellt.(Maaß 2001:66)

Im Rahmen dieses Projektes befassten wir uns intensiv mit den Informatikbildernund den Annahmen von Schülern und Schülerinnen der 11. bis 13. Klassenstufe über das Infor-matikstudium, mit den Erwartungen und Erfahrungen von InformatikanfängerInnen2 und amRande auch mit dem Informatik(er)bild von Nicht-Informatik-StudentInnen.

1 Das viersemestrige Lehreprojekt ISI „Informationssystem Informatik“ unter meiner Leitung (2000-

2002) wird z.Zt. von einer neuen Studierendengruppe fortgesetzt.2 Im Jahre 2000 führte auch der Kollege Frieder Nake eine schriftliche Befragung der Studierenden in

seinem Erstsemesterkurs “Praktische Informatik” durch und stellte dort u.a. Fragen zu Bildernund Erwartungen. Die Soziologin Heike Wiesner vom Bremer Verbundprojekt “Frauen studie-

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Insgesamt 216 Schülerinnen und Schüler aus Informatikkursen einer BremerhavenerGesamtschule beantworteten unseren Fragenbogen mit meist offenen Fragen. Davon warenetwa je ein Drittel im 11., 12. und 13. Jahrgang, 42% Mädchen und 58% Jungen. Ein Teil derKurse waren als reine Mädchenkurse organisiert.

Was wissen die SchülerInnen über das Informatik-Studium und das Berufsbild?Nicht viel. Auf die Frage „Wie informiert die Schule über das Informatik-Studium? WelchesBild wird hier vermittelt?”1 gaben 50% der Jungen und 68% der Mädchen an, keine Informa-tionen zu erhalten (s. Abb. 1). Die wenigen bisher genutzten Informationsquellen beschränk-ten sich auf die Hochschulen/Hochschultage (11%), Freunde, Bekannte und Verwandte (5%)das Internet (4%). Bei der Frage, wo sich die SchülerInnen ggfs. über Informatik informierenwürden, stand das Internet mit 28% an erster Stelle (vielleicht etwas bedingt durch eine sug-gestive Frageformulierung), gefolgt von LehrerInnen (21%), Freunden (17%) und dem Ar-beitsamt (12%).

Abb. 1: "Wie informiert die Schule über das Informatik-Studium? Welches Bild wird hier vermittelt?"

Nicht viel / wenig9%

Internet2%

Will nicht studieren0%

„soll schwer sein“4%

„soll langweilig sein“1%

Infos/Plakate in Schule

6%

Sonstiges12%

keine Antwort7%

Keine Informationen

59%( Frauen 68 % Männer 50 %)

Vorstellungen zum Berufsbild

Von der beruflichen Tätigkeit von InformatikerInnen hatten die SchülerInnen eine sehrverschwommene Vorstellung. Aus ihrer Sicht besteht sie vornehmlich aus Programmieren/

ren Naturwissenschaft und Technik” befragte denselben Jahrgang systematisch bezüglich der bi-ographischen Hintergründe, Kenntnisse, Voraussetzungen und Erwartungen an das Studium undwertete die Befragung geschlechterdifferenzierend aus. Unsere Ergebnisse zeigen einen hohenGrad an Übereinstimmung.

1 An der Art der Frage sieht man natürlich, dass die Studierenden bei dieser Befragung auch erst lernenmussten, wie man Fragen formuliert. Manche pauschale oder verschwommene Antwort result-ierte aus unscharfen Fragestellungen, und manche Antwort in der Kategorie “Sonstiges”spiegelte die Unlust der Befragten wider.

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Softwareentwicklung in großen Computerfirmen (45%). Andere Berufsfelder wurden in derNetzwerkadministration (10%), im Webdesign (10%) sowie als LehrerInnen an Schulen (13%)gesehen.1 Mit 33% der Schülerinnen und 14% der Schüler war der Anteil der Befragten, die garkeine Vorstellung davon hatten, welche Berufe InformatikerInnen ausüben, recht hoch.

Dezidiert kritische Einschätzungen ergaben sich bei einer kurzen mündlichen Befra-gung von Studierenden anderer Fachrichtungen auf dem Bremer Uni-Campus. Nach ihrerVorstellung sind Informatiker ausschließlich mit Programmieren beschäftigt, jonglieren mitZahlen, sitzen täglich 10-15 Stunden vor dem Rechner und tippen. „Sie schaffen virtuelle Wel-ten, um sich von der realen Welt abzulenken.” „Sie systematisieren alles und vergessen dabeidas menschliche Gefühl”, „sie erfinden neue Maschinen, die Menschen ersetzen, und vernich-ten so Arbeitsplätze“ und „machen mit ihren egoistischen Erfindungen menschliche Bezie-hungen kaputt”.

Informatik war für die Befragten „das Langweilige, das in einem Rechner und in denAnwendungen steckt”. Andere sahen in der Informatik „die Kunst, mit Maschinen zu kom-munizieren”. Informatik habe viel mit Mathe und Elektronik zu tun, mit Zahlen und Zei-chen, „so vielen, dass hinterher keiner mehr so richtig durchsteigt”. Informatik wurde mitdem Programmieren für das Internet gleichgesetzt.

Studienwahl und Erwartungen

Warum wählen nun Schülerinnen und Schüler die Informatik als Studienfach?Unsere Umfrage ergab, dass die meisten das Studienfach in gerader Fortsetzung der

bisher erlangten Fähigkeiten und Fertigkeiten suchen, seien sie in Schulzeugnissen beschei-nigt oder anderweitig erworben. Und auch die Studien- und Berufsberatung scheint seltenneue Impulse zu setzen, sonst wären die Profile der AnfängerInnen unterschiedlicher. DieStudienanfängerInnen glauben, mit Mathematik, logischem Denken, Erfahrungen mit undSpaß am Programmieren und PC-Umgang die richtigen Begabungen, Neigungen, Vorkennt-nisse zu besitzen. Nur wenige nannten hier auch Englisch. Viele AnfängerInnen halten dasFach für attraktiv wegen guter Berufschancen, Arbeitsplatzsicherheit und guter Einkom-mensperspektiven. Sie sehen die gesellschaftliche Bedeutung des PC, verbinden das Fach mitFortschrittlichkeit und Anerkennung und sind schlicht neugierig.

Was erwarten die SchülerInnen, im Informatikstudium zu lernen?Sie erwarten mehr und Genaueres, Tiefergehendes und möglichst Alles zu erfahren

über den PC und seine Programmierung: „Lösung komplizierter Probleme am PC”, „absolutesBeherrschen des Computers”, „Umgang mit allen Programmiersprachen” und „mit allen Be-triebssystemen”, „alle Windows-Funktionen”, „Programmieren von A - Z”, Aufbau des Com-puters, Hardware, Elektrotechnik.

Informatikstudierende, die im 5. Semester rückblickend zu ihren anfänglichen Erwar-tungen an das Informatikstudium befragt wurden, bestätigten diese Aussagen in der Tendenz.Je nach ihren persönlichen Voraussetzungen hatten sie vom Studium eine Erweiterung ihrerProgrammierkenntnisse oder das gründliche Erlernen der Programmierung „von Anfang an”erwartet, d.h. ohne Voraussetzung irgendwelcher Grundkenntnisse. Sie hatten damit gerech-net, viel von ihrer Schulmathematik zu brauchen und darauf aufbauend noch mehr Mathema-tik und Logik zu lernen. Weiter wurde von vielen erwähnt, dass sie (elektro-)technische Lehr-inhalte und technische Praxis bis hin zum Schrauben und Löten erwartet hatten, und nebender Beschäftigung mit Software, Betriebssystemen und Rechnerarchitektur auch Hardware-kenntnisse erwerben wollten.

1 Es handelte sich um eine offene Frage, Mehrfachangaben waren möglich.

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Studienerfahrungen

Die Fünftsemester im ISI-Projekt beurteilten ihr Studium rückblickend als überraschendanders als erwartet, aber im Grunde noch viel interessanter als vermutet.1 Mitgebrachte Pro-grammierkenntnisse spielten eine geringere Rolle als gedacht. Andererseits wurde die Kennt-nis von grundlegenden Programmierkonzepten eben doch häufig implizit vorausgesetzt. Esging in den Veranstaltungen zwar viel um Programmierung, allerdings eher um theoretischeKonzepte, es gab viel weniger Programmierpraxis als erwartet und gar keine elektrotechni-sche Praxis. Die Kurse in Mathematik und Theoretischer Informatik waren weit umfangrei-cher und ganz anders als gedacht. Der hohe Abstraktionsgrad des Lehrstoffes überraschte sie:„Ich dachte, Mathe und Physik sind abstrakt – Informatik auch!”

Die Studierenden hoben hervor, dass das Informatikstudium sehr zeitintensiv undeigentlich nur im Vollzeitstudium zu machen sei. Nur durch Teamarbeit sei der Leistungs-druck zu bewältigen. (Hierauf ist das Bremer Grundstudium tatsächlich vollständig ausgelegt.)Die Teamarbeit stellt andererseits große soziale Anforderungen an die Studierenden, die ausder Schule eher Einzelkämpfertum gewohnt sind.

Positiv überrascht äußerten sich die Studierenden von den „sozialen Themen” derAngewandten Informatik, insbesondere im Bereich Informatik und Gesellschaft, die in Bre-men vom ersten Semester an behandelt werden. Sie erleben die Teilbereiche der Informatikals sehr vielfältig. Entgegen ihrer Erwartung mussten sie im Grundstudium nicht permanentam Rechner sitzen.

Auch die KommilitonInnen sind anders als vorhergesehen: Viele hatten befürchtet,eine Menge „Computerfreaks” anzutreffen, und stellten mit Erleichterung fest, dass die Zu-sammensetzung der Studierenden sehr heterogen ist: „Auch ‘normale’ Menschen studierenInformatik.” Die männlichen Studierenden waren überrascht von der Männerdominanz unterden Studierenden, die Frauen weniger.

Den SchülerInnen hatten wir die Frage gestellt, welche Menschen (mit welchen Ei-genschaften) nach ihrer Einschätzung wohl Informatik studieren. Darauf hatten Schüler undSchülerinnen deutlich unterschiedlich geantwortet. 34% der Schüler gingen davon aus, dass„Jeder” Informatik studieren würde, die Antwort „hauptsächlich Männer” gaben nur 4% derSchüler (s. Abb. 2). Demgegenüber dachten 16% der Schülerinnen, dass „hauptsächlich Män-ner” Informatik studieren und die Einschätzung „Jeder” teilten nur 21% von ihnen (s. Abb.3).

1 Es wäre interessant zu wissen, wie diejenigen, die das Studium in den ersten 4 Semestern abgebrochen

haben, sich dazu äußern würden. Eine Befragung von SchülerInnen bei einem „Schnuppertag“der Informatik ergab, dass gerade diejenigen, die vorher zu wissen meinten, was ein Infor-matikstudium bieten könnte (typische Frage eines Jungen: Wie viele Programmiersprachen lerntman?), enttäuscht auf die Präsentationen reagierten und doch lieber ein praktischeres Studiuman der Fachhochschule ins Auge fassten. Andere, die sich weitgehend ohne Vorkenntnisse in-formieren wollten (typische Frage eines Mädchens: Ist das was für mich? Schaffe ich das?), warenam Ende begeistert und erwogen ein Informatikstudium.

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Abb. 2: "Was meinen Sie, welche Menschen, mit welchen Eigenschaften Informatik studieren? (Nur Hacker? Vielleicht auch Frauen?)" – Antworten der Männer

Interesse/Spaß/Begeisterung

20%

Jeder34%

hauptsächlich Männer

4%

Vorkenntnisse13%

Geld3%

keine Ahnung/keine Antwort

15%

Hacker3%

Spezielle8%

Zukunftsinteressierte7%

Abb. 3: "Was meinen Sie, welche Menschen, mit welchen Eigenschaften Informatik studieren? (Nur Hacker? Vielleicht auch Frauen?)" – Antworten der Frauen

Geld1%

Vorkenntnisse12%

Spezielle11%

hauptsächlich Männer

16%

Jeder21%

Hacker3%

keine Ahnung/keine Antwort

8%

Zukunfts-interessierte7%

Interesse/Spaß/Begeisterung

29%

Zur Abrundung sollen auch hier die Einschätzungen der auf dem Campus befragten Nicht-InformatikerInnen wiedergegeben werden. Ihnen wurde die Frage gestellt: Wie sieht eintypischer Informatiker aus und welche Eigenschaften hat er? Manche waren der Meinung,dass sich Informatiker nicht von anderen Leuten unterscheiden. Andere reproduzierten dasstereotype Bild des ungepflegten, blassen Informatikers mit kariertem Hemd, zerrissenerHose und eckigen Augen. Es wurde angenommen, dass Informatiker keine oder nur wenigesoziale Kontakte haben, eher kontaktscheu sind, sich mit ihren Kumpels ausschließlich überComputer und Programme unterhalten und Informatik studieren, weil sie später viel Geld

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verdienen wollen. Ausschließlich war hier die Rede von Männern, weibliche Studentinnenhatten in diesem Bild offenbar keinen Platz.

Fazit

Wie gehen wir mit solchen Bildern und Annahmen um? Auch sie sind Facetten der Informa-tik-Identität. Was bewirken Lehrende, Curricula und fachliche Außendarstellungen gegen-über diesem Geflecht von Einschätzungen?

Die Studierenden im Projekt ISI haben auf die Befragungsergebnisse reagiert, indemsie eine Reihe von individuellen Erfahrungsberichten von InformatikerInnen in die Bereiche„Studium und Beruf“ ihres Systems aufnahmen und eine zusätzliche Kategorie „Frauen” ein-richteten. Auf eine tiefer gehende Beleuchtung der Frage „Was ist Informatik” haben sie sichleider nicht eingelassen.

In unseren Diskussionen auf der Hersfelder Tagung 2003 ist mir klar geworden, dassunsere Studierenden eine schwierige Entwicklung durchlaufen müssen: Ihr Interesse wird ge-weckt durch den Umgang mit Informationstechnologie. Im Studium müssen sie feststellen,dass es in der Informatik viel mehr zu lernen und zu bedenken gibt, als das perfekte Zurecht-kommen mit Geräten und Software. Am Ende werden sie in eine berufliche Realität entlas-sen, die primär nach ihren Geräte- und Softwarekenntnissen zu fragen scheint (zumindestmag dieser Eindruck aufgrund von Stellenanzeigen so entstehen). Dass sie gebrauchen kön-nen, was sie im Informatikstudium gelernt haben, wird ihnen dann erst im Laufe ihrer Berufs-tätigkeit klar.

Literatur

Maaß, Susanne 2001: Was heißt und zu welchem Ende studiert man(n) Informatik? Erwartungen, Erfah-rungen, Selbstverständnis, neue Bilder. In Nake, Frieder, Arno Rolf, Dirk Siefkes (Hrsg.): in-formatik. aufregung zu einer disziplin. arbeitstagung mit ungewissem ausgang. Heppenheima.d.B. 6. bis 8.4.2001. Universität Hamburg: Informatik Bericht 235, Oktober 2001, 64-66

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Wozu Informatik? Ein Antwortversuch aus pädagogischer Sicht

Werner Sesink, TU Darmstadt

Informatik vermittelt durch ihre Tätigkeit den sozialen Lebensprozess. Der Einstieg in dieinformatische Vermittlungssphäre ist ein spezifischer Abstraktionsvorgang, nämlich Forma-lisierung. Die Vermittlungssphäre selbst wird dann durch formale Modelle und deren infor-mationstechnische Implementierung (Maschinen) gebildet. Der Ausstieg aus der Vermitt-lungssphäre ist – komplementär – ein Konkretionsvorgang, nämlich die Integration dieserMaschinen in die menschliche Lebenswelt durch ihre Anwender.

Systementwicklung bedeutet: Ein Weltausschnitt wird durch formalisierende Ab-straktion auf seine (wesentlichen?) Strukturen reduziert. Als wesentlich können von vorn-herein nur formale Bezüge erscheinen. Was als wesentlich gilt, ist also auf dieser fundamen-talen Ebene nicht etwa ein Ergebnis des Modellierungs- und Formalisierungsaktes, sonderneine Entscheidung, die ihm bereits zugrunde liegt. Daher ist zu fragen: Welche Implikationen(Vorentscheidungen) enthält Modellierung durch Formalisierung?

Antwortversuch: Alles am zu modellierenden Weltausschnitt, das sich der Forma-lisierung entzieht, also was daran material ist, was individuell und einzig ist, erscheint vonvornherein als unwesentlich. Soweit das tatsächliche menschliche Leben aber von materialenBedingungen und Gegebenheiten wie menschlichen Bedürfnissen und Leidenschaften geprägtist, davon, dass Personen als diese einzigen und unaustauschbaren Individuen an einanderInteresse haben und ihr gemeinsames Leben gestalten, soweit es also von menschlichen Sinn-gebungen zeugt, kann es in formalen Modellen nicht erfasst werden. Formale Modelle sindsinnfrei und menschenleer. (Informatiker sprechen vielleicht eher von Kontextfreiheit.) Auchkann das heißen: Sinn ist in ihnen ersetzt durch Funktion.

Diese so zugespitzt als Sinnentleerung charakterisierte informatische Tätigkeit er-wächst und motiviert sich allerdings aus lebendigen menschlichen Bezügen, was impliziert,dass die hervorgebrachte Sinnfreiheit für etwas „gut“ ist. Ich frage also nach dem Sinn dieserAbstraktion von Sinn.

Wichtig wird an diesem Punkt die Unterscheidung zwischen einer Auffassung desformalen Modells als Medium und der Auffassung des formalen Modells als Ziel.

Formalisierung als zielführend

Ich möchte bei dieser zuletzt genannten Auffassung jetzt zuerst ansetzen und sie näher erläu-tern. Ihre Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Abstraktion von Sinn lautet: Ihr Sinnbesteht darin, dass diese Frage nach dem Sinn nicht mehr zu stellen ist. Das „Gute“ an denformalen Systemen ist, dass sie formal sind. Sie sind nicht für etwas „gut“, sondern sie selbstsind das „Gute“. Ihre Herstellung dient nicht einem höheren Zweck oder Sinn; sie sind derZweck und der Sinn. Was in ihnen sich manifestiert, ist das, worum es geht: die Auslegung vonSinn als Funktion. Insofern formuliert diese Position auch nicht so sehr eine Antwort auf eineFrage (was ja immer wieder die Frage nach der Angemessenheit der Antwort an die Frage pro-

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vozierte, also den Primat der Frage implizierte), sondern besteht im Verweis auf ein Ergebnis,einen Fakt. Der Sinn der formalen Systeme ist, dass sie das tun, was sie tun: Funktionieren.

Damit aber formale Modelle Wirkung in der Welt entfalten bzw. in realen Lebens-kontexten funktionieren, müssen sie materialisiert werden. Wie ich es verstehe, geschiehtdies durch ihre Implementierung als Steuerungsinstanzen in realen Maschinen. Die „Interpre-tation“ ihrer „Bedeutung“ geschieht durch technische Kopplung. Durch Automatisierungkönnten solche Systeme so autonom werden, dass ihr Funktionieren unabhängig würde vonjeglicher subjektiver „Bedeutung“.

Die Rationalität des Systems wuchert dann normierend in die lebensweltliche Um-welt des Systemraums hinaus bzw. erweitert ihn. Es ist nicht mehr Aufgabe des Systems, sichin die lebensweltliche Umwelt einzufügen, sondern Aufgabe der Lebenswelt, ihr Verhaltennach dem formalen Modell auszurichten, das das System von ihr hat. Günter Anders hat die-sen Vorgang, „dass das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird“ (Anders 1956:179), „inver-tierte Imitation“ genannt.

Damit würde eine Ent-Materialisierung der Welt eingeleitet, verstanden als Errich-tung der Herrschaft der Form über die Materie. Die technische Hardware ist mitsamt ihremFunktionsbereich ein Stück materieller Realität, welches per Programmsteuerung unter dieKontrolle des formalen Modells gebracht wird. Soweit dies ingenieurtechnisch tatsächlichgelingt, entsteht so ein Realitätsausschnitt, dessen Materialität sich durch eine höchst merk-würdige Charakteristik auszeichnet: Es handelt sich um unterworfene, gleichsam gehorsame,sich selbst verleugnende Materialität. Man könnte von einer getriebenen Materialität sprechen,anspielend auf sogenannte „Treibersoftware“, in der ein virtuelles Ideal des Prozesses einereale Maschine kontrolliert und steuert. Das Bild zeugt von der Gewaltsamkeit des Vorgangs,der letztlich auf Vernichtung oder Verschwinden der Materialität und so auf den Triumphvon Form und Funktion zielt.

Anders sah in der geschilderten Inversion eine „Perversion“ (Anders 1956:191). Undwer würde schon in der Perspektive, die sie weist, eine positive Utopie sehen können. Aber inihrem imperialistischen Idealismus steckt doch auch jenes Moment humaner Wahrheit, das über-haupt dem Idealismus innewohnt: dass die Menschen nicht einfach sind, was sie sind; sonderndass sie ihre je gegebene Daseinsweise vermittels ihrer Ideen zu transzendieren, dass sie sichund ihre Welt weiterzuentwickeln vermögen. Ohne diese „idealistische“ Annahme würde diepädagogische Sorge für das, was wir Bildung nennen, obsolet.

Formalisierung als vermittelnde Intervention

Ich wende mich jetzt also der zweiten Position zu, derzufolge die informatische Abstraktionnicht ein Ziel, sondern eine Vermittlungssphäre begründet. Hier wird an eine andere Weise derMaterialisierung formaler Modelle gedacht: an eine Re-Materialisierung durch die Menschen,in deren Lebenszusammenhängen diese in erster Instanz technisch materialisierten Modelle inzweiter Instanz lebensweltlich materialisiert werden. Dies wirkt sich schon auf die erste Instanzaus, indem diese eine materiale Technik hervorbringt, die den Menschen „an die Hand gege-ben“ wird. Diese materiale Technik weist notwendig eine dem Menschen zugewandte Seiteauf. Die so genannte Benutzerschnittstelle ist dann nicht nur zu gestalten als Interface für dieAnkopplung des Menschen ans System (der damit selbst zur Peripherie der Maschine würde),sondern dient der lebensweltlichen Re-Kontextualisierung der zur Verfügung gestelltenFunktionalität. In zweiter Instanz aber geschieht erst das Entscheidende: Durch die vom An-wender zu leistende Integration der Maschine und ihrer Funktionalität in seinen Lebenskon-text wird die abstrakte informatische Technik „konkret“, d.h. sie verwächst mit dieser nicht-maschinellen Wirklichkeit von Welt. Anwendung ist daher nicht einfach nur das Abrufen dervon der Technik bereitgestellten Funktionalitäten, sondern eine höchst bedeutsame Leistung,

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die ohne eine aktive Umstrukturierung des jeweiligen Lebenskontextes und der darin sinn-vollen Handlungsabläufe nicht möglich ist. Erst in diesem Konkretisierungsschritt erhält dieTechnik Sinn. Eine gute Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle (erste Instanz derMaterialisierung) kann diese sinnstiftende Leistung unterstützen oder erschweren oder garunmöglich machen.

Insofern bedeutet schon die Materialisierung erster Instanz (der reale Maschinenbau)einen Eingriff in die Lebenswelt, den wir als Technisierung bezeichnen. Unsere Welt wirdvon immer mehr Apparaten und technischen Systemen bevölkert, die einerseits materielleBedingungen sind, die nicht mehr ohne weiteres zu übergehen sind: sie stehen uns gleichsamim Wege; die andererseits aber auch Aufforderungs-Charakter haben, indem von ihnen dieAnforderung ausgeht, die durch sie bereitgestellten Funktionalitäten wahrzunehmen undstrukturell in die bestehende Lebenswelt zu integrieren. Selbstverständlich sind wir nicht un-ausweichlich gezwungen, dieser Aufforderung nachzukommen; es gibt genügend Beispiele fürlebensweltlich abgestoßene Technologien. Solche nicht angenommene, nicht integrierteTechnik hinterlässt aber auch als ungenutzte oft genug ihre Spuren. Was sich daran zeigt, ist,dass Technik aus eigener Kraft nicht konkret werden kann. Ihre Materialisierung zweiterInstanz setzt entweder ihre Durchsetzung aufgrund sozialer Macht voraus oder ihre Akzep-tanz bei den Anwendern.

Ein so als zweistufiger Materialisierungsprozess verstandener „Ausstieg“ aus der in-formatischen Vermittlungssphäre hat allerdings Konsequenzen schon für den Einstieg in sie,nämlich für die informatische Entwicklungstätigkeit. Entwickler, die ein autonomes Systemplanen, brauchen auf die nicht vorgesehenen Anwender sowieso keine Rücksicht zu nehmen.Entwickler, die Systeme entwerfen, die von Menschen lediglich zu bedienen sind, müssenzwar ihre Systeme bedienbar gestalten; doch bleibt dies eine Rücksichtnahme auf ergonomi-scher Ebene; brutal formuliert: auch wer in vorindustrieller Zeit einen Ackerpflug bauen woll-te, musste bei der Konstruktion auf die Physis des Gauls Rücksicht nehmen und sozusagenein „gaulfreundliches“ Geschirr vorsehen. Aber wer will, dass das von ihm entwickelte Systemden Menschen in irgendeiner Weise das Leben leichter macht oder gar ihr Leben bereichert,der muss schon in der Entwicklung diesen Kontext „prospizieren“; allerdings ohne ihn zudeterminieren.

Noch einmal also zur Frage nach dem Sinn der formalisierenden Abstraktion vonSinn: Die Materialität der Welt erweist sich an ihrer Undurchdringlichkeit für den Formenfassenden Verstand, sie setzt der Kontrolle Grenzen, hüllt die Welt letztlich in ein Dunkel,das wir nicht zu ergründen vermögen und aus dem unsagbarer Schrecken droht. Das formaleModell mag daher zwar unwirklich sein; doch in ihm verliert die Welt ihr Geheimnis, wird siehell, berechenbar, beherrschbar. Menschliches Leben ist geprägt von intransparenten Bedin-gungen und Abhängigkeiten; demnach in hohem Maße heteronom. Indem Formalisierungvon menschlichem Lebenssinn abstrahiert, abstrahiert sie auch von diesen heteronomenMomenten der menschlichen Existenz.

Vorhandene Sinnbezüge werden durch Formalisierung aufgelöst. Dies ist nicht etwaeine unbeabsichtigte Nebenwirkung; sondern eben dies macht Formalisierung aus. Technikist Auflösung. Deshalb wäre auch die Rede von der Neutralität der Technik sehr missverständ-lich, wenn sie nämlich besagen wollte, dass es erst die Anwendung sei, durch die Destruktionins Spiel komme. Nein, man muss die Aussage darauf zuspitzen: Technik ist Destruktion. Des-halb löst sie zwangsläufig Ängste aus bei denen, für die es an dem, was durch Technik forma-lisiert wird, etwas Wertvolles und Bewahrenswertes gibt. Nicht mehr ausschließlich bedroh-lich erscheint diese Aussage allerdings, wenn man weiter bedenkt, dass es ohne Destruktionkeine Konstruktion geben kann. Das Neue, auch das Bessere, erwächst immer nur aus der De-struktion des Alten. Durch die technische Auflösung gegebener Lebenszusammenhänge wirdeben auch freigeräumt, werden Verkrustungen aufgebrochen, wird Raum geschaffen für An-deres. Neue Möglichkeiten entstehen. Unerschlossene und unausgeschöpfte Potenziale kön-

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nen ins Blickfeld rücken. Technik schafft einen Möglichkeitsraum, der die kreativen undgestaltenden Kräfte auf den Plan ruft. Zweck- Mittel-Bezüge werden aufgebrochen. Mehrnoch: Die Dominanz der Zwecke über die Mittel wird erschüttert. Die Universalität der In-formationstechnologie stellt ein Mittelpotenzial zur Verfügung, das jeden Zweck, der über-haupt instrumental erreichbar erscheint, möglich werden lässt. Sie eröffnet einen Horizontdes Menschenmöglichen, der durch Zwecke überhaupt erst noch auszufüllen ist.

Die Auflösung aller vorgegebenen Bestimmtheiten, die ja nicht nur Festlegung vonBedingungen, sondern auch der Sinnhorizonte bedeutete, in denen die Menschen sich vor-fanden, bringt Unbestimmtheit hervor, raubt den Halt an unverrückbar gültigen sittlichen Maß-stäben. Ganz zu Recht ist daher von einer Sinnkrise die Rede, in der wir uns befinden. Es gilt,Sinn neu zu bestimmen, wo man sich nicht mehr auf seine Unbezweifelbarkeit berufen kann.Wo nicht zuletzt dank informatischer Tätigkeit Unbestimmtheit sich ausbreitet, wird Selbst-bestimmung möglich und nötig.

Dies allerdings ist das pädagogische Programm. Wir bezeichnen es mit der Normvor-stellung der Mündigkeit. Nicht mehr ist festgelegt, was jemand zu denken, wie er sich zu ver-halten hat; aber wir fordern, dass er in der Lage ist, dies mit Gründen, die vor ihm selbst undvor seiner sozialen Umwelt Bestand haben können, zu entscheiden und auszuformen. Dieauflösende informatische Abstraktion emanzipiert von Traditionen, Gewohnheiten, Autori-täten, von allem, was einfach nur gelten soll, weil es so ist. Sie schafft freien Raum für Selbst-und Neubestimmung. Sie nimmt den Menschen als Mündigen in die Pflicht und Verantwor-tung. Ist die Welt aufgelöst, muss sie material neu synthetisiert werden. Der Mensch kannsich in neue Zusammenhänge stellen.

Aber er kann und muss auch entscheiden, was bewahrt und also restituiert werdensoll. Technik selbst ist diese Synthese noch nicht. Die synthetisierenden Kräfte im Menschensind es, die provoziert werden, seine produktive Einbildungskraft ist es, die beansprucht wird.

Keineswegs also entmündigt Informationstechnik die Menschen. Jedenfalls nicht,wenn wir sie als Vermittlungssphäre und nicht als Modell verstehen, nach dem die Welt sichrichten soll. Vielmehr fordert sie die Mündigkeit, die Selbstverantwortung, die eigene Sinn-gebung. Ganz nah also ist die Informatik plötzlich der Pädagogik. Beide sind sie:

Kinder der Aufklärung.!

Literatur

Anders, Günther 1956: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I. München: C.H. Beck

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Zur Identitätsfindung in der Informatik

Rüdiger Valk, Universität Hamburg

Erleben wir nicht immer wieder ähnliche Situationen wie diese: in der abendlichen Gesell-schaft mit nicht zu gut Bekannten kommt das Gespräch auf die eigene Profession. „So, Siebefassen sich mit Informatik?“ heißt es erwartungsvoll. Wenn wir dann aber versuchen klarzu machen, dass wir uns bei den alltäglichen PC-Problemen genauso allein gelassen fühlen wieandere, ist eine Irritation unverkennbar. Was ist also das auch Außenstehenden vermittelbareKennzeichen unserer beruflichen Tätigkeit?

„Die Wirksamkeit informatischer Zeichen (Software) resultiert insbesondere aus ih-rem Doppelcharakter, zugleich Signal für die Maschine und Zeichen für den Menschen seinzu können,“ heißt es zu Recht im Einladungspapier der Arbeitsgruppe. Signale stammen vonSendern und sind bestimmt für Empfänger. Wie aber werden die Signale gedeutet? Offenbarnicht in dem Maße, wie dies Informatikerinnen und Informatiker für richtig halten. Die vonihnen vollbrachten Großtaten (ihre Kathedralen, Wolkenkratzer und Raumschiffe) wie auchdie von ihnen in die Welt gesetzten kleinen Helfer werden offenbar nicht als solche wahrge-nommen und ggf. auch anderen Gebieten zugeordnet.

Ist das nicht der gleiche Grund, warum die besten Schüler lieber Mathematik undPhysik studieren und die großen Zukunftsaufgaben den Gebieten Gentechnik, Nanotech-nologie und Robotik zugeschrieben werden? [Joy 2000] Beim Schreiben des Positionspapiersfür die Heppenheimer Tagung 2001 stellte sich mir daher auch die Frage, ob die Informatikals Disziplin eine Zukunft habe [Valk 2001]. Dabei ist der Gegenstand anderer Disziplinenauch „soft“, wie in [Valk 1997] mit dem Vergleich zur Profession der Juristen ausgeführt. Be-trachtet man die von ihnen produzierten Gesetzestexte als Ergebnis ihrer Arbeit, so ist diesähnlich unspektakulär wie Software. Gilt aber dann der folgende, für die Informatik im Ein-ladungspapier formulierte Satz nicht auch für sie? „Die Disziplin der Juristen ist nur im inter-disziplinären Kontext zu betreiben und zu verstehen“, müsste es entsprechend heißen.

Informatiker sind wie Juristen auf adäquate Kommunikation mit ihren Kunden ange-wiesen. Ich bezweifle allerdings, dass dies allein oder auch nur wesentlich Identität stiftendfür beide sein kann. Immerhin ist diese Frage mit Punkt 1 des Einladungspapiers verbunden:Wie entwickelt sich Fachidentität durch interdisziplinäre Erfahrungen? In einem Projekt mitSoziologen [Lüde et al. 2003] hatte ich Gelegenheit, eine solche Kommunikation zu beobach-ten. Deutlich war dabei, wie die Informatiker sich ihrer spezifischen Methodik und Sozialisa-tion bewusst wurden und sich mit den Urteilen und Vorurteilen der Partner auseinander setz-ten. Andererseits definierte sich ihre Identität aus ihrer besonderen Fähigkeit beim Umgangmit Formalismen und ihrer von der Begrenzung des Anwendungskontextes befreiten Sichtauf Strukturen. Die Kommunikation zwischen Informatikern und Soziologen ähnelte in vie-len Punkten derjenigen zwischen Software-Produzenten und Auftraggeber.

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Literatur

Joy, B. 2000: Warum die Zukunft uns nicht braucht. F.A.Z. vom 6.6.2000Lüde, R. v., D. Moldt, R. Valk 2003: Sozionik – Modellierung soziologischer Theorie. Münster: LIT VerlagValk, R. 1997: Die Informatik zwischen Formal- und Humanwissenschaften. Informatik-Spektrum 2(1997) 95-

100Valk, R. 2001: Von der Mikro- zur Makrotriade. Informatik im Zwiespalt der Wahrnehmungen, Positionspapier

zur Arbeitstagung „Theorie der Informatik“, Heppenheim 2001

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Vermittlungsprozesse.Von Vorstellungen und Bildkorrekturen

Ulrike Wilkens, Hochschule Bremen

Zusammenhänge

Der Titel der diesjährigen Arbeitstagung „Informatik zwischen Konstruktion und Verwer-tung“ und der Titel der AG „Informatik im interdisziplinären Kontext: Wie wird Identitätkonstruiert?“ verweisen auf Verhältnisse, von denen wir glauben, dass sie die aktuelle Infor-matik kennzeichnen und die wir auf dieser Arbeitstagung darum genauer betrachten wollen.In meinem Beitrag interpretiere ich beide Titel vor dem Hintergrund meiner derzeitigen be-ruflichen Tätigkeit als Informatikerin1 und betrachte Situationen, die mir Beispiele für infor-matisches Handeln zwischen Konstruktion und Verwertung im interdisziplinären Kontextliefern und deren Besonderheiten ich aus meiner beruflichen Praxis heraus beschreiben kann.

Informatik zwischen Konstruktion und Verwertung

Ich habe mit Informatiksystemen zu tun, deren Zustandekommen ich auf das Tun von Infor-matikerInnen zurückführe. Ich nehme an, dass diese Systeme das Ergebnis von Arbeitspro-zessen sind, in die wissenschaftliche Erkenntnisse der Informatik eingeflossen sind und derenHerstellungsprozess sich durch einen hohen Anteil von „ingenieurmäßiger“ Planungs- undKonstruktionstätigkeit mit dem Ziel, Qualität und Zuverlässigkeit zu produzieren, geprägtwar. An diesem Prozess war ich nicht beteiligt.

Ich habe mit der Anwendung dieser Systeme zu tun, indem ich sie zur Nutzung be-reitstelle und zwischen diesen Systemen und den Menschen, die sie benutzen wollen, ver-mittle. Ich stelle also ein Verhältnis zwischen dem System und dem Anwendungskontext her,ich könnte auch sagen: ich interpretiere die Möglichkeiten des Systems in Bezug auf Verwen-dungszwecke und treffe dabei eine Auswahl.

Informatik zwischen Konstruktion und Verwertung

Ich arbeite auf der Grenze der Informatik: Mit Sicht auf die angewandten und vermitteltenSysteme dort, wo die sog. „Neuen Medien“ mit Lernprozessen eine Verbindung eingehen, mitSicht auf die Zuordnung meines Projekts zum Fachbereich Informatik im Begegnungsraumzwischen Informatik und allen anderen Disziplinen, die das Lehrangebot an dieser Hoch-schule konstituieren. Zum Verhältnis zwischen diesen Disziplinen trage ich durch mein Ver- 1 Genauer: als Wissenschaftliche Mitarbeiterin (wobei „wissenschaftlich“ im konkreten Fall eher eine

Formel des Öffentlichen. Dienstes ist denn eine forschende Tätigkeit beschreibt), die die Inte-gration der „Neuen Medien“ in die Hochschullehre betreiben soll, deren Aufgabenbereich denSchwerpunkt in der Entwicklung von Hochschulstrategien und mediendidaktischen Konzeptenhat und die für diesen Arbeitsbereich als geeignet gehalten wurde, wahrscheinlich nicht zuletztwegen einer Doppelqualifikation (Lehrerin und Diplom-Informatikerin) und wegen wissen-schaftlicher und Berufs-Erfahrungen im Bereich (Aus- und Weiter-)Bildung als Informatikerin.(Schon dieser Fußnotentext wäre ein Fallbeispiel zum Thema „Identität von InformatikerInnen“und hätte vielleicht mehr als den Status einer Fußnote verdient.)

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halten und durch die Interpretation von Verhaltensweisen bei. Genauer: Zum Bild, das ande-re von „der Informatik“ haben, und zur Vorstellung (von Informatikern) davon, was anderevon „der Informatik“ brauchen und erwarten.

Rahmenbedingungen von Fallbeispielen

Zur Auseinandersetzung mit der Frage der Arbeitsgruppe, wie – oder zur Überprüfung derHypothese, ob – (Fach)Identität konstruiert wird, konzentriere ich mich auf Fallbeispiele. DerFokus liegt auf der hochschulweiten Implementierung einer Lernplattform und der Einfüh-rung von Lehrenden in die Nutzung dieses Systems. Die Situation, aus der ich die Beispielegewinne, ist durch Akteure bestimmt, die den Interpretationsrahmen herstellen:

- Das Rektorat der Hochschule. Es hat entschieden, Lehrenden und Studierenden allerFachbereiche die Lernplattform als informationstechnische Infrastruktur für die In-tegration netzbasierter Komponenten (Materialien und Interaktionen) in die Lehreanzubieten. Die Nutzung ist erwünscht, aber nicht verpflichtend.

- Die Informatik. Genauer: ein im Fachbereich Informatik angesiedeltes befristetesProjekt, das die Installation und Anpassung des Systems sowie die Einführung derNutzerInnen konzipiert und durchgeführt hat und damit die Integration Neuer Me-dien in die Lehre gestaltet.

- Die Zielgruppe. Für die ersten Informationsveranstaltungen und Einführungskursewaren dies HochschullehrerInnen, Lehrbauftragte sowie technische Mitarbeiter-Innen und Verwaltungskräfte, die für die Durchführung von LehrveranstaltungenDienstleistungen übernehmen. Die Teilnahme an den Veranstaltungen war freiwilligund kostenlos.

An der ersten Einführung in die Nutzung des Systems haben ca. 60 Personen aus allen neunFachbereichen1 der Hochschule teilgenommen, verteilt auf sieben Veranstaltungen, die alsKombination von Präsenz- und Telelernen mit tutorieller Betreuung angelegt waren. Ziel warzu vermitteln, welche Funktionen die Lernplattform bietet, wie man sie benutzt, und (wegender verfügbaren Zeit eingeschränkt) was damit didaktisch möglich ist. Die TeilnehmerInnenhaben in dieser Situation mit folgenden Instanzen zu tun gehabt, die sie mit „Informatik“ 2 inVerbindung bringen:

- Das Lernplattform-System ILIAS (open source), das vor drei Jahren entwickelt wurdeund das seit November 2002 in der Hochschule Bremen von Lehrenden und Studie-renden benutzt werden kann.

- Ein technischer Mitarbeiter (Informatik-Assistent), der als Systemadministrator derLernplattform fungiert und der für die Erteilung von Zugangsberechtigungen und fürdie Anpassung des Systems an Hochschulbelange zuständig und Ansprechpartner fürProbleme ist, die (vermutlich) auf technischen Ursachen beruhen.

- Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin (Diplom-Informatikerin, promoviert), ebenfallsmit Administratorinnen-Status, wird als „Fachfrau für eLearning“ in der Hochschule

1 Die Fachbereiche sind: Allgemeinwissenschaftliche Grundlagenfächer, Architektur, Bauingenieur-

wesen, Elektrotechnik und Informatik, Maschinenbau, Nautik und Internationale Wirtschaft,Schiffbau, Meerestechnik und Angewandte Naturwissenschaften, Sozialwesen, Wirtschaft.

2 ...mit Gegenständen und Sachverhalten, an deren „Herstellung“ InformatikerInnen beteiligt waren(Produkte, Erkenntnis), und mit dem, was InformatikerInnen tun (wie sie „sich verhalten“).

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wahrgenommen, als Mediendidaktikerin und als Teletutorin in den Einführungskur-sen, führt den „inhaltlich-organisatorischen“ NutzerInnen-Support durch.

- Technische MitarbeiterInnen des Rechenzentrums, die hauptsächlich als Betreiberund Betreuer von PC-Räumen, Netzen (z.B. wLAN) und Netzdiensten (z.B. Email)in Erscheinung treten.

- ProfessorInnen der Informatik, die die Einführung von ILIAS als Projektleiter oderals Entscheider mit verantworten, und StudentInnen der Informatik, die Entwick-lungsarbeiten für das System vornehmen.

Diesem Rahmen entstammen die Beispiele dafür, wie Informatik außerhalb der Disziplinwahrgenommen wird, wie die Vermittlung von Informatiksystemen das Bild von der Profes-sion mit bestimmt, und wie diese Vorstellungen von „Informatik“ – eigene und fremde – imZuge des Vermittlungsprozesses überprüft, in Frage gestellt und korrigiert werden.

Beobachtungen, Zuschreibungen, Interpretationen, Korrekturen

Die Beispiele will ich unter folgendem Gesichtspunkt befragen: Welche Vorstellungen vonInformatik bilden sich bei den TeilnehmerInnen der Einführungskurse heraus – durch dieWahrnehmung des Systems und durch meine Vermittlungstätigkeit? Über die Vorstellungender TeilnehmerInnen kann ich keine zuverlässigen Aussagen machen. Ich kann aber Aussa-gen darüber machen, was ich von einem System oder einer Person – deren Erscheinungsbild,Eigenschaften, Verhaltensweisen, Reaktionen auf meine Aktionen – wahrnehme, auch darü-ber, was ich über das System zu wissen glaube, und ich kann über Aussagen anderer darüberberichten, von NutzerInnen (als Fragen, als Kritik, als Erfahrungsbericht) und von Entwick-lerInnen (Hilfetexte, Beiträge in Diskussionsforum).

Äußerungen über (Wahrnehmungen der) Systeme und Personen gehen ein in Kom-munikationsprozesse, in dem die Aussagen (ggf. die darin geäußerten Wahrnehmungen) bes-tätigt, kommentiert, relativiert, ergänzt, korrigiert oder ignoriert werden. Aus den Äuße-rungen und Wahrnehmungen kann ich Rückschlüsse ziehen über die Vorstellungen, die sichdarin ausdrücken oder daraus entwickeln. Wir finden also Antworten durch die Interpreta-tion empirischer Daten. Allerdings sind sie nicht systematisch erhoben.

Die Beispiele sind Beispiele – doch solche zu liefern, haben die zur ArbeitsgruppeEinladenden gewünscht. Die Beispiele sind noch keine Verallgemeinerungen oder Systema-tisierungen – für dieses Papier sind sie ein Sammelsurium unsystematischer, zufälliger, aberkonkreter Beobachtungen und Aussagen. Und es sind Beispiele auf der „untersten Ebene“ des„Dialogs zwischen den Disziplinen“, auf der wenige Personen als NutzerInnen und BeraterIn-nen mit und über ein IT-System kommunizieren.

„Vermittlung und Interpretation im informatischen Grenzbezirk“.

Unter dieser Überschrift sind die Beispiele unten in einer Tabelle aufgeführt. Einige Erläute-rungen scheinen angebracht zu sein.

Die erste Spalte ordnet die Beispiele in Kategorien, die unterscheiden, ob es um dieWahrnehmung von Eigenschaften von IT-Systemen geht oder um Personen, die für „die In-formatik“ stehen. Die Unterkategorien versuchen schon eine Strukturierung der Beispielenach Themen oder Problembereichen, die man bei der Frage nach dem Verhältnis von Infor-matik zu anderen Disziplinen genauer betrachten sollte.

Die zweite Spalte („Phänomen ...)“ enthält Beispiele für Systemeigenschaften, Verfah-ren, Verhaltensweisen , die in den Einführungsveranstaltungen explizit angesprochen wurden

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und auf die ich oder die beteiligten technischen MitarbeiterInnen eingegangen sind (teils nurstichwortartig).

Die dritte Spalte („Interpretation I“) listet Äußerungen auf, die tatsächlich gefallensind. Enthalten sind z.B. Anweisungen, Kommentare, alternative Lösungsvorschläge, Diffe-renzierungen, die das beobachtete Phänomen zum Teil. auf unterschiedliche Weise inter-pretieren. (Beispiele für Körpersprache, Mimik etc. haben wir hier nicht aufgeführt, obwohlderen Interpretationspotenzial nicht zu vernachlässigen ist.)

Die vierte Spalte („Interpretation II“) ordnet den Interpretationen aus der drittenSpalte mögliche Rückschlüsse bei – über Informatik (oder das, was InformatikerInnen könnenund tun), zu möglichen Übertragungen auf das eigene Fachgebiet (z.B. die Art der Beziehungzwischen Informatik und Didaktik), die die unterschiedlichen Vorstellungen, die sich entwi-ckeln könnten (und von denen ich teilweise durch Äußerungen Kenntnis erhalten habe), vor-sichtig andeuten.

Eine fünfte Spalte gibt es hier nicht. Sie könnte aber nach Ergänzung weiterer Beispieleprägnante Generalisierungen enthalten wie z.B.

• „Die Produkte von InformatikerInnen zeichnen sich aus durch Eigenschaften wieQualität, Zuverlässigkeit, Sicherheit, Benutzungsfreundlichkeit etc .“

• “InformatikerInnen nehmen fehlerhafte Systeme in Kauf.“• „Bestimmte Konzepte der Informatik sind inzwischen kulturelles Allgemeingut.“• „Mit Informatik-Systemen lässt sich Lernen effizienter machen.“• „Mit Informatik-Systemen lässt sich Lernfortschritt überwachen.“• „InformatikerInnen dürfen von den AnwenderInnen Kompromisse verlangen.“

Beispiele zur Konstruktion von Antworten?

Sind das überhaupt (auf dieser Mirkoebene) Beispiele dafür, wie „Fachidentität“ konstruiertwird? Sagen diese Beispiele nur etwas über das Bild von InformatikerInnen aus, oder könnenwir daraus etwas über „die Informatik“ ableiten: Was sie ist? Wodurch sie charakterisiert ist?Wodurch sie sich entwickelt?

In welcher Beziehung stehen diese Beispiele zu den „Gegenständen“ der Informatik?Mit welchen Bildern ist „die Informatik“ einverstanden? Welchen Anteil am Zustandekom-men dieser Vorstellungen haben die Informatik-Produkte selbst, welchen Anteil haben diePersonen, die die NutzerInnen mit den Produkten vermitteln – z.B. durch Sprache? Wiekommen wir von Beispielen zu Generalisierungen? Welche Disziplin kümmert sich darum?Und wie können wir das Bild korrigieren?

Anders ausgedrückt – wieder gewendet zum beruflichen Zusammenhang, in dem ichals Informatikerin tätig bin: Ich würde gerne wissen, welche Vermittlungsprozesse die (ver-schiedenen!) Auffassungen über die Rolle der Informationstechnik bei der Verbesserung derHochschullehre geprägt haben – was dabei auf den Charakter der digitalen Medien zurück zuführen ist und welchen Anteil die Vermittlungstätigkeiten von InformatikerInnen dabei ge-spielt haben: von der Gräben der „NutzerInnen-Schulung“ bis hinauf zur Bühne, auf der Bil-dungsplanung und Forschungsförderung gespielt wird.

Was also trägt zur gesellschaftlichen Konstruktion des Verhältnisses zwischen Neu-en Medien und Bildung (Informatik und Didaktik) bei? Wie und wodurch wird das Verhält-nis zwischen beiden im grenznahen Begegnungsraum gestaltet und wie wirkt das zurück aufdie Entwicklung der beteiligten Disziplinen? Wie können wir zu Antworten kommen? Ichhoffe, die Arbeit in unserer Arbeitsgruppe ist ein möglicher Weg.

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Tabelle. Vermittlung und Interpretation im informatischen Grenzbezirk: Beispiele

Phänomen

Systemeigenschaft, Verfah-ren,Verhaltensweise

Interpretation I

Aussagen im Rahmen der Vermittlungstätigkeit, z.B.Anweisungen, Kommentare, verbale Reaktionen

Interpretation II

Rückschlüsse über Informatik (was InformatikerInnenkönnen und tun) – Übertragung auf eigenes Fachgebiet(Art der Beziehung zwischen Informatik und Didaktik)

Informatik-SystemeStrukturierung und Modulari-sierung

„Lerneinheiten“ (= verknüpfteWebseiten), die mit demSystem erstellt werdenkönnen, sind modular und (inBezug auf die Erstellung)hierarchisch strukturiert:Kapitel, Sequenz von Seiten,Seite, Block (Dateitypen:Text, Bild, Video...)

- Das System bietet Muster an, die der didaktisch mo-tivierten Struktur von Lernmodulen entsprechen.

- Das System unterstützt technisch zwei Dokument-strukturen: Sequenz (hierarchische Gliederung) undVernetzung (Hypertext). Im Prinzip lassen sich alleLerninhalte darauf abbilden.

- Das System verlangt das Aufgliedern von Inhalten undLernmaterialien in kleinste Einheiten, da Kombination zuWebseiten mit angebotenem Editor nicht möglich wäre.

- Es ist von Vorteil, Lernumgebungen in möglichst kleineEinheiten aufzuteilen; das ist die Voraussetzung fürAustauschbarkeit und Wiederverwertbarkeit vonLerninhalten, Arbeitsersparnis...

- IT-Systeme bilden das ab, was InformatikerInnen inder pädagogischen Praxis vorgefunden haben.

- Inhalte müssen auf bestimmte Weise strukturiert wer-den, um in Lern-Software abgebildet zu werden; diemöglichen Strukturen sind durch die Technik bestimmt -und nur Inhalte, die sich auf diese Strukturen abbildenlassen, können mit dem System gut vermittelt werden.

- Die technische Behandlung von Lernen erzwingtModularisierung.

- Modularisierung ist allgemeines Prinzip im Umgang mit„Welt“, wird in der Informatik als ökonomisches Prinzipangewandt und verspricht auch in der Bildung einenEffizienzgewinn.

Möglichkeiten zu Auszeich-nung mit Metadaten

Module aller Ebenen könnenmit Metadaten ausgezeichnetwerden.

- Sie sollten sich angewöhnen, alle Einheiten mitMetadaten auszuzeichnen, nur dann ist gewährleistet,dass Sie oder andere sie später wieder verwendenkönnen und dadurch der Aufwand für die Erstellung vonLernumgebungen verringert wird.

- Die technische Möglichkeit, Auszeichnungen mitMetadaten vornehmen zu können, macht das Systemauch für den Einsatz in Situationen geeignet, in denendie Wiederverwertung / der Austausch von Modulenüberhaupt („kontextfrei“?) möglich ist und mehr Arbeiteinspart, als durch die Auszeichnung aufgewendetwerden muss. Sie müssen das aber nicht tun...

- Weil InformatikerInnen in ihren Systemen die Möglich-keit implementiert haben, meinen Modulen (standar-disierte) Metadaten mit zu geben, tragen sie zu effi-zienteren Bildungsprozessen bei...

- IT-Systeme bieten i.d.R. viele technische Möglich-keiten, von denen sich nicht alle unbedingt als didak-tisch sinnvoll erweisen oder in der Praxis nützlich sind.

Unvollkommenheit vonSystemen

Dem System fehlen Funktio-nen, die von anderen (aktu-ellen, kommerziellen)Anwendungen her bekanntoder vertraut sind (differen-zierte Suchfunktion, externesMailsystem).Das Layout der Benutzungs-oberfläche entspricht veral-tetem WebDesign (ca. 1998);

- Diese Funktion ergänzen wir noch für diese Version,ein Student hat schon einen Werkvertrag bekommen...

- Diese Funktion wird (wahrscheinlich) erst in dernächsten Version enthalten sein.

- Solche Systeme wurden vor drei Jahren noch sogestaltet; der Funktionalität tut das keinen Abbruch...

- Sie sollten mit der Nutzung der Lernplattform warten,bis die neueste Version da ist. Die wird besser sein.

- Jedes IT-System, das einem zur Verfügung gestelltwird, lässt Wünsche offen und kommt gelegentlich mitvorhanden Gewohnheiten in Konflikt...

- Am Markt bereits verfügbare Systeme sind immerschon veraltet.

- Um am Markt verfügbare Informatik-Systeme zufriedenstellend nutzen zu können, müssen sie noch angepasstoder erweitert werden. Ist das nicht möglich, kann mandamit nur schlechte Arbeit machen.

- Um dieses System unserem Bedarf (den gängigenStandards) anzupassen, reicht das Know-How einesStudenten aus.

Fehlerhaftigkeit von Syste-men

Die Benennung einer Funkti-on („Gruppe verlassen“) istmissverständlich und führt zuFehlbedienung, die nichtallein durch die NutzerInrückgängig gemacht werdenkann.

- Ja, das ist missverständlich und damit eine schlechteOberflächengestaltung; es muss aber genügen, einmalbei der Einführung des Systems darauf hin zu weisen...

- Wir könnten das in dieser Version ändern, wenn wirnoch Mittel zu Verfügung haben, um jemanden zubezahlen, der das macht...

- Das passiert nur wenigen, Sie haben eben ein be-stimmtes Vorverständnis, da kann es dann schon malpassieren – es liegt aber nicht an uns....

- Wenn es zu Problemen mit der Benutzungsoberflächekommt, kann dieses geändert werden.

- Wenn es zu Problemen mit der Benutzungsoberflächekommt, liegt das am Nutzer und er muss sich anpassen(= dazu lernen)

Kontroll- und Überwachungs-Möglichkeit

Lehrende äußern Erwartung,dass sie vom Systempersonalisierte Protokolleüber Bearbeitungsdauer undAuswertung von Testergeb-nissen erhalten können undfragen nach der entspre-chenden Funktion.

- Das geht mit diesem System nicht.

- Diese Möglichkeit wird für die NutzerInnen diesesSystems nicht freigegeben.

- Die mit dem System verbundene Datenbank lässt daszu; wir stellen das technisch Mögliche zur Verfügung(muss aber den Vorschriften des Datenschutz genü-gen), Sie müssen damit verantwortlich umgehen.

- Halten Sie es denn für didaktisch sinnvoll? WelcheZiele wollen Sie damit erreichen? Wäre die freiwilligeAbgabe der Testauswertungen eine Lösung?

- Möglichkeiten, die mit dem System im Prinzip realisier-bar wären, werden verschwiegen (im schlimmeren Fall:negiert), um bestimme Nutzungsarten zu unterbinden.

- Informatik-Systeme sind zwar gestaltbar, aber Infor-matikerInnen entscheiden über Einschränkungen/Ermöglichungen und bevormunden uns...

- InformatikerInnen und Lehrende entwickeln gemein-sam Nutzungsszenarien und technische Lösungen.

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IT-PersonalFachkompetenz Informatikerin erzeugt

während der Nutzung einesexternen email-Systems(unmittelbar nach dessenUpdate auf eine aktuelleVersion) Mehrfachversen-dung von Emails an Teilneh-merin des Kurses, erklärtgleichzeitig (über anderesMedium) dass es ihr z.Zt.nicht gelingt, Email zuversenden und dass sie nichtweiß, wo der Fehler liegt.Bekommt Email von Teil-nehmerin mit Hinweis aufMehrfachversendung.

- Bitte um Entschuldigung...das ist so und so passiert...können uns den Fehler nicht erklären, suchen da-nach...

- Der Fehler hat folgendes verursacht; wir haben eineMöglichkeit gefunden, ihn zu unterdrücken (nicht: „zubeseitigen“), sind dabei folgendermaßen auf die Lösunggekommen...

(- und auch das ist eine Reaktion: Ich erzähle nicht,dass weder mir noch zwei technischen Mitarbeiterngelungen ist, einen Teil der dabei verschwundenenDaten wieder herzustellen...)

- InformatikerInnen müssen sich mit allen Anwendungenauskennen.

- InformatikerInnen kennen sich mit allen Anwendungenaus, die sie benutzen. („Wie schön, ich dachte, so waspassiert nur uns normalen Menschen...“)

- InformatikerInnen kennen Strategien, um Fehler imSystem zu beheben.

- InformatikerInnen benutzen Systeme, obwohl ihnenderen Fehlerhaftigkeit bekannt ist.

- „Normale“ Anwender (= Nicht-Informatiker) brauchenimmer Hilfe von InformatikerInnen, um Fehler in IT-Systemen (die sie alle haben), beheben zu können.

Sprachgebrauch 1 InformatikerInnen benutzenselbstverständlich bestimmteFachbegriffe („tags“ z.B.),weil sie davon ausgehen,dass diese im allgemeinenSprachgebrauch inzwischenbekannt sind.

Um das machen zu können, müssen Sie nichts überHTML wissen. Es gibt bestimmt einen tag, mit dem mandas ganz leicht hinkriegen kann, sobald ich den rausge-kriegt habe, stelle ich den ins Forum...

- Bestimmte informatische Fachbegriffe gehören schonzum allgemeinen Sprachgebrauch und sollten auch vonuns beherrscht werden.

- InformatikerInnen können sich nicht allgemein ver-ständlich ausdrücken – wie soll denn da eine kooperati-ve Entwicklung von IT-basierten Lernumgebungenmöglich sein?

Sprachgebrauch 2 Mit „copy and paste“ könnenSie die Formatierung vonWord-Dokumenten auch imBrowser darstellen.

- „copy and paste“ ist die technische Umsetzung desSchnippel-Prinzips, für das Sie früher Schere, Kleberund Kopierer benutzt haben, wenn Sie aus vorhandenenMaterialien etwas Neues zusammenstellen wollten...daskennen Sie doch...

- ...dazu müssen Sie erst das Word-Dokument in HTML-Format umwandeln („speichern“), dann kopieren Sie imQuelltext den Text zwischen den Auszeichnungen:<body> und </body> markieren, dann drücken Sie dieTasten „strg“ und „c“ gleichzeitig, dann...

- Der Umgang mit diesem System ist einfach, aber ichweiß nicht genug, um das zu verstehen.

- „Copy and paste“ steht für ein allgemeines Prinzip imUmgang mit Daten in verschiedenen Fachgebieten; dieInformatik setzt dieses Prinzip technisch um.

- „Copy and paste“ ist eben doch nicht „universell“ ein-setzbar, sondern man muss auch berücksichtigen, obdie Datei-Formate überhaupt einen Austausch zulas-sen...

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Rahmen für eine Theorie der Informatik

Dirk Siefkes, TU Berlin

Zusammenfassung. Aus klassischer Informatiksicht ist Informationstechnik (IT) ein Dreischritt aus For-malisierung, Algorithmisierung und Maschinisierung. Das ist zu wenig: IT wird in den unterschied-lichsten Arbeitsgruppen, Unternehmen, Institutionen und Gesellschaften entwickelt und eingesetzt.Diese „Kulturen“ entstehen und bewegen sich in Prozessen von Schematisierung, Semiotisierung undOrganisierung. Bei Entwicklung und Einsatz von IT werden Routinevorgänge in Organisationen durchmaschinelle Abläufe ersetzt, im formalen Objekt Software werden dabei menschliche Aktivitäten undmaschinelle Abläufe hybridisiert. Die Ersetzung verändert den Einsatzbereich tiefgreifend und machtKommunikation und Interaktion in und zwischen solchen Kulturen nötig. Die Arbeit in Informatikverlangt daher Kommunikation und Interaktion mit allen Disziplinen, die sich mit solchen Kulturenund dieser Art Umgang befassen. Aufgabe einer Theorie der Informatik ist es dann, die Wechselwirkun-gen zwischen den Schritten und die Zusammenhänge zwischen Fachgebieten der Informatik und zwi-schen Informatik und anderen Disziplinen zu klären.

Informatik und Informationstechnik*

Informatik ist eine wissenschaftliche Disziplin; ihr Gegenstand wird heute allgemein Infor-mationstechnik (IT) genannt. IT wird zumeist kommerziell in Organisationen, aber auch inwissenschaftlichen Institutionen entwickelt; die Entwickler sind nicht notwendig als Infor-matiker ausgebildet. Verwendet wird IT überall; die Kunden und Anwender sind in der Regelkeine Informatiker. Wissenschaft, Entwicklung und Verwendung von IT hängen eng zusam-men, sind aber drei Bereiche mit unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen.

In klassischen Lehrbüchern und Curricula erscheint der Gegenstand der Informatikoft als ein Dreisprung von Formalisierung, Algorithmisierung und Maschinisierung: Vorgänge wer-den durch Gesetzmäßigkeiten beschrieben, die Darstellungen in umsetzbare Anweisungenumgeformt und auf die Maschine gebracht. Beim Formalisieren bringen wir Aussagen und Vor-gänge in eine Form, die unabhängig von Interpretationen, Voraussetzungen, Ansichten ist.Formalisiertes soll allgemeingültig, unabhängig von individuellen Besonderheiten sein. BeimAlgorithmisieren ersetzen wir Situationen durch Funktionen. Algorithmen sollen unabhängig * Dieser Beitrag ist die Fassung vom 4.7.2003 eines in ständiger Entwicklung begriffenen Aufsatzes von

Dirk Siefkes. Er ist einige Zeit nach der Hersfelder Tagung entstanden, doch Vorformen exis-tierten zur Zeit der Tagung und der von Dirk Siefkes zur Tagung selbst vorgelegte Text enthielteinige ähnliche Gedanken. Der als Redakteur fungierende Herausgeber hält es für gerechtfertigtund nützlich, den Siefkes’schen Text hier als eine Konzentration dessen aufzunehmen, was inder Arbeitsgruppe und im gesamten Workshop Verhandlungsgegenstand war. Zwar ist die Auf-fassung Siefkes’ nicht Konzentrat und Meinung aller Beteiligten – beileibe nicht. Doch Dirk Sie-fkes hat die letzten Jahre seiner Tätigkeit so stark mit der Frage nach einer Theorie der Infor-matik verknüpft, dass die Freiheit, die der Redakteur sich hier herausnimmt, gestattet sein mag.Soll damit doch ein Signal gesetzt sein. Der zur Tagung vorgelegte kürzere Texte entfällt hier-mit. – Anm. des Redakteur

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von der Situation und den Ausführenden eindeutige Ergebnisse bringen. Beim Maschinisierenverändern wir Algorithmen so, dass sie von Computern ausgeführt werden können. Maschi-nen funktionieren unabhängig von lokalen Gegebenheiten.

In anderen Selbstdarstellungen werden die drei Schritte zu zweien zusammengefasst:Modellierung und Implementierung. Damit werden die traditionsbeladenen Termini ‚Formalis-mus, Algorithmus, Maschine’ vermieden, die sich zu eng auf Logik, Mathematik und Technikbeziehen. ‚Modellierung’ umfasst auch graphische und umgangssprachliche Beschreibungen,und die Maschine wird im IT-System kaum noch wahrgenommen. Ich bleibe bei den altenTermini, entsprechend erweitert, weil sie drei wichtige Aspekte der Entwicklung von IT-Sys-temen unterscheiden.

Unzureichend sind beide Beschreibungen, weil sie nur die Entwicklung von IT betref-fen, die Verwendung dabei aber zu kurz kommt. Ob die Entwicklung sinnvoll war, zeigt sicherst bei der Verwendung; also erhalten Theorien und Methoden der Entwicklung auch nurdadurch ihre volle Bedeutung. Wissenschaft, Entwicklung und Verwendung von IT entwi-ckeln sich in Wechselwirkung.

Informationstechnik und Informatik im Zusammenhang

Um IT zu entwickeln, braucht es mehr als Formalisierung, Algorithmisierung und Maschini-sierung; das ist allen Beteiligten klar. Was genau ist aber dieses „mehr“? Und wie ist es wis-senschaftlich in den Blick zu nehmen? Das kann nicht in speziellen Theorien der Informatikoder anderer Disziplinen, sondern nur in einer allgemeinen Theorie der Informatik geklärtwerden (Coy et al. 1992, Nake et al. 2001, 2002 u. dieser Band).

Als erstes: Der Dreisprung geschieht auf dem Boden der entsprechenden Kulturen,setzt Prozesse der Routinisierung, Semiotisierung und Organisierung voraus und löst neue aus. Sol-che Prozesse sind Grundlage von Leben und Kultur: Handlungen laufen in Routinen ab underzeugen neue Routinen (Routinisierung; Piaget 1977, Stern 1995, Siefkes in Coy et al. 1992,Bauknect 2001, Nake et al. 2001, Siefkes 2002). Erst dadurch werden Handlungen wahrnehm-bar und mitteilbar (Semiotisierung; Nake in Coy et al. 1992, Bauknecht 2001, Nake et al. 2001,Hesse 2003), können damit verhandelt und vorgeschrieben werden (Organisierung; Giddens1984, Ortmann 2003). Maschinell ausführen können wir nur menschliche Tätigkeiten, die aufdiese Weise routinisiert, kommuniziert und organisiert worden sind. Software gestaltenheißt, Teile so entstandener Organisationen durch Computersysteme zu ersetzen (Rolf 1998,Grüter 2000; Rolf in Coy et al. 1992, Nake et al. 2001,2002).

Organisationen funktionieren aber anders als Computer: Computer führen program-mierte Regeln aus; Menschen nutzen Regeln nur als Rahmen, um sinnvoll arbeiten zu kön-nen. Organisationen funktionieren – nicht obwohl, sondern weil die Beteiligten die Regelnregelmäßig verletzen (Ortmann 2003, Brödner 1997, Crutzen/Hein in Bauknecht 2001). Alszweites also: Informatiker müssen bei ihrer Arbeit diese Ausgangslage beachten, nicht bloßBeschreibungen in Software gießen; die Vorgänge, die maschinell ausgeführt werden sollen,„müssen maschinenhaft erst gedacht werden“ (Nake in Coy et al. 1992). Die Schritte des Drei-sprungs werden sinnvoll erst durch ihre Beziehung zueinander und zu Anfang und Ziel.

Beim Formalisieren müssen Informatiker von Situationen und deren Beschreibungenabstrahieren, aber nicht absehen (Siefkes 1992). Beim Algorithmisieren müssen sie Spielräumefürs Handeln durch Anweisungen fürs Vorgehen ersetzen, ohne die Breite der Möglichkeiteneinzuengen. Beim Maschinisieren müssen sie die Systeme zum Laufen bringen, ohne den Bo-den zu zerstören, auf dem sie laufen. Dafür gibt es in der Softwareentwicklung unterschied-liche Ansätze – ich nenne Partizipation, Objektorientierung, freie Software als Beispiele. Siewerden aber zu selten oder nicht in dem Sinn genutzt, weil sie mühsam und kostspielig sind.D.h. weil sie nicht dem heute obersten Gebot unserer Kultur entsprechen: Effizienz.

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Drittens: Ein IT-System einzuführen ist wie eine chirurgische Operation: Ein Körper-teil wird herausgeschnitten und durch etwas Mechanisches ersetzt. Da Computersystemeanders funktionieren als menschliche Organisationen, verändert sich nicht nur der ersetzteTeil; die ganze Organisation wird in Mitleidenschaft gezogen. Auch wenn die Regeln nichtgeändert wurden, müssen alle, die mit dem maschinellen System in Berührung kommen, neueVerhaltensformen aufbauen. Das ist ein langwieriger, oft schmerzhafter Prozess – nicht nurfür die Herausgeschnittenen –, wenn nicht die Operation überhaupt misslingt und der Einsatzabgestoßen wird. Dieses Faktum findet aber in der Informatik zu wenig Aufmerksamkeit(Brödner 1997, Brödner et al. in Nake et al. 2002 und dieser Bd., Hrachovec in Bauknecht2001, Wilkens in Nake et al. 2002, Sesink in diesem Bd.). In Softwaretechnik und Theoreti-scher Informatik werden Theorien und Methoden vor allem für die Entwicklung, nicht fürdie Verwendung von IT-Systemen produziert. Verwendung ist1 Sache der Angewandten In-formatik; dort fehlt i.a. aber der Blick auf die Entwicklung (Rolf in den „Theorie“-Bänden).

Als viertes müssen Informatiker daher die Augen für die kulturellen Böden öffnen,auf denen sie agieren und die sie damit stärken oder schwächen (Siefkes et al. in Nake et al.2002). Als Wissenschaftler müssen sie sich fragen, welche Entwicklungen sie fördern wollen.Als Anwender müssen sie mit den unterschiedlichen Kulturen kommunizieren und interagie-ren, in denen sie Computersysteme einsetzen wollen. Sie werden nur soweit fruchtbare Ver-änderungen erreichen, wie sie ihre Mikrosicht mit der Makrosicht auf die Umgebungen ab-stimmen. Das ist das Thema von Arno Rolf (Rolf 2003).

Dementsprechend müssen wir Informatiker unser wissenschaftliches Selbstverständ-nis ändern. Wissenschaft ist mehr als der Dreisprung von Kategorisierung, Objektivierungund Methodisierung. Informatik darf nicht nur ihre Gegenstände – Formalismen, Algorith-men, Maschinen – betrachten; sie muss sie eingebettet im lebendigen Zusammenhang (im„Kontext“) sehen. Wie verändert sich durchs Formalisieren unser Denken und Reden in bzw.über Situationen? Wie verändert sich durchs Algorithmisieren unser Handeln? Wie verändernsich durchs Maschinisieren Organisationen und damit die Routinen unseres Zusammenle-bens? Die Antworten, die Psychologie und Medizin, Semiotik und Linguistik, Soziologie undOrganisationstheorie, Philosophie und Pädagogik anbieten, helfen nur bedingt, weil sie dasEigentümliche der Informatik nicht erfassen. Die Informatik kann aber auch nicht die ande-ren Wissenschaften aufkaufen. Informatiker müssen mit den Wissenschaftlern kommunizie-ren und interagieren, von denen sie Hilfe erwarten. Wie soll das gehen? Wissenschaft istdisziplinär, Interdisziplinarität ist ein Widerspruch in sich. Das erfahren alle schmerzlich, dieinterdisziplinär zu arbeiten versuchen. Was nützt es, nicht mehr blind zu sein, wenn es dochkeinen Weg gibt?

Entwicklung von Kulturen

Mit solchen Fragen lässt sich leichter umgehen, wenn wir Wissenschaft und Technik oderInformatik und andere Disziplinen nicht als getrennte, konkurrierende Bereiche, sondern alsinteragierende Kulturen auffassen (Siefkes in Nake et al. 2001, 2002). Wir sind es gewohnt,von Gruppen-, Firmen-, Institutionen- und Wissenschaftskulturen zu sprechen. Was besagtaber der Gebrauch der Metapher „Kultur“ statt z.B. „Fach“ oder „Disziplin“ oder „Nation“?

Kulturen sind Bereiche der Verständigung und des Zusammenlebens. Eine Kulturhält und bringt Menschen zusammen: Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit, über die siesich verständigen können; sie haben genügend Berührung, dass sie sich gemeinsam betätigenkönnen; sie teilen so viele Ansichten, dass sie gemeinsam in die Zukunft denken können.

1 Nach Auffassung vieler und noch immer mancher ist das so. In vielen Kreisen jedoch nicht merhr. –

Anm. des Redakteur

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Kommunikation erzeugt Gemeinsamkeit und beruht auf Gemeinsamkeit. Deswegen istKommunikation und Interaktion zwischen Kulturen schwierig, aber notwendig fürs Über-leben der Kulturen. Nur so wandeln sich Kulturen im Leben, so bleiben sie am Leben. Dasgilt für die „Kulturen“ beliebiger sozialer Gruppierungen – Arbeitsgruppen, Firmen, Insti-tutionen – ebenso wie für Kulturen im klassischen Sinn.

Kulturen sind der Gefahr ausgesetzt, die Fähigkeit zur Veränderung zu verlieren.Routinen werden durch Regeln festgelegt, die keine Interpretation zu benötigen scheinenund daher keine Veränderungen zulassen. Solche Erstarrungen kommen unter vielen Namen,z.B. als Fanatismus in der Religion, als Ideologie oder Utopie in der Philosophie, als Faschis-mus oder Bürokratie in der Politik, als Formalismus in der Wissenschaft (im ursprünglichenSprachgebrauch; heute ist ein Formalismus ein Regelwerk, das solche Erstarrung ermöglicht –aber nicht erzwingt). Die beste Medizin gegen solche Krankheiten ist Kommunikation undInteraktion zwischen verschiedenen Kulturen. Gelebte Gegensätze machen kreativ. Kulturenbleiben lebendig durch Interkulturalität.

Routinen und Phänomene als Grundlagen von Entwicklung

Um kulturelle Entwicklung und Erstarrung genauer zu verstehen, muss man sich den Unter-schied zwischen Lebewesen und toten Systemen klarmachen (vgl. Wohland in Nake et al.2002). Lebewesen entwickeln sich erstens in Wechselwirkung zwischen Routinen und Phäno-menen: Tätigkeiten laufen in Routineformen ab und bringen durch Wiederholung neue Rou-tinen hervor. Die Routinen wirken durch die Tätigkeiten, die sie hervorbringen; erfassenkönnen wir nur die Formen, in denen sie uns erscheinen. Dieses Entwicklungsmodell stütztsich auf die Dualität von Form und Prozess (Bateson 1979) oder Handlung und Struktur (Gid-dens 1984), nur dass die Formen in generative und Erscheinungsformen differenziert sind(Siefkes in Coy et al. 1992, Bauknecht 2001, Hesse 2003, Siefkes 2002). Die Routinen bestim-men die Tätigkeiten nicht eindeutig; sie realisieren sich abhängig von der Umgebung (zu derauch die Lebewesen selbst gehören). So passen sich die Routinen der Umgebung an, die sichgleichzeitig durch die Tätigkeiten verändert. Lebewesen entwickeln sich also zweitens inWechselwirkung mit der Umgebung („Koevolution“; Mayer 1988, Varela 1991).

Körperliche Routinen sind Handlungs- und Wahrnehmungsformen: typische Bewe-gungen und Haltungen, Sehgewohnheiten, Interaktionsweisen. Sie sind charakteristisch fürdas Lebewesen in der jeweiligen Umgebung. Man kann sie das körperliche Gedächtnis und dieUmgebung das externe Gedächtnis nennen (Bruner 1991).

Besonders wichtig für jedes Lebewesen ist der lebendige Anteil der Umgebung, vorallem Lebewesen derselben Art. Eine solche Gruppe entwickelt sich in ihren Mitgliedern, ins-besondere aber in der Wechselwirkung zwischen Routinen und Phänomenen der Interaktionund Kommunikation in der jeweiligen Umgebung. Diese Routinen charakterisieren die Grup-pe, man kann sie das soziale Gedächtnis der Gruppe und ihrer Mitglieder nennen (Siefkes1992ff.).

Höhere Lebewesen, insbesondere Menschen, haben neben den körperlichen geistigeFähigkeiten entwickelt (die natürlich auch körperlich basiert sind). Wir verarbeiten unsereWahrnehmungen in Routinen des Denkens und Fühlens und steuern mit ihnen unsere Hand-lungen. Geistige und körperliche Routinen werden so immer zusammen aktiviert. Unseregeistige und die materiale Welt entsprechen sich auf diese Weise so genau, dass wir sie oftnicht trennen; von außen sind die Brüche besser wahrnehmbar. Begriffe und Werte sind diegeläufigsten Beispiele für geistige Routinen. Psychologen nennen geistige Routinen Schemata(Piaget 1977, Stern 1995); Soziologen fassen die körperlichen, insbesondere die sozialen, Rou-tinen eines Menschen oder einer Gruppe als Habitus zusammen. Philosophen thematisierendie Frage des Zusammenspiels von geistiger und materialer Welt als Leib-Seele-Problem.

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Geistige Routinen und ihre Erscheinungsformen machen das (interne) Gedächtnis ei-nes Lebewesens oder einer Gruppe aus. Wissen und Werthaltungen sind also im Gedächtnisnicht gespeichert wie in einem Behälter oder einem Computer, sondern werden reproduziert,indem die entsprechenden Routinen aktiviert werden. Unser Gedächtnis variiert daher mitden Umständen, fügt hinzu oder lässt weg, verändert oder versagt sich uns. Geschichten wan-deln sich mit dem Erinnern, Bilder leben mit ihren Besitzern.

Bilder und Geschichten. Das Individuum nutzt die geistige Welt fürs Erinnern und Vor-ausdenken; eine zentrale Rolle spielt das Geistige aber für die Gruppe in der Kommunikati-on. Schon körperliche Routinen werden genutzt, um Emotionen wie Freude oder Ärger aus-zudrücken. Allgemeiner werden geistige Routinen wahrnehmbar gemacht, um die entspre-chenden Gedanken und Gefühle zu „äußern“. Geistige Routinen werden zu Zeichen für Vor-gänge und Zustände in der Welt. Wir vertrauen darauf, dass sie in anderen dieselben geistigenProzesse (Semiosen) auslösen wie in uns. Wir semiotisieren die Welt, um sie mit anderen zuteilen, sie anderen mitzuteilen. Mitteilungen sind nicht eindeutige „Hin-Weise“ oder „Nach-Richten“ für andere, sondern Auslöser für Gruppenprozesse. Wohin solches Interpretierenführt, hängt von der Situation ab.

Insbesondere benutzen wir Mitteilungen, um das Zusammenleben und -arbeiten inGruppen zu organisieren. Organisation ist explizit (und damit verbindlich) gemachte Form derInteraktion. Aus dem Gesagten folgt – und das ist zentral fürs Verstehen von IT, also für eineTheorie der Informatik –, dass Organisation Verhalten nicht eindeutig festlegt. Organisatori-sche Regeln müssen interpretiert werden, d.h. in Verhalten umgesetzt werden, das in der je-weiligen Situation sinnvoll ist (Ortmann 2003). Es ist das Paradox der Organisationstheorie, dassOrganisationen funktionieren, obwohl die Mitglieder sich nicht strikt an die organisatori-schen Regeln halten. „Dienst nach Vorschrift“ legt die Organisation lahm; das ist eine alteErkenntnis. Nach dem Gesagten liegt aber kein Paradox vor. Organisationen funktionieren –nicht obwohl, sondern weil die Mitglieder sich nicht strikt an die Regeln halten. Regeln legenVerhalten nicht eindeutig fest, sondern erlauben und erfordern Interpretation. Regeln müs-sen in Situationen sinnvoll umgesetzt werden (Siefkes 1992). Computer dagegen führen Befeh-le eindeutig aus; sie berücksichtigen die Situation nur, soweit das die Befehle verlangen.

IT-Einsatz als kulturelle Veränderung

Der Transformation von Beschreibungen, die von Menschen zu interpretieren sind, in Befeh-le, die vom Computer ausgeführt werden, dient der eingangs erwähnte Dreisprung der IT. Ervermittelt also nur zwischen den beiden Bewegungen „vor Ort“: den Veränderungen der Situa-tion vor und nach Einführung des IT-Systems (Sesink 2002, Sesink in diesem Bd.). Die beidenSchritte werden verharmlosend De- und Rekontextualisierung genannt. Eine soziale Situation istaber kein Text, den man mit cut and paste spurenlos verändern könnte. Wie im zweiten Absatzbeschrieben, werden beim De- und Rekontextualisieren auf vielfältige Weise Routinen, Be-zeichnungen und Organisationen eingeführt, verändert oder beseitigt; die bestehende sozialeSituation wird erst zerstört und richtet sich dann neu ein. Werner Sesink nennt daher die vor-bereitende Operation Destruktion, den Heilungsprozess Konstruktion. Diese beiden Schrittesind das A und O jeden IT-Einsatzes, hier fügt sich der Dreisprung zum Zyklus bzw. zur Spi-rale. Der Boden, auf dem der Zyklus läuft, entwickelt sich dabei durch die kulturellen "Schrit-te". IT-Systeme werden nicht erst entwickelt und dann verwendet; zu ihrer vollen Bedeutungentwickeln sie sich erst durch die Nutzer. Software gestalten heißt beides einbeziehen (Grü-ter 2000, Rolf in den „Theorie“-Bänden).

In der Praxis laufen die Schritte nicht nacheinander ab, sondern parallel gegen einan-der versetzt oder bunt durcheinander; das ist in Entwicklung und Verwendung ein viel behan-deltes Thema (Floyd 1992, Fischer in diesem Bd.). Das liegt nicht nur daran, dass die Wirk-

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lichkeit schmutzig und unordentlich ist. Die Schritte hängen eng zusammen, beeinflussen,verstärken, behindern sich, müssen also aufeinander Rücksicht nehmen, müssen rückgängiggemacht und neu durchgeführt werden. Insbesondere beziehen sich alle Schritte auf den ers-ten und letzten; also muss sich auch ihre wissenschaftliche Grundlegung daran ausrichten.

Eine Theorie der Informatik muss sich also mit allen Schritten des Zyklus bei derEntwicklung und Verwendung von IT, vor allem aber mit den Zusammenhängen zwischenihnen und den Schritten „am Boden“ befassen. Im Interdisziplinären Forschungsprojekt „So-zialgeschichte der Informatik“ haben wir Informatik aus dieser Sicht historisch charakteri-siert: Informatiker „hybridisieren“ Mensch und Computer, organisiertes Handeln und ma-schinelle Abläufe, mit Hilfe formaler Notationen und Modelle. Software wird im Handeln derSubjekte zum Hybridobjekt (Siefkes et al. 1998, Eulenhöfer 1999, Stach 2001, Siefkes 2002,Siefkes in Bauknecht 2001, Hesse 2003), zu autooperationaler Form (Floyd 1997), zum algorith-mischen Zeichen (Nake in Coy et al. 1992, Bauknecht 2001, Hesse 2003). Eine Theorie der In-formatik muss Gestaltung aus dieser Sicht verstehen.

Arno Rolf verknüpft in (Rolf 2003) diese mikropolitische Sicht mit der makropoliti-schen auf Institutionen und Organisationen als Systeme, eingebettet in gesellschaftliche Zu-sammenhänge, und gewinnt daraus den Ansatz für eine umfassende Gestaltungslehre.

Teile einer Theorie der Informatik

Eine Theorie der Informatik kann also keine philosophische Theorie sein. Es genügt nicht,die Informatik als Gebiet festzulegen, ihre Inhalte und Methoden zu bestimmen, ihre Gren-zen abzustecken. Solche Definitionen der Informatik können das Ergebnis unserer Arbeit sein;wenn wir damit aber gleich beginnen, verbauen wir das Gelände, das wir übersichtlich und be-gehbar machen wollen. Die Arbeit an einer Theorie der Informatik kann nur aus der informa-tischen Arbeit heraus entstehen, wenn sie ihr eine Hilfe sein soll (Coy et al. 1992, „Theorie“-Bände).

Sehen wir uns einige Fachgebiete und Disziplinen an, die dazu beitragen können!Wir beginnen mit der Theoretischen Informatik. Sie liefert mathematische Theorien und Mo-delle fürs Spezifizieren und Berechnen und für den Computer, also für die drei Schritte For-malisierung, Algorithmisierung, Machinisierung, und könnte daher mathematischer Teil einerallgemeinen Theorie der Informatik sein. Sie unterscheidet sich von entsprechenden Gebie-ten der Mathematik, soweit sie die Schritte als eingebettet in den Zyklus „Entwicklung undVerwendung von IT“, also als Teil eines Hybridisierungsvorgangs sieht. Solche Untersuchun-gen können die Auswahl von Forschungsgegenständen und -methoden und damit die For-schungsrichtung der Theoretischen Informatik beeinflussen, so wie der Wunsch nach kon-kreten Ergebnissen von analytischen Lösungen zu numerischen Verfahren führt. EndlicheAutomaten und Turingmaschinen unterscheiden sich nicht nur in der Berechnungskraft; mankann mit ihnen unterschiedliche Berechnungsvorgänge und damit unterschiedliche Teile oderAspekte von Rechnern modellieren. Man kann die Semantik von Berechnungsformalismenvom menschlichen Umgang her oder auf die maschinelle Ausführung hin definieren; auchwenn die Formalismen mathematisch äquivalent sind, fördern sie ganz verschiedene Weisendes Formalisierens. Welche Formalismen sind zum Formalisieren welcher Beschreibungenwelcher Situationen geeignet? Solche Fragestellungen würden der Theoretischen Informatikals mathematischem Fachgebiet ein besseres Heimatrecht in der Informatik verschaffen,ohne dass sie ihre mathematische Identität leugnen müsste, und würden sie in eine allgemeineTheorie der Informatik einbetten.

Ähnlich könnte es für die anderen Schritte aussehen, mit unterschiedlichen Bezügenzu den beteiligten Disziplinen. Softwaretechnik ist ein, wenn nicht das zentrale Gebiet derInformatik. Zu einer Theorie der Informatik könnte sie beitragen, wenn sie Fragestellungen

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einbezieht wie (Floyd 1992, Grüter 2000, Brödner et al. in Nake et al. 2002, in diesem Bd.,Rolf in den Bänden dieser Reihe): Nach welchen (nicht nur technischen) Maßstäben bewer-ten wir die Qualität von Software? Welche anderen können wir wählen? Welche Rolle spielenEmotionen in Softwareprojekten? Welche Arten von Arbeitsvorgängen können durch welcheFormen von Software(gestaltung) unterstützt oder ersetzt werden, welche werden eher behin-dert? Was sind Gründe für Software-Havarien? Wie hängt die Gestaltung von Software mitder Gestaltung von Organisationen durch IT-Einsatz zusammen? Für welche Aspekte derArbeit von Softwaretechnikern können wir Verantwortung übernehmen? Damit könntenauch die Beziehungen zur Softwareergonomie1 enger werden.

Semiotik andererseits ist eine Geisteswissenschaft und sicher auch nicht teilweise zurInformatik zu rechnen. Die Unterscheidung zwischen Zeichenprozessen, die der Menschvollzieht, und Signalprozessen, die Maschinen steuern, und das Zusammenwirken beider imUmgang mit Computern geht dagegen von der Informatik aus und bereichert sie (Nake inCoy et al. 1992, Bauknecht 2001, Nake et al. 2001, Hesse 2003). Eine Semiotik der Informatikwird daher am ersten von Informatikern im Rahmen einer Theorie der Informatik entwickeltwerden. Ähnliches gilt für Geschichte (Siefkes et al. 1998, Siefkes 2002) oder Philosophie derInformatik (Hesse in Bauknecht 2001, Hesse 2003).

Anders sieht es bei Linguistik und Pädagogik aus: Aus dem Interesse von Linguistenund Informatikern an Methoden und Techniken der jeweils anderen Disziplin ist die Com-puterlinguistik als eigenständiges Gebiet entstanden, das ohne intensive Beziehungen zu denHeimatdisziplinen nicht gedeihen kann. Institutionell kann sie da oder dort angesiedelt seinund davon unabhängig wichtige Beiträge für eine Theorie der Informatik liefern. Die Medien-pädagogik dagegen entstand, als IT-Systeme zunehmend als Medien der Wissensvermittlungeingesetzt wurden. Es stellte sich bald heraus, dass solcher Einsatz höchst fragwürdig ist,wenn er nicht von informatischer und pädagogischer Kompetenz getragen wird. Die resultie-rende enge Zusammenarbeit und intensive Beschäftigung mit der jeweils anderen Disziplinkann zu einem ganz neuen Verständnis der eigenen führen (Wilkens 2000, Sesink 2002, Bus-se, Sesink, Wilkens in den „Theorie“-Bänden, Siefkes et al. in Nake et al. 2002).

Ausgangspunkt und Ziel des informationstechnischen Zyklus ist die psychische undsoziale Situation der Beteiligten. Psychologie und Soziologie sind daher die wichtigsten Partnerder Informatik, wenn es darum geht, die Veränderungen durch den Einsatz von IT zu verste-hen und daraus Folgerungen für die Arbeit von Informatikern abzuleiten. Psychologie undSoziologie sind daher auch die wichtigsten Quellen für eine Theorie der Informatik.

Das oben erwähnte Paradox der Organisationstheorie kann Informatikern helfen, ein-zusehen, dass sie mit IT-Systemen menschliche Organisationen nicht abbilden können. Siekönnen versuchen, die Spielräume, in denen menschliches Zusammenleben sich bewegt,durch Einbau von situationsabhängigen Parametern zu simulieren, so wie Numeriker konver-gierende Größen mit Hilfe von Intervallarithmetik berechnen. In beiden Fällen kann mansich dem Vorbild beliebig nähern; im Fall der Informatik ist der Unterschied aber ein quali-tativer, der sich quantitativ nicht überwinden lässt: Wir empfinden Menschen als zuverlässig,wenn sie sich routiniert verhalten, aber gegebenenfalls aus diesen Routinen ausscheren kön-nen. IT-Systeme, die sich so verhalten, sind dagegen unzuverlässig oder schlicht defekt (Crut-zen/Hein in Bauknecht 2001). Mit IT-Systemen kann man weder scherzen noch Pferde steh-len. Sie können die Organisation wesentlich unterstützen; größere Organisationen sind heuteohne Computer undenkbar. IT-Systeme sind aber nicht Teil der Organisation, sie tickenanders.

In der Sozionik geht man den umgekehrten Weg. Man fasst Agentensysteme als sozi-ale Einheiten auf und überprüft soziologische Theorien durch Simulation (Valk in Nake et al.

1 Man geht in aufgeklärten Kreisen heute eher auf ein umfassendes Interaction Design und stößt damit

den Ingenieur-Stallgeruch ab, der an Ergonomie haftet. – Anm. des Redakteurs

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2002). Das gibt sicher Anstöße für Soziologie und Informatik; ob es für eine Theorie derInformatik etwas bringt, sei dahingestellt.

Für die Psychologie gilt Ähnliches wie für die Soziologie. In den Kognitionswissen-schaften benutzt man den Computer als Modell fürs Denken und Lernen und entwickelt ent-sprechende Theorien. Ihr Wert für die Psychologie scheint zweifelhaft, und ganz sicher hel-fen sie bei einer Theorie der Informatik nicht weiter. Die Entwicklungspsychologie (Piaget1977, Stern 1995) und mit anderer Akzentuierung die Tätigkeitstheorie (Vygotski 1978) liefernandere Modelle fürs Denken und Lernen, die ich oben als Wechselwirkung zwischen geisti-gen und körperlichen Schemata und Phänomenen beschrieben habe. Sie machen die Vorteileund Probleme, die der Umgang mit Computern mit sich bringt, verständlich (Grüter 2000)und helfen so, eine Theorie der Informatik zu entwickeln.

Alle diese Gebiete, die eine wichtige Rolle bei Entwicklung und Einsatz von ITspielen sollten, haben aus historischen Gründen in der Informatik nicht Fuß gefasst. EineSoziologie, Psychologie, Semiotik, Linguistik, Pädagogik, Philosophie oder Geschichte derInformatik wird es als Fachgebiet der Informatik kaum geben, obwohl es teilweise intensiveBemühungen um sie gibt; zur Geschichte s.o. und z.B. (Hellige 2004). Analysen der Informa-tik innerhalb dieser Disziplinen können aber nur zu entsprechenden Theorien über die Infor-matik führen, die für die Informatik ziemlich folgenlos blieben. Denn für Maschinen undFormalismen gilt in besonderem Maß, was allgemein fürs Lernen anerkannt ist: Verstehenerwächst nicht allein aus dem Umgang mit der Sache oder der Reflexion über sie, sondern nuraus der Wechselwirkung beider.

Entsprechende Theorien der Informatik werden daher am ehesten von Informatikernzusammen mit Vertretern der anderen Disziplinen erarbeitet werden. Nur dann können sieals Teile einer allgemeinen Theorie der Informatik unsere Disziplin befruchten. Als Beispielemögen die erwähnten Arbeiten von Frieder Nake zur Informatik als Technischer Semiotik,von Arno Rolf, Peter Brödner und Gerhard Wohland zur Gestaltung von IT-Systemen in Or-ganisationen und Gesellschaft, von Werner Sesink und Ulrike Wilkens zur Medienpädagogik,von Barbara Grüter zur Psychologie der Gestaltung von IT-Systemen, von Peter Eulenhöferu.a. zur Sozialgeschichte der Informatik, von mir zu einer evolutionären Theorie geistiger undsozialer Entwicklung sowie weitere interdisziplinäre Arbeiten in den immer wieder erwähn-ten Quellen dienen.

Theorie der Informatik als Herausforderung für die Informatik

Eine Theorie der Informatik ist aber mehr als die Sammlung dieser und anderer Teiltheorien.So wie die sechs Schritte im Zyklus der Entwicklung und Verwendung von IT ihre Bedeutungerst als Teile im Zusammenhang und durch ihre wechselseitigen Abhängigkeiten erhalten, soerhalten die zugehörigen Teiltheorien ihre Bedeutung erst durch Beziehungen zu einander.

Im Fachgebiet Informatik und Gesellschaft geht es um die Wechselwirkung zwischenIT und gesellschaftlicher Entwicklung. Dabei wird IT meist als gegeben angenommen, ihreEntwicklung durch Informatiker nicht analysiert. Insbesondere wird übersehen, dass derWeg von der Gesellschaft zur IT nur übers Formale geht, dass wir formalisieren und algorith-misieren müssen, um Mensch und Maschine zu hybridisieren (siehe oben zu „Sozialgeschichteder Informatik“). Der formale Anteil der Informatik, der Mensch und Maschine und so In-formatik und Gesellschaft verknüpft, wird ignoriert. Deshalb hat das Fachgebiet kaum Ein-fluss auf die Informatik und trägt wenig zu einer Theorie der Informatik bei.

Ähnliches gilt umgekehrt für die Theoretische Informatik. Formalisierung und Algorith-misierung werden meist um ihrer selbst willen betrieben, die produzierten Theorien und Me-thoden sollen in der Softwaretechnik angewendet werden. Praxis besteht aber nicht in derAnwendung von Theorie (Brödner et al. in Nake et al. 2002, dieser Bd.); Praxis ist vielmehr

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Wechselwirkung zwischen Denken (Theorie/Verstehen) und Tun (Anwendung/Konstruieren)(Rolf in diesem Bd.). Deshalb hat die Theoretische Informatik wenig Einfluss auf den Restder Disziplin und leugnet bisher die Notwendigkeit einer umfassenden Theorie der Informa-tik.

Für die Technische Informatik trifft dasselbe in schärferer Form zu. Der Computerwird dort als technisches Gerät aufgefasst, höchstens die direkten „Schnittstellen“ zur Soft-ware als Steuerungsmittel und zum Einsatzbereich als Operationsgebiet kommen in denBlick. Maschinisierung wird nicht als Teilschritt in Prozessen gesellschaftlicher Veränderungaufgefasst. Ebenso wenig wird thematisiert, dass Implementierung die vorhergehende Model-lierung reziprok widerspiegelt, die damit verbundenen Änderungen aber nicht aufhebt, son-dern im Gegenteil in die Realität umsetzt.

Aufgabe einer Theorie der Informatik ist also, die schwierigen, oft widerstreitendenoder gar widersprüchlichen Beziehungen zwischen den Fachgebieten der Informatik untereinander und mit Fachgebieten von Nachbardisziplinen herauszuarbeiten. Die Beziehungenkönnen als Kooperation oder Konflikt, als Unterstützung oder Konkurrenz zu Tage tretenund müssen als solche aufgenommen werden. Es geht nicht darum, das Verbindende in denunterschiedlichen Gebieten zu finden, sie auf ein gemeinsames Ziel festzulegen oder gar an-zugleichen. Die Kreativität einer Gruppe speist sich aus ihrer Vielfalt (Bronfenbrenner 1979);aber dazu muss sie sich als Gruppe wahrnehmen. Eine Theorie der Informatik hat also insbe-sondere die Aufgabe, die Identitätsfindung von Informatikern zu analysieren und zu stärken,Selbst- und Fremdeinschätzung zu vergleichen und mit Arbeitsweisen und Ausbildungszielenzu korrelieren (Bath et al. in diesem Bd.).

Eine Theorie der Informatik zerfällt nicht in eine Theorie der wissenschaftlichenDisziplin und eine Theorie ihrer Anwendungen (Brödner et al. in Nake et al. 2002 und die-sem Bd.); sie wirft aber auch nicht Wissenschaft und Technik in einen Topf. Sie macht dieVerbindungen klar: Technik zu entwickeln und zu verwenden, ohne das kreative Potenzialder Wissenschaft dafür zu nutzen, wäre dumm. Technik zu entwickeln und zu verwenden,ohne die Veränderungen, die sich daraus in allen Bereichen ergeben, wissenschaftlich zu un-tersuchen, wäre unverantwortlich. Es wäre aber auch töricht; denn solche Untersuchungenkönnen ebenso neue Entwicklungen in Gang bringen wie sie verhindern. Wir sollten Verant-wortung als Herausforderung für wissenschaftliche und technische Arbeit betrachten, nichtals lästige Bürde. Umgekehrt erhält wissenschaftliche Arbeit wichtige Impulse und ihren Sinnaus der praktischen Verwendung, ohne dass sie sich mit Verwendbarkeit ihrer Produkterechtfertigen müsste. Wir brauchen eine Theorie der Informatik, wenn wir unsere Disziplinentwickeln und erhalten und zu einem nach außen wie innen überzeugenden Selbstverständ-nis bringen wollen.

Eine Theorie ist eine Anleitung zum Sehen. Um zu sehen, wohin wir gehen, müssenwir wissen, wohin wir wollen. Die Anleitung kommt also nicht als Anweisung, sondern alsFrage: Was wollen wir? Als Arbeitsgruppe, als Firma, als wissenschaftliche Schule, als Institu-tion, als Gesellschaft. Welche Kulturen wollen wir? Wenn wir bei unserer Arbeit als Informa-tiker dieser Leitfrage folgen, zwingt uns das zum Austausch mit anderen Wissenschaften undLebensbereichen. Damit gewinnen wir eine neue Identität als Informatiker, vielleicht sogareine neue Wissenschaftlichkeit.

Literatur

Bateson, Gregory 1979: Mind and Nature – a Necessary Unity. New York: Bantam Books. – Deutsch: Geistund Natur – eine notwendige Einheit. Frankfurt: Suhrkamp 1982.

Bauknecht, K. et al. (Hg.) 2001: Informatik 2001, Jahrestagung GI & OCG. Workshop „Erkenntnis-theorie – Semiotik -–Ontologie". Wien: Österreich. Computergesellschaft.

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Brödner, Peter 1997: Der überlistete Odysseus. Über das zerrüttete Verhältnis von Menschen und Maschinen.

Berlin: edition sigma.

Bronfenbrenner, Urie 1979: The ecology of human development. Harvard University Press.Bruner, Jerome 1991: The Narrative Construction of Reality. Critical Inquiry, 18, 1-21.Coy, Wolfgang et al. (Hg.) 1992: Sichtweisen der Informatik. Braunschweig: Vieweg.Eulenhöfer, Peter 1999: Die formale Orientierung der Informatik. Zur mathematischen Tradition der Disziplin

in der Bundesrepublik Deutschland. Dissertation, FB Informatik, TU BerlinFloyd, Christiane et al. (ed.): Software Development and Reality Construction. Berlin: SpringerGiddens, Anthony 1984: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Berkeley.

(Deutsch: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt: Campus 1988)Grüter, Barbara 2000: e-motion - über elektronische Formen der Bewegung und die Gestaltung von

Interaktionssystemen. MMI-Interaktiv, Nr.4, S.1-16 http://www.mmi-interaktiv.de/ausgaben/Hellige, Hans Dieter 2004: Geschichten der Informatik. Berlin: SpringerHesse, Wolfgang 2003: Objekt-, subjekt- oder handlungs-orientiert? - Perspektiven der Informatik.

Interdisziplinäres Symposium, Marburg, Juli 2003Mayer, Ernst 1988: Toward a New Philosophy of Biology. Harvard Univ. PressNake, Frieder, Arno Rolf, Dirk Siefkes (Hg.) 2001: Informatik – Aufregung zu einer Disziplin. Tagung

zur Theorie der Informatik 2001. Uni Hamburg, FB Informatik, Bericht 235. – http://tal.cs.tu-berlin.de/siefkes/Heppenheim

Nake, Frieder, Arno Rolf, Dirk Siekes (Hg.) 2002: Wozu Informatik? Theorie zwischen Ideologie,Utopie, Phantasie. Tagung zur Theorie der Informatik 2002. TU Berlin, Fak. Elektrotechnik& Informatik, Bericht 02-25. – http://tal.cs.tu-berlin.de/siefkes/Hersfeld

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Arbeitsgruppe„Theorie der Anwendungen in Wertschöpfungsprozessen“

Peter Brödner, Kai Seim, Gerhard Wohland

In den vergangenen Jahren konnte man vielfach Zeuge von Havarien der verschiedenstenDV-Projekte werden. Mit dieser immer gleichen Abfolge scheiternder Projekte wollen wiruns nicht abfinden, zum einen aus wissenschaftlichem Interesse, zum anderen aufgrund derwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen wir arbeiten. Die heute beobachtbaren Ha-varien haben unserer Meinung nach folgendes gemeinsam:

Sie sind historisch neu in dem Sinne, dass sie ihre Ursache in der zunehmenden Glo-balisierung haben, die zu zunehmender Komplexität der Märkte und damit der zu lösendenProbleme geführt haben. Sie sind Scheitern am komplexen Ende der Probleme, nicht amkomplizierten.

Ein Teil unserer Motivation mag sein, dass die Arbeit der Pathologen (bei aller Wert-schätzung für diese anstrengende Profession) für uns keinen Vorbildcharakter hat. Ein weite-rer Teil mag sein, dass Projekterfolge mehr Appeal haben als das pure Feststellen des Schei-terns und ggf. das Diagnostizieren der (immer gleichen?) Gründe.

Es scheitern SAP-Projekte an der Komplexität der abzubildenden Prozesse, am sog.Widerstand der Nutzer (die Sehnsucht der Berater – oder in heute eher üblichem Sprachge-brauch: der Consultants – nach dem kundenlosen Projekt grüßt), es scheitern große Entwick-lungsprojekte (für europäisch geplante Produktentwicklungen, für unternehmensindividuelleLösungen usw.).

Um es in einem schnellen Kurzschluss aufzulösen (der spätestens in der Tagung her-geleitet werden muss): Unserer Profession (der Informatik) scheint keine Theorie zur Verfü-gung zu stehen, die es erlauben würde, an diese Profession (und damit an uns Informatiker)heran getragene Probleme abzulehnen. Wir (hier gemeint: Informatiker) können nicht Neinsagen, wenn uns jemand bittet, ein Problem mit DV zu lösen. Im Gegenteil ist für uns prinzi-piell jedes Problem algorithmisierbar und damit durch DV lösbar. Diese Haltung bezeichnenwir als Naivität der Informatik. Bei dieser Ablehnung geht es uns nicht darum, der Verant-wortung zu entfliehen o.ä.; vielmehr suchen wir nach einem geeigneten Werkzeug, Problemedorthin zu verweisen, wo sie gelöst werden können.

Für die Informatikwissenschaft bleibt festzuhalten, dass sie bis heute keine Theorie,geschweige denn (wenigstens) Methoden hervorgebracht hätte, die den immer wiederkehren-den Fehlschlag des Informatikeinsatzes so behandeln, dass er mindestens sanierbar wird, imIdealfall von Beginn an vermieden werden kann. Wirkungsforschung ist in der Informatik imbesten Falle geduldetes „Hippietum”, das man sich im Verlaufe der Jahre, z.B. zur Befriedungstudentischer Streikaktionen, verbunden mit der Befriedigung entsprechender politischerBedürfnisse, eingehandelt hat. Professuren für „Informatik und Gesellschaft” behandeln z.B.juristische Aspekte des Informatikeinsatzes, wie Datenschutzrecht, Patent- und Urheber-recht usw., nicht jedoch die Wirkung auf die Ökonomie der einsetzenden Organisation odergar der Branche. Auch die so genannten Bindestrich-Informatiken reflektieren diese Frage-

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stellungen nicht, sondern bleiben eng den fachlichen Problemen ihrer jeweiligen Herkunfts-disziplinen verbunden.

Für die IT-Branche gilt vergleichbares. Bis in die jüngste Vergangenheit, kulminie-rend in der aufgeblasenen New Economy und Web-Euphorie, hat diese Branche immer wiederversprochen, dass durch Einsatz der von ihr entwickelten und angebotenen Systeme ein be-triebswirtschaftlicher Nutzen entsteht. Erst durch den Zusammenbruch der New-Economy-Blase ist ein Rechtfertigungszwang für Investitionen in Informatiksysteme entstanden, derdem „normaler” Investitionen in Anlagegüter (als solche werden Informatiksysteme in allerRegel bilanziert) entspricht. Das Ergebnis ist, zugegebener Maßen, erschreckend: viele Inves-titionen erscheinen heute nutzenlos (als bewusste Abgrenzung zu nutzlos). Zumindest lässtsich der tatsächliche Rationalisierungseffekt nicht nachweisen, und sei es, weil die (potenziel-len) Nutzer nicht (mehr?) bereit sind, für diesen Effekt die Verantwortung zu übernehmen.Die Reaktion erschöpft sich bis jetzt noch darin, mit qualitativem Nutzen zu argumentieren,Skaleneffekte zu prognostizieren u.ä., ohne den Beweis überzeugend führen zu können.

Mit diesem Text wollen wir neugierig machen auf eine Diskussion über eine Skizzezu einer Theorie. Diese Theorie fußt auf mehreren „Stützen”.

Zu Beginn wollen wir uns mit der Behauptung auseinander setzen, dass der Einsatzsog. Informationssysteme (nach unserem Sprachgebrauch DV-Systeme) produktivitätsstei-gernd sei. So sei u.a. eine Ursache für den Erfolg der New Economy in den USA die Produkti-vitätssteigerung aufgrund von Informatiksystemen. Wir sind dem gegenüber der Ansicht,dass sich schon auf Basis der heute zugänglichen und aktuellen volkswirtschaftlichen Statis-tiken dieser Effekt nicht nachweisen lässt, eher das Gegenteil. Vor dem Hintergrund dervielen nachgewiesenen Falschbilanzierungen in den USA und Europa (z.B. ENRON, World-com, Comroad, um nur die prominentesten Beispiele zu nennen) stellt sich vielmehr die Fra-ge, ob durch die wohl nötig gewordene Korrektur der volkswirtschaftlichen Bilanzenmindestens der letzten drei Jahre (zumindest für die USA) das ermittelte Produktivitäts-wachstum nicht um ca. 2 % nach unten korrigiert werden muss, so dass der behauptete Effekteher negativ wird.

Anschließend versuchen wir mit Hilfe einiger Basisunterscheidungen, die wir als„Denkwerkzeuge” verwenden wollen, die Basis für die weitere Theoriearbeit zu legen. Dabeiunterscheiden wir zwischen tot und lebendig, kompliziert und komplex, Daten und Information,Wissen und Können, Methode und Theorie, um nur die wichtigsten zu nennen.

Diese Unterscheidungen sind für uns die Basis für die Unterscheidung zwischen klas-sischen (Stoff und Energie wandelnden) Maschinen und Daten verarbeitenden (Computer-)Maschinen. Wir versuchen zu zeigen, dass Computer eine eigene Klasse von Maschinen dar-stellen, nämlich „semiotische Maschinen”. Mit dieser Sichtweise gelingt es uns, viele der Pro-bleme, die wir eingangs als Basis für unsere Arbeit aufgeführt haben, zu diagnostizieren undauch zu lösen; mindestens in dem Sinne zu lösen, dass wir uns in der Lage sehen, bestimmteProbleme als „unlösbar” für die Informatik abzulehnen.

In einem ersten Schritt haben wir versucht, unseren Theorieansatz für den Einsatzvon DV-Systemen in Wertschöpfungsprozessen produktiv zu machen. Dabei geht es uns da-rum, Kriterien für die Systemgestaltung zu definieren, um die eingangs erwähnten Havariengar nicht erst aufkommen zu lassen. Dazu haben wir versucht, einige Merkmale (oder auchPrüfkriterien) zu definieren, die DV-Systeme erfüllen müssen, um auch in modernen Unter-nehmen (im Sinne von: konkurrierend in modernen, globalisierten Märkten) erfolgreich ein-gesetzt werden zu können:

Neutralität (statt Flexibilität),Werkzeug-Charakter (statt Prozessabbildung),Medialität (statt Isolation),Datenhoheit (statt Integration).

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Der von uns vorgeschlagene Theorieansatz soll befähigen, Innen und Außen zu unterschei-den, d.h. über die Zuständigkeit für Probleme zu entscheiden. Das macht es möglich, dieInformatik auf das Gebiet zu beschränken, auf dem sie erfolgreich sein kann; oder mit einemdeutschen Sprichwort: Schuster, bleib bei Deinem Leisten.

Informatik ist u.E. zuständig für Kompliziertes; Komplexes muss sie lernen abzuleh-nen. Die Theorie der Informatik, die wir hier anbieten, ist das Werkzeug, Komplexes sicht-bar zu machen, um es abzulehnen. Mit dem übrig bleibenden Rest des Komplizierten kannsich die formale Wissenschaft Informatik dann mit großer Chance auf Erfolg befassen.

Erste Ideen für Diskussionsthemen

• Lässt sich das Produktivitätsparadoxon (ggf. branchenspezifisch) auch in Deutsch-land bzw. Europa, spezieller: in der betrieblichen Praxis, nachweisen?

• Was ist die historische Wurzel für den blinden Fleck der Informatik, der sie immerwieder dazu treibt, „unmögliche“ Problemstellungen anzunehmen? Wir vermutenhier eine ungebrochene Traditionslinie von Taylor bis zu den aktuellen Prozessopti-mierern.

• Wie müssen „moderne“ DV-Systeme aussehen, um erfolgreich, sprich: nutzbringend(im Sinne von: Mehrwert schaffend), eingesetzt werden zu können? Sind die von unsaufgeführten Prüfkriterien die richtigen? Fehlen wichtige Kriterien?

Dabei sind wir vor allem an einer Prüfung durch „Anwender“ interessiert – „Anwender“ imSinne desjenigen, der mit Hilfe von DV-Systemen Geld verdienen muss. Für einen erstenEinstieg in das Thema verweisen wir auf unseren Bericht zur Arbeitsgruppe in Bad Hersfeld2002, in dem wir unsere Thesen detailliert ausgearbeitet haben. Dies ist unser Angebot, umdie Diskussion zu beginnen. Antworten oder Arbeiten in ähnliche Richtung sind herzlichwillkommen.

Literatur

Brödner, Peter, Gerhard Wohland, Kai Seim 2002: Skizze einer Theorie der Informatikanwendungen.In Frieder Nake, Arno Rolf, Dirk Siefkes (Hrsg.) 2002: Wozu Informatik? Theorie zwischenIdeologie, Utopie, Phantasie. Tagung Bad Hersfeld 2002. Berlin: Forschungsberichte der Fa-kultät Elektrotechnik/Informatik, Bericht 2002-25

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Die blinden Flecke der Wirtschaftsinformatik

Alex Bepple, Universität Hamburg

Gestaltungskonzeption der konstruktiven Wirtschaftsinformatik

Die Charakterisierung der Wirtschaftsinformatik als Wissenschaft von Konzeption, Erstel-lung und Einführung von Systemen zur Informationsverarbeitung in und zwischen Organisa-tionen1 (Lehner 1997) ist aus wissenschaftstheoretischer Sicht wenig zufrieden stellend. Zumeinen werden damit die Ziele und Zwecke der Wirtschaftsinformatik nicht benannt. Zumanderen bleibt offen, welchem Forschungsprogramm diese folgen soll, d.h. was die Kernberei-che der Wirtschaftsinformatik sein sollen.

Die heutige Wirtschaftsinformatik und das Informationsmanagement2 bemühen sichum Produktivitätszuwächse für Unternehmen durch den umfassenden Einsatz von Informati-onstechnik. Dahinter steckt die Annahme, dass IT ein Instrumentarium darstellt, betriebli-che Abläufe3, insbesondere solche der Entscheidungsfindung, in einer planbaren Art undWeise zu verändern (Voß & Gutenschwager 2001:57). Die Möglichkeiten zur Veränderungwürden in kontrollierter Weise durch die maschinelle Verarbeitung von Informationen ge-schaffen. Hinter der Eigenschaft der Planbarkeit verbirgt sich auch die methodologische Aus-sage, über eine möglichst umfassende Optimierung des Einsatzes der Ressource Informationdas Ziel der Produktivitätssteigerung erreichen zu wollen.

Es wird anerkannt, dass der Einsatz von Informationstechnik Auswirkungen auf die(soziale) Organisation hat, und es wird gefordert, dass die Organisation an den optimalen Ein-satz der Ressource Information anzupassen ist. Dass Organisation anpassbar, also steuerbarist, wird unterstellt. Wie Anpassung von Organisation konkret aussehen kann, wird dagegenäußerst selten dargestellt. Die Partizipation der Nutzer an der Entwicklung von Systemen zurInformationsverarbeitung wird – falls überhaupt explizit berücksichtigt – als Einbahnstraße,nicht als Rückkopplungsprozess verstanden (Kemper 1997:8). Sehr deutlich weist (Voß &Gutenschwager 2001) organisationalen Aspekten eine Randrolle in der Wirtschaftsinformatikzu. Die Autoren verstehen unter Informationsmanagement

„die wirtschaftliche (effiziente) Planung, Beschaffung, Verarbeitung, Distribution und Alloka-tion von Informationen als Ressource zur Vorbereitung und Unterstützung von Entscheidungen(Entscheidungsprozessen) sowie die Gestaltung der dazu erforderlichen Rahmenbedingungen“(Voß & Gutenschwager 2001:vi, Hervorhebung im Original).

1 Mit Organisationen sind im Folgenden Unternehmen gemeint. Für andere Organisationen sind einige

Detailaussagen zu korrigieren. Die grundsätzlichen Ergebnisse behalten aber ihre Gültigkeit.2 Zwischen Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement wird hier nicht differenziert. Eine

Unterscheidung der beiden Disziplinen hätte keinen Einfluss auf die nachfolgende Betrachtung.3 In diesem Beitrag werden Informationssysteme behandelt, die zur Unterstützung menschlicher Arbeit

eingesetzt werden. Diese unterscheiden sich grundlegend von Systemen in vollständig automati-sierbaren betrieblichen Bereichen, z.B. der Fertigungssteuerung bei Massenprodukten.

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Organisation wird also als erforderliche Rahmenbedingung begriffen. Soziales ist in der Wirt-schaftsinformatik dann etwas, das Objekt der – geplanten – Gestaltung ist, etwas, das tech-nisch verfügbar gemacht werden kann, indem die „objektiven Gesetzmäßigkeiten […], diegleichsam hinter dem Rücken der Akteure deren Verhalten bestimmen“ (Scherer 2001:12),ausgenutzt werden.

Wenn der Einsatz von Informationstechnologie über Planung und Optimierung ge-meistert werden kann, dann ist das Handeln von Wirtschaftsinformatikern als ingenieurmä-ßig zu charakterisieren.

Eine Entsprechung findet dieses technische Verständnis des Einsatzes von Informa-tionstechnologie im konstruktiven Ansatz der Softwaretechnik. Beide lassen sich im Hinblickauf ihr Verständnis von Organisationen, den Einsatzorten ihrer jeweiligen Produkte als sta-tisch, strukturalistisch und auf – unkritische – Reproduktion der Strukturen ausgelegt charak-terisieren (Rolf 2002:38, 46). Auf Grund dieser Analogie wird im Folgenden die herrschendeWirtschaftsinformatik als konstruktiv bezeichnet.

Die alltägliche Erfahrung und empirische Untersuchungen lehren uns, dass der Ein-satz von Informationstechnologie in Organisationen häufig neben positiven Effekten auchgroße Schwierigkeiten verschiedenster Art mit sich bringt. Eine mögliche Erklärung ist, dassdie Optimierungsbemühungen der Wirtschaftsinformatik noch nicht weit genug gediehensind. Eine denkbare Alternative ist, dass die verantwortlichen Projekt-Leiter die Lehren derWirtschaftsinformatik nicht richtig umsetzen. Hier wird demgegenüber die Auffassung ver-treten, dass es der heutigen Wirtschaftsinformatik auf Grund ihres Forschungsparadigmasnicht gelingen kann, die Probleme, die mit dem Einsatz von Informationstechnik verbundensind, handhabbar zu machen. Die Annahmen dieses Paradigmas, die die konstruktive Wirt-schaftsinformatik daran hindern, wirksame Beiträge zum Umgang mit den vorliegendenProblemen zu leisten, werden nun dargestellt.

Die blinden Flecke der konstruktiven Wirtschaftsinformatik

Es gibt einige Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Informationstechnikin Organisationen, die von der konstruktiven Wirtschaftsinformatik entweder gar nicht odernur undifferenziert behandelt werden1. Dazu gehört zum einen, dass nur eine mangelhafteBegründung dafür gegeben wird, warum Informationstechnik überhaupt in Organisationeneingeführt wird bzw. werden soll. Die gegebene Erklärung wird dem Erfahrungsschatz vonPraktikern und Wissenschaftlern nicht gerecht. Zweitens befasst sich die konstruktive Wirt-schaftsinformatik nicht mit der Analyse von Misserfolgen beim Einsatz von Informations-technik. Es fehlt überhaupt eine fundierte Konzeption, wie der Erfolg beim Einsatz von In-formationstechnik zu beurteilen ist. Drittens klammert die konstruktive Wirtschaftsinforma-tik, wie bereits im vorangehenden Abschnitt angedeutet wurde, die Betrachtung von Organi-sationen als sozialen Gebilden weitestgehend aus. Sie wird damit dem besonderen Charakterder Informationstechnik als wesentlichem Einflussfaktor in organisationalen Prozessen nichtgerecht.

Mangelhafte Begründung des Einsatzes von IT

In klassischer betriebswirtschaftlicher Tradition operiert die konstruktive Wirtschaftsinfor-matik mit einem Leitbild, das Unternehmen als Profit-Maximierer beschreibt. Dessen Ent-scheider werden als rational angenommen. In diesem Modell ist die einzig mögliche – und 1 Die Auswahl nennt die m.E. gravierendsten Probleme konstruktiver Wirtschaftsinformatik.

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auch die vorgebrachte – Rechtfertigung für den Einsatz von Informationstechnik die Ver-mehrung des Unternehmensvermögens und die Schaffung von Gewinnpotenzialen.

In dem rationalen Entscheidungsmodell spielt die Rentabilität des durch Investitio-nen in Informationstechnik gebundenen Kapitals als Entscheidungskriterium eine herausra-gende Rolle. Die konstruktive Wirtschaftsinformatik arbeitet mit der generellen Prämisse,die Informationstechnik habe das Potenzial, ergebnissteigernd zu wirken. Ferner unterstelltsie, ihre bei korrekter Gestaltung der Rahmenbedingungen den Einsatz von Informationoptimierenden Methoden würden die erhoffte produktivitäts- und ergebnissteigernde Wir-kung sicherstellen.

Dieses Modell der konstruktiven Wirtschaftsinformatik ist jedoch in einigen Aspek-ten fehlerbehaftet. Erstens wird schon lange in schlüssiger Art und Weise grundlegende Kri-tik an dem neoklassischen Leitbild der Unternehmung, das die gesamte Wirtschaftswissen-schaft durchzieht, geübt (Heuser 2002). Die Empirie deutet zudem darauf hin, dass der Ein-satz von Informationstechnik zu jenen unternehmerischen Bereichen gehört, für die dieseKritik berechtigt ist. Zweitens fehlt eine kritische Reflektion des Umstandes, dass die Ab-grenzung der Ergebniswirkungen des Einsatzes von Informationstechnik mit immensen Pro-blemen verbunden ist. Schließlich blieben Vertreter der konstruktiven Wirtschaftsinformatikbisher den systematischen Nachweis schuldig, die Ansätze und Methoden der von ihnen be-triebenen Disziplin stellten die adäquaten Mittel und Wege dar, die Potenziale der Informa-tionstechnologie mit privatwirtschaftlichem Nutzen zu realisieren.

Die eben angesprochene generelle Prämisse, die Informationstechnik könne bzw.würde auf der Ebene der einzelnen Unternehmung produktivitätssteigernd wirken, wird aus-drücklich nicht kritisiert. Zum einen sind die demgegenüber vorgebrachten Zweifel, wie in(Brynjolfsson 1993) dargelegt, auf Grund von Datenproblemen und der Kürze der untersuch-ten Zeiträume wenig valid. Zum anderen kommen insbesondere neuere Studien, z.B. (Bryn-jolfsson & Hitt 2002), zu dem Ergebnis, dass sich Investitionen in Informationstechnik undKomplementärinvestitionen vor allem über längere Zeiträume nachweislich positiv auf dieProduktivität und das Ergebnis der einzelnen Unternehmung auswirken.

Häufig aber spielt der tatsächliche Ergebnisbeitrag der Informationstechnik nur eineRolle neben anderen Beweggründen für deren Einsatz in Organisationen. Bedeutende Gründefür den Einsatz sind Erwartungen und Hoffnungen bzgl. des positiven Beitrags der Informa-tionstechnik, falsche bzw. verzerrte Entscheidungskriterien und Entscheidungsheuristiken anStelle strikter Rentabilitätsanalysen (Brynjolfsson 1993:75f., Clemons 1991). Weiterhin beein-flussen Erwartungen und Drücke aus dem Unternehmensumfeld, Partikularinteressen undMachtkämpfe innerhalb der Organisation (Benson 1977:3) die Entscheidungen über den Ein-satz von Informationstechnik.

Die Tatsache, dass sich die konstruktive Wirtschaftsinformatik nicht mit anderen alsden rationalen, der Profit-Maximierung verpflichteten Gründen für den Einsatz von Informa-tionstechnik auseinandersetzt, verhindert unmittelbar eine angemessene Analyse des Einsat-zes von Informationstechnik, seiner Bedingungen und Begleiterscheinungen sowie seinerKonsequenzen. Mittelbar aber verhindert diese Ignoranz auch die Möglichkeit, Strategien zuentwickeln, wie der Einsatz von Informationstechnik so gestaltet werden kann, dass dieHandlungsfähigkeit der Organisation nicht eingeschränkt wird und die Organisation Potenzialezur Ergebnisverbesserung aufbauen und sie ausschöpfen kann. Besonders wichtig sind solcheStrategien dann, wenn bereits Investitionen in Informationstechnik getroffen wurden, die imOrganisationskontext betrachtet den genannten Zielen zunächst einmal zuwiderlaufen.

Mangelhafte Erklärung von Misserfolgen

Neben vielen Erfolgsgeschichten über den Einsatz von Informationstechnik ist allerorten zuhören und zu lesen, dass dieser auch mit zum Teil enormen Problemen verbunden ist. Es

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werden z.B. Projekte abgebrochen, Organisationen werden durch Einsatz von monströsenSoftware-Systemen inflexibel, fehlerhafte Entscheidungen werden auf Grundlage nicht kor-rekter Informationen getroffen, eingesetzte Software ist wenig gebrauchstauglich usw. Fehl-schläge sind im Zusammenhang mit Informationstechnik zu einer ungewissen Gewissheitgeworden.

Gleichwohl scheint die konstruktive Wirtschaftsinformatik sich nicht darum zukümmern. Präzise Analysen von Problemen und explizite Handlungsstrategien sind in dereinschlägigen Literatur nicht zu finden. Wichtiger noch: Es wird augenscheinlich nicht ein-mal der Versuch unternommen, ein Problembewusstsein zu schaffen und präzise darzulegen,wann von Misserfolgen gesprochen werden soll.

Im Zusammenhang mit dem so genannten Produktivitätsparadox haben viele Auto-ren den Einsatz von Informationstechnik kritisch hinterfragt und ihre Wirksamkeit aufGrund mangelnden Nachweises positiver Produktivitätswirkungen auf volks- wie einzelwirt-schaftlicher Ebene generell in Frage gestellt. (Brynjolfsson 1993: 72ff.) macht jedoch klar, dassein überzeugender Nachweis für jedwede Wirkung des Einsatzes von Informationstechnik bisdahin nicht erbracht worden ist:

„The closer one examines the data behind the studies of IT performance, the more it looks like mis-measurement is at the core of the ’productivity paradox.’” (Brynjolfsson 1993:74)

Die anderen in (Brynjolfsson 1993) angebotenen Erklärungen für die Schwierigkeiten, die mitdem Nachweis der Effekte von Investitionen in Informationstechnik verbunden sind, sagen,dass solche Investitionen verzögert wirken, dass sie vor allem Umverteilungseffekte habenund dass vielfach Missmanagement Investitionen in Informationstechnik kennzeichnet, d.h.dass Entscheidungen über Investitionen irrational getroffen werden und dass die Investitio-nen selbst inadäquat durchgeführt werden. Gerade dieser letzte Erklärungsvorschlag verweistauf mögliche Probleme im Zusammenhang mit dem Einsatz von Informationstechnik, dievon der konstruktiven Wirtschaftsinformatik ignoriert werden. Auch das o.g. eindeutigereErgebnis der Studie (Brynjolfsson & Hitt 2002) schmälert nicht die Bedeutsamkeit des Hin-weises auf mögliche Management-Probleme bei der Entscheidung über und der Gestaltungdes Einsatzes von Informationstechnik.

Zwei weitere Versuche, Erfolg und Misserfolg beim Einsatz von Informationstechnikzu definieren, werden genannt, um einige Beispiele für mögliche Entwicklungsrichtungen indieser Diskussion zu geben.

Misserfolge beim Einsatz von Informationstechnik stellen in (Brödner, Seim, Woh-land 2002) den Ausgangspunkt für die Skizze einer Theorie der Informatik-Anwendungendar. Die Autoren verwenden dabei den Begriff der Software-Havarie. Allerdings bleiben sieeine klare Darstellung des damit Gemeinten schuldig und damit auch die Offenlegung dessen,was bei der Gestaltung des Einsatzes von Informationstechnik erreicht und was verhindertwerden soll. Der vage Begriff der Software-Havarie wird nicht operationalisiert.

In (Phelps & Mok 1999) wird als Kriterium zur Erfolgsmessung bei der Einführungvon Intranets in Unternehmen die Benutzerzufriedenheit vorgeschlagen.

Wonach soll also über Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes von Informationstechno-logie entschieden werden? Nach der Produktivität des gebundenen Kapitals, nach der Zahlder Projektabbrüche, nach den Überschreitungen der Finanz- und Zeitbudgets, nach der Zu-friedenheit der Benutzer, nach einem möglicherweise abgrenzbaren Einfluss auf das Unter-nehmensergebnis oder nach den Auswirkungen der eingesetzten Informationstechnik auf dieZukunftsfähigkeit der Organisation? Wie kann die Wirkung der Investition in Informations-technik inhaltlich und zeitlich nachvollziehbar abgegrenzt werden, wenn Finanzgrößen he-rangezogen werden? Klare und fundierte Konzepte, die Antworten auf diese Frage geben,

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sind gefordert, um über Erfolg oder Misserfolg entscheiden zu können und anschließendVorschläge machen zu können, wie Misserfolge zu vermeiden und Erfolge zu erzielen sind.

Ignoranz gegenüber der Organisation

Im vorangegangenen Abschnitt wurde argumentiert, dass die konstruktive Wirtschaftsinfor-matik keine realistischen Konzepte zur Erklärung von Misserfolgen beim Einsatz von ITanbietet und warum dieser Mangel wesentlich ist. In einem engen Zusammenhang dazu stehtein weiterer blinder Fleck der konstruktiven Wirtschaftsinformatik: Das umfangreiche undkomplexe Feld der sozialen Organisation wird nicht zum Gegenstandsbereich der Disziplingezählt. Dementsprechend sucht man in der einschlägigen Literatur vergebens nach differen-zierten Analysen und Gestaltungsvorschlägen der sozialen Organisation.

Warum aber soll eine Wissenschaft, die sich mit dem Einsatz von Informationssyste-men in Unternehmen beschäftigt, die soziale Organisation in den eigenen Gegenstandsbe-reich aufnehmen oder gar – wie hier vorgeschlagen wird – die Suche nach Gestaltungsvor-schlägen für die soziale Organisation zu einer zentralen Fragestellung erheben? Schließlichhaben sich Ingenieure auch nicht um Machtstrukturen und andere soziale Phänomene derOrganisationen, in denen von ihnen konstruierte Maschinen eingesetzt werden, zu kümmern.

Im Unterschied zu physischen Maschinen sind Computer und damit auch darauf auf-bauende Informationssysteme semiotische Maschinen (Brödner, Seim, Wohland 2002). Dascharakteristische Kennzeichen der Herstellung und des Einsatzes semiotischer Maschinen istder Zweischritt aus abstrahierender Modellbildung und der Interpretation des Modells imAnwendungskontext. Diese Rekontextualisierung des Modells geschieht autonom und istzugleich geprägt vom Vorgang der Dekontextualisierung. Gleichzeitig verändert die Rekon-textualisierung des Modells die Bedingungen, unter denen die Dekontextualisierung geschah.Für das damit bezeichnete primär soziale Phänomen, das auf dem Wechselspiel von Handlun-gen und Strukturen1 beruht, existieren von verschiedener Seite hervorragende Analysen.Brödner, Seim und Wohland haben sich aus der Perspektive der Informatik-Anwendungenmit der „Dialektik der Gestaltung von Form aus Reflexion von Praxis und der Aneignung vonForm für veränderte Praxis“ (Brödner, Seim, Wohland 2002:77) befasst. (Giddens 1992) hateine soziologische Analyse der Rekursivität von Strukturen und der doppelten Hermeneutikformaler Operationen im Sozialen geliefert. In (Floyd & Klaeren 1999) wird die Informatik alsdie Wissenschaft von den autooperationalen Formen charakterisiert. Produkte der Informa-tik, autooperationale Agenten, würden durch situiertes Handeln interpretiert und damit erstfür die menschliche Realität sinnhaft. Ein wichtiges Ergebnis dieser Analysen ist, dass, wäh-rend physische Maschinen und Prozesse auf der Grundlage von Naturgesetzen wirken und in„Prozesse der Energie- und Stoffumwandlung“ eingreifen, „der Wirkbereich semiotischerMaschinen ganz im Prozess der sozialen Interaktion“ (Brödner, Seim, Wohland 2002:77)liegt.

Der Einsatz von Informationstechnik nimmt Bezug auf Strukturen der Organisation,verändert diese und schafft neue. Soziale Strukturen sind nichts Endgültiges, sondern „crys-tallized but temporary outcomes of the process of social construction whose emergence andmaintenance demands explanation“ (Benson 1977:7). Diese Erklärung ist vonnöten, wollen wirden Einsatz von Informationstechnik in Organisationen verstehen und zielgerichtet mitge-stalten. Zu einem ähnlichen Schluss kommt (Brödner, Seim, Wohland 2002:83): „Wer IT-Systeme produktiv nutzen will, muss Organisationsentwicklung betreiben. „Einen möglichenWeg hierfür scheint die Theorie der Strukturation (Giddens 1992) aufzuzeigen. Dieser Theo-

1 Vgl. die ausführliche Darstellung der dialektischen Sicht auf Soziales (Giddens 1992). Weniger umfan-

greich ist die Idee, angewandt auf Organisationen, bereits in (Benson 1977) zu finden.

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rie zufolge ist Informationstechnik sowohl als Vorbedingung als auch als Produkt des Han-delns sozialer Akteure innerhalb der Organisation zu verstehen.

Die konstruktive Wirtschaftsinformatik verschließt sich dem skizzierten Untersu-chungsbedarf, ohne die vorgebrachten Argumente ernst zu nehmen und nachvollziehbareGründe für diese Ignoranz zu benennen. So konstatiert auch der OrganisationsforscherScholz: „Informationstechnologie-Ansätze verwenden meist Maße wie Kernspeicherkapazitätoder Computerkosten. […] Die Erklärung struktureller [organisatorischer] Dimensionen an-hand informationstechnologischer Gegebenheiten hat sich – soweit erkennbar – bisher nichtumfassend durchgesetzt.“ (Scholz 2000:116)

Fazit

Es ist dargelegt worden, dass und worin das Forschungsparadigma der konstruktiven Wirt-schaftsinformatik zu kurz greift, um wirkungsvolle Ergebnisse hervorbringen und den Prob-lemen im eigenen Gegenstandsbereich effektiv begegnen zu können. Die Hauptkritik richtetsich dabei gegen die Grundannahme, der Einsatz von Informationstechnik sei planbar undoptimierbar. Diese Prämisse blendet Aspekte sozialer Organisation aus, die von zentraler Be-deutung sind für die Entscheidung über den Einsatz von Informationstechnik, deren Gestal-tung, Erfolg und Misserfolg. Es wird damit nicht der Möglichkeit der intentionalen Gestal-tung des Einsatzes von Informationstechnik eine Absage erteilt, sondern dem „Mythos […]von der Organisation als einer Maschine“ (Volpert 1990:24) und damit dem Bestreben, denEinsatz von Informationstechnik mit ingenieurwissenschaftlichen Methoden gestalten zuwollen.

Stattdessen erscheint es sinnvoll, die Perspektive zu wechseln und den Einsatz vonInformationstechnik in Organisationen auch als ein soziales Phänomen aufzufassen, das vorallem kommunikativ beeinflusst werden kann. Eine solche Neuorientierung kann dann z.B. inden Vorschlag einer konstruktivistischen Wirtschaftsinformatik münden. Diese auf demmethodischen Konstruktivismus der Erlanger Schule basierende Wirtschaftsinformatik sollermöglichen, das Zusammenspiel von Organisationstransformation, Entwicklung und Einsatzvon Informationssystemen zu verstehen und zu handhaben.

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Voß, Stefan & Kai Gutenschwager 2001: Informationsmanagement. Berlin et al.: Springer

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Anwendung und Reflexion

Paul Drews, Universität Hamburg

Auf der Suche nach einer Systematisierung für Probleme in Praxis und Theorie und derenZusammenhängen mit dem Angebot der Informatik als Wissenschaft bin ich auf folgendeFragen gestoßen:

• Was ist Informatik-Anwendung ?• Wo findet sie statt ?• Wo liegt der Grenzbereich zwischen Theorie und Praxis ?• Welche Rolle spielt die Informatik als Wissenschaft dabei ?• Was ist bei der Informatik-Anwendung in Unternehmen zu berücksichtigen ?

Zur Beantwortung dieser Fragen habe ich einen Orientierungsrahmen konstruiert, der diesenProzess erleichtert. Nachfolgend stelle ich diesen Rahmen in Kürze vor und beantworte mitseiner Hilfe die systematischen Fragen, um anschließend auf einige konkrete Fragen einzuge-hen.

Das unten dargestellte Modell beinhaltet sieben Ebenen, die nach zunehmender Pra-xisorientierung aufsteigend angeordnet sind. Die einzelnen Ebenen stehen mit den angren-zenden Ebenen in einem ständigen Austauschprozess. Dieser Prozess ist im Kern durch diebeiden Aktivitäten „Anwendung“ und „Reflexion“ gekennzeichnet. Anwendung bedeutet,einen Transfer von theoretischem Wissen in Richtung Einsatzkontext vorzunehmen und esdiesem näher zu bringen. Reflexion hingegen bezeichnet einen Schritt der Dekontextualisie-rung und/oder Abstraktion; also einen Schritt der Theoretisierung. An den Schnittstellenzwischen den Ebenen entstehen Transferverluste, die sich in Abhängigkeit der Perspektiveals Verunreinigung (aus Sicht der theoretischen Ebene) oder als unangemessene Verallgemei-nerung (aus Sicht der praktischen Ebene) darstellen. Zwei oder mehrere Ebene können miteinander verschmolzen sein, wenn ihre Inhalte so stark mit einander verwoben sind, dass sienicht zu trennen sind.

Die externen Einflüsse sollen andeuten, dass dieses Modell stets in einem gesell-schaftlichen Kontext zu sehen ist. So können rasche Veränderungen in globalen Märkten zuTurbulenzen in den Ebenen Meta-Artefakt, Artefakt und Einsatz führen, während die Ver-gabe von Forschungsgeldern vor allem den Reflexionsprozess beeinflusst.

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Abb. 1. Das Anwendungs-Reflexions-Ebenenmodell1

Beispiele für die Schichtaufteilung

Nachfolgend habe ich anhand der Beispiele JAVA, SAP und UMTS versuchsweise eine Ein-teilung im Rahmen des Modells vorgenommen.

Ebene Beispiel 1 Beispiel 2 Beispiel 3

Einsatz Buchhaltungssystem im konkreten Unternehmen Handy als E-Mail-Client

Artefakte Buchhaltungssystem (objektorietiert, in JAVA) Handy (inkl. Software)

Meta-Artefakte JAVA, .NET

SAP

UMTS-Netz

Modelle &Methoden

UML, Use-Cases ARIS2, Petrinetze,Useability Design

Mobilfunknetze, GSM, UMTS

Theorie(n) Informationsmanage-ment3

Nachrichtentechnik,Informationstheorie

Meta-Theorie(n)

Objektorientierung

ISO / OWI4

Philosophie(n) ? ?Netzwerk- / Informationsgesellschaft

1 Das Modell wird hier nicht mit bestehenden Ausarbeitungen dieser Art in Verbindung gesetzt. – Die

Abb. musste aus technischen Gründen gegenüber der vom Verf. gelieferten reduzier werden. Ed.2 Vgl. Scheer 19993 Vgl. Voß & Gutenschwager 2001, Krcmar 20034 Vgl. Rolf 1998, Rolf 2002

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Der Mensch im Modell

Der Mensch befindet sich meistens an einer von drei Positionen: Als Experte in einer Ebene,an einer Schnittstelle (häufig mit dem „Standbein“ in einer Ebene) oder in einer Meta-Per-spektive zum dargestellten Modell.

Als Experte in einer Ebene ist er mit der Ausgestaltung des Inneren und der Abgren-zung nach außen beschäftigt. Er überschreitet ungern die Grenzen seines Reviers. DieSchnittstellenposition gilt als unbequem und anstrengend. Hier werden die Kämpfe zwischenTheorie und Praxis ausgetragen. In der Meta-Sicht werden die einzelnen Schichten und ihreInterdependenzen bewusst betrachtet.

Antworten auf die systematischen Fragen

Was ist Informatik-Anwendung ? Wo findet sie statt ?Informatik-Anwendung ist ein Schritt der Rekontextualisierung, also einer der Spezialisie-rung und der Erhöhung des Anwendungsgrades, der auf den unterschiedlichen Ebenen desModells stattfinden kann.

Wo liegt der Grenzbereich zwischen Theorie und Praxis ?Die Grenzziehung zwischen Theorie und Praxis im Modell (quer durch die Ebene „Modelleund Methoden“) repräsentiert den verbreiteten Gebrauch dieser beiden Antipole. Die unte-ren vier Ebenen stellen die Theoriehälfte dar, die oberen vier die Praxishälfte.

Welche Rolle spielt die Informatik als Wissenschaft dabei ?Die Informatik als Wissenschaft beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Ebenen Meta-Theorie(n), Theorie(n) und Methoden und Modelle. Der Graben zwischen Wissenschaft undPraxis wird nicht häufig übertreten. Noch seltener sind jedoch Schritte in Richtung Philoso-phie und Wissenschaftstheorie.

Was ist bei der Informatik-Anwendung in Unternehmen zu berücksichtigen ?Unternehmen erstellen entweder Produkte (Artefakte, Meta-Artefakte) oder sie setzen sie alsEndabnehmer ein (Einsatz). Je nach Position fordern sie entweder Modelle und Methodenvon der Wissenschaft oder (Meta-)Artefakte, die von anderen Unternehmen hergestellt wer-den. Unternehmen beteiligen sich an Forschungsprojekten oder bieten ihre Kooperation inForm von Erfahrung und Fachwissen bei der Entwicklung von Artefakten an.

Praktische Probleme und ihre Verortung im Modell

Die Informatik muss lernen, Probleme abzulehnen. Welche Probleme soll die Informatik annehmen ?Die Frage lässt sich im Sinne des Modells mit einem klaren „je nachdem“ beantworten. Er-kennt die Informatik den im Modell dargestellten Bereich als ihren Aufgabenbereich an, sofallen insbesondere die praktischen Ebenen heraus. Sie empfängt in dieser Sicht ihre Erfah-rungen aus dem Einsatz der Artefakte nur indirekt, d.h. aus der Reflexion der eingesetzten(Meta-)Artefakte, und wirkt auch nur auf diese zurück. In diesem Sinne bleiben die Problemeder Anwendung der Artefakte zunächst verborgen, da von ihnen abstrahiert wird.

Welche Probleme die Informatik wahrnimmt, reflektiert und anschließend bearbei-tet, entscheidet sich an der Schnittstelle zur Ebene der (Meta-)Artefakte. Solange an dieserStelle eine begrenzte Wahrnehmung der Probleme stattfindet (aufgrund der Filterwirkungder Reflexion der darunter liegenden Ebene), kann auf der anderen Seite auch keine Anwen-

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dung neuen Wissens erfolgen, das diese berücksichtigt. Die Informatik kann (auf allen Ebe-nen, für die sie sich zuständig fühlt) selbst entscheiden, welche Inhalte sie reflektiert undbearbeitet.1

An der Schnittstelle zum Praktischen wird die Entscheidung getroffen, ob ein Prob-lem (z.B. ein komplexes) angenommen wird oder nicht. Dieser Prozess muss bewusst und inAbstimmung mit den darunter liegenden theoretischen Ebenen erfolgen. Wird eine Problem-stellung reflektiert, für die es in einer Ebene keine Erklärungsmuster gibt, so kann nur einRückgriff auf eine höhere Ebene und die anschließende Anwendung der gewonnenen Er-kenntnisse einen Rahmen zur Lösung schaffen. Für den Fall von Havarien in IT-Projektenheißt dies: Wenn eine Beobachtung für die nächste Schicht in Richtung Einsatz in einemUmfang vorgenommen wird, dass die Probleme als solche identifiziert werden können, kannes sein, dass die bekannte Theorie nicht alle relevanten Aspekte umfasst. Um an dieser Stellenoch einen Schritt konkreter zu werden: Beobachte ich, dass IT-Projekte nicht wegen tech-nischer Unzulänglichkeiten, sondern wegen mikropolitischer Machtkämpfe oder anderersozialer Phänomene scheitern, werden im nächsten Schritt in den angrenzenden theoreti-schen Schichten Antworten auf die aufgetretenen Fragen gesucht. Nach einer Integrationkönnen dann neue Einsichten zur Anwendung gebracht werden und ihren Weg bis zum Ein-satz nehmen.

Die Entwicklung in den Schichten nahe dem Einsatzkontext geht sehr schnell voran, während die Theo-riebildung „hinterherhinkt“.Die Theoriebildung bzw. Reflexion ist eine aufwendige Angelegenheit, insbesondere dann,wenn eine Verknüpfung mit Inhalten der meisten theoretischen Ebenen angestrebt wird. Inder Informatik ist diese Aufgabe besonders anspruchsvoll, da die Entwicklung in den prakti-schen Ebenen sehr schnell voran geht. In vielen Bereichen der Informatik ist daher ein Defi-zit an Theorien, die auf eine Anwendbarkeit der Ergebnisse zielen, sichtbar.

Aus meiner Sicht sind die beiden Prozesse „Reflexion“ und „Anwendung“ in der In-formatik unterentwickelt. Für den Bereich der Reflexion scheint mir das Hauptproblem einebegrenzte Wahrnehmung der Probleme und Anliegen der nächst praktischeren Schicht zusein. Zu häufig wird das Erklärungsmuster der unzureichenden technischen Konstruktionbemüht, menschliche und soziale Herausforderungen werden als komplex beobachtet und als„hinnehmbare Randerscheinungen“ ausgeblendet. Viele Inhalte der theoretischen Schichtender Informatik sind nicht in der Lage, mit diesen umzugehen. Die in dieser Defizitsituationentstehenden Modelle und Methoden und ihre Auswirkungen bis in den Einsatz verstärkendas Problempotenzial.

Die Informatik sollte aktiv den Transfer zwischen den Ebenen fördern und sie engermiteinander verknüpfen, um die rasante Entwicklung in der Praxis mit einem adäquatenTheoriekonzept unterstützen zu können.

IT-Projekte scheitern, weil die Systeme nicht den Anforderungen der Endanwender entsprechen.Dieses Problem lässt sich im Modell dort lokalisieren, wo die Reflexion des Einsatzes wiederEingang in die Artefakt-Ebene finden soll. Konkret kann dies beobachtet werden, wenn beieiner Systemeinführung eine unzureichende Analyse der bestehenden Infrastruktur und ihrersozialen Einbettung stattfindet. Die Erstellung der Systeme findet häufig unter Laborbedin-gungen statt und für die Errichtung der Konstruktion im Feld erwarten die Artefakt-Herstel-ler eine grüne Wiese.

Für dieses Problem existieren bereits theoretische Angebote, die an dieser Stelle einestärkere Einbindung der Anwender in den Entwicklungsprozess fordern. Viele davon basieren

1 „Die Informatik“ erscheint hier arg aktiv. Kann das gut gehen? – Komm. des Redakteur

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auf dem Meta-Theorie-Begriff der Partizipation. Als Beispiele seien hier STEPS1 oder Contex-tual Design2 genannt. Warum existieren diese Probleme trotz eines vorhandenen Theorie-Angebotes noch immer ?

Aus meiner Sicht haben die oben genannten Ansätze bisher wenig Einfluss auf diedarunter liegenden Ebenen gehabt. Das Contextual Design stellt einen umfangreichen Metho-den- und Modell-Werkzeugkasten zur Verfügung, der in der Praxis nur selten bei der Arte-fakt-Herstellung oder der Artefakt-Anwendung eingesetzt wird.

Die Lösung des Problems kann in zwei Bereichen erfolgen: Zum einen fehlt die Um-setzung einiger viel versprechender theoretischer Ansätze (auf den Ebenen Meta-Theorie bisModelle & Methoden) in die praxisnäheren Bereiche. Zum anderen kann eine veränderteReflexion der Artefakt- und Meta-Artefakt-Ebene zu einem verstärken Theoriebedarf füh-ren.

Die Messung von Produktivitätszuwächsen kann keine eindeutigen Belege für die Sinnhaftigkeit des IT-Einsatzes liefern.Bei der Anwendung von Methoden und Modellen zur Produktivitätsmessung im Zuge einerReflexion kann man in dem Schlaglicht der Produktivität wahrnehmen, dass hier im Rahmender eigenen Kriterien keine Fortschritte erzielt wurden. Welche Reaktion erfolgt darauf ?

Eine Möglichkeit lautet: Unsere (Meta-)Artefakte führen nicht zu den gewünschtenErgebnissen. Wir müssen sie verbessern. Eine andere Antwort lautet: Unsere Theorie derProduktivitätszuwächse ist als Maßstab für die Auswirkungen von IT-Anwendung unzurei-chend.

Obwohl beide Antworten zu einer Verbesserung der Situation beitragen können,scheint mir die zweite die wichtigere zu sein. Eine Einbeziehung einer „Theorie der Qualität“,deren Messbarkeit sich z.B. in Normen widerspiegelt, wird in einer Analyse des gleichen In-puts zu einem anderen Ergebnis gelangen: Nur durch IT-Einsatz ist ein umfangreiches Quali-tätsmanagement praktisch durchführbar. Ähnliches gilt für den Bereich derKundenbetreuung. Wir halten es heute für selbstverständlich, dass bei einem Anruf in einemCall-Center sämtliche Informationen über unsere Geschäftsbeziehung vorliegen. Ohne IT-Einsatz wäre ein solcher Service nicht denkbar. Von größerer Bedeutung als Qualitätsmana-gement oder Kundenbetreuung sind für mich jedoch die umfangreichen Auswirkungen aufMenschen, Organisationen und deren Zusammenwirken lokal und international. Die NewEconomy ist zwar in Finanzdimensionen fast zur Bedeutungslosigkeit verkommen, ihre Aus-wirkungen in gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht werden jedoch in dennächsten Jahren zunehmen und unser Leben verändern. Eine Einbeziehung der Ebenen „Me-ta-Theorie“ und „Philosophie“ ist hier dringend erforderlich, um auftretende Probleme inihrer ganz Tragweite zu erfassen und zu lösen.

Fazit

Ausgehend von praktischen und systematischen Fragen habe ich versucht aufzuzeigen, dassder Prozess der Informatik-Anwendung auf vielen Ebenen stattfindet. Ihm steht der kom-plementäre Prozess der Reflexion gegenüber. Die Ursachen für auftretende Probleme könnenmithilfe des Modells verortet werden. Auf diese Weise ist es möglich, dass Ansätze zur Lö-sung gefunden werden.

1 Vgl. Floyd 19932 Vgl. Beyer & Holtzblatt 1998

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Literatur

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ACM 36 (1993) No. 4, 83Krcmar, Helmut 2003: Informationsmanagement Berlin etc.Rolf, Arno 1998: Grundlagen der Organisations- und Wirtschaftsinformatik. Hamburg 1998Rolf, Arno 2002: Informatiksysteme in Organisationen, Fachbereichsmitteilung des FB Informatik der

Universität Hamburg. HamburgScheer, August-Wilhelm 1999: ARIS, Vom Geschäftsprozeß zum Anwendungssystem. HeidelbergVoß, Stefan & Kai Gutenschwager 2001: Informationsmanagement. Berlin etc.

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Wer hat die Religion der InformatikerInnen geschaffen?Warenfetisch im Selbstbild

Frank Eckert, Berlin

Was könnte Ziel, Zweck und Erfolgsmaßstab für die Informatik sein? Die Einladung zurArbeitsgruppe beantwortet dies mit der Gleichsetzung von Erfolg, Nutzen und Mehrwert-schöpfung:

„Wie müssen ‚moderne’ DV-Systeme aussehen, um erfolgreich, sprich: nutzbringend(im Sinne von: Mehrwert schaffend), eingesetzt werden zu können?”

Würde eine klassischere, länger etablierte Wissenschaft wie z.B. die Chemie den Mehrwertdermaßen selbstverständlich zum Hauptkriterium ihrer Arbeit erheben, würde ihr damitwohl die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Natürlich geht es in der täglichen Arbeit derallermeisten ChemikerInnen genau darum, Wert zu produzieren1. Doch käme wohl kaumjemand auf die Idee, damit die Wertproduktion als Zweck oder wichtigsten Bewertungsmaß-stab für gute wissenschaftliche Chemie anzuführen. Chemie und Informatik ähneln sich dar-in, dass die Erkenntnisse, die sie hervorbringen, extrem gut anwendbar sind, doch im Falle derChemie wird mensch auch nicht die Arbeit einer Chemikerin in einem großen Unternehmenwie z.B. Bayer mit „der Chemie“ als solcher verwechseln. Diese Gleichsetzung von Anwen-dung und Wissenschaft wird aber bei der Informatik immer wieder gemacht und auch dieEinladung zur „AG Anwendung” verzichtet leider darauf, diese wichtige Unterscheidung ex-plizit zu machen (ich würde es für sinnvoll halten, von „Informatik” nur in einem universitär-wissenschaftlichen Kontext zu reden, die Anwendung, von der auch in der AG die Rede ist,dagegen schlicht als Informationstechnologie zu bezeichnen).

Ist nun im Falle der Informatik die Wissenschaft so sehr zur unmittelbaren Produk-tivkraft geworden, dass keine Trennung mehr zu machen ist? So weit geht es meiner Meinungnach nicht, mensch braucht sich nur konkrete Forschungsprogramme an Universitäten anzu-sehen und wird sehr wohl welche aufdecken, die sich nicht direkt in Mehrwert produzierendeAnwendungen umsetzen lassen, bzw. vom Kapital nicht wirklich „benötigt“ werden (weiteTeile der theoretischen Informatik, etc.).

Anstatt aber selbstbewusst vor allem diese Teile der Forschung zu verteidigen, diemeiner Meinung nach überhaupt erst die Etablierung der Informatik an Universitäten recht-fertigen, wird sehr oft mehr oder weniger krampfhaft versucht nachzuweisen, dass auch dieseForschung irgendwann irgendwie in vermarktbare Produkte einfließen wird. Den Anspruchdes Kapitals, jeden Aspekt des Lebens mit seiner Verwertbarkeit zu rechtfertigen, hat alsoauch die universitäre Informatik ohne Not akzeptiert.

Den Leitern der AG Anwendung will ich nicht unterstellen, dass sie sich der von mirgeforderten Trennung von Anwendung und Wissenschaft nicht bewusst sind, sie formulieren

1 Und zwar allein den im Kapitalismus entscheidenden Tauschwert, der Gebrauchswert der Produkte

der Chemie ist genauso unwichtig wie der von IT-Systemen, solange sie sich nur verkaufen las-sen.

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sie nur nicht deutlich genug. Immerhin stellen sie aber heraus, dass ihre eigene Konzentrationauf die Verwertung dem Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft geschuldet ist.

Da dieser Zwang aber im Rahmen der Universität nur sehr schwach vorhanden ist,muss es tiefer liegende Ursachen des überdurchschnittlich stark ausgeprägten Warenfetischsim Denken und der Identität von InformatikerInnen geben. Welche sind dies bzw. wiekommen sie zustande?

Nahe liegt die Annahme, dass die wissenschaftliche Sozialisation hier eine großeRolle spielt und z.B. Studierenden dieser Warenfetisch im Laufe des Studiums anerzogenwird. Zumindest nach meiner persönlichen Erfahrung geschieht dies jedoch nicht. Nichteinmal habe ich im Laufe meines Studiums in einer Lehrveranstaltung erklärt bekommen,dies sei die Aufgabe der Informatik. Allerdings habe ich genauso wenig einen Gegenvorschlaggehört, was denn die Aufgabe sein könnte.

Offensichtlich scheint eine solche explizite „Erziehung" gar nicht nötig zu sein. Men-schen, die sich für ein Informatik-Studium interessieren, sind meist schon überzeugte Jüngerder Wertreligion.

Ein einfacher Grund ist sicher, dass viele aus dem einzigen Grund gezielt Informatikstudieren, um später viel Geld zu verdienen. Diese „Pragmatiker des Wertes” sind sicherlichdie, die sich der eigenen Orientierungen am meisten bewusst sind und allein dadurch ein rela-tiv distanziertes Verhältnis zur Informatik behalten (bevor es die Informatik gab, hätten siewahrscheinlich Betriebswirtschaftslehre studiert).

Schwieriger ist der Fall bei den anderen, die die Informatik nicht bewusst wegen derWertorientierung wählen, sondern diese nur unbewusst in sich tragen.

Eine große Rolle spielt bei ihnen sicherlich, dass sie sich selber gerne zu einer Art ge-sellschaftlich-technologischer Avantgarde stilisieren möchten. Die Rede von der „definieren-den Wissenschaft" scheint mir nicht nur Beschreibung, sondern tatsächlicher Wunsch. Unddazu passt eben keine kritische Distanz zum eigenen Tun, sondern nur die bedingungsloseAnpassung an die herrschenden Rahmenbedingungen und damit das Nachbeten der Ansprü-che des Kapitals.

Beide Erklärungsmuster sind aber sicherlich nur sehr unzureichend. Außerdem binich mir völlig unschlüssig, ob im Akt der Sozialisation künftiger Informatik-Studierender, derwohl irgendwo zwischen Kindergarten und Schule stattfinden muss, ein bewusst konstruie-render Anteil liegt, bzw. von wem eine solche Sozialisation getragen wird. Geschieht diesenur durch die normierende Kraft der gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse oder wird siebewusst vermittelt?

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Anwendungen. Welche Anwendungen?

Martin Fischer, Berlin

Bei der Theorie-Tagung im letzten Jahr (2002) habe ich mich – wohl in der letzten Sitzungder Arbeitsgruppe „Theorie der Anwendungen“ – geärgert. Da Ärgern immer ein guter Anlasszum Nachdenken ist, will ich den Ärger zum Anlass für einige Bemerkungen und Geschich-ten aus meinem Arbeitsalltag nehmen. Mein Thema ist die Entwicklung informationstechni-scher Anwendungen, mit Betonung auf „Entwicklung“.

Worüber hatte ich mich eigentlich geärgert? Darüber, dass etwas aufgemalt wurde,was Informatiker/innen sehr vertraut ist und was oft „Wasserfälle“ genannt wird. Die Inhalteder Kästchen sind mir dabei fast beliebig.

(Fast) selbstverständlich betonten die Malenden, dass sie natürlich kein traditionelles Phasen-/Wasserfallmodell mit festen Abläufen im Kopf hätten, sondern mindestens Zyklen etc., dassPartizipation natürlich wichtig sei, etc. Warum konnte das meinen Ärger nicht zerstreuen?Vier Gründe fallen mir dazu ein, ich will mich im Folgenden allerdings nur mit einem etwasausführlicher befassen.

Die Metapher

Mich ärgert, dass eine bildliche Metapher verwendet wird, obwohl man das, was sie sugge-riert, gar nicht ausdrücken will. Eine Geschichte der Bildmetaphern für Software-/Anwen-

Design

Anforderungsanalyse

Formalisierung

Systemeinführung

Programmierung

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dungsentwicklung und der ihnen inne wohnenden Suggestionen müsste einmal geschriebenwerden (oder gibt es die schon?). In jedem Falle sind die Wasserfälle auf dem Papier nichtalternativlos. Zu nennen wäre Boehms Spiralmodell, Visualisierungen aus dem Umfeld objekt-orientierter Entwicklung, das V-Modell und wahrscheinlich noch manches andere. Woherrührt die Beliebtheit der Wasserfälle? In ihrer (kurzsichtigen) Analogie zu (trivialen) Pro-grammablaufplänen? Welche Bilder und Wünsche stecken in diesem Bild?

Phasen

Ein solches Wunschbild, und das ärgert mich als zweites an der Metapher, besagt, dass es sichbei informatischer Entwicklung um abgeschlossene zeitlich und/oder logisch auf einanderfolgende Phasen handelt mit jeweils bewertbaren Ergebnissen. Dass es sich dabei weiter umabgrenzbare Tätigkeitsbereiche handelt, für die je spezifisches Personal mit spezifischenKompetenzen eingesetzt wird. Kritik an dieser Sicht ist natürlich nicht neu. Zu nennen wä-ren wiederum (mit Einschränkungen) Boehm, Ansätze zur partizipativen Softwareentwick-lung z.B. von Christiane Floyd und ihrer Gruppe, oder neuere Ansätze wie Unified Process (UP)von Booch, Rumbaugh und Jacobson oder so genannte leichtgewichtige Modelle wie BecksExtreme Programming (XP). Interessant an UP ist unter anderem, dass die klassischen Phasenals Workflows, sprich als Tätigkeiten wieder auftauchen, die immer gleichzeitig, wenn auchmit unterschiedlicher Gewichtung, durchgeführt werden. UP und XP ist außerdem gemein-sam, dass sie einen an Anwendungsfällen orientierten (use case driven) Ansatz, und einenkleinschrittigen (inkrementellen, iterativen) Ansatz verfolgen. (Damit wären dann auch diemir sympathischen Ansätze genannt, um da keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.)

Formalisierung

Drittens ärgert mich, dass der Formalisierung als getrennter Phase oder, vorsichtiger, als ge-trenntem Aspekt jenseits von sowohl Modellierung (Semiotisierung?) als auch Programmie-rung (Algorithmisierung?) eine prominente Stellung eingeräumt wird.

Explizite Formalisierung, das Erstellen von im engeren Sinne formalen Modellen, jen-seits der Programmierung selbst, spielt, so zumindest meine These (und bisherige Erfahrung),in der Praxis nur ausnahmsweise überhaupt eine Rolle. (Und das ist auch gut so und der Sacheangemessen!) Die erforderlichen Kompetenzen von Informatiker/innen zur Abwicklung in-formatischer Projekte sind dagegen extrem vielfältig. Datenmodellierung, Oberflächengestal-tung, Betriebsystemkenntnisse und Erfahrung mit Software- und/oder Hardware-Produktensind fast immer wichtiger als die Fähigkeit zum Umgang mit mathematischen Modellen.

Homogenität

Was mich viertens ärgert, ist die Suggestion, die in der inflationären Verwendung der Was-serfallmetapher zum Ausdruck kommt: dass nämlich die Entwicklung informationstechni-scher Artefakte mit einem (Betonung auf einem) Modell adäquat zu beschreiben sei.

Im Folgenden will ich, ausgehend von einem Beispiel, diese Sicht auf die Entwicklunginformatischer Anwendungen in Frage stellen. Meine Gegenthese dazu ist:

Es gibt eine solche Vielzahl und Vielfalt von Arten informatischer Anwendungen –anders formuliert: ein so großes Spektrum unterschiedlicher Anforderungen an die

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Entwicklung –, dass ein einheitliches Entwicklungsmodell aus Sicht der Entwick-lungspraxis weder realistisch noch wünschenswert ist.

Die Entwicklung einer Anwendung (eine Geschichte)

Bei dem beschriebenen Projekt handelt es sich um die Entwicklung einer kundenspezifischenContent Management Software für ein großes Internetportal. Ein Charakteristikum des Projek-tes ist eine relativ kurze Entwicklungszeit und eine lange Wartungs- und Weiterentwick-lungsdauer. Das Projekt war (und ist) erfolgreich, obwohl es kaum irgend welchenLehrbuchkriterien entspricht.

• Entwicklungsplanung und Qualitätsmanagement waren in der Entwicklungsphasepraktisch nicht vorhanden. Auch in der Wartungsphase ist beides relativ beschränktauf bestimmte Maßnahmen des Kunden, mehr zur Sicherung der Produkt- als derProzessqualität.

• Die Anforderungsdefinition kann nur als ausgesprochen informell bezeichnet wer-den. Objekt-orientierte Modellierung, geschweige denn Formalisierung: schlichtFehlanzeige. Ersteres wurde nach Beendigung der Entwicklungsphase zum Zweckeder Dokumentation rudimentär nachgeholt.

• Die Software selbst ist von sehr unterschiedlicher Qualität, sie enthält sogar elemen-tare Designfehler, die man keinem Studenten in einer Einführungsveranstaltung zuDatenbanken durchgehen ließe.

• Angemerkt werden könnte noch, dass, zumindest in der Entwicklungsphase, nichteinmal das Projektteam gut funktioniert hat, weder beim Kunden, noch in der ent-wickelnden Firma. Nach dem Launch des Produktes wurde fast das komplette Teamausgetauscht.

• Schließlich ist die Usability des Produktes für wesentliche Anwendergruppen nachder Entwicklungsphase schlecht, mittlerweile allenfalls mäßig.

Die Liste ließe sich mit ein bisschen Nachdenken noch weiter verlängern. Warum war und istdieses Projekt trotzdem erfolgreich und das Produkt nach wie vor bei einem zufriedenenKunden im Einsatz? Einige Antwortmöglichkeiten seien angedeutet.

• Es wurde mit (fast) minimalem Aufwand das entwickelt, was der Kunde wollte, näm-lich eine schnelle Auslieferung von Inhalten an die Portalnutzer und die flexible In-tegration von Fremdinhalten.

• Die Idee für die Hard- und Software-Infrastruktur war sehr gut und hat sich als mit-telfristig tragfähig herausgestellt.

• Die Software-Komponente, die für den Kunden am wichtigsten ist, wurde gut ent-worfen und von einem sehr guten Entwickler realisiert.

• Die eingesetzten Fremdprodukte (Hard- und Software) funktionieren gut bis zumin-dest leidlich.

• Der finanziellen Mittel des Kunden für Wartung sind hoch.• Der Kunde erhält schnell und zuverlässig Erweiterungen und Anpassungen für neue

Anforderungen.• Dafür steht ein relativ stabiles und kompetentes Team für Wartung und Weiterent-

wicklung zur Verfügung.

Was macht die Kompetenzen dieses Entwicklerteams aus (Entwicklerinnen gab es dabei nursehr kurzfristig)?

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• Ein hohes technisches Wissen, insbesondere in den Bereichen Betriebssystem und(Rechner-) Kommunikation.

• Hohe, insbesondere technische, Beratungskompetenz beim Projektleiter der Ent-wicklungsfirma.

• Ein extrem guter Projektleiter (nicht technische Kompetenz) auf der Kundenseite.• Umfangreiches Wissen über eingesetzte Fremdsoftware (hier insbesondere Servlet-

maschinen) bis hin zu Wissen über Versionsunterschiede und die Umgehung vonBugs in der Software.

Entscheidend dabei ist jedoch die Fähigkeit, die Situation: „Das Portal steht!“ in möglichstkurzer Zeit zu beseitigen. Solch ein Problem kann z.B. sein: In dem XML-Parser (open sourceund nicht mehr gewartet) gibt es einen Bug, der dazu führt, dass bei bestimmten XML-Inhal-ten (von externen Anbietern) ein Deadlock auftritt, wenn ein schließendes Tag fehlt. Problemeins besteht darin, solch einen Fehler aufzuspüren; Problem zwei darin, eine Lösung zu fin-den, dass der Fehler nicht mehr auftritt, wobei man weder den Parser ändern kann, nochsicherstellen, dass die Fremdanbieter korrektes XML liefern.

Neben Glück (aus Sicht der Entwicklungsfirma) sind, so würde ich behaupten, zweiFaktoren für den Erfolg des Projektes entscheidend: adäquates Verhalten im Kontext und diepersönlichen Qualifikationen der Beteiligten.

Arten von Anwendungen

Die Frage, wie der Kontext eine Anwendungsentwicklung und adäquates Verhalten, sprichadäquate Prozessmodelle, zusammenhängen, kann ich natürlich auch nicht beantworten. ImFolgenden will ich jedoch ansatzweise versuchen, einige dieser Kontextfaktoren, oder andersformuliert: Arten von Anwendungen, zu identifizieren.

Anwendungen unterscheiden sich in ihrer Zielgruppe. Das beschriebene Projekt wareine Einzelentwicklung für einen Kunden und weder ein universell zu vermarktendes Produktnoch eine Branchensoftware.

Anwendungen haben eine unterschiedliche Lebensdauer. In der Internetbranche sindProdukte eher kurzlebig. (Der Einsatzzeitraum von 2-3 Jahren kann schon fast als eher langgelten.) Andere Anwendungen müssen wesentlich langlebiger sein.

Anwendungen sind unterschiedlich starken Änderungsanforderungen ausgesetzt.Das Anwendungsgebiet für das beschriebene Projekt ist (nicht nur, aber im wesentli-

chen) IT-Infrastruktur. Andere Anwendungsgebiete sind technische Steuerungen, Betriebs-software (z.B. SAP), Software für einen breiten Anwenderkreis, speziell einsetzbar (Abspieleneiner CD) oder sehr allgemein einsetzbar (Schreiben eines Textes).

Anwendungen unterscheiden sich in ihren Umfang. Das beschriebene Produkt würdeich als mittelgroß ansehen. Es gibt sehr viel kleinere, wie auch sehr viel größere Anwendun-gen. (Als Maß bietet sich hier vielleicht der Entwicklungsaufwand an.) Eine interessante Ka-tegorie sind noch sehr große Projekte, wie große offene verteilte Anwendungen z.B. in derÖffentlichen Verwaltung. (Projekte, bei denen im Übrigen, trotz umfangreichem Einsatz be-kannter Entwicklungsmethoden, Havarien und Scheitern eher die Regel als die Ausnahmesind.)

Das Beispielprojekt hatte als primäre Benutzer Informatiker (Administratoren) undOnline-Redakteure (Nutzer ohne Lobby und in ungeschützten Arbeitsverhältnissen). An-wendungsbenutzer können Entwickler, Administratoren, geschult oder ungeschult, speziellvorqualifiziert, mächtig oder machtlos, oder gar nicht vorhanden sein.

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Die wesentlich geforderten Softwarequalitäten waren Effizienz und Stabilität. AndereQualitätsmerkmale wie Wartbarkeit, Erweiterbarkeit, Verständlichkeit waren dem gegenüberebenso zweitrangig wie Fragen der Prozessqualität bei der Entwicklungsfirma.

Abhängigkeiten bei der Entwicklung von der Organisation des Kunden, von Fremd-software, Eigensoftware, Hardware, Infrastruktur, Entwicklungswerkzeugen etc. waren vor-handen, aber verhältnismäßig gering

Anwendungen haben generell einen unterschiedlichen Charakter. Sie können datenin-tensiv, oberflächenintensiv, rechenintensiv etc. sein.

Der Wartungsaufwand für eine Anwendung kann hoch oder niedrig bis zu nicht vor-handen sein.

Schließlich haben Anwendungen bei ihrer Entwicklung eine unterschiedlich guteTestbarkeit, je nach dem, ob sie oberflächenlastig sind, ob sie große Datenmengen verarbeitenoder einen hohen Traffic verkraften müssen, ob sie verteilt sind, etc.

Anwendungen müssen sehr unterschiedlichen Stabilitäts- oder Sicherheitsanforderun-gen genügen. Bei einem Internetportal sind diese nicht extrem hoch.

Ein ganz wichtiger, vielleicht der wichtigste Faktor überhaupt ist Geld. In unseremBeispiel waren die vom Kunden akzeptierten Kosten für Entwicklung gering, dafür aber fürWartung relativ hoch.

Soweit ist diese Liste von für die Entwicklung relevanten Eigenschaften von Anwen-dungen bzw. des Entwicklungskontext erst einmal ein Sammelsurium. Es soll damit nichteinmal ansatzweise eine Systematik geliefert werden, sondern lediglich das Resultat einespersönlichen Brainstorming. Sicherlich ist die Liste in Teilen redundant (zumindest nichtorthogonal) aber auch unvollständig. Diverse Fragen, wie Organisationsmanagement undAneignung oder die Unterscheidung zwischen Automatisierung von (komplizierten) Prozes-sen und Unterstützung von (komplexen) Aufgaben haben Brödner, Seim und Wohland jaschon aufgeworfen.

Plausibel gemacht werden sollte, dass die Idee eines einheitlichen, richtigen, bestenEntwicklungsprozesses für informatische Anwendungen höchst fragwürdig ist.

Algorithmen?

Eine Abschlussbemerkung zum Thema Qualifikation von Informatikern will ich noch ma-chen, aufgehängt an einer aus meiner Sicht interessante Bemerkung, die im letzen Jahr in derkurzen Diskussion um die Wasserfälle fiel. Dass nämlich evtl. die Ansicht, der Job von In-formatiker/innen sei primär die Entwicklung von Algorithmen, wenn nicht falsch, so dochzumindest überholt oder unzureichend sei.

Oben hatte ich Qualifikationen für die erfolgreiche Durchführung eines speziellenProjektes genannt. Algorithmenentwicklung gehört mit Sicherheit dazu, sofern man daruntereinfach Programmierung versteht. Das Erfinden interessanter Algorithmen ist für Informati-ker/innen im Arbeitsalltag, wenn man nicht in sehr speziellen Bereichen wie Bildkompressionarbeitet, die absolute Ausnahme. Die Komplexität von informatischen Entwicklungen beruhtin den seltensten Fällen auf der Kompliziertheit der zu entwickelnden Algorithmen.

Gefordert sind Können in Soft- und Hardware-Architekturentwicklung, objekt-orientiertem Design, Patterns, Dokumentation, Datenmodellierung, Oberflächengestaltung,Testen, Debuggen, Beratungskompetenz und Wissen über Technik (Betriebssysteme, Netzeetc.), in Anwendungsgebieten, speziellen Produkten, im Markt bezüglich Produkten/Produkt-familien, Qualitätsmanagementprozessen. Zu diesen hard Skills kommen noch die so genann-ten soft Skills wie Teamfähigkeit, Präsentation, Kommunikation, Personalführung. Schließlichsind gefordert – und das schon in Firmen mit 50 Mitarbeitern – Marktanpassung in der Peri-

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pherie, Fähigkeiten zur Kostenschätzung, Verhandlung, Verkauf, Akquise. Auch in Bezug aufdie Qualifikationen von Informatiker/innen spricht vieles aus der praktischen Erfahrung eherfür Vielfalt, denn für Einfalt.

Ich habe den Verdacht, dass die Idee, Informatiker/innen entwickelten Algorithmen,und die Wasserfälle auf Papier und in Hinterköpfen eng mit einander zusammenhängen.

Interessant für eine Theorie der Anwendungen finde ich auch die Frage, inwieweitman mehr über Eigenschaften von Anwendungen, Eigenschaften von Entwicklungskontexten,Methoden für die Entwicklung und benötigten Qualifikationen der Beteiligten, sowie überdie Zusammenhänge zwischen diesen Aspekten herausfinden kann.

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Vom Praxisproblem zur Informatik und zurück

Dorina Gumm, Universität Hamburg

„Die Informatik soll sich lediglich mit komplizierten Problemen beschäftigen.“„Praxisprobleme beruhen auf dem Theorie-Mangel der Informatik.“

„Von menschenzentrierter Forschung hat die Informatik sich fernzuhalten.“

Mit solchen und ähnlichen Annahmen und Forderungen war ich in meiner Arbeitsgruppe aufder Tagung „Informatik zwischen Konstruktion und Verwertung“ in Bad Hersfeld 2003 kon-frontiert.

Zur Debatte steht die Betrachtung von „Informatik-Anwendungen in Wertschöp-fungsprozessen“ (so der Titel der Arbeitsgruppe). Im Kontext der Tagung ging es u.a. umfolgende Herausforderungen: Um den Einsatz vernetzter PCs bzw. um vernetzte Software aufdiesen PCs, die in Organisationen eingesetzt werden und zum Informationsaustausch überAbteilungsgrenzen hinaus dienen sollen, sowie um die Akzeptanz dieser Systeme.

Dieser Herausforderung möchte ich zeigen, dass Informatik sich mit komplexenProblemen beschäftigen muss und dass sie nicht umhin kommt, neben technischen auch or-ganisatorische und damit menschenzentrierte Herausforderungen zu adressieren. Aus derDisziplin Informatik sind es insbesondere die Forschungsschwerpunkte Software-Technikund Angewandte Informatik, die sich mit derartigen Problemen befassen.

Von skizzierten Problemen aus der Praxis....

Ausgangspunkt waren Software-Havarien oder Anwendungs-Havarien, womit gemeint ist,„dass Konzeption und Anwendung informationstechnischer Systeme zwar meist nicht zurGänze scheitern (…), aber doch mit bedauerlicher Regelmäßigkeit die angesetzten Kosten-und Zeitbudgets um ein Vielfaches überschreiten und zugleich hinter den erwarteten Ratio-nalisierungseffekten deutlich zurückbleiben.“ (Brödner et.al 2002). Diskutiert wurden mehre-re Beispiele, mit denen Teilnehmer der Arbeitsgruppe konfrontiert waren. Exemplarischskizziere ich hier zwei dieser Beispiele.

1. Einführung eines Wissensmanagement-SystemsBeschreibung: Die Organisation besteht aus einem organisatorischen Zentrum und der Periphe-rie. Um dem kurz-zyklischen Marktdruck gerecht zu werden, muss Wissen in der Peripheriegeneriert und genutzt werden; durch die kurzen Entwicklungszyklen kommt das Wissen nichtmehr im Zentrum an, was aber gewünscht wird.Lösung: Es wird eine Datenbank erstellt, in der Wissen expliziert wird und auf welche sowohlZentrum als auch Peripherie Zugriff haben.Probleme: Das System wird nicht genutzt, Anreize helfen nicht, letztendlich wird das Systemabgeschaltet.

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Diskutierte Gründe für die Probleme: Mangelhafte Führung, mangelnde Unterscheidung zwischenDaten und Information sowie zwischen ‚kurzweitigem’ und ‚langweitigem’ Wissen, Problemdes Machtverlusts im Management, unpassendes tayloristisches Organisationsbild, das nichtder Vorgehensweise der Peripherie entspricht.

2. Terminplanungs-System für ein KrankenhausBeschreibung: Ein KH wünscht ein System zur Termin- und Raumplanung, damit die Geräteausgelastet sind und alle effektiver arbeiten können.Lösung: ein System, das auf die Termine aller beteiligten Ärzte, Schwestern etc. sowie auf dieBelegung von Funktionsräumen (OP, Röntgen etc.) zugreifen kann.Probleme: Patienten sollen plötzlich morgens um 5:00 Uhr geröntgt werden, Oberärzte müsseninterne Termine öffentlich machen.Diskutierte Gründe: Wertvorstellungen wurden für alle verbindlich angenommen (wie zum Bei-spiel, dass es gut sei, alle Termine für jeden zugänglich zu haben); ungelöstes Spannungsfeldzwischen komplexem, Arbeit abnehmendem System und dem Wunsch nach Datenhoheit.

Diese zwei Beispiele haben etwas gemein, das auch bei den anderen diskutierten Beispielenwieder zu finden war: Die Probleme beim Software-Einsatz und die vermuteten Gründe fürdie Probleme waren nicht technik-immanent. Sie lagen nicht darin, dass z.B. die falsche Soft-ware schlechthin gewählt wurde oder dass die falsche Programmiersprache benutzt wurde,dass ein Ablauf falsch formalisiert wurde oder dass die Rechner nicht schnell genug waren.

Das zugrunde liegende Problem in beiden Beispielen ist fehlende oder mangelhaftgelaufene Kommunikation. Genannt wurden z.B.

• mangelhaftes Management, unter welchem bestimmte Kommunikation nicht mög-lich war;

• fehlende Unterscheidung notwendiger Begrifflichkeiten (in diesem Fall sprachlicheDifferenzen);

• implizites (nicht verbalisiertes) Organisationsmodell, das letztendlich nicht zumimplementierten System passte;

• zuwiderlaufende Erwartungen von unterschiedlichen Beteiligten.

... zu Diskussionen in der Informatik....

Die Frage ist, warum die Informatik zur Meisterung solcher Herausforderungen etwas beitra-gen muss und es auch kann. Doch zunächst zu komplizierten und komplexen Problemen inder Informatik.

Selbstverständlich beschäftigt sich die Informatik mit komplizierten Problemen: wiedie komplizierte Maschine „Computer“ funktioniert, wie die einzelnen Bauteile funktionie-ren und zusammenspielen, wie man Algorithmen auf Computern ausführen lassen kann, mitwelchen Methoden man effizient suchen kann, um nur einige Beispiele zu nennen. KomplexeProbleme folgen diesen aber auf dem Fuße. Nehmen wir das Beispiel Programmierung: Hier-bei können nicht nur Algorithmen zusammengesteckt werden, sondern es treten z.B. so ge-nannte Seiteneffekte auf, deren Ursachen nicht leicht aufzuspüren sind. Das Zusammenspieleinzelner Programmteile erzeugt eine hohe Komplexität. Noch schwieriger wird es, nicht nurein Programm richtig zu bauen, sondern auch das richtige zu bauen. Die Praxis tritt mit ihrenkomplexen Problemen und Wünschen an die Informatik heran und erwartet eine technischeLösung. Hier sind wir bei der Anforderungsanalyse, eine komplexe Aufgabe, weil die Synthesezwischen unterschiedlichen Anforderungen und technischen Möglichkeiten nicht trivial ist.

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Allein schon dieser Zusammenhang zeigt, dass informatisches Handeln ein Handelnim Kontext ist. Der Kontext in den angeführten Beispielen ist ein Krankenhaus, ein Wirt-schaftsunternehmen, die Arbeitswelt, sind die Menschen etc. Der Code einer Software maglediglich kompliziert sein, vielleicht nicht einmal das. Die Entwicklung der Software kannaber einem komplexen Prozess unterliegen, die Software selbst kann ein komplexes Verhal-ten haben, oder sie kann in einem komplexen Umfeld eingesetzt werden, das auf ihre Benut-zung zurückwirkt. Der Kontext, darauf möchte ich hinaus, macht einen Großteil derKomplexität der Aufgabenstellung aus (Anwendungssoftware bereitzustellen), mit der dieInformatik konfrontiert ist. Daher ist informatisches Handeln der Umgang mit komplexenProblemen. Und weil der Kontext von menschlichem Handeln bestimmt ist, und weil dieeingesetzte Software das Handeln bestimmt, kann die Informatik sich nicht auf technischeProbleme zurückziehen.

Sie tut es auch nicht. Die Informatik adressiert kontext-bezogene Probleme in ver-schiedenen Teilgebieten. Im Participatory Design werden Methoden diskutiert, die Benutzerin den Prozess integrieren und damit Kommunikation fördern. Im Computer Supported Coope-rative Work (CSCW) wurde sehr früh die Notwendigkeit der Arbeitskontext-Analyse disku-tiert, um arbeitsadäquate Software entwickeln zu können. Ein weiteres Gebiet ist dasRequirements Engineering. Dabei handelt es sich neben der typischerweise am Anfang einesProjekts laufenden Anforderungsanalyse um Herausforderungen, die sich während der Pro-jektlaufzeit ergeben wie z.B. Anforderungsänderungen oder Priorisierung. Insbesondere gehtes auch um nicht-technische Anforderungen.

In vielen interdisziplinären Forschungsvorhaben sind Ansätze aus der Informatikverknüpft worden mit Ansätzen z.B. aus der Soziologie, der Psychologie, den Arbeitswissen-schaften oder Organisationswissenschaften. Aus dieser Verknüpfung sind Ansätze entstan-den, wie Software zu gestalten ist, wie die Wirkungen von IT-Einsatz bewertet werdenkönnen, wo Software-Entwicklung anfängt und (nicht) aufhört, wie die Entwicklung in denorganisatorischen Rahmen eingebettet werden kann und vieles mehr.

Wenn es so viele gute Arbeiten gibt, die sich in Experimenten sowie in Forschungs-und Praxis-Projekten bewährt haben, warum gibt es dann noch so viele Havarien? Ich glaubenicht, dass man einfach von einem Theorie-Mangel der Informatik sprechen kann. Vielleichteher von einer Theorie-Vielfalt. Meine Erfahrungen und Forschungen leiten mich zu derHypothese, dass Projekte z.B. scheitern, weil die Praktiker nichts von den Ansätzen wissen,weil sie keine Zeit haben, sie zu lernen, weil sie nicht wissen, welche sie anwenden sollen, weildie Notwendigkeit, sie anzuwenden, nicht gesehen wird oder weil die Rahmenbedingungendes Projekts (Budget, Politik) die Anwendung nicht zulassen.

... und zurück

Zurück zu den Beispielen: Ein System, das nicht zum Organisationsmodell passt, ist auf man-gelhafte Anforderungsermittlung zurückzuführen. Nutzer verweigern die Systemnutzung zumBeispiel, weil das System ihren Wertvorstellungen zuwider läuft. Unterschiedliche Wertvor-stellungen, die unausgesprochen (nicht kommuniziert) in den Köpfen der beteiligten Perso-nen vorhanden sind, schlagen sich in Anforderungen nieder. Das führt dann z.B. zu sichwidersprechenden Anforderungen, weil z.B. eine Abteilung autonom arbeiten möchte und dieZentrale weiterhin Datenhoheit verlangt (wie im Beispiel 1).

Ein Softwaresystem zu bauen, das einerseits ‚simple’ Aufgaben wie Raumplanung er-ledigen kann, gleichzeitig aber zur Organisationsform passt und Benutzer nicht in ihrenWertvorstellungen verletzt, ist eine hochkomplexe Aufgabe. Es ist auch unmöglich, dieseAufgabe zu teilen in komplizierte technische und komplexe soziale Aufgaben. Denn techni-sche und organisatorische Aufgaben sind eng verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig.

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Es gibt Unmengen an Literatur, Erfahrungen, Fallstudien, die sich mit solchen Prob-lemen beschäftigen und sinnvolle Erklärungsmodelle oder Vorgehensmodelle anbieten. Wa-rum werden sie dann in der Praxis nicht angewendet? Theorie-Mangel? Dilettantismus vonInformatikern in fremden Disziplinen? Ich wage das zu bezweifeln. Eher beruhen sie auffalschen Erwartungen (DeMarco 1997).

Die IT-Systeme systemtheoretisch von ihrem Kontext abzukoppeln, um sie analy-tisch getrennt betrachten zu können, ist gefährlich: Es scheint sinnvoll zu sein, um Aufgabenbesser verteilen zu können: Hier ist das (rein technische) Informationssystem, liebe Informa-tik, bitte kümmere dich darum. Und hier, liebe Sozialwissenschaft, ist das soziale System,kümmere du dich darum. Und ihr zwei, vergesst bitte nicht, euch auch mal miteinander zuunterhalten. Ganz dumm ist diese Aufteilung sicher nicht, aber sie täuscht über die Tatsachehinweg, dass die Informatiker die sozialen Gegebenheiten bei der System-Entwicklung be-rücksichtigen müssen. Kommunikation zwischen Disziplinen zu fordern, ist einfach. DieUmsetzung dessen aber nicht. Daher braucht es gemeinsame, verknüpfte Methoden.

Zum Schluss möchte ich einen Vorschlag aus der Arbeitsgruppe aufgreifen, der esWert ist, wenigstens andiskutiert zu werden. Als Problemstellung dient das Beispiel der Ter-minplanung für das Krankenhaus. Als existierender Gestaltungsansatz dient der Vorschlagvon Arno Rolf, Organisationstheorien mit IT-Gestaltungsoptionen zu verknüpfen (Rolf1998). Zu dem Thema der Verknüpfung besteht noch viel Forschungsbedarf. Hier präsentiereich lediglich eine Skizze, wie man mit Organisationstheorien im Rucksack an die Software-Entwicklung für das Krankenhaus herangehen kann. Als Übersicht dient die folgende Abbil-dung, die ich kurz kommentieren werde1.

1 Die Betrachterin bemerkt, dass ein Teil der Abbildung nach links verschoben ist und zwar auf eine

Weise, die ohne Neuzeichnung nicht zu korrigieren ist. Im Geiste geht es. – Anm. des Redakteur

Frage:Paßt die Zielannahme (re-

spektive Dop-Down-Ansatz)zu den Anforderungen im

Unternehhmen?

Frage:Was für ein Organisati-

onsmodell impliziertdiese Annahme?

ZielAnnahme:

OT-Annahme:

Alle Termine inden Compi

OT-Filter

Akteurs-Diskussion

TopDown-Vorgehen,Hierarchische Orga

NeinJa

System-Implementation

Annahmeändern

OT-Auswahl:Paßt OT zu

Orga Zeit Informatik

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Zunächst liegt ein Auftrag des Kunden vor, nämlich eine Software für die Termin- und Raum-planung zu erstellen. Informatiker können z.B. ein System gestalten, für welches Daten überRäume und Termine in einer zentralen Datenbank vorliegen. Gleichzeitig sollten aber auchimplizite Annahmen identifiziert werden, die meist den Ausgangspunkt für den Auftrag bil-den. In diesem Fall ist es u.a. die Annahme, dass es für alle Beteiligten erstrebenswert sei, alleTermine für alle zugreifbar im Computer zur Verfügung zu stellen. Die Identifizierung sol-cher Annahmen geschieht z.B. durch Sozialwissenschaftler oder Arbeitspsychologen, im Fol-genden Analytiker genannt.

Wenn wir über diese Annahme den ‚Organisationstheorien-Filter’ legen, können wirfragen, was für ein Organisationsmodell wohl hinter dieser Annahme steht. In unserem Bei-spiel ist die Annahme vielleicht mit einem zentralistischen Organisationsmodell gekoppelt,wozu wiederum ein Top-Down-Vorgehen bei der Systementwicklung passen könnte. Andieser Stelle müssten mindestens (neben dem Krankenhauspersonal) die Analytiker und dieInformatiker, die beide etwas von Organisationstheorien verstehen, zusammenarbeiten. DerInformatiker verließe sich in diesem Fall darauf, dass der Analytiker seine Erkenntnisse derOrganisation in eine Organisationstheorie ‚übersetzten’ kann; der Analytiker wiederum ver-ließe sich auf den Informatiker, der die Organisationstheorie in informatische Vorgehensmo-delle ‚übersetzen’ kann und umgekehrt.

Mit diesem Hintergrundwissen können wir nun zurück in den Krankenhaus-Alltaggehen und schauen, ob zum Beispiel das in der Annahme implizierte Organisationsmodellzum Ist- oder auch Soll-Zustand der Organisation passt; oder man kann überprüfen, inwie-weit das Modell zur Arbeitssituation oder den persönlichen Interessen der Mitarbeiter passt.

Wird festgestellt, dass Annahmen und Werte, dahinter stehende Organisationsmo-delle, die tägliche Arbeitspraxis und persönliche Wünsche der Mitarbeiter Hand in Handgehen, kann man ein passendes informatisches Vorgehensmodell (in diesem Fall zum Beispieldas Top-Down-Vorgehen) verwenden. Liegen die Aspekte quer zueinander, schließen sie sichggf. sogar aus, so muss diese Diskrepanz kommuniziert werden. Vielleicht muss die Ausgangs-annahme korrigiert werden – was auch dazu führen kann, dass am Ende eine ganz andere Soft-ware entsteht.

Illusorisch? Häufig leider ja, da die Software-Entwickler das tun sollen, was der Auf-traggeber verlangt (das nicht unbedingt das ist, was dessen Mitarbeiter brauchen). Wenndiese aber Informatikern (oder auch einem interdisziplinären Entwicklungsteam) nicht dieChance geben, adäquat zu handeln, sollten sie sich auch nicht über enttäuschte Erwartungenwundern.

Dieses Beispiel ist wirklich exemplarisch, da es vieles ungesagt lässt und Gesagtes zuvereinfacht darstellt. Verdeutlichen möchte ich mit dem Beispiel, dass Theorien in der In-formatik diskutiert werden, mit denen man loslaufen kann, und dass analytische Arbeit nichtvon der Implementier-Arbeit (typischerweise stärker mit Informatiker-Arbeit assoziiert)getrennt werden sollte. Es wäre spannend. So ein Beispiel mal detailliert zu untersuchen.

Schlussbemerkung

Dieser Beitrag enthält nur einen kleinen Auszug aus den Ideen, Anmerkungen, Fragen undWidersprüchen, die während der Tagung aufgetaucht sind. Aber ich hoffe, dass ich durchdiese Argumentationslinie den eingangs erwähnten Forderungen eine andere Sichtweise ent-

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gegensetzen konnte. Meine Position ist nicht in jedem Punkt entgegengesetzt zu Anbieternder Arbeitsgruppe; meine Kritik beinhaltet im Wesentlichen folgende Punkte:

• Informatik hört nicht am komplexen Ende von Problemen auf. Aber am kommuni-kativen Ende ist die Forschung noch lange nicht zu Ende.

• Wer nach Antworten auf bestimmte Praxisprobleme in der Informatik und bei In-formatikern sucht, sollte sich auf ihre Antworten einlassen – zumindest, um sie zudiskutieren und einer Prüfung zu unterziehen.

Literatur

Brödner, Peter, Gerhard Wohland, Kai Seim 2002: Skizze einer Theorie der Informatik-Anwendungen.Bericht der AG Theorie der Anwendungen der Informatik, Tagung in Bad Hersfeld 2002

DeMarco, Tom 1997: Warum ist Software so teuer? München: Hanser. (Amerikanisch mit entsprechen-dem Titel erstmals in IEEE Software März 1993.)

Rolf, Arno 1998: Grundlagen der Organisations- und Wirtschaftsinformatik. Berlin: Springer

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Kriterien für eine Angewandte Informatik

Jochen Koubek, Humboldt-Universität zu Berlin

Dieses Positionspapier entstand erst im Anschluss an die Tagung und nach den Diskussionenim Workshop „Informatik in Wertschöpfungprozessen“. Die folgenden Ideen sind zwar of-fensichtlich im genannten Workshop verwurzelt, dennoch hoffe ich, mehr zu liefern als einreines Protokoll. Ich werde versuchen, die Gedanken in der Form festzuhalten, wie ich in Zu-kunft mit ihnen umzugehen gedenke. Insofern sind sie meine Form der Aneignung des Posi-tionspapiers von Brödner, Seim und Wohland und müssen weder mit dem dort Geschriebe-nen noch mit dem Diskussionsstand bei Tagungsende übereinstimmen. Das erwartet sicher-lich auch niemand, ich wollte nur noch einmal darauf hinweisen.

Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass viele, wenn nicht die meisten Software-Pro-jekte als Havarien enden. D.h. nicht nur, dass sie die an sie gestellten Forderungen nicht voll-ständig oder zur Zufriedenheit erfüllen, sondern dass sie es so wenig und so unproduktiv nichttun, dass es besser wäre, das Projekt sofort einzustellen, und dass die betroffene Organisationohne die Projektruine besser stünde als mit ihr. Dann nämlich könnte man noch einmal inRuhe von vorn anfangen, die Anforderungen besser spezifizieren, Budget und Zeitplan genau-er abstimmen etc. An havarierten Projekten aber hängen noch Verantwortliche, Eitelkeiten,Erinnerungen, Versprechen und Hoffnungen, so dass Ressourcen bindende Rettungsversucheunternommen werden. Gutes Geld wird hier schlechtem hinterher geworfen.

Zwei Fragen schließen sich an: 1. Wieso kommt es zu Havarien von Software-Projek-ten? 2. Lassen sich Kriterien finden, um schon im Vorfeld zu entscheiden, ob die Anforde-rungen sinnvoll als Software-Projekt umzusetzen sind?

Ein solcher Kriterienkatalog – ich vermeide an dieser Stelle, von „Theorie“ zu spre-chen – versetzt den als Projektverantwortlichen angeheuerten Informatiker in die Lage,„Nein“ sagen zu können. Etwas konstruktiver gesagt, versetzt er ihn in die Lage, produktivmit dem Auftraggeber über realisierbare Ziele diskutieren zu können. Der Nimbus und dasweit verbreitete Selbstverständnis der Informatiker, alle nur denkbaren Probleme mit Hilfeeiner nur richtig programmierten Maschine lösen zu können, weicht dann einer Einschätzungüber die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Computereinsatzes.

Das zentrale Kriterium besagt, dass Computer nur solche Probleme bearbeiten kön-nen, die berechenbar sind. Computer sind endliche Automaten, d.h. Maschinen, in denensich der Folgezustand jeweils eindeutig aus dem aktuellen Zustand und den anwendbarenRegeln ergibt. Solche Maschinen mögen beliebig kompliziert und schwierig zu verstehen sein,dennoch überraschen sie nicht. Folgerichtig lassen sich mit ihnen nur solche Ausschnitte derWelt modellieren, die ebenfalls kompliziert, aber vorhersehbar sind. Computer berechnennur berechenbare Funktionen. Diese Aussage klingt für den Informatiker zunächst trivial, fürdie Praxis der Softwareentwicklung aber kann sie, wenn sie berücksichtigt wird, von großerBedeutung sein.

Aus ihr folgt nämlich, dass zum Scheitern verurteilte Projekte solche sind, die vorge-ben, Probleme zu lösen, die sich der Berechenbarkeit entziehen. Dazu gehören vor allemsolche, die durch soziales Handeln entstehen, dort, wo Menschen aus ihren verschiedenenWeltentwürfen heraus eine gemeinsame soziale Wirklichkeit auszuhandeln versuchen. Dort,

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wo es menschelt, wo Sympathien und Animositäten sich mit Eitelkeiten mischen, wo Besitz-auf Ständedenken trifft, wo Macht und Einfluss, Territorium und Status verhandelt, besetzt,gesichert und verteidigt werden. Die Beschreibungen derartiger Probleme mag in der Sprachevon Goethe oder von Shakespeare gelingen, eine Programmiersprache aber ist hier einedenkbar schlechte Wahl. Mit Software lassen sich CNC-Maschinen steuern, Flugzeugtragflä-chen berechnen oder Leiterbahnen entflechten. Jedoch Wissen managen, Schüler austau-schen, Studenten bilden, Waren einkaufen oder Menschen treffen, lässt sich mit Softwarenicht. Oder besser: lässt sich nicht ersetzen.

Denn unterstützen können Computer soziales Handeln sicherlich. Computer könnenjene Anteile eines Problems bearbeiten, die berechenbar sind. Aber eben auch nicht mehr.Eine Unternehmensleitung, die Wissen mit Dokumenten gleichsetzt, wird auch mit Compu-terunterstützung kein Wissensmanagement, sondern höchstens Dokumentenverwaltungbetreiben. Wird in dem gleichen Unternehmen Wissen als Mittel der Sicherung von Macht-positionen verstanden, muss ein EDV-basiertes Wissensmanagementsystem als Havarie en-den, weil die Mitarbeiter nicht mitarbeiten. Wird aber gleichzeitig auch eine Wissenskulturgefördert, darunter die Bereitschaft der Mitarbeiter, ihr Wissen mit anderen zu teilen, dannkann ein Computersystem mediale Funktionen übernehmen.

Havarien entstehen also, wenn versucht wird, Unberechenbares zu berechnen. Beieiner solchen Forderung muss der Informatiker „Nein“ sagen, im eigenen Interesse, aber auchin dem der Sache. Oder, konstruktiver, er muss die berechenbaren Anteile herauslösen, so-weit dies möglich ist. Diese Befähigung aber, berechenbare Anteile von unberechenbaren zutrennen, muss Teil seiner Ausbildung sein. Insofern ist die Sensibilisierung für soziale, kultu-relle, politische, historische etc. Fragen nicht nur als Surplus, sondern als integrativer Bestand-teil eines Informatik-Curriculums zu verstehen, möchte man Studierende nicht nur befähigenmit Computern umzugehen, sondern sie auch in die Lage versetzen, ihr Wissen erfolgreichumzusetzen.

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Was bestimmt die Informatik? Eine systemorientierte Sicht

Daniel Moldt, Universität Hamburg

Die Suche nach einer Theorie der Informatik wird im Folgenden auf drei Ebenen diskutiert.

1. Die Informatik ist als eine Wissenschaft ein soziales System, das sich von anderenSystemen abgrenzt und in wechselseitiger Beeinflussung mit diesen steht. Es gibtdamit eine Außen- und eine Innenwelt der Informatik.

2. Die Informatik besteht aus zahlreichen Schulen und Denkrichtungen. Diese liefernfür sich einen abgestimmten Apparat zur Konstruktion von Informatikartefakten.

3. Die konkreten, von Personen der Informatik erstellten Artefakte sind z.T. höchstkomplexe Lösungen für spezifische Anwendungsprobleme. Die Lösungen sind imweiteren Sinne Produkte, die in spezifischen Umgebungen verwendet werden.

Auf jeder dieser Ebenen lassen sich ähnliche Konzepte erkennen, die eine systemtheoretischeBetrachtung nahe legen. So steht die Informatik als soziales System mit anderen sozialenSystemen in engen wechselseitigen Abhängigkeiten. Hierbei spielt die relative Neuheit derInformatik als etablierte Wissenschaft eine Rolle, die sich durch noch nicht in gleichem Ma-ße verfestigte Strukturen auszeichnet, wie sie bei anderen Wissenschaften anzutreffen sind.Auch die Einbettung und Abgrenzung zur Umwelt, d.h. zu anderen sozialen Systemen, istnoch nicht abgeschlossen oder wird möglicherweise nie einen stabilen Zustand erreichen. DieInformatik ist repräsentiert in Form der Personen, der Institutionen und der Gegenstände,die innerhalb der sozialen Systeme der Informatik zugeordnet werden. Die Kommunikationzwischen Informatik (genauer ihrer Repräsentanten) und ihrer Umgebung bewirkt die wech-selseitige Beeinflussung. So werden aufgrund der Fortsetzung solcher Interaktion die sozialenSysteme und die Informatik wechselseitig geprägt, da alle sozialen Systeme neue und anders-artige Interaktionen mit dem sozialen System der Informatik eingehen. Hier kann die Sys-temtheorie als Theorie über die Informatik fruchtbar werden.

Auf der zweiten Ebene sind die Zusammenhänge innerhalb der Informatik in Hin-blick auf ihre Strukturierung Gegenstand der Diskussion. So muss Denkrichtungen wie z.B.der Objektorientierung, der Künstlichen Intelligenz oder der Agentenorientierung jeweilseine eigene Theorie zugeschrieben werden1. Diese Denkrichtungen stehen ebenfalls in wech-selseitigen Beziehungen. So ist beispielsweise zum einen eine evolutionäre Entwicklung vonder Strukturierten Analyse und den datenorientierten Ansätzen hin zur objektorientiertenAnalyse zu vermerken. Zum anderen stehen die Denkrichtungen in konkurrierenden Bezie-hungen, wie z.B. die agilen Softwareentwicklungsansätze oft als Gegensatz zu umfangreichenVorgehensmodellen wie dem V-Modell gesehen werden. Letztendlich setzen sich die erfolg-reichen Ansätze2 durch und es entstehen neue, meist die alten Ansätze integrierende und uminnovative Konzepte ergänzende Ansätze, wie z.B. die Agentenorientierung. Auch die Sys-

1 Hier wird auch klar, warum wir besser von Theorien der Informatik reden müssen.2 Erfolgreich heißt nicht selten „kommerziell durchgesetzt“.

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temtheorie kann als eine der möglichen Denkrichtungen innerhalb der Informatik gesehenwerden.

Auf der dritten Ebene betrachten wir konkrete Systeme, die von Personen der In-formatik erstellt werden. Hier lassen sich die bekannten Probleme der Systementwicklungfeststellen. Das Einbetten der Systeme in ihre Umgebung ist nach wie vor eine Herausforde-rung. Insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Verteilung und Nebenläufigkeit.Eine sich verändernde Umgebung charakterisiert die Anforderungen und damit die Heraus-forderungen an die Systeme.

Die geeignete Komposition spezieller Konzepte, in Form von konkreter Technik,generiert die jeweiligen Systeme und bewirkt ihre Leistungsfähigkeit. Programme sind heutezentrale Produkte. Darüberhinaus stellen Studien, Pläne, Spezifikationen, Bewertungen etc.ebenfalls Produkte dar, die von Personen der Informatik erstellt werden. Was kann darausfür die Suche nach Theorien der Informatik gewonnen werden?

Aus dem oben angeführten wird in Hinblick auf die grundsätzliche Behandlung derFrage die Bedeutung des Verständnisses von Systemen und ihrer grundlegenden Prinzipienunmittelbar deutlich. Auf allen Ebenen lassen sich dieselben Phänomene erkennen. Damitkönnen wir Systemtheorie als die Theorie über die Informatik verstehen. Andererseits ist sieeine der Theorien, die innerhalb der Informatik existiert.

Weiterhin ist sie auf der Ebene der konkreten Produkte der Informatikerinnen undInformatiker notwendig, da die konkreten Eigenschaften der Produkte die Eigenschaften vonSystemen sind. Damit stellt sich die Informatik als Systemwissenschaft mit einer Systemtheo-rie als zentrale Theorie der Informatik dar.

Dass im Kontext konkreter Randbedingungen und Fragestellungen speziellere Theo-rien wie z.B. die Organisationstheorie, Spieltheorie, etc., auf der konkreten Ebene der Sys-tementwicklung auch Muster, Entwurfsrichtlinien oder Phasenmodelle greifen und einendirekten höheren Nutzen als eine allgemeine Systemtheorie bieten, ist damit nicht ausge-schlossen. Im Gegenteil, im Rahmen der Agentenorientierung werden derzeit die traditionellstark getrennten Bereiche der Softwaretechnik und der (Verteilten) Künstlichen Intelligenzzusammengeführt. Dabei werden zahlreiche, bisher als unvereinbar angesehene Theorienintegriert. Betrachtet man Agenten als Systeme, werden Querbezüge schnell deutlich.

Die Metapher der Agenten erlaubt es gezielt, die je nach Betrachtung notwendigenEigenschaften der Systeme hervorzuheben. Agentenorientierung hat jedoch noch keinegrundlegende vereinheitlichende Theorie, die es erlaubt, alle Konzepte hinreichend einheit-lich zu integrieren. Die Basis dazu bietet die abstraktere und grundlegendere Systemtheorie.

Die mehrfache Interpretation aus systemorientierter Sicht reflektiert somit erstensden Systemgedanken der Informatik und ihre Einbettung, zweitens den Gegenstand der In-formatik mit den jeweils unterschiedlichen Denkrichtungen und drittens die Produkte derPersonen der Informatik und deren systemische Komponenten.

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Von der Theoriearbeit der Informatik zur Gestaltung

Arno Rolf, Universität Hamburg

Wir benötigen eine Theorie der Informatik, um ein Selbstverständnis zu haben, von dem auswir begründen können, zu welchem Zweck und in welcher Form wir Informatik betreibenwollen. Theoriearbeit ist, wie Dirk Siefkes einmal gesagt hat, die Suche nach dem Sinn inunserer Arbeit. Sie soll Sicherheit und Gewissheit über unser Tun geben; sie soll Richtungweisen und uns Fragen stellen lassen, die neue Wege öffnen. Eine Theorie sollte die Identi-tätsfindung von Informatikern analysieren und stärken (Siefkes 2002:5). Sie schafft Orientie-rungkompetenz und prägt, ähnlich einem Leitbild, informatisches Handeln. Sie beeinflusstdie Methoden- und Modellentwicklung sowie ihre Auswahl. Theoriebildung legt auch denPfad an, der die Richtung zum Gestaltungshandeln weist.

Dirk Siefkes und in verwandter Weise auch andere Informatiker (Coy 1992, Nake1994) nehmen bei ihrer Theoriearbeit ihren Ausgangspunkt beim „Dreisprung“ von Formali-sierung, Algorithmisierung und Maschinisierung. In der Informatik wird dieser häufig zumPaar Modellierung und Implementierung zusammengefasst. Diese wichtigen Aspekte derEntwicklung von IT-Systemen sind unter Softwareentwicklern weitgehend Konsens. Weni-ger eindeutig ist, ob sich Informatik auch mit den vor- und nachgelagerten Schritten, derDekontextualisierung bzw. Rekontextualisierung zu beschäftigen hat. Dirk Siefkes plädiertsehr dafür und macht aus dem Dreisprung einen Zyklus von Routinisierung, Semiotisierung,Desorganisation, Formalisierung, Algorithmisierung, Maschinisierung und Integration. Erfordert: „Eine Theorie der Informatik muss sich also mit diesen sechs Schritten, aber vorallem mit den Zusammenhängen zwischen ihnen und ihrer Rolle bei der Entwicklung undVerwendung von IT befassen“ (Siefkes 2003:4).

Beim Dreisprung anzusetzen bedeutet, implizit bei der Theoriearbeit von den nichtveränderbaren Grundeigenschaften des Computers und den daraus folgenden Konsequenzenauszugehen, wie Heibey, Lutterbeck und Töpel (1977) es vor mehr als zwei Jahrzehnten for-muliert haben. Diese Perspektive allein in den Blick zu nehmen, kann in zweierlei Hinsicht ineine Falle führen: zum einen nimmt sie ihren Ausgangspunkt bei der technikdeterministi-schen Perspektive und lässt die „Gemachtheit“, also die soziale Determiniertheit von Tech-nik bei der Einführung vor Ort nicht deutlich werden. Dirk Siefkes strebt Letzteres mitseiner Zyklus-Metapher an. Zum anderen konzentriert sich dieser Theorieansatz auf die Mik-roebene des Softwareentwicklungs- bzw. Implementationsprozesses. Daneben gilt es auch dieMakroebene zu berücksichtigen, die von technischen Grundeigenschaften und ihren Konse-quenzen ebenso wie von einzelnen Individuen abstrahiert. Sie thematisiert die Wechselwir-kungen zwischen dem Anwendungssystem, zumeist in Organisationen, und dem Informatik-system, zu dem neben der Wissenschaftsdisziplin Informatik auch die breite Palette derkommerziellen IT-Entwickler und -Hersteller zählt. Diese beiden Systeme stehen wiederumin Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Institutionen. Erst durch diese Erweiterung wirddeutlich, dass die Informatik ein socially embedded system, also auch ein kulturelles, ökonomi-sches und politisches Projekt ist.

Eine Theorie der Informatik sollte diese Perspektiven kreuzen, also auf der Mikro-ebene die Grundeigenschaften des Computers mit dem Akteurshandeln beim Softwareent-wicklungsprozess und auf der Makroebene die Wechselwirkungen von Anwendungs- und

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Informatiksystem sowie die institutionellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Einflüsse.Das ist mein Rahmen der Theoriearbeit, den ich im Folgenden näher beschreibe.

Die Mikroebene: Von den Grundeigenschaften des Computers und ihren Konsequenzen

Der Computer, so Joseph Weizenbaum, ist eine ganz einfache Maschine, die ganz einfacheOperationen an ganz einfachen Symbolen durchführt (vgl. Goettle 2002:11). Symbole sind aufder einfachsten Ebene Null oder Eins. Ihre enorme Rechenkapazität resultiert aus dem „Zu-sammenstecken“ vieler solcher einfacher Elemente. Auf diese Weise lassen sich sehr kompli-zierte Muster erstellen und bearbeiten. Die Muster kann man interpretieren als Zahlen oderZeichen, die für etwas stehen.

Die Entwicklung der Informationstechnik beruht wesentlich auf Methoden, die dieauszuführenden Operationen ungeheuer beschleunigen. Ein Rechner, der in einer SekundeMillionen solcher Operationen ausführen kann, ist in der Lage, hochkomplexe Symbolstruk-turen zu bearbeiten. Die Komplexität entsteht durch die Möglichkeit der beliebigen Kombi-nation dieser Elemente. Hier liegt zugleich die Quelle für die geringe Wahrscheinlichkeit,überhaupt fehlerfreie Programme schreiben zu können. So entstehen z.B. Programme, dieFlugzeuge landen lassen oder Börsenabrechnungen machen können.

Die Grundeigenschaften des Computers machen Schritte erforderlich, damit ausmenschlichen Handlungen bzw. Zeichen Operationen werden, die dann durch den Rechnerverarbeitet werden können.

Prinzipiell beruht jede menschliche Kommunikation und Reflexion auf Bildung undGebrauch von Zeichen. So weisen wir z.B. einem Stuhl eine ganz bestimmte Bedeutung zu; erist ein Symbol bzw. ein Zeichen für eine Sitzmöglichkeit. Dasselbe gilt für die Handlung des„Sichsetzens“. Dingen, Handlungen oder Vorgängen werden Bedeutungen zugewiesen: „Ohnedass wir Dinge oder Vorgänge als Zeichen abbilden, haben sie für uns keine Bedeutung, kön-nen wir kognitiv mit ihnen nicht umgehen, vermögen wir nicht einmal zu denken“ (Brödneru.a. 2002). Dafür steht der Begriff der Semiotisierung: diese ist notwendige Bedingung, um inder Welt sinnvoll kommunizieren und handeln zu können. Jede Kultur hat dort ihren Aus-gangspunkt.

Um einen Wirklichkeitsausschnitt mit seinen Zeichen in ein Computersystem über-führen zu können, ist im ersten Schritt die Formalisierung, d.h. die Beschreibung von Hand-lungen als Operationen, notwendig. Während Handlungen einmalig in einer bestimmten Situa-tion bzw. einem Kontext stattfinden, beschreiben Operationen wiederholtes, zur Routine ge-wordenes Handeln. Die Beschreibung bedarf eines Beobachters. Auf diese Weise fließtzwangsläufig die Perspektive eines Menschen und seiner Zwecksetzung in die Formalisierungmit ein. Durch die Beschreibung wird die Operation gewissermaßen vom individuell handeln-den Menschen abgelöst und übertragbar. Die Beschreibung mittels Operationen ist der ersteSchritt, um menschliche Handlungen durch technische Artefakte ersetzen zu können.

Der Formalisierung folgt die Algorithmisierung. Ein Algorithmus ist eine exakte Vor-schrift, die genau beschreibt, wie eine Operation auszuführen ist. Dazu ist die Festlegung inendlich viele diskrete Einzelschritte erforderlich. Mit dem Algorithmus werden Handlungenzu formal berechenbaren Verfahren. Wir befinden uns jetzt in der Welt der Daten und Sig-nale. Mit der Implementierung werden die vom Beobachter gewählten Ziele und Zwecke imComputersystem realisiert. Mit dem Prozess der Semiotisierung, Formalisierung und Algo-rithmisierung geht ein Prozess der Reduktion und Abstraktion komplexer Wirklichkeit mitdem Zweck der Automatisierung von Handlungen bzw. Arbeit einher.

Der Prozess ist stets mit De-kontextualisierung verbunden, d.h. eine Handlung wird ausdem jeweils individuellen Kontext, z.B. einer Arbeitsumgebung herausgelöst, formalisiert, al-gorithmisiert und dem Computer übergeben. Dieses formale Modell ist kontextfrei, sinnfrei

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und menschenleer; die tradierten Sinnbezüge der ehemaligen Handlungen sind aufgelöst.Deshalb ist der Einsatz der Informationstechnik zwangsläufig mit Destruktion verbunden undes wird verständlich, dass dies bei den davon Betroffenen Ängste auslöst (vgl. Sesink in diesemBd.).

Nach der Ausführung im Rechner kommt es zur Re-kontextualisierung, d.h. zur Rück-führung in den Kontext. Der Mensch muss das Resultat wieder in seine Handlungen einbin-den, es muss wieder Sinn machen. Meistens müssen die Menschen ihr Verhalten am formalenModell ausrichten und nicht umgekehrt. Der Nutzer kann nicht einfach die neu bereitgestell-ten Funktionalitäten abrufen, sondern er muss seine tradierten Handlungen überdenken undneu strukturieren. Deshalb ist Technikeinsatz und -nutzung zugleich immer beides, Destrukti-on und Konstruktion. „Das Neue, auch das Bessere, erwächst immer aus der Destruktion desAlten. Durch die technische Auflösung gegebener Lebenszusammenhänge wird eben auch freigeräumt, werden Verkrustungen aufgebrochen, wird Raum geschaffen für Anderes“ (Sesinkebda.).

Dass Verkrustungen aufgebrochen und unausgeschöpfte Potenziale durch die Model-lierung und Implementierung ins Blickfeld gerückt werden, sich also das vergangene Negativein zukünftig Positives wendet, ist eine Hoffnung, aber keineswegs sicher. Es hängt von vielemab, insbesondere von der Machtverteilung der beteiligten Akteure. Sie versteckt sich nichtzuletzt im softwaretechnischen Vorgehen, in den eingesetzten Modellen und Methoden:Softwaretechnische Vorgehensmodelle entscheiden über Teilhabe oder Ausschluss bei derKonstruktion und Gestaltung potenzieller Möglichkeiten. Ingenieurwissenschaftliche Ansät-ze und große „fertige“ Standardsoftwarepakete wie SAP R/3 neigen im Prozess der Destrukti-on und Konstruktion wohl eher zur Entmündigung und dazu, eine Welt zu errichten, nachder sich die Welt richten soll. In diesem Sinne ist die gute Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle das Ticket für die Teilhabe der Akteure an der Konstruktion.

Destruktion und Konstruktion „um Raum zu schaffen für Anderes“, machen Ver-ständigungsprozesse zwischen den Akteuren erforderlich, die zumeist nicht im Konsens ver-laufen. Beim Prozess der Softwareeinführung in Organisationen stehen Grabenkämpfe zwi-schen Systemgestaltern und Benutzern der Technik auf der Tagesordnung. Es geht für alleBeteiligten um Gewinne oder Verluste, häufig um Einfluss, zuweilen auch ums Überleben,vergleichbar „der Reise nach Jerusalem“. Die Akteure handeln vernehmbar oder still, einzeln,gemeinsam oder durch Vertreter. Es ist zwar richtig, dass gerade die Universalität der Infor-mationstechnik ein Potenzial bereitstellt, das fast jeden instrumentellen Zweck möglich wer-den lässt (vgl. Sesink ebda.). Dennoch wird es in diesem Prozess Winner und Loser geben.

In diesem Verständnis sind sowohl Kompetenzen in der technischen Modellierungwie aus den Sozialwissenschaften gefragt. Eine Theorie der Informatik muss dann begründen,was die Kernkompetenzen sein sollten und wie mit Interdisziplinarität umzugehen ist. Siemuss Antworten geben, ob und wie Kooperationen sinnvoll und machbar sind, wo Übergabe-punkte zu anderen Disziplinen zu definieren sind und wo Grenzziehungen nötig sind.

Wenn wir uns vornehmen, das Feld der Rekontextualisierung für eine Theorie derInformatik zu erschließen, so ist zu berücksichtigen, dass sowohl menschliche Handlungenals auch in Programmen „geronnene“ Handlungen zu Strukturen werden. Aus den zu bewälti-genden technischen und sozialen Gestaltungsprozessen werden soziale Strukturen. Wir han-deln auf diesen Strukturen und die Strukturen sind zugleich in die Handlungen der Akteureeingewoben (vgl. Giddens 1984). Informationstechnik tritt als „Härter“ auf, indem sie sozialeRegelungen übernimmt und in einen dauerhaften Zustand überführt (vgl. Degele 2002:126).

Folgt man Latour und seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), so sind menschlicheAkteure und Programme zwei Handlungseinheiten, aus denen etwas Drittes, Neues entsteht.Es ist „die Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einembestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert“ (Latour 1998:34). Degele vermu-tet, dass dies ein Grund ist, weshalb in fast allen Artefakten ein weit größeres Anwendungs-

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spektrum steckt als ursprünglich bei der Entwicklung intendiert (Degele 2002:129). Die bei-den Handlungseinheiten tauschen Kompetenzen untereinander aus. Technik dringt inmenschliche Kollektive ein und übernimmt damit Regelungen des sozialen Miteinanders. Esentsteht ein Netzwerk von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten.

Es war die Absicht deutlich zu machen, dass sich die aus den Grundeigenschaften re-sultierende, eher technikdeterministische Perspektive nach und nach mit der „Gemachtheit“,der sozialen Determiniertheit von Technik, bei der Destruktion und Konstruktion vor Ortverknüpft. Arbeiten mit dem Computer ist, wie Frieder Nake sagt, „ein Arbeiten mit Zei-chen, die sich zur Maschine hin in Signale verwandeln und die zum Menschen hin der Sinn-gebung unterliegen. Beides zu gestalten, die Sinngebung und die Berechenbarkeit, darin liegteine Aufgabe der Informatik als Wissenschaft zwischen Signal und Sinn“ (Nake 1994:10).

Dennoch: Die Fokussierung des Prozesses der Destruktion und Konstruktion alleingreift aus zwei Gründen zu kurz: zum einen wird der Eindruck erweckt, dass das Potenzialdes Computers ausschließlich in der Automatisierung von Handlungen und Arbeit liegt. DerComputer konnte aber nur deshalb zu dieser ungeheuren gesellschaftlichen Kraft und zurBasis der Informationsgesellschaft werden, weil sich die Weiterentwicklung der IT über dieKernfunktion Automatisierung bzw. Maschinisierung von Kopfarbeit hinaus mit neuen Zwe-cken verknüpfte, die in starken Technikleitbildern virulent wurden. So wurde mit der Ent-wicklung des PCs nicht mehr vorrangig eine Automatisierungsmaschine entworfen, sonderndem Nutzer ein komfortables Werkzeug an die Hand gegeben. Das Internet macht denComputer zum Medium. Es verbindet Unternehmen und Nutzer weltweit und hat das neueorganisatorische Leitbild der Netzwerkorganisation ermöglicht.

Zum anderen: Wer sich allein auf die Perspektive der Destruktion und Konstruktionkonzentriert, übersieht, dass neben dieser Mikroebene eine Makroebene zu berücksichtigenist. Die Makroebene thematisiert die Ereignisse und Wechselwirkungen zwischen dem An-wendungssystem und dem Informatiksystem. Sie stehen wiederum in Wechselwirkung mitgesellschaftlichen Institutionen. Erst durch diese Sicht wird deutlich, dass Informationstech-nologie und Informatik ganz wesentlich kulturelle, ökonomische und politische Projekte sind.

Um ein vollständiges Bild des Phänomens IT und seiner Potenziale für die Informa-tionsgesellschaft zu erhalten, sind diese Perspektiven zu kreuzen, also auf der Mikroebene dieGrundeigenschaften des Computers mit dem Akteurshandeln beim Softwareentwicklungs-prozess und auf der Makroebene die Wechselwirkungen von Anwendungs- und Informatik-system sowie die institutionellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Einflüsse. ImFolgenden werfen wir einen kurzen Blick auf die Makroebene.

Die Makroebene

Die Makroebene nimmt die Beziehung zwischen dem Informatiksystem und den anwenden-den Organisationen im Allgemeinen sowie gesellschaftliche Einflüsse in den Blick, ohne dabeieinzelne Akteure zu berücksichtigen. Die These ist, dass diese Beziehungen die Entwicklungder Informatik außerordentlich beeinflusst haben und deshalb zum Kern einer Theorie derInformatik zählen.

Beide Systeme entwickeln für das jeweils andere zahlreiche Handlungsoptionen. Sobietet das Informatiksystem den Organisationen laufend eine Vielzahl neuer Modelle, Me-thoden und Produkte an (Kontingenz): Diese sind neue Potenziale für Organisationen. Or-ganisationen wiederum haben ihre Schwierigkeiten, bei all den angebotenen neuen techni-schen Möglichkeiten auf dem Laufenden zu bleiben. Sie versuchen, sich durch permanenteBeobachtung auf die so entstehende Komplexität einzustellen, z.B. durch Besuch von Mes-sen, Lesen von Fachzeitschriften und mit Unterstützung von Unternehmensberatungen undSoftwarehäusern. Umgekehrt senden Organisationen ständig Signale in Form von Anfragen,

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Anforderungen und Bedürfnissen an das Informatiksystem aus, also an Hersteller, Entwicklerund Informatikwissenschaftler. Auch das Informatiksystem beobachtet permanent, um neueErfolgspotenziale in die Forschung und Entwicklung rückkoppeln zu können. Die Selektionbeider Systeme erfolgt nicht notwendig logisch, sondern bis zu einem gewissen Grade belie-big und je nach Kontext verschieden. Es lässt sich somit ohne Kenntnis des Systems nicht ge-nerell vorhersagen, welche Auswahl bzw. Verknüpfungen realisiert werden und welche nicht.

Die Berücksichtigung der Makroarena kann verdeutlichen, dass wir es bei der IT-Entwicklung nicht nur mit ständigen Rückkopplungen zu tun haben, sondern dass auf dieseWeise ständig neue Herausforderungen für Informatikentwicklung und Organisationen ent-stehen. Diese Spirale ist der Nährboden für immer neue Fragen und Entwicklungen. Sie istAntreiber und Entscheider für die Pfadentwicklung der Informatik, woraus innovative Mo-delle, Methoden und Gestaltungsoptionen der Informatik sowie IT-Produkte der Herstellerentstehen.

Abb. 1: Darstellung der Makroebene

Die Dynamik der Spirale bzw. des Innovationsprozesses und damit das Innovationstemposind von vielen Faktoren abhängig, z.B. von der Wettbewerbssituation der Märkte, der For-schungsinfrastruktur und dem Vorhandensein von Innovationsmilieus. Informatik und IT-Hersteller machen Angebote; Akteure in Organisationen bzw. Unternehmen wählen IT-An-gebote aus und setzen sie um. Ob eine Informatik-Entwicklung sich durchsetzt, ist davon ab-hängig, ob die jeweiligen Akteure sie akzeptieren, kaufen und bedienen können, aber auchvon Marketingaktivitäten und der Marktmacht der Softwarehersteller. Umgekehrt entwi-ckeln und bieten Informatik- und IT-Hersteller verbesserte Konzepte und Nutzungspotenzi-ale in Form neuer Versionen oder Produkte. Sie beobachten die Bedürfnisse derOrganisationen und handeln auf den vorhandenen Strukturen des Organisations- und Tech-nikstandes.

Uni Hamburg

Organisationen

„Technikentwicklungwird beobachtet & Erfolgversprechende Resultatewerden eingekauft“

„Organisationen werdenbeobachtet & Erfolgversprechende technischeEntwicklungen realisiert“

Organisations-induzierteIS-Entwicklung:

IS-induzierteOrganisations-Entwicklung:

Informatik-system (IS)

AkteureHandlungenStrukturen

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Eine weitere Dimension ist zu berücksichtigen: Organisationen und Informatiksys-tem sind in ein gesellschaftliches Umfeld mit Werten, einer spezifischen Kultur, ökonomischenWertsetzungen, Traditionen, in ein Wissenschafts- und Bildungssystem und vieles anderemehr eingebettet, die bewusst oder unbewusst Einfluss auf Entwicklung und Nutzung vonInformationstechnik nehmen und umgekehrt. In jeder Gesellschaft wurden im Laufe der Zeiteine Vielzahl institutioneller Regelungen geschaffen, die eine Steuerungs- und Kontrollfunk-tion für das Zusammenleben übernommen haben. Sie können Innovationen hemmen oderbeschleunigen.

Metaphorisch gesprochen sind Informatiksystem und Organisationen von einerMembran umhüllt in die Gesellschaft eingebettet. Informatiksysteme könnte man in diesemSinne auch als socially embedded systems bezeichnen. Eine Membran kann bekanntlich in beideRichtungen durchlässig sein: So nehmen einerseits Wertvorstellungen, institutionelle Rege-lungen der Gesellschaft etc. Einfluss auf Organisationen und den Prozess der Entwicklungund Nutzung von Informationstechnik. Andererseits rufen Innovationsprozesse gesellschaft-liche Spannungen und Anpassungen hervor, z.B. durch neue Qualifikationsanforderungen andas Bildungssystem. Es werden neue Arbeitsplätze geschaffen, andere entfallen.

Mit der Benennung von Mikro- und Makroarena wurde das Feld abgesteckt, das nachmeiner Auffassung eine Theoriearbeit der Informatik berücksichtigen muss. Mit der analyti-schen Trennung wurde zugleich ein Rahmen angegeben. Eine Theorie der Informatik sollteihren Ausgangspunkt beim Dreisprung bzw. Zyklus von Dirk Siefkes nehmen, dann Akteure,ihre Handlungen und die dadurch entstehenden Strukturen thematisieren. All dies sollte er-gänzt werden um den Gedanken der socially embedded systems.

Von der Theoriearbeit zur Gestaltungslehre?

Frieder Nake sieht die Gestaltungsaufgabe der Informatik, wie erwähnt, im Arbeiten mitZeichen. Deren Berechenbarkeit und Sinngebung zu gestalten, darin liegt die Aufgabe derInformatik als „Wissenschaft zwischen Signal und Sinn“.

Für die Praxis stellt sich heute die Sinngebung des Gestaltungsproblems etwa so dar:Organisationen wie Gesellschaft wollen IT nutzen, um ihre Strukturen effizienter und effek-tiver zu machen und neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Insofern ist dieTechnologie Potenzial und Chance. Zugleich ist sie auch Bedrohung, denn sie muss genutztwerden, um im globalen Wettbewerb nicht abgehängt zu werden. Dieser Prozess ist durchden globalen Handelsraum komplexer geworden. Die nationalen Barrieren für den weltweitenungehinderten Fluss von Waren und Kapital sollen aufgelöst werden. In diesem brisantenGemisch von Akteuren und Arenen, hohem IT-Niveau und Diffusionsgrad der Informations-technologien sowie verschärftem globalen Wettbewerb in einem weltweiten Aktionsfeldsteht der Informatiker heute und muss gestalten. Er könnte hierfür eine tragfähige Theorieund die „finale“ Gestaltungslehre gut gebrauchen.

Die meisten Teildisziplinen der Informatik, wie Softwaretechnik oder Wirtschafts-informatik, verstehen sich weitgehend als Gestaltungslehren ohne Theoriebezug, in demVerständnis, das hier entwickelt wurde. Andererseits sollten wir keinen Theoriediskurs ohneGestaltungsbezug führen. Denn aus der Formulierung einer Meta-Theorie der Informatikverdichten sich Theorien, Methoden und Modelle, die sich in Anwendungen in Organisatio-nen wiederfinden. Theorie leitet Gestaltung! Sollte aber deshalb explizit eine Gestaltungsleh-re formuliert werden? Eine Alternative könnte darin bestehen, sich hier zu bescheiden in derGewissheit, dass eine Theorie der Informatik besser den Weg im Labyrinth der zahlreichvorliegenden Gestaltungskonzepte, Modelle und Methoden zu weisen vermag.

Ich bin nicht in der Lage eine passende Gestaltungslehre vorzulegen. Die Arbeit soll-te aber trotzdem angegangen werden. Wichtiger erscheint mir zunächst, dass eine Theorie

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der Informatik Hinweise für tragfähige Entwicklungen und die Auswahl von Modellen, Me-thoden und Theorien geben kann. Und mit ihrer Hilfe wird es möglich, die Komplexität undInterdisziplinarität des Gestaltungsproblems sowie zu kurz greifende Lösungsangebote zuerkennen. Dirk Siefkes hat sich mit seinem Papier bereits auf den Weg durchs Dickicht derDisziplinen gemacht (Siefkes 2003). Eine Theorie der Informatik sollte genau dies leisten. Sievermittelt Orientierungskompetenz, mit deren Unterstützung sich die im Laufe der Zeit spe-zialisierten Teilbereiche der Informatik leichter verknüpfen lassen, das Verhältnis von Glo-balisierung und Informatisierung verstanden werden kann, und sie definiert „Übergabepunk-te“ für Spezialbereiche und angrenzende Disziplinen.

Literatur

Brödner, Peter, Kai Seim, Gerhard Wohland 2002: Theorie der angewandten Informatik,v.v.Ms.

Degele, Nina 2002: Einführung in die Techniksoziologie, MünchenGiddens, Anthony 1999: Soziologie, 2. Auflage, Graz, Wien. S. 614-618Goettle, Gabriele 2002: Kratzen, wo es juckt! in: TAZ 30. Dez. 2002Hebeiy, Hans W., Bernd Lutterbeck, Michael Töpel 1977: Auswirkungen der elektronischen

Datenverarbeitung in Organisationen, BMFT-FB DV 77-01Latour, Bruno 2000: Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft,

Frankfurt a.M.Nake, Frieder 1994: Informatik – Wissenschaft in der Moderne, in: F. Nake (Hrsg.) 1994:

Zeichen und Gebrauchswert. Universität Bremen Informatik Bericht Nr. 6/94, S. 10Sesink, Werner 2003: Wozu Informatik? Ein Antwortversuch aus pädagogischer Sicht. In

diesem HeftSiefkes, Dirk 2002: Konturen einer Theorie der Informatik, in: Wozu Informatik? Theorie

zwischen Ideologie, Utopie und Phantasie, Materialien zu einer Arbeitstagung in BadHersfeld März 2002

Siefkes, Dirk 2003: Rahmen für eine Theorie der Informatik, v.v.Ms. Entwurf (s. auch diesenBand)

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Ein Fazit aus der Arbeitsgruppe

Peter Brödner, Kai Seim, Gerhard Wohland

Arbeitsgegenstand

Gegenstand der Arbeit der Gruppe war der in vielerlei Hinsicht problematische Einsatz vonIT-Systemen (früher sagte man auch: EDV-Systemen) in Organisationen, insbesondere inWertschöpfungsprozessen. Organisationen, verstanden als Systeme zielgerichteten kollekti-ven Handelns, standen dabei stellvertretend für gemeinschaftliches Handeln unter Menschen.Und unter den Einsatz von IT-Systemen wurden insbesondere auch deren Gestaltung für undGebrauch in organisationalen Handlungskontexten subsumiert.

Den Hintergrund der Arbeit in der Gruppe bildete u.a. eine Reihe von Papieren, diein diesem Band enthalten sind: Peter Brödner, Kai Seim, Gerhard Wohland; Alex Bepple;Paul Drews; Martin Fischer; Dorina Gumm; Arno Rolf; Dirk Siefkes. Einige dieser Textelagen zur Tagung in vorläufiger Form vor und sind hier leicht bearbeitet worden.

In Kenntnis dieser Papiere verständigte sich die Gruppe zu Beginn ihrer Arbeit aufnachstehende Themenfelder und Aspekte, die im Laufe der Gespräche vertieft werden soll-ten:

• Was ist eine Theorie? – Kennzeichen und Zweck• Was sind Software-Havarien und welche Gründe haben sie?

- Fehlende oder fehlgehende Theorien bzw. (implizite) Annahmen,- zulässige Anforderungen an IT-Systeme,- Arbeitsteilung zwischen Informatikern und anderen Gestaltern,- Projekte und deren Einbindung in Organisationen

• Zusammenspiel von Organisationen und IT-Systemen:- Wie funktionieren Organisationen?- Wie funktioniert das Zusammenspiel?- Was bedeutet dabei die Unterscheidung von kompliziert und komplex?- Wie lässt sich eine Brücke schlagen zu anderen, insbesondere sozialen Theorien desHandelns?

• Welche Makroeinflüsse auf Gestaltung und Gebrauch der Systeme sind wichtig?- Globalisierung – Netzwerke – Ausbildung.

• Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus Diskussionsergebnissen hierzu für eineTheorie der Informatik-Anwendungen?

Theoriebegriff

Zum Themenfeld der Kennzeichen und Zwecke einer Theorie ergab sich ein Spektrum vonsich weitgehend ergänzenden Aspekten, die den Sinn von Theoriebildung deutlich werdenlassen. Es reicht von einem Verständnis von Theorie als Orientierungsrahmen, in dem Er-

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scheinungen der Welt als Wirklichkeit geordnet und durchschaut werden, als „Brille“, durchdie sie klarer gesehen werden können (freilich stets mit der Gefahr des blinden Flecks), bishin zu der Vorstellung, dass Theorien aus Reflexion, Abstraktion und Begriffsbildung hervor-gehen und ein konsistentes System von Begriffen sowie deren aussageförmige Verknüpfungbilden, das für einen bestimmten Zweck und Zeitraum Gültigkeit beansprucht.

Eine Theorie hilft zu verstehen, was wir in der Welt tun und wie wir sie (die Welt)und uns selbst dabei verändern. Dementsprechend besteht der Sinn einer Theorie der Infor-matik-Anwendungen darin zu verstehen, wie IT-Systeme für angemessenes Handeln in Orga-nisationen gestaltet und gebraucht werden (können).

Theorien bilden sich aus einem Anlass, aus enttäuschten Erwartungen oder Irritatio-nen, weil Erscheinungen der Wirklichkeit nicht mehr verstanden werden. In solchen Situati-onen der Irritation werden unzählige Ideen für weiter führendes Wahrnehmen und Handelngeboren, die mehr oder weniger angemessen sein können. Theorien dienen dabei als Filter fürIdeen, die situationsgerechtes Handeln erlauben. Das unterscheidet sie von Methoden, derenexplizite Regeln das Handeln nur in bekannten Situationen ohne Überraschungen zu bestim-men vermögen. Theorien sind – wenn auch in noch so rudimentärer Form – stets vorhanden,häufig implizit. Es ist unmöglich, keine Theorie zu haben.

Software-Havarien und deren Gründe

Zu diesem Themenfeld wurden nachstehende Gesichtspunkte erörtert, größerenteils konsen-sual, teils im Dissens (der zum Schluss explizit angemerkt wird).

Klassische Informatik befasst sich im Kern mit der Formalisierung, Algorithmisie-rung und Maschinisierung von Vorgängen (Modellbildung) und behandelt dabei etwa Fragender Berechenbarkeit und Effizienz von Algorithmen, der Korrektheit von Programmen oder– mit Blick auf die Einbettung in soziale Praxis – der Nützlichkeit und Nutzbarkeit von Soft-ware. Dafür stellt sie auch Verfahren, Methoden und Vorgehensweisen zur Verfügung.

In aller Regel sind in Organisationen eingesetzte IT-Systeme interaktive Systemeund in den Handlungskontext der organisationalen Aufgaben und Abläufe eingebettet. Men-schen bewältigen mittels der Systeme ihre Arbeitsaufgaben, indem sie sich deren Funktionenund Daten bedienen.

Wesentlich ist dabei nun die begriffliche Unterscheidung zwischen kompliziert undkomplex. IT-Systeme sind stets nur kompliziert; sie verkörpern algorithmische Beschreibun-gen von Vorgängen, durch die deren Funktionen vollständig festgelegt sind. Man ist bei ih-nen, solange sie funktionieren, vor Überraschungen sicher. (Überraschungen gibt es nur, wenndas System nicht durchschaut wird oder wenn es kaputt ist.) Im Unterschied dazu erweisensich soziale Systeme, darunter auch Organisationen, als komplex: Sie sind autonom und ver-halten sich kontingent; sie können sich jederzeit auch anders verhalten als gewohnt oder er-wartet. Damit sind sie voller Überraschungen und vermögen auch auf Überraschungen inihrem Umfeld sinnvoll zu reagieren.

Damit steht man bei den Informatik-Anwendungen in Organisationen grundsätzlichvor dem Problem, im Zuge von Standardisierung und Formalisierung von Abläufen triviale,algorithmisch beschreibbare Anteile im insgesamt komplexen Geschehen zu identifizierenund sie in semiotischen Maschinen zu verkörpern, ohne durch deren Einsatz die Komplexitätdes sozialen Systems, dessen kontingentes Handlungsvermögen, soweit zu beschränken, dasssinnvolle Reaktionen auf Überraschungen in dessen komplexem Umfeld, etwa im Marktge-schehen, nicht mehr ausreichend möglich sind. Folglich geht es darum, die Dynamik derWechselwirkungen von komplizierten, in ihrem Verhalten aber vollständig bestimmten Ma-schinen und komplexem Verhalten von sozialen Systemen zu verstehen. Zugespitzt gesagt:Wieviel und vor allem welche Trivialisierung und Formalisierung darf sein, ohne Komplexitätüber Gebühr zu beschränken?

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Offensichtlich wurde diese Frage systematisch falsch beantwortet, sonst gäbe esnicht so viele und so kostspielige Software-Havarien und sonst gäbe es nicht das hartnäckigeProduktivitätsparadoxon der Informationstechnik. Beide Erscheinungen sind im wesentli-chen Ausdruck einer unzulänglichen Theorie der Informatik-Anwendungen, weil sie beste-hen, obgleich alle beteiligten Akteure den bis dato geltenden wissenschaftlichen undprofessionellen Standards der Informatik genügen. (Dass es auch fehlgeschlagene IT-Systemegibt, bei denen diese Standards verletzt wurden, steht auf einem anderen Blatt.)

Die Entwicklung einer angemessenen Theorie der Informatik-Anwendungen er-scheint daher dringend geboten. Sie müsste im Kern die Gestaltung und den Gebrauch semi-otischer Maschinen hinreichender Geschwindigkeit zum Gegenstand haben. Dabeibeinhaltet der Begriff der semiotischen Maschine den Sachverhalt, dass deren Funktionsweise –im Unterschied zu Stoff und Energie wandelnden Maschinen, die Naturkräfte nutzen – aufexpliziten Handlungsvorschriften durch Formalisierung von Zeichenprozessen als Ergebnisvon Kopfarbeit beruht und dass sie der Organisation und Koordination kollektiven Handelnsdient. Die Funktionen der semiotischen Maschine werden realisiert durch Software, die dop-pelten Charakter annimmt: Einerseits ist sie (wenn auch schwierig) lesbarer Text, andererseitsmaschinell ausführbarer Operationscode, mithin eine Maschine. Software ist folglich Maschi-ne und deren Beschreibung zugleich. Software vermittelt damit zwischen der Welt der Sig-nale innerhalb semiotischer Maschinen und den in der Lebenswelt der Menschengebrauchten Zeichen außerhalb. Mit semiotischen Maschinen wird folglich die soziale Weltder Zeichenprozesse nirgends verlassen.

In dieser Perspektive ergeben sich als Grundanforderungen an eine Theorie der In-formatik-Anwendungen, dass sie über Fragen der Korrektheit, Effizienz und Gebrauchstaug-lichkeit von Software hinaus als technische Semiotik (Nake) begriffen wird, die den formalenUmgang mit Zeichen im sozialen Kontext zu beschreiben und zu analysieren weiß, dass siebei der Suche nach dem Trivialen im Komplexen die handlungsorientierte Angemessenheitformaler Modelle zu beurteilen hilft, und dass sie anschlussfähig an soziale Theorien kollekti-ven Handelns, etwa in Organisationen, ist. Insbesondere muss sie helfen, Informatiker dazuzu befähigen, unzulässige Wünsche nach beliebiger Formalisierung komplexer Handlungssys-teme begründet abzuweisen.

Zusammenspiel von Organisationen und IT-Systemen

Bei den Gesprächen über dieses Themenfeld standen Systeme kollektiven Handelns im Vor-dergrund, in denen Arbeit in Wertschöpfungsprozessen effektiv und effizient organisiertwird. Dabei spielten neben der schon besprochenen Komplexitätsfrage die Unterscheidungenzwischen Zentrale und Peripherie sowie zwischen Können und Wissen und die Dynamik derWissenstransformation eine wichtige Rolle.

Rasch wachsende Dynamik der Märkte und hohe Flexibilitätsanforderungen derKundenorientierung auf zunehmend globalisierten Märkten erfordern ein hinreichendes Maßan Komplexität der dort agierenden Organisationen: sie müssen zur produktiven Bewältigungvon vielerlei Überraschungen in der Lage sein. Wegen der gesteigerten Marktdynamik bleibtweniger Zeit, durch Überraschungen hervorgerufene Probleme zu lösen. Zumindest für ope-rative Aufgaben wäre die Einbeziehung einer Zentrale zu langsam. Heute müssen die meistenoperativen Probleme dort gelöst werden, wo sie entstehen, vor Ort, in der Peripherie.

Wo Probleme gelöst werden, entstehen Können und neues Wissen. So entwickeltsich neben dem Wissensbereich der Zentrale eine Vielfalt von dezentraler Kompetenz – diePeripherie. Beides sind also weder Funktionen noch Orte: Zentrum ist die Zusammenfassungaller Tätigkeiten, die unter dem Druck der „Shareholder“ ablaufen. Peripherie ist die Zusam-menfassung aller Tätigkeiten, die unter dem Druck des Marktes ablaufen.

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Dabei ist nun die Unterscheidung zwischen Können und Wissen zentral: Können istdie praktische Handlungskompetenz von Menschen, gekennzeichnet durch ihre Fähigkeit(und Fertigkeit), in einer Situation angemessen zu handeln, um ihre Intentionen und Interes-sen zu verwirklichen; es ist erfolgreiches situiertes Handeln (damit eine Quelle von Komple-xität). Wissen ist demgegenüber durch Begriffsbildung ins Bewusstsein gehobene undaussprechbare Erfahrung. Mit Hilfe relevanter Begriffe wird Erfahrung geordnet und expli-ziert.

Wesentlich für das Verständnis von Können und Wissen ist deren dynamische Bezie-hung, die Art und Weise, wie sich beide wechselseitig hervorbringen: Vorgängig ist stets dienatürliche Handlungskompetenz, das Können. Erst durch besondere Anstrengungen (etwadurch Reflexion, Begriffsbildung oder Experimentieren) lassen sich Aspekte des Handelns(aber niemals zur Gänze) in explizites, theoretisches Wissen transformieren. Durch dessenAneignung für praktische Zwecke, d.h. durch Interpretation seiner Funktionen im Hand-lungskontext, wird das explizite, abstrakte Wissen wieder in einen – freilich eben dadurchveränderten – Praxiszusammenhang gestellt (rekontextualisiert), ein Vorgang, der seinerseitsKönnen erfordert. Dieser Dialektik der (stets partiellen) Explikation von Erfahrung in Wis-sen und der Aneignung von Wissen als erweitertes Können zufolge ist das in Zeichen oderArtefakten vergegenständlichte, dekontextualisierte Wissen „geronnene Erfahrung“ und wirddurch Aneignung zugleich Teil einer veränderten Praxis.

In dieser Perspektive erscheinen IT-Systeme als semiotische Maschinen, in denendurch Formalisierung und Algorithmisierung von Arbeitsabläufen expliziertes Wissen verge-genständlicht wurde. Für eine Theorie der Informaik-Anwendungen ist nun entscheidend,angemessen zu reflektieren, wie diese semiotischen Maschinen zu gestalten und zu gebrau-chen sind, ohne dass bei deren Einsatz die komplexe Handlungsfähigkeit der Organisationengeschmälert würde.

Eben daran versagt aber die Informatik weitgehend, wie sie sich bisher versteht: Ge-mäß der „Brandmauer“-Perspektive (Dijkstra) soll sich Informatik strikt auf Fragen der Forma-lisierung, der Korrektheit und Effizienz von Algorithmen beschränken – nach dem Gesagtenein offenkundig prinzipiell unzureichender Ansatz. Die Wirtschaftsinformatik fügt dem wenigBrauchbares hinzu; sie bedient sich zentraler Ergebnisse der „Kerninformatik“, um, wie sieglaubt, betriebswirtschaftliche Modelle von Wertschöpfungsprozessen effizienter zu machen– ohne sich freilich darum zu kümmern, ob die Wertschöpfung selbst tatsächlich effizienterwird (was in der Regel nicht der Fall ist, siehe Software-Havarien und Produktivitätsparado-xon). Diese Defizite versuchen Vorgehensweisen evolutionärer und partizipativer Software-Ent-wicklung auf pragmatischem Wege zu überwinden – ein Weg, der bei hinreichender Einsichtaller beteiligten Akteure in die hier skizzierten Zusammenhänge partiell zum Erfolg führenkann. Was aber fehlt, ist die systematisch entwickelte theoretische Basis, aufgrund derer sichdie Akteure zur Einsicht in reflexive Gestaltung und Nutzung von IT-Systemen in Organisati-onen als komplexen Handlungssystemen befähigen.

Anhand ausführlicher Präsentation und Diskussion konkreter Entwicklungsprojekteaus der Praxis (Terminverhandlung in Krankenhäusern, Projektabwicklung in der Raumfahrt)wurden diese Aspekte vertieft. Einige Aspekte blieben bis zuletzt umstritten, so etwa:

• Im Zusammenhang mit der Unterscheidung „kompliziert“ und „komplex“ die Frage,wie etwa chaotische Systeme (z.B. nicht-lineare Dynamik) oder artifizielle selbstor-ganisierende Systeme (z.B. Multi-Agentensysteme) einzuordnen seien; ihr Verhaltenerscheint kontingent, ist es aber auch komplex?

• Wertschöpfung als moralfreie, wirtschaftstheoretische Kategorie (Erlöse – Vorleis-tungen) oder wertbehaftete Vorstellung gesellschaftlich nutzbringender Prozesse?

• Die Aussagekraft des Produktivitätsparadoxons: Produktivität als wirtschaftstheore-tische Kategorie (das Verhältnis der Wertgrößen Ertrag zu Aufwand) oder Betrach-tung von Gebrauchswerten?

Page 126: Informatik zwischen Konstruktion und Verwertung - · PDF fileInformatik zwischen Konstruktion und Verwertung Materialien der 3. Arbeitstagung „Theorie der Informatik“ Bad Hersfeld

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Liste der Teilnehmenden

Corinna Bath Universität Bremen [email protected]

Alex Bepple Universität Hamburg [email protected]

Peter Bittner HU Berlin [email protected]

Peter Brödner IAT Gelsenkirchen [email protected]

Johannes Busse Universität Heidelberg [email protected]

Daniel Cermak-Sassenrath Universität Bremen [email protected]

Christian Dahme HU Berlin [email protected]

Paul Drews Universität Hamburg [email protected]

Frank Eckert Berlin [email protected]

Bleicke Eggers Berlin [email protected]

Martin Fischer Berlin [email protected]

Andreas Genz Universität Bremen [email protected]

Susanne Grabowski Universität Bremen [email protected]

Dorina Gumm Universität Hamburg [email protected]

Jens Himmelreich Bremen [email protected]

Ludger Humbert Hagen [email protected]

Jochen Koubek HU Berlin [email protected]

Detlev Krause Universität Hamburg [email protected]

Matthias Krauß Universität Bremen [email protected]

Susanne Maaß Universität Bremen [email protected]

Daniel Moldt Universität Hamburg [email protected]

Andreas Möller Universität Lüneburg [email protected]

Frieder Nake Universität Bremen [email protected]

Arno Rolf Universität Hamburg [email protected]

Kai Seim Darmstadt [email protected]

Werner Sesink TU Darmstadt [email protected]

Dirk Siefkes TU Berlin [email protected]

Gunnar Stevens Universität Siegen [email protected]

Ralf E. Streibl Universität Bremen [email protected]

Rüdiger Valk Universität Hamburg [email protected]

Ulrike Wilkens Hochschule Bremen [email protected]

Gerhard Wohland Walddorfhäslach [email protected]

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Colophon

Die Beiträge der AutorInnen wurden in ASCII oder in einem MS Word Formatin Bremen bei einem der Herausgeber gesammelt und auf Satzfehler hin durchge-sehen, gelegentlich grammatisch ein wenig geglättet. Die Literaturhinweise wur-den tendenziell vereinheitlicht, aber nicht ergänzt oder auf Korrektheitkontrolliert. Bei ihnen ist mit Mängeln zu rechnen, die mit einem Hinweis auf dienotorische Knappheit der „Zeit“ bemäntelt werden.

Typografie und Layout: Frieder NakeDruck und Heftung: Universitätsdruckerei Bremen

Gesetzt aus der Hoefler Text 10/13 Punkt sowie aus der Helvetica auf Apple Ma-cintosh G3 und G4 unter ungünstig gewählter Software (wie man wohl sehenkann).