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CHARLES P. KINDLEBERGER FBV © des Titels »Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939« (ISBN 978-3-89879-876-1) 2010 by FinanzBuch Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München. Nähere Informationen unter: http://www.finanzbuchverlag.de

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    CHARLES P. KINDLEBERGER

    FBV© des Titels »Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939« (ISBN 978-3-89879-876-1) 2010 by FinanzBuch Verlag,Münchner Verlagsgruppe GmbH, München. Nähere Informationen unter: http://www.finanzbuchverlag.de

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    Max Otte: Charles Kindleberger und die heutige

    Weltwirtschaftskrise

    Nachdem die heiße Phase der Finanzkrise durchgestanden ist und eine gewisse Stabilisierung der Weltwirtschaft eingesetzt hat, herrscht bei den Verantwortlichen dieser Welt große Rat-losigkeit. Im Herbst 2008 bestand Einigkeit, den Totalabsturz zu verhindern – immerhin. Banken wurden gerettet, Liquiditäts-spritzen und Konjunkturprogramme in einem nie da gewesenen Ausmaß initiiert. Aber wie geht es weiter? Klar ist, dass die Welt-wirtschaft keinesfalls gesund ist. Viele der Akutmaßnahmen in den Jahren 2008 bis 2009 bestanden aus derselben Medizin – billigem Geld, Schulden –, die letztlich die Krise verursacht hat. Auch die Regulierung der Finanzmärkte kommt nicht wirklich voran. Wie also kann die Gefahr einer neuen Großen Depression, die immer noch sehr bedrohlich ist, gebannt werden?

    Die Mächte dieser Welt sind uneins. Die Vereinigten Staaten, ein-deutig das Ursprungs- und Verursacherland, setzen auf Schul-denfinanzierung, als ob es kein Morgen gäbe. Die (noch) führen-de Wirtschaftsnation der Welt ist ein »Imperium der Schulden«,1 bei dem Bürger, Staat und Nation international verschuldet sind. Vom größten Gläubiger der Welt ist die größte Wirtschaftsmacht zur größten Schuldnernation geworden – und eine Änderung ist nicht in Sicht. Die Politik Amerikas zielt derzeit eindeutig auf Inflation, denn das Land hat das Privileg, international in sei-ner eigenen Währung verschuldet zu sein. Im Falle von Infla-tion zahlen also die Gläubiger – und das sind China, Japan und Deutschland.

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    Die Weltwirtschaftskrise Max Otte: Charles Kindleberger und die heutige Weltwirtschaftskrise

    Europa, das relativ gesehen deutlich besser dasteht als die USA, ist wie fast immer gespalten und verfolgt eine widersprüchliche Politik. Einerseits bedeutet der 750-Milliarden-Dollar-Rettungs-schirm für den Euro (der eigentlich ein weiterer Rettungsschirm für die Banken gegen die Bevölkerung Europas ist) einen Ein-stieg in die Inflationsgemeinschaft:Der Außenwert des Euro wird auf Kosten von noch mehr Schul-den und einer Aushöhlung des Innenwertes verteidigt. Ande-rerseits verkünden die europäischen Nationen massive Spar-pakete, die drohen, das zarte Pflänzchen des Aufschwungs zu ersticken.2

    China – das viele als Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts se-hen – ist die größte Gläubigernation der Welt. Durch ein mas-sives Konjunkturprogramm von 20 Prozent des Bruttoinlands-produkts wurde das Wachstum bislang aufrechterhalten, aber auch in China mehren sich die Anzeichen für Überinvestitio-nen und Blasenbildung in vielen Sektoren. Wehe der Weltwirt-schaft, wenn China auch kollabiert. Und Japan, das noch 1990 als »Wirtschaftsnation Nummer 1« gesehen wurde,3 kämpft seit zwei Jahrzehnten mit einer schleichenden Depression, aus der es trotz massiver Konjunkturprogramme, Niedrigzinspolitik und einer Staatsverschuldung von über 200 Prozent des Bruttoin-landsprodukts nicht herauskommt.4 Mittlerweile wird ein höhe-rer Teil des japanischen Staatshaushalts durch Aufnahmen von Schulden als durch Steuern finanziert. Noch werden die Schuld-titel von den japanischen Sparern gekauft. Aber wehe, wenn sich das einmal ändern sollte.

    In dieser Situation ist Charles Kindlebergers Werk zur Weltwirt-schaftskrise von geradezu erschreckender Aktualität. Die Par-allelen zur heutigen Zeit sind bedrückend. Wir lernen, dass die Weltwirtschaftskrise keinesfalls plötzlich über die Welt herein-brach, sondern dass die Hauptakteure jener Zeit – die USA, Eng-land, Frankreich und Deutschland – seit dem Ende des Ersten

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    Die Weltwirtschaftskrise Max Otte: Charles Kindleberger und die heutige Weltwirtschaftskrise

    Weltkriegs kontinuierlich um die Gestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung rangen, die seit 1919 höchst instabil war.

    Frankreich und England schuldeten den USA 8,7 Milliarden Dollar, während sie anderen Ländern Kredite in Höhe von 11,6 Milliarden Dollar gewährt hatten, um den Krieg zu finanzieren. Frankreich schuldete zudem England 3 Milliarden Dollar. Diese Schulden sind als »interalliierte Kriegsschulden« bekannt.

    Deutschland litt unter einer erdrückenden Reparationslast, die von den Siegern nach Belieben erhöht werden konnte. John Maynard Keynes, nahm als junger Ökonom an der Delegation teil, die in Versailles einen Friedensvertrag verhandeln sollte. Als er sah, welch katastrophale Wendung die Verhandlungen nah-men, trat er aus der Delegation aus und warnte bereits 1919 vor den Folgen, die das Dekret der Siegermächte haben würde.5 In der Folge bemühte sich Deutschland, den Vertrag zu revidieren, Frankreich bestand auf der Einhaltung und Revanche um je-den Preis – selbst um den der Besetzung des Ruhrgebiets – und England war bereit, alle Reparationen zu erlassen, die über die Summe seiner Schulden gegenüber den USA hinausgingen. Die USA wiederum waren bereit, staatliche Schulden zu erlassen, be-standen aber auf Erfüllungen der kommerziellen Verpflichtun-gen, also der privaten aufgenommenen Schulden und Anleihen.

    Kindleberger legt schlüssig dar, dass nicht die eine Ursache oder die eine falsche Theorie zur Krise führte. Weder Milton Friedmans monetaristischer Standpunkt, dass eine verfehlte Geldpolitik die Ursache sei, noch Paul Samuelsons Argumentation, dass die Krise eine Verkettung unglücklicher Zustände sei, lässt er gelten.6 Für Kindleberger fehlte es in der Zwischenkriegszeit eindeutig an po-litischer Führung und an dem Willen, eine solide internationale Wirtschaftsordnung zu gestalten. Nicht ein Kardinalfehler wurde begangen, sondern die Zeit von 1919 bis 1939 ist nach Kindle-berger geradezu eine Aneinanderreihung von Fehlern.

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    Lange vor 1929 braute sich das Unheil zusammen. In den Jah-ren 1922 und 1923 hatte in Deutschland die Hyperinflation ge-wütet. 1924 führte der Dawes-Plan zu einer gewissen internatio-nalen Beruhigung. Nun flossen aber viele private Gelder in Form von Krediten aus den USA nach Deutschland (und dann auch nach Lateinamerika). Im Jahr 1927 warnte der große Hjalmar Schacht, Präsident der Reichsbank, in einer Rede davor, dass die deutschen Kommunen diese Kredite vor allem für »Stadi-en, Schwimmbäder, Pools, öffentliche Plätze, Tagungsstätten, Hotels, Büros, Planetarien, Flughäfen, Theater, Museen und so weiter« ausgeben würden.7 Ab 1928, als die Spekulationsblase in den USA immer größer wurde und die Kredite nicht mehr so reichlich zur Verfügung standen, wuchsen die Sorgen, wie Deutschland seine Schulden refinanzieren könne. 1930 trat der Young-Plan in Kraft, 1932 wurde das Problem der deutschen Reparationszahlungen weitestgehend gelöst – tragischerweise war es da zu spät. Das Unheil nahm seinen Lauf.

    Von 1925 bis 1926 hätte eine massive Spekulationsblase bei Grundstücken in Florida Warnung vor der Aktienblase von 1928 bis 1929 und dem Crash sein können, genauso wie die Technolo-gieblase der Jahre 1998 bis 2000 als Warnung vor der Immobi-lienblase und anschließenden Finanzkrise hätte dienen können. Nach 1929 fielen die Exportpreise der rohstoffproduzierenden Länder auf bis zu 20 Prozent des Niveaus von 1929. Im Jahr 1931 führten in Österreich und Deutschland, die durch Kriegs-folgen und Inflation geschwächt waren, die Zusammenbrüche von »Creditanstalt« und »Darmstädter und Nationalbank« zu Bankpaniken. 1925 kehrte England dann unter Schatzkanzler Winston Churchill zum Goldstandard mit der überhöhten Vor-kriegsparität zurück, was einen deflationären Effekt hatte. Die Notenbanken Frankreichs und der USA sterilisierten die aus den Zahlungsbilanzüberschüssen stammenden Goldzuflüsse, was ebenfalls deflationäre Folgen hatte. 1930 erließ der Kongress der Vereinigten Staaten den Smoot-Hawley Tariff Act, der eine Spi-

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    rale von Zollerhöhungen nach sich zog. Hoover hatte im Wahl-kampf 1928 Schutzzölle für die amerikanischen Bauern vor-geschlagen und konnte nun die allgemeine Zollerhöhung nicht verhindern.8 Von nahezu drei Milliarden Dollar im Januar 1929 implodierte der Welthandel auf unter eine Milliarde 1932.9 1939 scheiterte eine Weltwirtschaftskonferenz der Außenminister in London – US-Präsident Roosevelt weigerte sich, den Dollar bei einem hohen Wechselkurs zu stabilisieren. Gleichzeitig beendete er den Goldstandard. Diese nahm anderen Ländern Exportmög-lichkeiten und verlängerte die Krise.

    Charles Kindleberger war ein Mann, der etwas zu sagen hatte und der das Publikum sofort in seinen Bann schlug. Ich hat-te das Glück als junger Student, den damals 76-Jährigen bei ei-ner Konferenz des Institute for International Economics 1986 in Washington zu hören, als er aus Charles MacKays Bericht über den Tulpenwahn vorlas.10 Kindlebergers Autorität war in einer Erfahrung begründet, die ihresgleichen sucht:Als Mitarbeiter des US-Finanz- und Außenministeriums so-wie der Federal Reserve Bank und vor dem Zweiten Weltkrieg auch der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich war er bei so ziemlich allen interessanten wirtschafts- und finanzpoli-tischen Entscheidungen in Europa vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt gewesen – zum Beispiel als Bürolei-ter für deutsche und österreichische Fragen und als Berater für den Marshall-Plan im US-Außenministerium. 1984 kam er zum Massachusetts Institute of Technology (MIT) – einer Hochburg der mathematischen Ökonomie – wo er bis zu seiner Emeritie-rung lehrte. Obwohl er zeitweilig sogar Dekan der wirtschafts-wissenschaftlichen Fakultät gewesen war, sprach er sich gegen zu viel Mathematik in der Ökonomie aus und sah sich als »his-torischen Ökonomen«.11

    Kindlebergers zentrale Botschaft ist im Jahr 2010 wichtiger denn je. Seine Studie der Großen Depression sollte daher zur Pflicht-

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    lektüre für alle politisch Verantwortlichen und wirtschaftspoli-tisch Interessierten werden:Eine stabile Weltwirtschaft entsteht nicht »von selbst«. Sie ist ein öffentliches Gut, das angesichts nationaler Egoismen be-wusst bereitgestellt werden muss. Damit die Weltwirtschaft sta-bil sein kann, benötigt sie eine Führungsnation, einen wohlwol-lenden Hegemon oder »Stabilisator«.12

    Die Aufgaben der Führungsnation sollten umfassen:

    1. die Aufrechterhaltung eines relativ offenen Marktes für »dis-tressed goods« – also Märkte mit krisenhaften Entwicklun-gen (heute würden wir wohl Güter und Dienstleistungsmärk-te einbeziehen),

    2. die Bereitstellung von antizyklischen oder zumindest stabilen antizyklischen Krediten,

    3. die Stabilisierung von Wechselkursen,4. die Koordination der Geld- und Fiskalpolitik5. und die Funktion als Kreditgeber letzter Zuflucht durch dis-

    kontierten Aufkauf von Vermögensgegenständen oder andere Arten der Bereitstellung von Liquidität in Krisen.

    Gemessen an diesen Forderungen scheinen wir zwei Jahre nach der heißen Phase der Finanzkrise im Jahr 2008 nicht ganz so schlecht dazustehen. Die Märkte sind bislang weitgehend offen geblieben; eskalierende Zollrunden scheinen derzeit nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Die Notenbanken und die Staaten haben im Zuge der Bankenrettung Liquidität bereitgestellt und Ramschpapiere gekauft. Allerdings waren dies eben keine »dis-tressed goods«, sondern von Anfang an Vermögensgegenstände zweifelhafter Liquidität. Die 2008 von vielen Ländern verab-schiedeten Konjunkturpakete sollen ebenfalls antizyklisch wir-ken. Deutschland hat mit dem Eurorettungspaket von 2010 an-tizyklisch Kredite bereitgestellt. (Damit ist allerdings der Umbau der Europäischen Union von einer Stabilitäts- zu einer Inflati-onsgemeinschaft in vollem Gange.)13

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    Die Weltwirtschaftskrise Max Otte: Charles Kindleberger und die heutige Weltwirtschaftskrise

    Bedauerlicherweise wurde vor allem die Finanzwirtschaft auf Kosten der produzierenden Unternehmen gestützt. In der Real-wirtschaft wirken die Eigenkapitalvorschriften nach Basel II prozyklisch – also krisenverschärfend. Unternehmen im Mit-telstand, die am dringendsten Kredite benötigen, erhalten nur schwer welche, während die Großbanken sich weiter bei den No-tenbanken fast zum Nulltarif bedienen können. Das nahezu un-regulierte Kartell der Ratingagenturen macht weiter wie bisher, also ebenfalls prozyklisch und krisenverschärfend. Und während die Finanzwirtschaft durch den Eurorettungsschirm gestützt wird, legen die europäischen Länder Sparpakete auf, deren Las-ten vor allem die Bevölkerung trägt.

    Kindleberger äußert sich kaum zur Frage der Regulierung der Finanzmärkte. In seinen fünf Punkten ist sie nur versteckt in Punkt drei, der Stabilisierung der Wechselkurse, enthalten. Viel-leicht hat er eine umfassende Regulierung der Finanzmärkte als selbstverständlich und daher nicht erwähnenswert erach-tet, als das Buch zum ersten Mal 1973 erschien. Damals wa-ren die Finanzmärkte noch weitgehend reguliert, und kaum jemand konnte sich den heutigen Zustand flexibler Wechselkur-se, aufgeweichter Bilanzierungsregeln, explodierender Deriva-temengen und einer Vielzahl unregulierter Finanzakteure und widersprüchlicher Jurisdiktionen vorstellen. Zwar hatte der Ni-xon-Schock – die einseitige Aufhebung der Konvertibilität des Dollars in Gold im Jahr 1971 – das aufgrund der Erfahrungen der Zwischenkriegszeit in Bretton Woods verhandelte System fester Wechselkurse erschüttert – aber insgesamt war der Regu-lierungsrahmen intakt. An vielen Stellen des Buches wird klar, dass Kindleberger die großen Summen frei vagabundieren Ka-pitals und die gegenseitige Verschuldung der Nationen als eine Ursache der Großen Depression ansah. Der Hegemon muss also nicht nur für das Krisenmanagement sorgen, sondern auch für angemessene Regeln.

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    Wir brauchen einen neuen Vertrag von Bretton Woods und die politische Kontrolle über die Finanzmärkte. Hier sind wir auch nach der Finanzkrise nicht wirklich weitergekommen. Chinas Devisenreserven wachsen. Zwar hat die Regierung einer vor-sichtigen Aufwertung des Renminbi zugestimmt, aber wird man diesen Kurs auch fahren, falls die Chinesische Lokomotive an Fahrt verlieren sollte? Ein Land oder eine Region muss (1) ei-nen Markt für Güter offen halten, die ansonsten keinen Absatz fänden und auch (2) Vermögensgegenstände mit Abschlag kau-fen (discounting), falls diese keinen Käufer mehr finden. Die amerikanische Notenbank hat Ramschpapiere in erheblichem Umfang gekauft, und auch die Europäische Zentralbank hat damit begonnen. Wer wird diese Funktion in Zukunft überneh-men? Wer wird die Führungsrolle bei der Regulierung der Fi-nanzmärkte übernehmen, nachdem die von Obama als großer Erfolg bezeichnete Finanzreform die Finanzakteure letztlich weitermachen lässt wie bisher? China geht mit seinem Devi-senschatz bislang verantwortlich um. Mit seiner neomerkanti-len und oftmals das internationale Handelsrecht missachtenden Politik kann das Reich der Mitte jedoch nicht punkten. Auch die imperialen Ambitionen der USA (so Helmut Schmidt) machen dieses Land immer mehr zu einem defensiven Hegemon, der – wie Großbritannien nach 1890 – zunehmend versucht, sei-ne Vorteile und Einflusssphären auf Kosten des Gesamtsystems zu verteidigen. Die Länder der Eurozone stehen wesentlich bes-ser da als die Verursacherländer der Finanzkrise – die USA und England. In den angelsächsischen Nationen sieht es mit lau-fenden Haushaltdefiziten jenseits der 10 Prozent des Bruttoin-landsproduktes katastrophal aus. Doch trotz ihrer relativ gu-ten ökonomischen Position gehen von der Europäischen Union keine wesentlichen Impulse aus. Die ersten G-20-Gipfel nach der Finanzkrise fanden in Washington, London und Pittsburgh statt, ein klarer Indikator dafür, dass der Bock weiter Gärtner sein darf.

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    Die Weltwirtschaftskrise Max Otte: Charles Kindleberger und die heutige Weltwirtschaftskrise

    Deutschland, Österreich und die Schweiz sind Nettosparnati-onen, die noch über eine funktionierende Industrie und einen funktionierenden Mittelstand sowie die Reste einer funktio-nierenden bürgerlichen Gesellschaft verfügen. In Deutschland funktionieren zum Beispiel die Volks- und Raiffeisenbanken und die Sparkassen, die größtenteils mit erheblich mehr Eigenka-pital ausgestattet sind als die Großbanken, ganz hervorragend. In der Schweiz sind es die Kantonal- und Raiffeisenbanken, in Österreich die Raiffeisenbanken. Gerade deswegen hat die Lobby der internationalen Finanzmarktakteure immer wieder versucht, diese funktionierenden Systeme zu zerstören.14 Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Regulierung der Finanzmärkte in unserem Interesse ist. Das derzeitige enthemmte Weltfinanz-system nutzt den kapitalmarktbasierten Finanzakteuren und schadet der Realwirtschaft. Es ist damit auch Standortpolitik für London und die Wall Street. Deutschland kann und sollte hier ruhig selbstbewusster auftreten – vielleicht mit einer Koali-tion der Willigen.15

    Hoffen wir, dass die Mächtigen dieser Welt verantwortungsvoll handeln. Wir selber können uns nur einen dicken Mantel an-ziehen und hoffen, dass der Sturm an uns vorüberzieht. Streu-en Sie Ihr Vermögen in Gold, Aktien mit stabilen Geschäftsmo-dellen und wenig Liquidität. Für den, der es sich leisten kann, sind Ackerland und ein zweiter Wohnsitz bzw. eine Immobilie in einem stabilen Land sicher nicht verkehrt. (Wobei ich auch die Bundesrepublik und Österreich trotz aller Kritikpunkte als sta-biler ansehe als die meisten Länder dieser Erde. Die Schweiz so-wieso.) Und dann beobachten Sie die Situation mit einer gewis-sen Gelassenheit – denn ändern können werden wir sie nicht, so oder so. Eines jedoch ist gewiss: Die Welt ist noch lange nicht über den Berg, wenn wir auch bis-lang jene fatale Abwärtsspirale vermieden haben, die die Jahre nach 1929 charakterisierte.

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    Die Weltwirtschaftskrise Vorwort

    Endnoten

    1 Siehe Max Otte, Das Imperium der Schulden, in: Der Crash kommt. Die neue Welt-wirtschaftskrise und wie Sie sich darauf vorbereiten, Berlin 2006, S. 82-105.

    2 Siehe Karsten Stummm, Der Euro muss weg. Interview mit Max Otte, in: manager magazin, 01.04.2010, online unter: http://www.manager-magazin.de/unterneh-men/artikel/0,2828,686927,00.html.

    3 Siehe Ezra Vogel, Japan as Number One. Lessons for America, Cambridge 1979.4 Siehe Paul Krugman, The Return of Depression Economics, New York 1999.5 Siehe John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, New York

    1920.6 Charles Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Einleitung, S. 277 Charles Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Kap. 1: Erholung vom

    Ersten Weltkrieg, S. 43.8 Charles Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Kap. 3: Die Agrarkri-

    se, S. 1079 Charles Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Kap. 7: Die Deflation

    geht weiter, S. 21910 Siehe Charles MacKay/Joseph De la Vega, Gier und Wahnsinn. Warum der Crash

    immer wieder kommt, München 2010.11 Siehe Otte, Crash, S. 39f.12 Charles Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Kap. 13: Eine Erklä-

    rung der Depression von 1929, S. 37013 Siehe Stumm, Interview. 14 Max Otte: Finanzplatz Deutschland versus deutsches Bankensystem – Zwei po-

    litökonomische Perspektiven für die Zukunft, in Frank Keuper/Dieter Puchta: Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Rückblick und Ausblick, Wiesbaden 2009.

    15 Max Otte: Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur, Positionspapier für die Konrad-Adenauer-Stiftung, erscheint 2010.

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    1. Kapitel

    Erholung vom Ersten Weltkrieg

    Das Jahr 1925 kennzeichnet den Übergang von der Nachkriegs-erholung zu dem kurzen und begrenzten Boom vor der Depres-sion. Es war das Jahr der Stabilisierung des Pfundes und der anderen Währungen, die mit dem Pfund zum Goldstandard zu-rückkehrten. In den Vereinigten Staaten kennzeichnet es auch den Gipfel des Booms unter mehreren wichtigen Gesichtspunk-ten: Die Bodenspekulation in Florida bricht zusammen, das Hoch im Nachkriegswohnungsbau beginnt, und die höchsten Weizenprei-se werden erzielt. Aber genausogut könnte man 1924 nehmen, das Jahr der Stabilisierung der Mark und des Dawes-Plans, oder 1926, als die endgültige Bereinigung der Kriegsschuldenfrage mit den Vereinigten Staaten erzielt und der französische Franc de facto stabilisiert wurde.

    Die Erholung vom Ersten Weltkrieg wurde in mehreren wichti-gen Punkten niemals erreicht, so etwa, was den Verlust der Eli-te junger Männer in den europäischen Ländern betrifft, oder das relative Zurückfallen Europas infolge der Anregung des Wachs-tums in den Dominions, in Japan und den USA. Ab 1925 oder 1926 indessen blickte Europa nicht länger auf 1914 zurück, sondern begann vertrauensvoller in die Zukunft zu schauen. Der

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    Die Weltwirtschaftskrise Erholung vom Ersten Weltkrieg

    erreichte Stand der Erholung enthielt bereits die Keime künf-tiger Schwierigkeiten, aus denen sich die Weltwirtschaftskri-se von 1929 entwickeln sollte. Dazu gehörten insbesondere der etwa seit 1921 zunehmende Widerstand der Arbeitnehmer ge-gen Lohnsenkungen, wodurch Lohn- und Preiserhöhungen ir-reversibel wurden1; Reparationen und Kriegsschulden, welche sich als destabilisierend herausstellen sollten, mochten sie auch durch den Dawes-Plan und die interalliierten Schuldenabkom-men weitgehend geklärt scheinen; das System der Wechselkurse, mit dem überbewerteten Pfund und dem unterbewerteten Franc, das zu einer beträchtlichen Ansammlung französischer Forde-rungen gegen Großbritannien führte; und das Eintreten der USA – teilweise an die Stelle von Großbritannien – in das internatio-nale Kreditgeschäft, mit viel Enthusiasmus, ohne Erfahrung und mit zu wenig Leitvorstellungen.

    1920–1921: Boom und Rückschlag

    1919 und 1920 gab es einen kurzen, heftigen, weltweiten Boom, hauptsächlich Ausdruck einer Jagd nach Waren zur Auffül-lung der Lagerbestände, die in fünf Kriegsjahren zusammenge-schmolzen waren. Er war besonders ausgeprägt in Großbritan-nien und in den Vereinigten Staaten2.

    Zurückgestaute Finanzmassen wurden losgelassen auf die be-grenzten Gütervorräte, und die Preise sausten in die Höhe. Frankreich, Deutschland und der Rest des europäischen Konti-nents beteiligten sich kaum, da ihnen die finanziellen Mittel fehl-ten, um beim Bieten mitzuhalten. Nach einem scharfen Preisan-stieg folgte jedoch ein scharfer Preisverfall, als die Produktion anlief und das Angebot auf den Markt strömte. Das rasche Auf und Ab ließ die Preis-Indizes einer Haarnadelkurve folgen. In al-len Fällen jedoch blieben die Preise trotz des Fallens im Sommer 1920 und besonders im Frühling 1921 beträchtlich über denen von 1914.

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    Die Weltwirtschaftskrise Erholung vom Ersten Weltkrieg

    Es war das letzte Mal, dass die Löhne so schnell so stark ge-drückt werden konnten. In Großbritannien fielen vom Januar 1921 bis Dezember 1922 die Wochenlöhne um 38 Prozent (und die Lebenshaltungskosten um 50 Prozent). Die Lohnsenkung war zu einem großen Teil die Folge von Lohngleitklauseln3. Die-se wurden rasch unbeliebt. Als die Reallöhne in einigen Bran-chen das Vorkriegsniveau erreichten, gaben die Gewerkschaften dieses Verfahren auf, das während der Preissteigerungen in den Kriegsjahren eingeführt worden war. Zum ersten Mal entwickel-te sich im Wirtschaftssystem eine Asymmetrie von größerer Be-deutung: bei einer Expansion aus der Vollbeschäftigung heraus kam es zu Preis- und Lohnerhöhungen in der Industrie; bei einer Schrumpfung sah man sich hartnäckigem Festhalten an Preisen und Löhnen und Arbeitslosigkeit gegenüber. Das britische Bei-spiel war das ausgeprägteste. Aber auch in Deutschland wurde festgestellt, dass ein neues Phänomen, die Arbeitslosigkeit, nach dem Krieg auftrat4.

    Es geht aber nicht nur um die mangelnde Flexibilität der Löh-ne. Der Boom von 1919 bis 1920 führte zu einem Anstieg der Preise von Kapitalgütern, was die festen Kosten erhöhte. Gebäu-de, Schiffe und vor allem Aktien wurden zu Phantasiepreisen gekauft in einer Hektik von Fusionen, Konzernbildungen und staatlichen Hilfsmaßnahmen für private Unternehmensgrün-dungen, die für die Zukunft schwer belastet waren, sowohl durch Schuldendienst an Obligationsgläubiger und vor allem Banken als auch durch die üblichen Dividenden. In Großbritannien wur-de der Boom durch die Aussicht auf Zerstörung der deutschen Konkurrenz bei Kohle, Stahl, im Schiffsbau und bei Textilien ge-nährt. Die britische Vorherrschaft auf diesen Gebieten stellte sich als gefährlich kurzlebig heraus. Hoffnungen auf das Kohlege-schäft wurden durch den katastrophalen Streik vom April bis Ju-ni 1921 zunichtegemacht. Der Schiffsbau war vom technischen Fortschritt in anderen Ländern betroffen, besonders in Skandi-navien, und durch die spätere Überbewertung des Pfunds. Bei

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    Die Weltwirtschaftskrise Erholung vom Ersten Weltkrieg

    Baumwolle erschienen bald Japan und Indien auf den einträgli-chen Kolonialmärkten5.

    In Deutschland verleitete die Inflation von 1922 bis 1923 eine Reihe von Unternehmern, besonders Hugo Stinnes, riesige Kon-zerne ohne Eigenkapital aufzubauen, welche in Schwierigkei-ten gerieten, als die Mark stabilisiert wurde6. Das Stinnes-Reich brach zusammen. Anderen Firmen, denen es gelungen war, wäh-rend der Inflation Kredite zu tilgen, fehlte es an Betriebskapital, und sie mussten nach der Stabilisierung beträchtliche Beträge zu hohen Zinsen borgen. Die Hauptklage der deutschen Unterneh-merschaft galt der Kapitalknappheit7.

    Reparationen

    Von 1970 aus beurteilt, war der Versuch der Alliierten, von Deutschland Reparationen einzutreiben, wenig sinnvoll. Die Vor-stellung, dass Deutschland die Kosten des Krieges und die des Aufbaus aufgeladen werden könnten, war noch unsinniger. Zur damaligen Zeit gab es jedoch genügend Präzedenzfälle, nach de-nen man eine erhebliche Anstrengung erwarten konnte. So hat-te Deutschland 1871 fünf Milliarden Mark an Reparationen er-halten8, ohne dass Frankreich in große Schwierigkeiten geraten wäre. Großbritannien hatte nach 1815 die Sieger von Waterloo beim Eintreiben der 700 Millionen Francs von Frankreich ange-führt. Jetzt war Frankreich an der Reihe. Nachdem es zweimal gezahlt hatte, war es nun zu kassieren gewillt.

    Es ist wohl nicht nötig, hier die bekannte ärgerliche Geschichte des erfolglosen Versuchs der Alliierten, besonders der Franzosen, wiederzugeben, Reparationen von Deutschland einzuziehen. Sie zerfällt in drei Perioden: die erste dauerte von Versailles (1919) bis zum Dawes-Plan im September 1924, die zweite vom Dawes-Plan bis zum Young-Plan (1923–1930) und die dritte gut vier-zehn Monate, vom Beginn des Young-Plans im April 1930 bis

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    zum Hoover-Moratorium im Juni 1931. Anders als die Kriegs-schulden, für die Großbritannien im Dezember 1932 und im Ju-ni 1933 noch Raten an die USA zahlte, waren die Reparationen im Juni 1931 im Sterben begriffen, obgleich sie erst bei der Lau-sanner Konferenz im Juli 1932 endgültig für tot erklärt wurden. Sicherlich gab ihnen die Depression den Rest. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Etienne Mantoux, der verspätet, aber umso heftiger auf Keynes Economic Consequences of the Peace re-agierte, behauptet, die Reparationsabmachungen von Versailles seien in keiner Weise direkte Ursache der Weltwirtschaftskrise gewesen. Vielleicht ist dem so; die Geschichte der Reparationen hat aber so viele indirekte Bezüge zu den Ursprüngen der De-pression, dass ihre Hauptlinien nicht außer Acht gelassen wer-den dürfen9.

    Im Versailler Vertrag war es nicht gelungen, einen Betrag für die deutschen Reparationen festzusetzen. Jede angegebene Summe wäre den Deutschen (und den Amerikanern und möglicherweise den Engländern) zu hoch erschienen, den Franzosen zu niedrig. Der Vertrag gab sich damit zufrieden, allgemeine Regeln für die Zahlungen festzulegen, und zwar in Form von Sachwerten, also Exporten, und von Devisen, wobei eine eigene Reparationskom-mission genaue Beträge erarbeiten sollte. Dieses Gremium kam im April 1921 auf eine Summe von 132 Milliarden Goldmark. Die alliierten Kommissionsmitglieder schätzten, dass bisher 7,9 Milliarden gezahlt worden waren – in Form von Auslandsvermö-gen, Schiffen und Warenlieferungen –, während die Deutschen behaupteten, bereits 20 Milliarden bezahlt zu haben. Die dama-lige Differenz von reichlich 12 Milliarden wollten die Deutschen als Gegenwert für öffentliche Investitionen in den abgetretenen Gebieten angerechnet haben10. Die Franzosen lehnten einen Vor-schlag ab, deutsche Arbeitskräfte beim Wiederaufbau des Nor-dens einzusetzen; dieser Vorschlag von Loucheur, der mit dem Wiederaufbau der verwüsteten Gebiete beauftragt war und den Plan zusammen mit Walther Rathenau ausgearbeitet hatte, traf

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    auf Ressentiments in der französischen Öffentlichkeit und auf den Widerstand der Bauwirtschaft, welche die Aufträge haben wollte11. Andererseits fanden die Deutschen es schwierig, Repa-rationen in natura zu leisten, besonders in Kohle, obgleich ih-re Kohlenexporte stark anstiegen, als 1926 der britische Koh-lenstreik ausbrach. Zahlungen in Devisen und Warenlieferungen an Frankreich nahmen 1922 so stark ab, dass französische und belgische Truppen im Januar 1923 in das Ruhrgebiet einmar-schierten.

    Die Ruhrbesetzung nützte nichts. In einer mächtigen Bekundung von passivem Widerstand und gewaltlosem Kampf sabotierten die deutschen Unternehmer und Arbeiter Produktion und Ver-trieb. Es kam auch zu Gewalttätigkeiten: Am Ostersamstag, dem 31. März 1923, wurde ein Zug franzö-sischer Soldaten, der die Krupp-Werke durchsuchte, von einer Arbeitermenge »bedroht« und eröffnete das Feuer; er erschoss dreizehn Personen, darunter fünf Jugendliche, und verwunde-te zweiundfünfzig. Das Begräbnis löste höchste Erregung aus. Es heißt, während der ganzen Besatzungszeit seien die französi-schen Truppen größeren Belastungen ausgesetzt gewesen als die deutsche Bevölkerung12. Die deutsche Regierung zahlte an die Industrie Subventionen und gewährte Diskont an Banken, da-mit die Löhne weitergezahlt werden konnten. Die 1922 begon-nene Inflation entwickelte sich zur Hyperinflation. Im Juni stand der Dollarkurs bei 100 000 Mark; im November bei 4 000 000 000. Grigg sah in der Besetzung der Ruhr »die hauptsächliche und unmittelbarste Ursache für Hitler, ohne die es keinen Zwei-ten Weltkrieg gegeben hätte«13. Die meisten Beobachter machen eher die Inflation und die Verarmung der Mittelklasse dafür ver-antwortlich als die Besetzung der Ruhr selbst14. Ob eines das an-dere unvermeidlich zur Folge hatte, ist wohl eine offene Fra-ge. Aber die Hyperinflation hatte eine Spätfolge insofern, als es nach 1930 inmitten der Depression schwierig war, die Deflati-on zu bekämpfen. Da sie deutlich machte, welche verheerenden

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    Folgen eine Inflation haben konnte, lieferte sie all jenen einen unerschöpflichen Vorrat an Munition – selbst gegen die beschei-densten monetären oder fiskalpolitischen Expansionsprogram-me –, die glaubten, die Wirtschaft im Feuer der Deflation läu-tern zu müssen15.

    Während der Ruhrbesetzung nahmen die Franzosen in den ers-ten vier Monaten des Jahres 1923 netto 128 000 Pfund ein, ver-glichen mit 10,5 Millionen Pfund im entsprechenden Vorjahres-zeitraum. Ein im Mai begonnener britischer Vermittlungsversuch brachte zunächst wenig unmittelbare Resultate. Die Hyperinfla-tion jagte weiter. Ihre Folgen kamen fast niemandem gelegen.Schließlich einigten sich die Briten, Franzosen und Deutschen im Dezember, zwei Kommissionen einzusetzen. Die eine unter Regi-nald McKenna, die nur wegen Frankreichs amour propre wichtig war, sollte feststellen, wie viel Kapital die deutschen Bürger unter den Augen der Alliierten ins Ausland verschoben hatten und wie die Chancen standen, es zurückzubekommen. Die zweite soll-te Möglichkeiten für den Ausgleich des Reichshaushalts, für die Stabilisierung der Währung und für eine realistische Neufestle-gung der jährlichen Reparationszahlungen ausfindig machen. Diese Kommission wurde von Charles G. Dawes geleitet, dem ersten Direktor des US-Budgetamtes. Die Vereinigten Staaten hatten weder den Versailler Vertrag unterzeichnet, noch waren sie dem Völkerbund beigetreten, da sie sich in einem plötzlichen Sinneswandel von den europäischen Intrigen der Nachkriegszeit distanzieren wollten. Außenminister Charles E. Hughes jedoch war bereit, inoffiziell bei dem Versuch mitzuhelfen, das Repara-tionsproblem zu lösen, wobei er daran festhielt, dass solche Re-parationen nichts mit den Kriegsschulden der Alliierten bei den USA zu tun hatten. Dawes wurde von dem amerikanischen Fi-nanzmann Owen D. Young sowie von einigen Hilfskräften der Firma J. P. Morgan & Co. begleitet. Die Hauptarbeit aber wur-de von den Engländern, wie Sir Josiah Stamp und Sir Robert Kindersley, getan.

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    Der Dawes-Plan enthielt eine Aufstellung von jährlichen Zah-lungen, die mit 1 Milliarde Goldmark im ersten Jahr begannen und bis auf 2,5 Milliarden im fünften Jahr anstiegen, danach in gewissem Umfang entsprechend der internationalen Prosperität variierten (wenn der Goldpreis sich nach oben oder unten um mehr als 10 Prozent veränderte). In Berlin sollte ein Reparati-onsamt eingerichtet werden, das die Aufbringung der nötigen Be-träge in Mark beaufsichtigen und intervenieren sollte, um Zah-lungen zurückzustellen, falls ernstliche Transferschwierigkeiten auftreten würden. Eine Anleihe von 800 Millionen Mark sollte an verschiedenen Finanzzentren aufgelegt werden, gesichert durch eine hypothekarische Belastung der Reichsbahn. Diese letzte Be-stimmung sollte Poincaré zufriedenstellen, der fortgesetzt »gages productifs« (produktive Pfänder) in Form von Bergwerken, Wäl-dern, Fabriken und Ähnlichem gefordert hatte.

    Die Dawes-Anleihe spielte eine entscheidende Rolle. 110 Millio-nen Dollar davon, die von der Firma Morgan übernommen wor-den waren, wurden in New York verkauft. Die Anleihe wurde zehnfach überzeichnet. Mehr als alles andere war dies der Anstoß, der die New Yorker Anleihen an das Ausland, zuerst an Deutsch-land und kurz darauf an Lateinamerika und fast sämtliche euro-päischen Länder, in Gang brachte16. Auch bei früheren Gelegen-heiten hatte sich eine plötzliche Zunahme der Auslandskredite ergeben, wenn eine Anleihe, die aus politischen Gründen im Zu-sammenhang mit Reparationen aufgelegt worden war, erfolgreich war. Nach Waterloo wurden die französischen Reparationen fi-nanziert, indem Baring Brothers & Company in London fran-zösische Staatspapiere ankauften. Der Erfolg dieser Transaktion regte die britischen Auslandsanleihen in den 1820er-Jahren an. Auch die französische Entschädigung an Deutschland nach dem Deutsch-Französischen Krieg wurde in Höhe von 3,5 Milliarden Francs durch die berühmte »Thiers-Rente« aufgebracht, die mit einem beträchtlichen Disagio verkauft wurde. Dabei machten die französischen Geschäftsbanken, die »banques d’affaires« und

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    Privatpersonen große Profite, und während der ganzen Zeit bis zum Ausbruch des Krieges richtete sich in der Folge das Hauptin-teresse der Anleger mehr auf die Spekulation mit Anleihen, auch ausländischen, als auf die direkte Investition in der Industrie.

    Die Reparationen mögen nicht direkt verantwortlich für die De-pression gewesen sein, wie Mantoux meint, aber zusammen mit den Kriegsschulden komplizierten und korrumpierten sie die in-ternationalen Wirtschaftsbeziehungen während jedes Abschnit-tes der Zwanzigerjahre und der gesamten Depression bis zum 15. Juni 1933, drei Tage nach Eröffnung der Weltwirtschafts-konferenz.

    Keynes brillante Polemik Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertra-ges mag in vieler Hinsicht verzerrt gewesen sein, sich selbst bekräf-tigend in der Behauptung, dass die Deutschen, wenn sie ein ver-nünftiges Argument hörten, warum sie nicht zahlen könnten, es nicht tun würden; zudem war sie eine verheerende Ermunterung der amerikanischen Isolationisten durch die Angriffe gegen Wilson, den Keynes einen inkompetenten Invaliden nannte. Keynes’ Ge-danke war aber sicherlich richtig, dass es am vernünftigsten wäre, die Kriegsschulden zu annullieren, einen kleinen Betrag an Repa-rationen, z. B. 10 Milliarden Dollar, festzusetzen und die Streitfra-ge von der internationalen Tagesordnung zu streichen17.

    Kriegsschulden

    Reparationen und Kriegsschulden vermengten sich in den Köp-fen der Briten, Franzosen, Italiener und Belgier, aber nicht in denen der Amerikaner, welche sie »mit dem Eigensinn, einer besseren Sache würdig«18, auseinanderhielten. Die Vereinig-ten Staaten weigerten sich, Reparationen von Deutschland an-zunehmen. Sie wünschten die Rückzahlung von Anleihen und Vorschüssen, die sie den Alliierten zur Unterstützung während des Krieges bis zum Waffenstillstand und – in geringerer Höhe –

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