Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die...

37
Prof. Dr. Hans-Michael Trautwein, Dr. Dirk Ehnts Innovationen und internationale Wirtschaftsbeziehungen Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2014

Transcript of Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die...

Page 1: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

Prof. Dr. Hans-Michael Trautwein, Dr. Dirk Ehnts

Innovationen und internationale Wirtschaftsbeziehungen Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2014

Page 2: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

Impressum Autor: Prof. Dr. Hans-Michael Trautwein, Dr. Dirk Ehnts Herausgeber: Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Center für Lebenslanges Lernen (C3L) Auflage: 3. Auflage (Erstausgabe 2010) Copyright: Vervielfachung oder Nachdruck auch auszugsweise zum Zwec-

ke einer Veröffentlichung durch Dritte nur mit Zustimmung der Herausgeber, 2014

ISSN: 1869-2958 Oldenburg, August 2014

Page 3: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

Prof. Dr. Hans-Michael Trautwein

Hans-Michael Trautwein ist Professor für Internationale Wirt-schaftsbeziehungen an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Hauptarbeitsgebiete sind:

geschichtliche und aktuelle Entwicklungen makroökonomi-scher Theorien,

monetäre Integration und internationale Finanzmärkte,

Globalisierung und Beschäftigung.

Nach einem einjährigen Indienaufenthalt während der Schulzeit studierte Trautwein Ökonomie an der Universität Bremen und promovierte dort 1985 mit einer Dissertati-on über Arbeitnehmerfonds in Schweden. Von 1985 bis 1990 war er Akademischer Rat am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik der Universität Lüneburg. Im Jahr 1990 wech-selte er an die Universität Hohenheim in Stuttgart, wo er bis zum Jahr 2000 als Wis-senschaftlicher Assistent, Oberassistent und Lehrstuhlvertreter für Wirtschaftstheorie tätig war. Die Habilitation erfolgte 1996 mit einer Arbeit über Kredittheorien des Geld-angebots. Im Jahr 2000 wurde Trautwein an die Universität Oldenburg berufen. Einen weiteren Ruf an die Universität Hamburg (2003) lehnte er ab. Von 2007 bis 2009 war Trautwein Dekan der Fakultät für Informatik, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Seit Herbst 2009 ist er Chinabeauftragter der Universität Oldenburg.

Trautwein hat zahlreiche Aufsätze in internationalen referierten Fachzeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht. Erwähnenswert sind auch verschiedene Gastprofessu-ren und Forschungsaufenthalte an Universitäten und Forschungsinstituten in Brasili-en, China, Frankreich, Italien, Österreich, Schweden und Spanien. Neben der universitären Lehre verfügt Trautwein über umfangreiche Lehrerfahrung aus volks-wirtschaftlichen Vorlesungen an Fachhochschulen und Verwaltungsakademien sowie als Sprachlehrer (Schwedisch). Außerdem war er in der Vergangenheit gutachterlich für das Bundeswirtschaftsministerium, das niedersächsische Wirtschaftsministerium sowie für die Bundeslotsenkammer tätig.

Page 4: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

Dr. Dirk Ehnts

Dirk Ehnts ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Volks-wirtschaftslehre der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Hauptarbeitsgebiete sind:

Wirtschaftsgeographie

Makroökonomie

Internationale Wirtschaft

Nach seinem Zivildienst studierte Ehnts Volkswirtschaftslehre an der Universität Göt-tingen. Im Anschluss arbeitete er bei Affiliated Computer Services (ACS) of Spain in Barcelona, Spanien, im Bereich International Accounting. Ende 2003 begann er seine Promotion im Schwerpunkt „Globalisierung und Beschäftigung“ des Lehrstuhls für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Oldenburg. Seit 2007 ist Ehnts wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Lehrstuhl. Im Jahr 2008 schloss Ehnts seine Dissertation zu den Auswirkungen der Ansiedlung von multinationalen Unter-nehmen auf die lokale Wirtschaft ab.

Ehnts hat zahlreiche Aufsätze veröffentlicht und auf internationalen Konferenzen vor-getragen. Er hat an der Universitat Autónoma de Barcelona (UAB) als Gastdozent gelehrt.

Page 5: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

INHALT ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS .................... 9 EINFÜHRUNG .................................................................... 11 1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG (GRUNDLAGEN I) ..................................................... 18

1.1 Theorien der wirtschaftlichen Entwicklung ..................... 20

1.1.1 Merkantilistische Innovationspolitik ............................................ 20

1.1.2 Smiths Innovationsspirale…………………………………………………. 21

1.1.3 Ricardo über komparative Kosten, Renten und Maschinerie ..... 23

1.1.4 Lists Innovationsrecht der Nachzügler ....................................... 24

1.1.5 Kapitalistische Innovationsdynamik nach Marx .......................... 26

1.1.6 Neoklassische Ausblendung ...................................................... 27

1.1.7 Schumpeters schöpferische Zerstörung .................................... 29

1.2 Moderne Innovationsökonomie ..................................... 33 2 INDUSTRIEÖKONOMISCHE KONZEPTE (GRUNDLAGEN II) .................................................... 38

2.1 Produkt- und Prozessinnovationen ................................. 39

2.1.1 Innovationsketten und Innovationsarten ..................................... 39

2.1.2 Typologie der Prozessinnovationen ........................................... 43

2.2 Skalen- und Netzwerkeffekte .......................................... 46

2.2.1 Skaleneffekte ............................................................................. 46

2.2.2 Netzwerkeffekte ......................................................................... 47

2.3 Innovationen, Marktstrukturen und Preispolitik .............. 50

2.3.1 Prozessinnovationen und natürliche Monopole .......................... 51

2.3.2 Monopolbildende Produktinnovationen ...................................... 52

2.3.3 Produktinnovationen in monopolistischer Konkurrenz ................ 54

2.3.4 Innovationen und Marktzutritt .................................................... 58

Page 6: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

3 INNOVATIONEN UND WIRTSCHAFTSWACHSTUM (GRUNDLAGEN III) ................................................... 62

3.1 Neoklassische Wachstumstheorie .................................. 64

3.1.1 Wachstumsgleichgewicht ohne technischen Fortschritt ............ 65

3.1.2 Wachstumsgleichgewicht mit technischem Fortschritt ............. 68

3.1.3 Konvergenz und Technologietransfer ......................................... 69

3.2 Neoschumpeterianische Wachstumstheorie .................. 71

3.2.1 Das Basismodell ........................................................................ 71

3.2.2 Schöpferische Zerstörung und Ansatzpunkte für Wirtschaftspolitik ........................................................................ 74

3.2.3 Vorpreschende und aufholende Innovationen ............................ 76 4 INNOVATIONEN UND INTERNATIONALER HANDEL (GRUNDLAGEN IV) .................................................. 79

4.1 Ältere und Neuere Handelstheorien ................................. 80

4.1.1 Klassische Handelstheorie ......................................................... 80

4.1.2 Neoklassische Handelstheorie ................................................... 84

4.1.3 Produktlebenszyklus und internationaler Handel ....................... 87

4.1.4 Neue Handelstheorie ................................................................. 89

4.2 Globalisierung als Innovationsprozess ........................... 91 5 INTELLECTUAL PROPERTY & OPEN SOURCE: INNOVATIONEN UND MONOPOLRENTEN ................ 96

5.1 Patente ............................................................................. 98

5.2 Copyright und Copyleft .................................................. 104

5.3 Open Source .................................................................. 107 6 CHIPS & JOBS: TECHNOLOGISCHE ARBEITSLOSIGKEIT ............... 112

6.1 Freisetzung und Kompensation ..................................... 114

6.2 Beschäftigungsschwellen und Mismatch ..................... 120

6.3 Technischer Fortschritt, Globalisierung und Beschäftigung ................................................................ 125

Page 7: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

7 OUTSOURCING & OFFSHORING: GLOBALISIERUNG UND BESCHÄFTIGUNG ........... 132 7.1 Auslagerung von Produktionsprozessen ....................... 134 7.2 Kernkompetenzen und Wettbewerbsvorteile ................. 137 7.3 Ist die Erde „flach“? ....................................................... 142 8 CLUSTER & NETZWERKE: RÄUMLICHE ASPEKTE ........................................... 147 8.1 Wirtschaftsgeographie .................................................. 150 8.2 Die Standortfrage ........................................................... 152 8.3 Agglomeration und Innovation ....................................... 155 9 INTERNATIONALE WETTBEWERBSFÄHIGKEIT: EIN FETISCH ? ........................................................ 161 9.1 Saldenmechanik der Zahlungsbilanzen………………..… ... 163 9.2 Handelspolitische Konflikte um Innovationen… ............ 168 9.3 Geschäftsmodell Deutschland…………………………….. ...... 174 10 VERBRIEFUNG & DERIVATE: FINANZINNOVATIONEN .......................................... 183 10.1 Risiko und Regulierung auf Finanzmärkten .................. 186 10.2 Innovationen und Regulierungsarbitrage ...................... 191 10.3 Systementwicklung und Systemstabilität ................... ..197 11 INNOVATIONEN UND INSTITUTIONEN - SCHLUSS ............................................................... 201

Page 8: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

ANHANG 12 LITERATURVERZEICHNIS ....................................... 206 13 GLOSSAR ............................................................... 211

Page 9: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS Abb. 1.1 Smiths Wachstumsspirale

Abb. 1.2 Schumpeters Konjunkturzyklen

Abb. 2.1 Die Innovationskette

Abb. 2.2 Prozessinnovation vom Typ A

Abb. 2.3 Prozessinnovation vom Typ B

Abb. 2.4 Prozessinnovation vom Typ C

Abb. 2.5 Prozessinnovation vom Typ D

Abb. 2.6 Monopolpreisbildung

Abb. 2.7 Innovationsintensität und Marktstrukturen

Abb. 3.1 Neoklassisches Wachstumsmodell ohne technischen Fortschritt

Abb. 3.2 Neoklassisches Wachstumsmodell mit technischem Fortschritt

Abb. 4.1 Handel bei absoluten Kostenvorteilen

Abb. 4.2 Handel bei komparativen Kostenvorteilen

Abb. 4.3 Nettoexporte im Produktlebenszyklus

Abb. 5.1 Konsumenten- und Produzentenrente mit und ohne Schutz geistigen Eigentums

Abb. 6.1 Arbeitslosigkeit in Deutschland, 1970-2009

Abb. 6.2 Die Drei-Sektoren-Hypothese

Abb. 6.3 Okuns Gesetz

Abb. 6.4 Beveridge-Kurve(n)

Abb. 6.5 Beveridge-Kurve für Deutschland, 1992-2008

Abb. 6.6 Arbeitslosigkeit nach Qualifikationen, Deutschland 1975-2005

Abb. 6.7 Ungleichheit der Arbeitseinkommen, OECD-20 1995/2005

Abb. 7.1 Transatlantische Frachtraten, 1863-1913

Abb. 8.1 Agglomeration und Pro-Kopf-Einkommen

Abb. 8.2 Reallöhne in Region 1 und 2

Abb. 8.3 Konzentrische Ringe nach von Thünen

Abb. 8.4 Das Hotelling-Modell

Abb. 9.1 Globale und regionale Ungleichgewichte

Page 10: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

Abb. 10.1 Tagesumsätze auf internationalen Finanzmärkten

Tab. 5.1 Patentanträge nach Herkunftsländern

Tab. 8.1 Die größten Metropolen der Welt, 2003

Tab. 9.1 Zahlungsbilanz der Bundesrepublik Deutschland, 2006

Page 11: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

„Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrik zu [...] Konzernen […] illustrieren den gleichen Prozess einer industriel-len Mutation, der unaufhörlich die Wirtschaftsstruk-tur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozeß der ‚schöpferischen Zerstö-rung’ ist das für den Kapitalismus wesentliche Fak-tum.“

(JOSEPH A. SCHUMPETER, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942)

Page 12: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 12

EINFÜHRUNG Der Porsche war die Attraktion der Weltausstellung. Die Besuchermassen dräng-ten sich vor dem Auto mit Elektromotor. Es gab zwar schon andere elektrisch betriebene Fahrzeuge, aber keine mit solch herausragenden technischen Eigen-schaften. Die Veranstalter zeichneten den Porsche mit dem Preis für die innova-tivste Erfindung aus. Als wenig später ein Mixte-Porsche vorgestellt wurde, der durch einen Hybridantrieb von Verbrennungs- und Elektromotoren die Ge-wichtsprobleme mit den Batterien drastisch reduzierte, meinten Experten, diese Antriebstechnik sei die Innovation des noch jungen Jahrhunderts und würde sich bald durchsetzen. Exakt 110 Jahre nach jener Weltausstellung hat Porsche mit dem Cayenne S Hybrid erneut ein Modell mit elektrischem (Zusatz-)Antrieb am Markt. Die Firma preist es als innovatives Produkt, und wieder meinen Experten, dass derartige Hybridmodelle bald die konventionellen Verbrennungsmotoren verdrängen würden.

Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen zum Wirt-schaftswachstum bei und bringen Strukturwandel mit sich. Innovationen sind zumeist technische Neuerungen; sie können aber auch organisatorischer oder rein kultureller Natur sein. Innovationen können Arbeitsplätze vernichten und neue schaffen. Sie können die Exporte eines Landes erhöhen, aber auch die Ver-lagerung von Produktion ins Ausland ermöglichen. Indem Innovationen bei der Standortwahl eine Rolle spielen, beeinflussen sie die räumliche Verteilung von Unternehmen. Innovationen können Monopole schaffen oder sie aufbrechen. Sie können sich am Markt durchsetzen, gelegentlich sogar Standards und Normen setzen. Sie können aber auch – wie der Lohner-Porsche der Pariser Weltausstel-lung von 1900 – vorübergehend oder endgültig in der Versenkung verschwinden. Welche Tendenzen überwiegen? Durch welche ökonomischen Aktivitäten und politischen Maßnahmen werden Innovationen gefördert oder behindert?

In den vorliegenden Studienmaterialien geht es um diese und weitere Fragen. Innovationen werden hier unter den volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten des Wachstums und Strukturwandels im Gefüge internationaler Wirtschaftsbezie-hungen betrachtet. Seit den klassischen Werken der Politischen Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts hat sich die Volkswirtschaftslehre systematisch mit den Wirkungen von Innovationen auf Marktsysteme auseinandergesetzt. Schon vor Beginn der Industrialisierung war festgestellt worden, dass die arbeitsteilige Pro-duktion für Märkte mit zunehmender Spezialisierung die gesamtwirtschaftliche Produktivität erhöht und die Auswahl an Produkten erweitert. Es kommt zu Neuerungen in Produktionsprozessen (Prozessinnovationen) und zur Entwick-lung und Vermarktung neuartiger Produkte (Produktinnovationen). Der Einsatz von innovativen Produkten führt zu weiteren Prozessinnovationen, Kostensen-kungen und Absatzsteigerungen. Diese intensivieren die Arbeitsteilung und er-schließen neue Märkte über nationale Grenzen hinaus. Die wechselseitige

EINFÜHRUNG

Page 13: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 13

Verstärkung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen von Innovationen und internationalem Handel ist seit langem ein zentrales, mitunter kontrovers diskutiertes Thema der Volkswirtschaftslehre.

Mit den kumulativen Prozessen der Globalisierung, die die Gegenwart prägen, ist der Zusammenhang von Innovationen und internationalen Wirtschaftsbeziehun-gen noch enger geworden. Die internationale Perspektive, die hier eingenommen wird, schärft den Blick auf Mechanismen der Marktpreisbildung und auf institu-tionelle Rahmenbedingungen – zwei Faktoren, die die Wirkung von Innovationen maßgeblich beeinflussen. Zwar könnte man beide Faktoren auch so betrachten, als gäbe es noch geschlossene nationale Marktsysteme; der Einfachheit halber geschieht dies in den folgenden Kapiteln auch gelegentlich. Doch an den Preis-strukturen in verschiedenen Ländern und an den Unterschieden zwischen ihren Industrie-, Handels- und Währungspolitiken lässt sich das Wechselspiel von In-novationen und Institutionen deutlicher und realitätsnäher aufzeigen.

Ein Beispiel sind die Innovationen im Bereich der Informations- und Kommuni-kationstechnologien, die in den letzten beiden Jahrzehnten die Welt verändert haben. Hier sind insbesondere die Mobiltelefonie und das Internet herauszuhe-ben. Diese Basisinnovationen haben in Verbindung miteinander die relativen Preise in vielen Bereichen verändert. Indem sich die Informations- und Kommu-nikationskosten drastisch verringert haben, sind weitere Innovationen in nachge-lagerten Märkten ermöglicht worden. So hat das Internet zu neuen Formen der Preisbildung und Vermarktung in vielen Dienstleistungsbranchen geführt, z.B. im Finanzsektor und Reiseverkehr. Im Verbund mit der Mobiltelefonie hat es in weiten Teilen der Weltwirtschaft den Arbeitsalltag und (zumindest implizit) auch das Lohn-Leistungs-Gefüge verändert. Direkter wahrnehmbar stiegen die Gehälter von IT-Spezialisten auf dem vorgelagerten Arbeitsmarkt, während die Gehälter in traditionellen Telekommunikations- und Postunternehmen unter Druck gerieten. Schützende Monopole für Briefdienstleistungen, die in Deutsch-land und anderen Ländern lange Bestand hatten, sind durch die Innovation Inter-net wirtschaftlich weitgehend obsolet geworden. Vor allem aber war das Internet vom Beginn seiner kommerziellen Nutzung an international. Und auch die Mo-biltelefonie wird seit ihrem Beginn durch transnationale Konzerne geprägt.

Die Mobiltelefonie und das Internet sind aber nicht allein durch Marktprozesse entstanden. Sie sind institutionell gefördert worden. Das Internet wurde vom amerikanischen Militär entwickelt, um im Falle eines Atomkriegs durch verteilte Kommunikation weiterhin Daten übertragen zu können. Die Infrastruktur des Internets wurde von staatlichen Forschungsinstitutionen (wie z.B. der NASA) und Universitäten betrieben und finanziert. Bis zur Mitte der 1990er Jahre war der Zugang zum Internet noch ein kostspieliges Vergnügen. Einwahlknoten exis-tierten nur in einigen Städten und die Gebühren für Ferngespräche waren hoch. Bei den damaligen Preisen hätte sich das Internet wohl ebenso wenig durchge-setzt wie der Lohner-Porsche, der angesichts der unzureichenden Stromversor-gung und hohen Strompreise im frühen 20. Jhdt. nicht marktgängig werden

EINFÜHRUNG

Page 14: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 14

konnte. Die Deutsche Post hatte zudem mit BTX ein durch ihr Monopol ge-schütztes Konkurrenzprodukt, das sie flächendeckend vermarkten wollte. Im Zuge der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und der generellen Dere-gulierungstendenzen folgte jedoch die Liberalisierung des Telekommunikations-marktes in Deutschland und anderen Ländern. Sie führte zur Privatisierung staatlicher Telekommunikationsbetriebe und zur Entstehung privatwirtschaftli-cher Konkurrenz über nationale Grenzen hinweg. Netzwerkeffekte und innovati-ve Preisstrategien verhalfen der Mobiltelefonie und dem Internet zum Durchbruch gegenüber der Festnetztelefonie, der Post und anderen Kommunika-tionsträgern. Andererseits trugen sie zur Entstehung oligopolistischer Markt-strukturen bei, die neue Regulierungen nach sich zogen. Die Märkte sind international stark umkämpft und die gesetzlichen Regelungen und Standortkon-kurrenzen der beteiligten Staaten stecken voller Konflikte. Zwei einschlägige Beispiele sind die Übernahmeschlacht zwischen Vodafone und Mannesmann im Jahre 2000 und der Streit um die Standortförderung von Nokia in Bochum ange-sichts der Verlagerung der Produktion nach Rumänien im Jahre 2008.

Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen technischer und organisatori-scher Innovationen sind zum Zeitpunkt ihrer Durchsetzung häufig umstritten. Im Nachhinein werden sie überwiegend als notwendig und sinnvoll betrachtet. Doch musste es immer so kommen, wie es kam? Fördern alle Innovationen den Wohlstand und die Wohlfahrt der Gesellschaft? Setzen sich stets die guten Inno-vationen durch, während die schlechten Innovationen scheitern? Welche Rolle spielen die Politik, das Rechtswesen, das Bildungswesen, das Geld- und Finanz-wesen und andere Institutionen? Die vorliegenden Studienmaterialien zeigen auf, wie solche Fragen mit den analytischen Instrumenten volkswirtschaftlicher Theo-rien systematisch behandelt und empirisch untersucht werden können.

Die Innovationsökonomie ist eine Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre (VWL), die zum einen bislang noch ein Außenseiterdasein führt und zum anderen eine Querschnittsdisziplin bildet. In ihrem gegenwärtigen theoretischen Kern beruht die VWL nämlich auf einem Referenzmodell des allgemeinen Marktgleichge-wichts, in dem Innovationen allenfalls als „Störfaktoren“ Platz haben, deren Wir-kungen sich prinzipiell nicht von denen anderer exogener Datenänderungen unterscheiden. Die spezifischen Mechanismen der Entstehung und Wirkung von Innovationen in Marktsystemen werden daher nur in Teildisziplinen betrachtet, die das Referenzmodell für ihre Fragestellungen erheblich modifizieren. Es han-delt sich hierbei vor allem um die Industrieökonomik, die Wachstumstheorie sowie die Theorie des internationalen Handels. Grundlegende Bausteine der In-novationsökonomie muss man sich aus einem Querschnitt durch diese Teildis-ziplinen zusammensuchen.

Die Kapitel der vorliegenden Materialien teilen sich daher in zwei Gruppen auf: Die Kapitel 1-4 stellen die historischen und theoretischen Grundlagen der Innova-tionsökonomie dar. Die Kapitel 5-10 behandeln Themen der Innovationsökono-

EINFÜHRUNG

Page 15: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 15

mie, die aus volkswirtschaftlicher, insbesondere makroökonomischer und wirt-schaftspolitischer Sicht zentrale Bedeutung haben.

Kapitel 1 gibt zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Theo-rien der wirtschaftlichen Entwicklung, in denen ein enger Zusammenhang von Innovationen, Wirtschaftswachstum und internationalen Wirtschaftsbeziehungen hergestellt wird. Diese älteren Theorien sind für sich genommen lehrreich und anschaulich; ihre Einbeziehung in das Modellgerüst der modernen Volkswirt-schaftslehre bringt allerdings Schwierigkeiten mit sich, die in verschiedenen Lite-raturzweigen der modernen Innovationsökonomie thematisiert werden. Einige dieser Zweige werden hier kurz vorgestellt. Kapitel 2 erläutert einige Grundbegrif-fe der Innovationsökonomie, die im Wesentlichen aus der mikrotheoretischen Industrieökonomik stammen, aber auch für makroökonomische Betrachtungen von Wachstum und internationalen Wirtschaftsbeziehungen von Bedeutung sind. Die Kapitel 3 und 4 behandeln Innovationen aus den Perspektiven der wichtigsten Theorien des Wirtschaftswachstums und des internationalen Handels.

Nach der Aneignung des analytischen Bestecks in den Grundlagenkapiteln folgt im zweiten Teil der Studienmaterialien die Anwendung des Bestecks auf innova-tionsökonomische Themen, die in der Öffentlichkeit, aber auch unter Experten immer wieder kontrovers diskutiert werden. In Kapitel 5 geht es um die Frage, wie weit der Schutz geistigen Eigentums reichen sollte, damit die gesamtwirt-schaftliche Wohlfahrt maximiert wird. Zum einen bilden die temporären Mono-polgewinne, die sich innovatorische Unternehmen durch Patente und andere rechtliche und marktliche Exklusivitätsstrategien sichern können, einen Anreiz zu verstärkter Forschung und Entwicklung. Zum anderen kann der Schutz geisti-gen Eigentums zu einem Innovationshemmnis werden, weshalb selbst unter pri-vatwirtschaftlich operierenden Entwicklern ein Interesse an freiem Zugang zu Innovationen und eine Beteiligung an der Open Source-Bewegung zu beobachten ist. Die Rechtssysteme verschiedener Länder unterscheiden sich im Hinblick auf den Schutz geistigen Eigentums. Die hieraus entstehenden Interessenkonflikte und privatwirtschaftliche Antworten durch transnationale Standardsetzung wer-den ebenfalls in diesem Kapitel betrachtet.

Kapitel 6 behandelt unter dem Stichwort „technologische Arbeitslosigkeit“ ein Thema, das seit den Anfängen der Industrialisierung kontrovers diskutiert wird: Kostet der technische Fortschritt mehr Arbeitsplätze als er schafft? Wie verläss-lich sind die marktwirtschaftlichen Mechanismen, die eine Freisetzung von Men-schen durch Maschinen und andere Innovationen kompensieren? Welche relativen Anteile haben der technische Fortschritt und die Globalisierung an den beobachtbaren Einkommens- und Arbeitsplatzverlusten von gering qualifizierten Arbeitnehmern in Deutschland und anderen führenden OECD-Ländern?

Während in Kapitel 6 der internationale Güterhandel als Transmissionsriemen von Freisetzung und Kompensation im Vordergrund steht, geht es in Kapitel 7 um den internationalen Kapitalverkehr, der im Wege von Direktinvestitionen

EINFÜHRUNG

Page 16: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 16

Produktionsstandorte verlagert. Auch hier stellt sich die Frage, ob solche Stand-ortverlagerungen die Beschäftigung in der Herkunftsregion letztendlich reduzie-ren, sichern oder gar erhöhen. Des Weiteren wird in diesem Kapitel der Strukturwandel in der internationalen Arbeitsteilung analysiert, der mit Innova-tionen im Outsourcing & Offshoring einhergeht.

In Kapitel 8 findet ein weiterer Wechsel der Perspektive statt. Während im vor-hergehenden Kapitel Standortverlagerungen aus Sicht der Unternehmen und ihrer Herkunftsregionen betrachtet werden, geht es in diesem Kapitel um die Zielregionen. Clusterbildungen von Unternehmen gleicher und komplementärer Branchen bringen Ballungs- und Fühlungsvorteile mit sich, die in der Regel ein innovatives Klima erzeugen. Selbstverstärkende Prozesse der Agglomeration er-zeugen Clusterphantasien bei Politikern, die durch gezielte Wirtschaftsförderung die Region stärken wollen. Das Kapitel behandelt grundlegende Ansätze der Wirtschaftsgeographie zur Modellierung von Clusterbildungen und Agglomerati-onen. Es schließt mit einer kritischen Würdigung regionalpolitischer Entwick-lungsstrategien.

Die Politikerphantasie, die der Clusterphilosophie auf nationaler Ebene ent-spricht und die Bedeutung von Innovationen betont, heißt: „internationale Wett-bewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft“. In Kapitel 9 wird anhand von grundlegenden Zusammenhängen der Zahlungsbilanzen und Wechselkurse ge-prüft, ob es Sinn macht, ganze Volkswirtschaften so zu betrachten, als seien sie einzelne Unternehmen oder Branchen. Das exportorientierte Wachstumsmodell Deutschlands wird unter den Gesichtspunkten seiner Innovationsdynamik und seiner stabilitätspolitischen Probleme analysiert.

Auch bei ABS und CDS bzw. Asset Backed Securities (Verbriefungen von Hypothe-ken, Kreditkartenschulden u.ä.) und Credit Default Swaps (Kreditausfallversicherun-gen) handelt es sich um Innovationen. Finanzinnovationen sind allerdings die umstrittenste Kategorie unter den Produktneuerungen. In der innovationsökono-mischen Literatur werden sie häufig gar nicht mitbehandelt. Dabei kann man durchaus von einer gewissen Komplementarität von technologischen und finanzie-rungstechnischen Innovationen ausgehen. In Kapitel 10 werden einige relevante Arten von Finanzinnovationen aus den Verhältnissen von Risiko und Regulierung an Finanzmärkten abgeleitet und im Hinblick auf ihre Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch zu deren Destabilisierung diskutiert.

Das abschließende Kapitel 11 schlägt noch einmal einen Bogen zu den „drei Is“ dieses Moduls: Innovationen, Institutionen und Internationale Wirtschaftsbezie-hungen. Es deutet resümierend an, wie die Themen der verschiedenen Kapitel und die unterschiedlichen Positionen in den betreffenden Kontroversen unter innovati-onsökonomischen Gesichtspunkten miteinander verbunden werden können.

EINFÜHRUNG

Page 17: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

EINFÜHRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 17

Lernziele und Aufbau des Moduls Mit den Hinweisen aus den vorherigen Abschnitten sind die Lernziele dieses Mo-duls im Grunde schon anhand der einzelnen Kapitelbeschreibungen umrissen. Allgemeiner ausgedrückt sollen Sie nach Absolvieren des Moduls über Kenntnisse volkswirtschaftlicher Theorien verfügen, die es Ihnen erlauben, gesamtwirtschaftli-che Einflussfaktoren von Innovationsprozessen und -hemmnissen einzuschätzen und die Qualität diesbezüglicher Expertenmeinungen und Beratungsangebote zu beurteilen. Sie sollten dann in der Lage sein,

grundlegende Zusammenhänge von gesamtwirtschaftlicher Produktion, Kapi-talbildung und Produktivitätsentwicklung zu verstehen und Produkt- sowie Prozessinnovationen in diese Zusammenhänge einzuordnen,

Wechselwirkungen zwischen Veränderungen von Handelsströmen und Kapi-talbewegungen zu erfassen und in ihren Auswirkungen auf Innovationen und Technologietransfer abzuschätzen,

gesamtwirtschaftliche Einflussfaktoren von Standortentscheidungen und Clusterbildungen zu systematisieren sowie die Aussagekraft diesbezüglicher Prognosemodelle zu überprüfen,

elementare Zusammenhänge von Innovationsprozessen und Stabilitätsrisiken auf Finanzmärkten zu verstehen sowie

Aussagen über innovationsrelevante Aspekte von Wirtschaftspolitik auf nati-onalen sowie inter-, supra- und transnationalen Ebenen kritisch einzuordnen.

Da die Kapitel des Moduls aufeinander aufbauen, sollten Sie bei der Erarbeitung der Materialien die vorgegebene Reihenfolge einhalten. In jedem Falle sollten Sie alle Grundlagenkapitel durcharbeiten; bei den Themenkapiteln können Sie nach Ihren Präferenzen wählen, wobei der Gesamtzusammenhang sicherlich besser verständlich wird, wenn sie alle lesen.

Die vorliegenden Studienmaterialien zu Innovationen und internationalen Wirt-schaftsbeziehungen haben die gleiche Struktur wie die Materialien anderer Module des Masterstudiengangs Innovationsmanagement. Die einzelnen Kapitel gliedern sich in die jeweilige Angabe der Lernziele, den Basistext, Aufgaben zur Lernkon-trolle und weiterführende Literaturhinweise. Am Ende des Moduls finden Sie ein Glossar sowie eine Liste der empfohlenen Literatur und Internet-Links zur Ver-tiefung.

EINFÜHRUNG

Page 18: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

KAPITEL 1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG (GRUNDLAGEN I)

“The invention of all those machines by which labour is so much facilitated and abridged, seems to have

been originally owing to the division of labour.”

(ADAM SMITH, Wealth of Nations, 1776)

Lernziele des Kapitels 1

Nach Bearbeitung dieses Kapitels sollten Sie in der Lage sein

die Rolle von Innovationen in der Entwicklung ökonomischer Theorien zu verstehen,

die Herkunft zentraler Begriffe der Innovationsökonomie zu erkennen,

die moderne Innovationsökonomie in den Gesamtkontext der Volks-wirtschaftslehre einzuordnen.

Page 19: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 19

1 SCHÖPFERISCHE

ZERSTÖRUNG

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG Schon in der Bibel steht geschrieben… So fangen viele Geschichten an, und so auch diese. Denn schon in der „Bibel der Ökonomen“ steht, dass Innovationen und internationale Wirtschaftsbeziehungen wesentlich zum Wirtschaftswachs-tum beitragen. In seiner klassischen „Untersuchung über die Natur und Ursa-chen des Wohlstands der Nationen“ betonte der schottische Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith nämlich bereits 1776, dass es einen positiven Zusammen-hang von freiem Handel und technischem Fortschritt gebe. Durch das Wechsel-spiel von Spezialisierung, Produktivitätssteigerung und Kapitalvermehrung führe dieser Zusammenhang zur weltweiten Ausdehnung und Verflechtung der Märk-te. Somit erkannte Smith lange vor den Wellen der Industrialisierung und Globa-lisierung im 19. und 20. Jahrhundert, dass Innovationsprozesse und grenz-überschreitende Transaktionen eng miteinander verbunden sind.

Dennoch hat sich die Ökonomie in der Entwicklung zu den Erklärungs- und Prognosemodellen der heutigen Volkswirtschaftslehre (VWL) mit der systemati-schen Einbeziehung von Innovationen schwer getan. Wie in der Einführung angedeutet, besteht die moderne Innovationsökonomie aus einer Mischung von Theorien, die teils aus Modifikationen des Standardmodells der neoklassischen Gleichgewichtstheorie entstanden sind und teils aus anderen Traditionen. In diesem Kapitel folgt ein kurzer Überblick über die theoriegeschichtliche Entwick-lung bis zur heutigen Innovationsökonomie.

Warum so viel Geschichte? Innovationen sind doch Neues, auf die Zukunft Ge-richtetes. Aber auch das Alte war einmal neu. Die Technologien und Organisati-onsformen von heute sind die Innovationen von gestern. Ihre Geschichte bietet Anschauungsmaterial und empirische Daten zur Überprüfung aktueller Hypothe-sen und zur Erstellung von Prognosen. Die Theorien der Vergangenheit helfen oft durch ihre relative Einfachheit und Klarheit, heutige Kontroversen einzuordnen und zu bewerten. Zudem werden in der Literatur Etiketten mit historischen Bezügen – wie z.B. „neoklassische“ oder „neoschumpeterianische“ Wachstums-theorie – häufig als Abkürzungen für Theoriebausteine benutzt, deren Zusam-menhang man besser versteht, wenn man ihren Ursprung kennt. In diesem Sinne bilden die historischen Beispiele und Theorien aus diesem Kapitel reichlich Mate-rial für Veranschaulichungen und Rückbezüge in den folgenden Kapiteln.

Es gibt kein treffenderes Motto für die volkswirtschaftliche Sichtweise auf Inno-vationen als den Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ (creative destruction). Er stammt von Joseph Alois Schumpeter, dem Schutzpatron der Innovationsökonomie (siehe auch das der Einführung vorangestellte Zitat). Die Schumpetersche Figur des „innovativen Unternehmers“ ist Ihnen sicher schon in dem einen oder ande-ren betriebswirtschaftlichen Modul begegnet (etwa in den „Grundlagen“ oder in „Entrepreneurship“). Sie ist die treibende Kraft des Strukturwandels in Schumpe-ters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1911), die den Dreh- und An-

Page 20: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 20

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

gelpunkt zwischen den hier vorgestellten klassischen Theorien und der modernen Innovationsökonomie bildet. Der Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ drückt die Ambivalenz des Strukturwandels aus, der von innovativen Unternehmern ausgelöst wird. Technische und organisatorische Neuerungen, die sich am Markt durchsetzen, bedeuten aus volkswirtschaftlicher Sicht im Allgemeinen Steigerun-gen von Wohlstand und Wohlfahrt. Indem der Fortschritt diverse Produkte und Verfahren obsolet macht, vernichtet er aber auch Einkommen und Vermögen. Er erzeugt somit regelmäßig Verlierer und gelegentlich sogar Verluste für die All-gemeinheit (z.B. durch Umweltschäden oder massive Konflikte).

Aufgabe der Innovationsökonomie ist somit nicht allein das Aufzeigen der Bedin-gungen, die das Innovationsklima fördern oder behindern. Sie hat auch zu prüfen, was einzel- und gesamtwirtschaftlich durch Innovationsprozesse gewonnen wird und was verloren geht. Die Entwicklungsgeschichte der Volkswirtschaftslehre ist voller konträrer Ansichten über die Natur des technischen Fortschritts und seine Nettoeffekte. Auch stellt die Theoriegeschichte selbst einen Prozess „schöpferi-scher Zerstörung“ dar. Methodische Fortschritte wurden mitunter mit inhaltli-chen Rückschritten erkauft. Neben den Erkenntnisgewinnen waren und sind immer wieder Verluste von guten Ideen und beachtenswerten Fragestellungen zu verzeichnen. Die Vernachlässigung von Innovationen in der Standardtheorie ist hierfür ein deutliches Beispiel, das im Folgenden näher erläutert wird. 1.1 Theorien der wirtschaftlichen Entwicklung In aller Regel wird Smiths Wealth of Nations (1776) als Ausgangspunkt der klassi-schen Politischen Ökonomie und somit des modernen wirtschaftswissenschaftli-chen Denkens betrachtet.1 Im Hinblick auf Innovationen und internationale Wirtschaftsbeziehungen wird diese Betrachtungsweise der Sache aber nicht ganz gerecht. Denn Smiths Buch über den Wohlstand der Nationen hat seine Vorge-schichte im Merkantilismus, den es heftig kritisierte. 1.1.1 Merkantilistische Innovationspolitik Der Merkantilismus ist eine „Entwicklungsphilosophie“, die die parallele Entste-hung von Nationalstaaten und Weltmärkten für Massengüter vom 16. bis 18. Jahrhundert begleitete. Zwar bildete er im Grunde nur eine lockere Ansammlung von Lehrmeinungen, statistischen Werkzeugen und politischen Konzepten. Doch er repräsentiert bis heute ein Zeitalter bedeutender kommerzieller und techni-scher Innovationen, die durch frühe Spielarten der Industriepolitik gefördert

1 Eine umfassendere und dennoch kurzgefasste Geschichte des wirtschaftswissenschaftlichen Den-

kens bieten Sandelin, Trautwein & Wundrak (2008).

Page 21: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 21

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

wurden. Viele Landesfürsten hatten damals entdeckt, dass die Erhebung von Geldsteuern und Ordnung der Staatsfinanzen nach kaufmännischen Gesichts-punkten eine ausbaufähigere Machtbasis bot als das althergebrachte System der Naturalabgaben, die man Selbstversorgern abpresste. Die Obrigkeiten förderten die Entwicklung des Geld- und Kreditwesens, Handels, Bergbaus und der Manu-fakturen, um ihre Steuerbasis zu verbreitern. Es war eine Blütezeit der Mechanik, die aber auch etliche Finanzinnovationen sah, wie z.B. die Banknote, den indos-sierbaren Wechsel und die fungible Aktie. Einige analytische Innovationen des merkantilistischen Zeitalters haben bis heute Bestand, so zum Beispiel:

Zahlungsbilanzen, mit denen die Transaktionen eines Wirtschaftsraums (Staat, Region) mit dem Rest der Welt erfasst werden, und

Modelle von Einnahmen-Ausgaben-Kreisläufen, die die Grundlage Volkswirt-schaftlicher Gesamtrechnungen und makroökonomischer Theorien bilden.

Die Devise des Merkantilismus lautete, dass der Staat wie ein Kaufmann (mer-chant) agieren und durch geschicktes Management seiner „Volkswirtschaft“ einen möglichst großen Haushaltsüberschuss erzielen solle. So wurde im Außenhandel versucht, mit Hilfe von Einfuhrzöllen und anderen protektionistischen Maßnah-men Exportüberschüsse zu erzielen, die mehr Geld ins Land bringen sollten als für Importe abfloss. Handels- und Bergbaukompanien sowie andere Unterneh-mungen, die ihr Kapital einsetzten, um neue Märkte und Ressourcen zu erschlie-ßen, erhielten gegen entsprechende Steuerzahlungen Monopolprivilegien. 1.1.2 Smiths Innovationsspirale

Adam Smith (1776) wandte sich gegen die Lenkung der Wirtschaft durch Zölle, Monopole und andere staatliche Eingriffe in die Marktpreissetzung. Er vertrat die Ansicht, dass sich der reale Wohlstand der Nationen (und damit auch die monetäre Steuerbasis) langfristig erheblich besser entwickle, wenn sich die Preise auf den Märkten in freier Konkurrenz von privaten Anbietern und Nach-fragern bilden. Im Streben nach höchstmöglichem Gewinn würden sich die Unternehmer in Produktion und Handel

auf das spezialisieren, was sie am besten anbieten können – neudeutsch ausge-drückt: auf ihre „Kernkompetenzen“. Dies gelte nicht nur für einzelne Unter-nehmen, sondern auch für ganze Volkswirtschaften und den Handel zwischen ihnen. Die Spezialisierung in lokaler und internationaler Arbeitsteilung führe zum einen zur Ausdifferenzierung und Entwicklung neuer Produkte, zum ande-ren zu effizienteren Produktionsprozessen dank neuer Werkzeuge und Maschi-nen. In heutiger Fachsprache ausgedrückt kommt es somit nach Smith zu organisatorischen Prozessinnovationen, die durch technische Produktinnovatio-

Page 22: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 22

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

nen unterstützt werden (siehe Kapitel 2). Die hieraus resultierende Produktivi-tätssteigerung erhöht das Sozialprodukt und ermöglicht die Bildung zusätzlichen Kapitals, weil über den Bedarf für Konsum und Abschreibungen hinaus mehr gespart und investiert werden kann. Die Investitionen gehen in neue Produkti-onsmittel (Inputs), die Stückkosten senken und die Produktqualität erhöhen, sowie in Warenvorräte (Output), die den Umsatz steigern.

Smiths Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung enthält somit einen Circulus Virtuosus, eine Wachstumsspirale, in der Innovationen eine zentrale Rolle spielen (siehe Abbildung 1.1). Im Kontext dieses Moduls ist zweierlei hervorzuheben: Erstens sind Innovationen modellendogen: Der Innovationstakt hängt von der Arbeitsteilung und der Kapitalbildung ab; durch den Produktivitätszuwachs und das Wachstum der Märkte entsteht eine positive Rückkopplungsschleife zu wei-teren Innovationen.2 Zweitens bildet der freie Handel mit anderen Nationen ein Spiel, bei dem alle beteiligten Länder durch Arbeitsteilung Güter hinzugewinnen (neudeutsch: ein win-win-Szenario). Im Merkantilismus war man hingegen von einem Nullsummenspiel ausgegangen, bei dem Staaten mit Exportüberschüssen Geld gewinnen, das andere unweigerlich verlieren. Man kann den Unterschied auch so ausdrücken, dass Smith den internationalen Handel als Hebel zur allsei-tigen Steigerung des Lebensstandards betrachtete, während die (meisten) Mer-kantilisten die Ansicht vertraten, dass Geld die reine Form des Wohlstands bildet, der durch den internationalen Handel lediglich umverteilt wird.

2 Dieser Circulus Virtuosus wird uns als Argumentationsfigur in den innovationsökonomischen und

strukturpolitischen Zusammenhängen der folgenden Kapitel noch häufiger begegnen. Insofern könnte man Adam Smith auch als Urahnen der Innovationsökonomie bezeichnen.

A bb. 1.1 Smiths Wachstumsspirale

Page 23: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 23

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

1.1.3 Ricardo über komparative Kosten, Renten und Maschinerie

Smiths Entwicklungstheorie wurde von David Ricardo, einem englischen Börsenmakler und Ökonomen, in seinen Principles of Political Economy, and Taxation (1817) präzisiert und modifiziert. Ricardos bekanntesten Beitrag bildet die Theorie der kompara-tiven Kosten (siehe auch Kapitel 4). Sie zeigt, dass eine Volkswirtschaft durch Spezialisierung und Außenhandel selbst dann reale Zugewinne erzielen kann, wenn sie alle Waren im Inland günstiger produzieren könnte als die Handelspartner. Damit erhöhte Ricardo die Reichweite von Smiths Plädoyer für freien, von Zöllen unbehinderten Handel ganz erheblich. In

Bezug auf Innovationen sind vor allem zwei weitere Beiträge Ricardos von Belang: seine Theorie der Grundrente und seine Überlegungen zur Entstehung technologi-scher Arbeitslosigkeit.

In der Tradition der klassischen Politischen Ökonomie ging Ricardo von drei Produktionsfaktoren aus: Arbeit, Boden und Kapital. Bei freier Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt tendieren die Faktorpreise für Arbeit zu einem einheitlichen Lohnsatz (bei vergleichbarer Arbeit). Gleiches gilt für die Profitraten als Faktor-preise für den Kapitaleinsatz. Indem Kapital dort investiert wird, wo es den höchsten Ertrag verspricht, werden überdurchschnittliche Gewinne wegkonkur-riert, die Gewinne aber andererseits dort steigen, wo Kapital knapp ist. Die Ten-denz zur Angleichung der Profitraten besteht unabhängig von der Größe des Marktsystems. Mit der Grundrente verhält es sich jedoch anders: Mit zunehmen-der Ausdehnung der Märkte steigen die Differenzen zwischen den Pachten für besseres und schlechteres Land. Denn bessere Böden werfen bei gleichem Kapi-taleinsatz einen höheren Ertrag ab, werden stärker nachgefragt und erzielen daher eine höhere Rente. Ricardos Wachstumsprognose lässt sich in eine einfa-che Formel fassen: Das Sozialprodukt steigt bis zu dem Punkt, an dem der Ertrag des jeweiligen „Grenzbodens“ gerade noch den Aufwand deckt. Anders ausge-drückt: Die Ökonomie wächst bis zu dem Punkt, an dem das Grenzprodukt den Grenzkosten entspricht, die in den Marktpreisen erlöst werden können. Auf dem Grenzboden geht die Grundrente gegen Null, weil dort nur noch die Subsistenz-löhne und die durchschnittliche Profitrate erwirtschaftet werden. Aus Ricardos Rententheorie stammt auch das nach wie vor vielzitierte Gesetz des abnehmen-den Grenzertrags: Mit zunehmendem Arbeits- bzw. Kapitaleinsatz auf vorgege-benem Land sinken die zusätzlichen Ausbringungsmengen.3

3 Wie wir noch sehen werden, liegt dieses Gesetz nicht nur der neoklassischen Wachstumstheorie

zugrunde (siehe Kapitel 3), sondern bildet in vielen Zusammenhängen einen Referenzpunkt für innovationsökonomische Überlegungen.

Page 24: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 24

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

Anders als in Smiths Entwicklungstheorie werden Innovationen in Ricardos Rententheorie eher als exogene Einflüsse behandelt, die die Grenzen der Produk-tion erweitern und das Sozialprodukt erhöhen. Ein „bodennahes“ Beispiel ist die die Urbarmachung von fruchtbarem Marschland, das durch die Entwicklung von Entwässerungstechniken, schweren Pflügen und mechanischen Antrieben vom unbrauchbaren Sumpf zur hochrentablen Pachtquelle avancierte.

Ricardo war zugleich einer der ersten Ökonomen, die stringent nachwiesen, dass Innovationen negative Auswirkungen auf das Sozialprodukt und die Beschäfti-gung haben können. Hierbei behandelte er die Rate des technischen Fortschritts als eine endogene Variable, die von der Kostenkonkurrenz zwischen Arbeitern und Maschinen abhängt: Wenn die Löhne steigen oder Maschinen erfunden werden, die kostengünstiger produzieren, wird Arbeitskraft durch Maschinerie ersetzt. Unter dem Eindruck von Aufständen englischer Textilarbeiter, die aus Angst um ihren Lebensunterhalt Maschinen zerstörten („Ludditen“ bzw. „Ma-schinenstürmer), schränkte Ricardo in der dritten Auflage seiner Principles (1821, Kap. 31) seinen zuvor vertretenen Fortschrittsoptimismus ein. Anhand von nu-merischen Beispielen zeigte er, dass es durch die Einführung neuer Maschinen zur Freisetzung von Arbeitskräften und technologischer Arbeitslosigkeit kommen kann. Er führte zugleich an, dass durch die Innovationsgewinne zusätzliches Kapital gebildet wird, das zu „kompensierender Nachfrage“ führt, durch die sich die Beschäftigung mittelfristig wieder erhöht.

Schon Ricardo betrachtete somit den technischen Fortschritt als einen Prozess schöpferischer Zerstörung.4 Unter dem Gesichtspunkt der Standortkonkurrenz argumentierte er gleichwohl gegen jede innovationsfeindliche Politik. Nicht nur in dieser Passage ist dieser Klassiker im Original nach wie vor lesenswert:

“The employment of machinery could never be safely discouraged in a State, for if a capital is not allowed to get the greatest net revenue that the use of machinery will afford here, it will be carried abroad, and this must be a much more serious discouragement for labour, than the most extensive employment of machinery.”

(Ricardo [1821] 1951, S. 396) 1.1.4 Lists Innovationsrecht der Nachzügler Während Smith und Ricardo die allseitige Vorteilhaftigkeit des Freihandels betonten, propagierte der deutsche Volkswirt Friedrich List in seinem Buch über Das nationale System der Politischen Oekonomie (1841) den Einsatz von Schutz- und Erziehungszöl-len, um Innovationsprozesse in weniger entwickelten Nationen zu ermöglichen. List kritisierte die „naive Sicht“ der Klassiker, in der Nationen Gemeinschaften von Ein-

4 Die Nettobeschäftigungseffekte von Innovationen werden in Kapitel 6 näher betrachtet.

Page 25: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 25

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

zelnen bilden, die alle von Arbeitsteilung und freiem Handel profitieren. In Wirklichkeit müsse man (ähnlich wie bei den Merkantilisten) von Nationen als zentralen Akteuren der Volkswirtschaftslehre ausgehen, da die Produktivkräfte der im nationalen Verband operierenden Industrien stärkere Wirkung hätten als die bloße Arbeits-teilung der Einzelnen. Zu den Produktivkräften zählte List neben Arbeit, Boden und Kapital auch die Wissenschaft, die Kunst, die soziale Ordnung und den Grad der Freiheit – eine Sichtweise, die in der modernen Institutionenöko-

nomik ihren Widerhall findet. Nach Lists Ansicht fördert Freihandel die institutio-nellen Rahmenbedingungen lediglich auf den niedrigsten und höchsten Entwick-lungsstufen. Auf den dazwischenliegenden Stufen können sich die Produktivkräfte nationaler Industrien nur dann entfalten, wenn sie durch Einfuhrzölle eine Zeit lang vor übermächtiger Konkurrenz aus weiter entwickelten Ländern geschützt werden. Mit Hilfe der Schutzzölle könnten Industrien in weniger entwickelten Ländern durch ihr Wachstum auf den heimischen Märkten Größen- und Verbundvorteile nutzen. Auf diese Weise könnten sie allmählich international konkurrenzfähig werden, aber auch technische und institutionelle Neuerungen realisieren, die durch ausländische Konkurrenz verhindert worden wären. Die Zölle hätten somit die Funktion der „industriellen Erziehung der Nation“ und würden sich schließlich selbst überflüssig machen. Anhand von historischen Beispielen argumentierte List, dass protektionisti-sche Handelspolitik ein „Naturrecht der Nachzügler“ sei, um deren Innovationskraft freizusetzen – ein Argument, das auch heutzutage in vielfältiger Form zum Einsatz kommt.5

In Deutschland entwickelte Lists Argumentation besondere Überzeugungskraft, weil sie mit dem Aufstieg des Landes zu einer modernen Industrienation verbun-den war. List war Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Handels- und Ge-werbevereins (1819), des ersten Unternehmerverbands, und er wurde zum Wortführer im Deutschen Zollverein, dem handelspolitischen Zusammenschluss deutscher Bundesstaaten (ab 1833). Er plädierte für die Abschaffung der vielen Zollschranken innerhalb Deutschlands und eine einheitliche Zollpolitik gegen-über dem Ausland. Seine Theorie der Erziehungszölle schien sich unter anderem mit der Geschichte des Etiketts Made in Germany zu bestätigen. Denn die Politik des Zollvereins förderte den Aufbau junger Industrien in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, insbesondere im Maschinenbau, zu jener Zeit noch eindeutig eine britische Domäne. Als deutsche Maschinen in den 1860er Jahren bei Indus-trieausstellungen Aufsehen erregten, setzten britische Unternehmensverbände eine gesetzlich verpflichtende Kennzeichnung deutscher Produkte durch, mit der vor minderwertigen Imitationen gewarnt werden sollte. Wenige Jahrzehnte spä-ter war aus dem Warnzeichen ein dauerhaftes Qualitätssiegel geworden.

5 Hierzu siehe insbesondere Kapitel 9.

Page 26: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 26

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

1.1.5 Kapitalistische Innovationsdynamik nach Marx

Ein anderer deutscher Politökonom übte noch schärfere Kritik an den britischen Klassikern, indem er deren Positio-nen zum technischen Fortschritt radikalisierte. Karl Marx verwarf Ricardos Vermutung, dass Marktsysteme auf ein langfristiges stationäres Gleichgewicht zustreben. Im dritten Band seines Hauptwerks, Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie (1894 posthum veröffentlicht), vertrat er die Ansicht, dass Kapitalakkumulation und technischer Fortschritt im Verbund miteinander zu Konjunkturzyklen

und zum „tendenziellen Fall der Profitrate“ führen. Der zunehmende Einsatz von Maschinen und anderer Technik erhöhe die Kapitalintensität (den Kapitaleinsatz pro Arbeitsstunde) und senke damit den relativen Überschuss, der sich bei gleichem (oder geringerem) Arbeitseinsatz auf das investierte Kapital erzielen lasse. Der Verfall der Profite könne durch Stückkostensenkungen aufgehalten werden, die aber in der Regel nur mittels weiterer Mechanisierung, größerer Produktmengen und/oder Lohnsenkungen zu bewerkstelligen seien. Durch Rationalisierung wach-se die „industrielle Reservearmee“ von Arbeitslosen, durch Lohnsenkungen sinke auch die Kaufkraft der werktätigen Massen. Beides führt in der Marxschen Theorie zu Zyklen von Überproduktion und entsprechenden Absatzkrisen.6 Nachfrage-überhänge und Angebotsüberschüsse wechseln einander ab.

Anders als Ricardo, der ein Sinken der Profitrate auf dem Weg zum stationären Endgleichgewicht ebenfalls in Betracht gezogen hatte, ging Marx davon aus, dass die zunehmende „Verelendung der Massen“ schließlich eine Revolution hervorrufe, in der die kapitalistische Produktionsweise abgeschafft würde. Diese Untergangsprog-nose hat sich bislang nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die Innovationskraft des Kapitalismus hat offenkundig einer allgemeinen Verelendung entgegengewirkt und den Lebensstandard in etlichen Weltregionen seit Ende des 19. Jahrhunderts be-trächtlich erhöht.7 Immerhin hat Marx aber auch deutlicher als die meisten Ökono-men vor und nach ihm die Innovationskraft von Wirtschaftssystemen betont, in denen das Streben nach überdurchschnittlichen Gewinnen und Kapitalvermehrung die Antriebskraft bildet. Mit seiner innovativen Analyse der Verflechtungen der Kapi-tal- und Konsumgüterindustrien, die in den „Reproduktionsschemata“ des zweiten Kapital-Bandes (1885, Kap. 21) enthalten ist, zeigte Marx grundlegende Kreislaufzu-sammenhänge von Kapitalerhaltung und Kapitalbildung auf. Damit trug er zur Ent-wicklung der Input-Output-Analyse bei, die heute ein wichtiges Instrument für die

6 Die Theorien von Smith, Ricardo und Marx können hier nur grob skizziert werden. Für eine

tiefergehende Einführung, die die Modernität jener Klassiker verdeutlicht, siehe Kurz (2009). 7 Die Prognose der Abschaffung des Kapitalismus traf hingegen mit der Entstehung der Sowjetunion

und ihrer Einflusssphären nach 1917 partiell ein. Das Nachhinken des Lebensstandards in diesen Weltregionen hat aber um 1990 zur Wiedereinführung des Kapitalismus geführt. Ob die Spielart des chinesischen „Marktsozialismus“ eine echte Systeminnovation darstellt, ist noch umstritten.

Page 27: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 27

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

Untersuchung von Innovationswirkungen und Strukturwandel bildet. Vor allem aber hat Marx eine Theorie geliefert, in der die Dynamik von Kapitalbildung und Innova-tionen durch Ungleichgewichte für Entwicklung sorgt und sowohl das Wirtschafts-wachstum als auch die Konjunkturzyklen endogen aus ein und derselben Ursache erklärt. Diese Idee sollte Schumpeter und andere Ökonomen später inspirieren. 1.1.6 Neoklassische Ausblendung

In den 1870er Jahren ging die ökonomische Forschung zunächst jedoch in eine ganz andere Richtung, nämlich die der neoklassischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die insbesondere von den Lausanner Professoren Leon Walras und Vilfredo Pareto entwickelt wurde. Seit Smith stand die Frage im Raum, ob man stringent zeigen kann, dass eine Marktwirtschaft, in der viele Einzelne getrennt voneinander planen und miteinander konkurrieren, letztlich zu besseren Ergebnissen führt als ein System mit staatlicher Planung und Lenkung. Die klassische Politische Ökonomie bot eine

überschusstheoretische Antwort: Die Jagd nach überdurchschnittlichen Gewinnen bildet bei freiem Wettbewerb einen effizienten Suchmechanismus, der u.a. durch Innovationen das Sozialprodukt steigert. Die Neoklassik setzte hingegen auf einen knappheitstheoretischen Ansatz, der Ricardos Marginalanalyse der Grundrente zum allgemeinen Erklärungsprinzip für alle Güter- und Faktorpreise erhob.8 Das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags wurde auf alle Produktionsfaktoren erweitert: Bei partieller Faktorvariation (z.B. Veränderung des Arbeitseinsatzes bei gegebenem Boden und Kapitalbestand) sinkt das Produkt jeder zusätzlichen Arbeitseinheit wegen der zunehmenden Knappheit von Boden und Kapital. Daraus ergibt sich für alle Faktormärkte die Gleichgewichtsbedingung, dass das Grenzprodukt den Grenz-kosten sowie (bei vollkommener Konkurrenz) dem Marktpreis entspricht.

Die Nachfrage nach Kapital und Arbeit ist wiederum von der Güternachfrage abgeleitet. Wesentlich ist die Annahme, dass die Präferenzen der Konsumenten und der Stand der Produktionstechnologie exogene Daten für die Bestimmung des Marktpreises bilden.9 Unter dieser Annahme lässt sich zeigen, dass der Preis eines Gutes bei vollkommener Konkurrenz der Anbieter und der Nachfrager seinem Grenznutzen und den Grenzkosten seiner Herstellung entsprechen muss. Auf Basis der Extremwertanalyse führten Walras und Pareto in Systemen simul-

8 Diese modifizierende Anknüpfung an die klassische Politische Ökonomie ist ein Grund für die

Bezeichnung „Neoklassik“. Da sich letztere in der Attitüde einer „Sozialphysik“ zunächst auf die „reine Theorie“ des individuellen Rationalverhaltens und allgemeinen Marktgleichgewichts kon-zentrierte, gab sie sich bald den Namen „Ökonomik“ und definierte sich als Wissenschaft von der „effizienten Allokation knapper Ressourcen“.

9 Streng genommen gehört auch noch die Annahme gegebener Ausstattungen der Haushalte mit Produktionsfaktoren hinzu, aber unter bestimmten Bedingungen lassen sich die Faktorausstattun-gen endogenisieren bzw. die Ergebnisse des Modells unabhängig von ihnen herleiten.

Page 28: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 28

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

taner Gleichungen den formalen Beweis der Existenz eines eindeutigen Gleich-gewichts, das die Angebote und Nachfragen auf allen Märkten miteinander in Übereinstimmung bringt. Dieses allgemeine Marktgleichgewicht ist pareto-optimal in dem Sinne, dass durch weitere Transaktionen niemand mehr besser gestellt werden kann, ohne dass jemand anderes schlechter gestellt wird.

Das walrasianische Modell des Allgemeinen Gleichgewichts bildet den Kern der bis heute dominierenden neoklassischen Wirtschaftstheorie. Es ist das Refe-renzmodell der Mikroökonomik (die Sie vielleicht im Bachelorstudium kennenge-lernt haben)10 – und auch weiter Teile der Makroökonomik. Das walrasianische Modell wird trotz seiner restriktiven und realitätsfernen Annahmen verwendet, weil sich aus wenigen Bedingungen und Funktionstermen, die als Prinzipien ökonomischen Rationalverhaltens interpretiert werden, weitreichende Schluss-folgerungen und politische Empfehlungen ableiten lassen. Die Annahmen haben jedoch ihren Preis. Denn den Kern der Neoklassik bildet ein Modell, in dem Innovationen (neben anderen Dingen, wie z.B. Geld) keinen Platz haben:

Der Stand der verfügbaren Technologie wird als gegeben betrachtet; somit lässt sich die Entstehung und Einführung neuer Techniken und Organisati-onsformen (Prozessinnovationen) nicht durch das Modell erklären.

Das Spektrum der marktgängigen Güter und Produktionsfaktoren ist eben-falls exogen gegeben bzw. durch die Annahme vollkommener Information der Marktteilnehmer für alle Ewigkeit bekannt; Produktinnovationen in Form neuer Güter sind somit ebenfalls ausgeschlossen.

Auf jedem Markt werden Güter vollkommen gleicher Qualität gehandelt (Homogenitätsannahme), so dass sich die Analyse auf die Veränderungen von Preisen und Mengen beschränken kann; Qualitätswettbewerb durch in-novative Varianten ist durch diese Annahme ebenfalls ausgeschlossen.

Extragewinne, wie sie z.B. bei Innovationen auftreten können, gibt es im Gleichgewicht nicht; bei vollkommener Konkurrenz sind sie annahmegemäß schon eliminiert, bevor sie überhaupt erst entstehen könnten.

Die Allgemeine Gleichgewichtstheorie ist in ihrem Kern statisch bzw. zeitlos. In der Analyse der Stabilität des Gleichgewichts wird sie zwar dynamisiert, erfasst aber nur Prozesse in logischer Zeit, die reversibel sind. Anders als die klassischen Theorien liefert sie keine Erklärung historischer Entwicklungen und ist in ihrer Reinform für die Analyse von Innovationsprozessen kaum geeignet. In dieser Beziehung fiel die Volkswirtschaftslehre an ihrer Entwicklungsfront für gut hun-dert Jahre hinter den Erkenntnishorizont zurück, den sie im vorhergehenden Jahrhundert gewonnen hatte.

10 Falls Nachholbedarf besteht, bieten sich viele mikroökonomische Lehrbücher an, die in die Gleich-

gewichtstheorie einführen. Eines der gängigsten ist Varian (2007).

Page 29: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 29

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

1.1.7 Schumpeters schöpferische Zerstörung

An den unorthodoxen Rändern der Ökonomenzunft befasste man sich gleichwohl auch im frühen 20. Jahrhundert mit lang-fristiger Entwicklungstheorie. Während Smiths Wealth of Nations (1776) als Bibel der Ökonomen schlechthin gilt, ist Schum-peters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1911) der Klassiker der Innovationsökonomie. Zwar taucht der Begriff der Innova-tion dort noch gar nicht auf, sondern erst in Schumpeters späterem Mammutwerk über Konjunkturzyklen (1939, Kap. IV.B). Doch unter der Bezeichnung „neue Kombinationen von Produktionsmitteln“ hatte Schumpeter seine Theorie der Inno-vation bereits 1911 entwickelt. Er verband die Theorien von Marx und Walras, die er beide bewunderte, zu einer neuen

Kombination von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtstheorie.

Den Ausgangspunkt für Schumpeters Theorie bildet der stationäre „Kreislauf der Wirtschaft“ (1911, Kap. 1): eine Ökonomie, die sich auf Basis derselben Daten ständig gleichbleibend reproduziert. Dies ist die Domäne der statischen Gleich-gewichtstheorie à la Walras. Schumpeters Vorstellung der stationären Ökonomie unterscheidet sich allerdings von den Neoklassikern wie auch der Klassik dahin-gehend, dass sich die Einkommen allein aus Löhne und Grundrenten zusammen-setzen. Es gebe weder Unternehmergewinne noch Zinsen, weil kein zusätzliches Kapital gebildet und kein Kredit benötigt werde; die Eigentümer von Unterneh-men seien allenfalls „statische Betriebsleiter“, die Arbeitslohn beziehen und „im übrigen höchstens Zufallsgewinne machen“ ([1911] 1934, S. 78).

Allerdings entstehe endogen aus dem stationären Kreislauf heraus immer wieder „Entwicklung“, die in Anlehnung an Marx einer dynamischen Theorie bedürfe. Schumpeters Erklärung des „Grundphänomens der wirtschaftlichen Entwick-lung“ (1911, Kap. 2) baut auf drei Elemente, die für Dynamik sorgen: erstens die „neuen Kombinationen von Produktionsmitteln“, zweitens den Unternehmer als Innovator und drittens den Bankkredit als Mittel der entsprechenden „Güterzu-weisung“. Die Innovationen fasste Schumpeter als „spontane und diskontinuier-liche Veränderungen der Bahnen des Kreislaufes und Verschiebungen des Gleichgewichtszentrums“ auf ([1911] 1934, S. 99). Unter Innovationen verstand er die „Durchsetzung neuer Kombinationen“ in fünferlei Hinsicht:

„1. Herstellung eines neuen, d.h. dem Konsumentenkreise noch nicht vertrauten Gutes oder einer neuen Qualität eines Gutes.

2. Einführung einer neuen […] Produktionsmethode, die […] auch in einer neuartigen Weise bestehen kann, mit einer Ware kom-merziell zu verfahren.

3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes […]

Page 30: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 30

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

4. Eroberung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halb-fabrikaten […]

5. Durchführung einer Neuorganisation, wie Schaffung einer Mono-polstellung […] oder Durchbrechen eines Monopols.“

(Schumpeter [1911] 1934, S. 100f)

Was bewirkt die Durchsetzung solcher Innovationen? Nach Schumpeters Ansicht wird der Kreislauf immer wieder durch wagemutige Aktivitäten von „Unterneh-mern“ durchbrochen. Diese bilden keine soziale Klasse, die umstandslos mit den Kapitaleigentümern, den führenden Managern oder Firmengründern gleichzuset-zen wäre. Sie seien vielmehr eine spontan entstehende Funktionselite: Menschen in unterschiedlichen Positionen, die den Charme und die Gewinnchancen „neuer Kombinationen“ erkennen und zu realisieren suchen. Die Chancen ließen sich in ruhigen Konjunkturphasen besonders gut erkennen. So komme es zu Schwärmen von Innovationen, die einen Konjunkturaufschwung bewirken.

Der Aufschwung ist dadurch gekennzeichnet, dass mit den Gewinnerwartungen die Nachfrage nach den vorhandenen Ressourcen steigt. Neben die Faktor- und Güternachfrage des stationären Kreislaufs tritt die Nachfrage der innovativen Unternehmer. Sie kann in der Regel nur dadurch effektiv werden, dass sie mit Bankkredit finanziert wird. Die Banken können (soweit sie einigermaßen parallel agieren) im Wege der Bilanzverlängerung Kredite vergeben und neue Guthaben schaffen, über die im Wege des Zahlungsverkehrs genau so verfügt werden kann, als seien Buchkredite bereits hartes Geld. Mit der Aussicht, durch Geldzinsen an den Innovationsgewinnen der Unternehmer zu partizipieren, schaffen die Banken Kaufkraft „aus Nichts“ ([1911] 1934, S. 109). Indem die Bankiers mit der Kredit-vergabe über „Güterentzug und Güterzuweisung“ im Geldkreislauf entscheiden, werden sie neben den Unternehmern zu zentralen Akteuren der Entwicklung.

Unter der Annahme, dass bereits im stationären Kreislauf Vollbeschäftigung und Vollauslastung der Kapazitäten herrschte, führt die höhere Nachfrage zu Preisstei-gerungen und damit zu einer Umverteilung von produktiven Ressourcen in Rich-tung der innovativen Unternehmen. Im Aufschwung finden sich zunehmend Nachahmer, die an den Innovationsgewinnen partizipieren wollen. Die Imitation verstärkt den Boom, trägt aber auch dazu bei, dass es früher oder später zur De-pression kommt (1911, Kap. 6). Denn die Pioniergewinne der innovativen Unter-nehmer werden durch Nachahmung allmählich eliminiert. Zinsen und andere Kosten steigen. Die Innovationswelle ebbt ab und es wird mehr Kredit abbezahlt als neu vergeben, so dass die Geldmenge sinkt. Zwar hat sich das Systemgleichge-wicht durch die Innovationen zu einem höheren Sozialprodukt verschoben. Die Gravitationskräfte machen sich aber erst in einer Depression bemerkbar. Es ent-stehen Überangebote an Gütern, die auf die Preise drücken. So kommt es zur Ver-drängung alter, nicht mehr rentabler Unternehmen und Produkte. Die Depression vollendet die schöpferische Zerstörung. Bei normalem Verlauf bedeutet sie nach Schumpeter keine Destabilisierung, sondern eine Stabilisierung der Wirtschaft im

Page 31: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 31

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

Sinne der Annäherung an einem stationären Kreislauf auf neuem Niveau, die den Strukturwandel abschließt. Lediglich bei abnormaler Verstärkung zu einer tiefen Krise bedürfe es staatlicher Stabilisierungsmaßnahmen.

Wie Marx hatte Schumpeter eine gemeinsame Erklärung für Wirtschaftswachs-tum und Konjunkturschwankungen. Anders als bei Marx bildete für Schumpeter nicht die Kapitalakkumulation die primäre Ursache, sondern die Dynamik der Innovationen. Sie sorgt für die Eigenbewegung des Systems in Wachstumszyklen. In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Beiträge Schumpeters zu erwähnen: seine Sicht auf Konjunkturzyklen als Überlagerungen von kurzen und langen Wellen sowie seine ganz spezielle Untergangsprognose für den Kapitalismus.

Als Schumpeter an seiner Untersuchung über Konjunkturzyklen (1939) arbeitete, schienen die Daten der Konjunkturstatistiken seiner Theorie zu widersprechen. Bei der behaupteten Endogenität der Konjunkturen müssten sich regelmäßige Zyklen zeigen. Die Daten deuteten jedoch eher auf unregelmäßige Schwankungen des Sozialprodukts und anderer Indikatoren hin. Sie schienen die konkurrierende (und heute dominierende) Hypothese der exogenen Verursachung durch uner-wartbare Technologieschocks und andere Zufallseinflüsse zu stützen. Schumpe-ter (1939) interpretierte hingegen die beobachtbaren Konjunkturdaten als Summen von regelmäßigen Wellenbewegungen, die sich spektralanalytisch zerle-gen lassen (siehe Abbildung 1.2).11 Danach überlagern kurze Zyklen der Lager-haltung (Kitchin-Zyklen) mittlere Wellen der Ersatzinvestitionen in Maschinerie (Juglar-Zyklen) und Infrastruktur (Kuznets-Zyklen) sowie lange Wellen der Innovation (Kondratieff-Zyklen).

11 Die Spektralanalyse baut auf dem Fourier-Theorem auf, wonach jede beliebige periodische Funkti-

on als Summe von Sinusfunktionen dargestellt werden kann.

Quelle: Schumpeter (1939, Bd. 1, S. 175)

Abb. 1.2 Schumpeters Konjunkturzyklen

Page 32: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 32

1.1 THEORIEN DER

WIRTSCHAFTLICHEN

ENTWICKLUNG

Die Kondratieff-Zyklen bilden ein Markenzeichen der Schumpeterschen Theorie. Der russische Ökonom Nikolaj Kondratieff hatte Mitte der 1920er Jahre anhand von Zeitreihen aus England, Frankreich, Deutschland und den USA festgestellt, dass es „lange Wellen der Konjunktur“ mit einer Dauer von 40-60 Jahren gibt. Schumpeter (1939, Kap. IV) interpretierte diese langen Wellen als Innovations-zyklen, die durch Basisinnovationen ausgelöst werden. Hierbei handelt es sich um tiefgreifende technologische Neuerungen, die über Jahrzehnte hinweg Schwärme von Folgeinnovationen nach sich ziehen und die Produktivität in vie-len Branchen steigern, bis die neue Technologie ausgereizt ist und der lange Aufschwung in einer großen Krise endet. So identifizierte er die industrielle Revolution mit der Einführung von Spinnmaschinen und mechanischen Web-stühlen als erste lange Welle (ca. 1790 - 1842). Die zweite lange Welle (1842-97) bezeichnete er als „Dampf- und Stahlzeitalter“ und die dritte (ab 1898), die zum Zeitpunkt seiner Untersuchung noch nicht abgeschlossen war, als „Kondratieff der Elektrizität, Chemie und Motoren“. Auch wenn spektralanalytische Konjunk-turtheorien zur Zeit außer Mode sind, bildet die „Theorie der langen Wellen“ ein Teil der modernen Innovationsökonomie.12

Abschließend ist noch zu erwähnen, dass Schumpeter in seinem Buch Capitalism, Socialism and Democracy (1942) ähnlich wie Marx davon ausging, dass sich der Kapitalismus durch seinen Erfolg das eigene Grab schaufelt. Anders als bei Marx ist es jedoch nicht die Verelendung der Massen, die das System zum Umkippen bringt. Vielmehr werde das Schicksal des Kapitalismus durch seinen inhärenten Trend zu Großunternehmen und durch die Steigerung des Bildungsniveaus be-siegelt. Große Innovationen bringen nach Schumpeters Ansicht große Unterneh-men hervor, die es wiederum durch ihre Kapitalkraft leichter haben, weitere Innovationsprozesse zu organisieren. Die Figur des innovativen Unternehmers, der als wagemutiger Einzelkämpfer Neuerungen auch gegen große Widerstände durchsetzt, veraltet und stirbt aus. Innovationen werden zu einer Angelegenheit von bürokratisierten und stärker auf Kooperation ausgerichteten Systemen von Managern und Spezialistenteams. Hierfür ist ein Steigen des Bildungsniveaus erforderlich, das im Kapitalismus durch einen kräftigen Ausbau des Bildungswe-sens erreicht wird. Da aber die Zahl der erforderlichen Führungskräfte und Spe-zialisten nicht in gleichem Maße wächst, entsteht nach Schumpeters Ansicht eine „Schicht von Intellektuellen“, die zum Teil arbeitslos oder unter Qualifikation beschäftigt sind. Sie stehe dem System teilweise feindlich gegenüber und unter-stütze Umsturzbewegungen. Da im Zuge dieser Entwicklungen die Innovations-kraft des Kapitalismus nachlasse, sei seine eigene „schöpferische Zerstörung“ durch ein neues System nur eine Frage der Zeit.

12 Die langen Wellen werden heutzutage etwas anders datiert und anderen Basisinnovationen zuge-

ordnet als bei Schumpeter (1939). Verschiedentlich wird auch die Vermutung geäußert, dass es sich bei der globalen Finanzkrise, die 2007 begann, um den Beginn der Abschwungphase des fünf-ten Kondratieff-Zyklus handelt. Dieser ist in den 1970er Jahren durch Basisinnovationen in der Informations- und Kommunikationstechnologie („Computer-Zeitalter“) ausgelöst worden.

Page 33: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 33

1.2 MODERNE

INNOVATIONS-

ÖKONOMIE

1.2 MODERNE

INNOVATIONS-

ÖKONOMIE

1.2 Moderne Innovationsökonomie Ohne Innovationen ist die Entwicklung der Menschheit nicht zu denken. Wie der vorhergehende Abschnitt gezeigt hat, denken Ökonomen auch schon seit Jahr-hunderten über Innovationen nach. Dennoch ist die Innovationsökonomie (Inno-vation Economics) eine sehr junge Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre, kaum älter als ein Vierteljahrhundert. Es hat sich noch kein fester Kanon der Lehre herausgebildet und es gibt auch erst wenige Lehrbücher.13 Die Innovationsöko-nomie ist intradisziplinär weniger scharf abgegrenzt als andere Teildisziplinen (wie etwa die Finanzwissenschaft oder die Außenwirtschaftslehre, wo die Lehre relativ stark standardisiert ist). Sie überlappt sich mit traditionellen Teildiszipli-nen wie der mikroökonomisch orientierten Industrieökonomik und der makro-ökonomischen Abteilung „Wachstum und Strukturwandel“; an vielen Hochschulen wird sie daher auch nur fragmentiert in deren Rahmen abgehandelt.

Kennzeichnend für die Innovationsökonomie ist ihre starke Interdisziplinarität: In der Forschung und Lehre auf diesem Gebiet arbeiten Volkswirte mit Betriebs-wirten, Soziologen, Psychologen, Ingenieuren und anderen Spezialisten zusam-men.14 Die Interdisziplinarität liegt in der Natur des Gegenstands, zum Teil aber auch im Zustand der etablierten Volkswirtschaftslehre begründet. Denn die auf der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie basierende Mikro- und Makroökonomik hat sich lange schwer getan und tut sich auch weiterhin schwer, elementare Bestandteile von Innovationsprozessen analytisch zu erfassen. Produktion, Ler-nen, Kreativität, Wissenstransfer und strukturelle Arbeitslosigkeit sind nur einige der Themen, bei denen oft mit stark vereinfachenden Annahmen – häufig in Form von „black boxes“ – operiert werden muss, um eine Modellierung zu ermög-lichen, die den reduktionistischen Standards der Neoklassik genügt.15

Da somit viele wichtige Fragestellungen ausgeblendet bleiben würden, verwendet man in der Innovationsökonomie mehr als in anderen Bereichen der VWL unor-thodoxe bzw. heterodoxe Ansätze aus der Evolutorischen Ökonomik und ande-ren Denkrichtungen.16 In der Fülle der verschiedenen Ansätze lassen sich einige Gemeinsamkeiten erkennen:

13 Ein Klassiker ist Freeman/Soete (1997), ein neueres Lehrbuch ist Swann (2009). 14 Das klassische Zentrum der Innovationsökonomen ist das SPRU (Science Policy Research Unit) an

der University of Sussex in Brighton (Großbritannien), das in den 1960er Jahren als interdiszipli-näres Forschungsinstitut gegründet wurde. Einen guten Überblick über die Interdisziplinarität der Forschung geben verschiedene Aufsätze in Fagerberg/Mowery/Nelson (2005).

15 Hiermit ist vor allem das Erfordernis der strengen Herleitung des Verhaltens der Modellakteure aus einzelwirtschaftlichen Nutzenfunktionen gemeint, deren Plausibilität wiederum weithin eine Frage modelltechnischer Konventionen ist.

16 Das Standardwerk, das die Evolutorische Ökonomik gewissermaßen begründet hat, ist Nelson / Winter (1982).

Page 34: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 34

1.2 MODERNE

INNOVATIONS-

ÖKONOMIE

Innovationen werden als Ungleichgewichtsprozesse aufgefasst, die dynamisch zu modellieren sind – und zwar stärker an biologischen Evolutionsmodellen an-gelehnt als an den aus der Physik entlehnten Denkmustern der Mechanik, die die Neoklassik geprägt haben.

Wirtschaftliche Entwicklung wird als pfadabhängig betrachtet: Historische Anfangsbedingungen und institutionelle Rahmenbedingen haben entschei-denden Einfluss auf die Entwicklungspfade realer Ökonomien (Staaten oder Regionen), einzelner Industrien und Märkte, aber auch einzelner Individuen. Somit ergibt sich endogen eine größere Heterogenität der Akteure und Sys-teme als in den Denkmustern des methodologischen Individualismus, die die Neoklassik geprägt haben.

Netzwerke spielen eine konstitutive Rolle für die Betrachtung der Systeme, in denen die Akteure handeln – anders als in der Neoklassik, in der Netzwerke primär als Quelle „externer Effekte“ und somit als Ursache von Marktversa-gen behandelt werden.

Es wird betont, dass die Akteure im System unter unvollkommener Information handeln. Sie treffen somit auf der Basis falscher Erwartungen Entscheidungen und erzeugen dadurch bei anderen Akteuren an den Märkten „echte“ Unsi-cherheit, die durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht adäquat erfasst werden kann – anders als in weiten Teilen der Neoklassik, in denen von rati-onalen Erwartungen ausgegangen wird.

Mit der Betonung von Pfadabhängigkeiten und Ungleichgewichten haben etliche moderne Ansätze der Innovationsökonomie Ähnlichkeiten mit den Ideen von List und Marx. Nahezu unisono beruft man sich aber auf Schumpeter und ein großer Teil der Innovationsökonomen bezeichnet sich als „Neo-Schumpeterianer“.17 Dabei setzt man sich durchaus kritisch mit den Schumpeterschen Hypothesen auseinander. So wird beispielsweise Schumpeters Behauptung, dass Innovationen im Wesentlichen diskontinuierliche, große Erneuerungen seien, mit Beobachtun-gen konfrontiert, wonach Innovationsprozesse überwiegend inkrementeller Natur zu sein scheinen. Auch ist umstritten, ob Innovationen zu langfristig höherer Unternehmenskonzentration führen und ob die Innovationskraft eines von Groß-unternehmen beherrschten Systems geringer ist als die einer Ökonomie mit Schumpeterschen Einzelunternehmern. Diese und andere Kontroversen zeigen, dass Schumpeters Entwicklungstheorie nach wie vor wichtige Anregungen für die Innovationsforschung enthält.

Es ist aber auch nicht zu verkennen, dass sich die „orthodoxe“ ökonomische Theo-rie in den letzten Jahrzehnten stärker für innovationsökonomische Fragestellungen geöffnet hat. Die Industrieökonomik, die sich traditionell mit der Untersuchung von Unternehmenskonzentration, Produktdifferenzierung und Markzutrittsbedin-gungen befasst, hat vielfältige mikroökonomische Modelle entwickelt, in denen 17 Einen guten Überblick bieten Hanusch/Pyka (2007).

Page 35: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 35

1.2 MODERNE

INNOVATIONS-

ÖKONOMIE

Innovationen eine Rolle spielen. Auf der makroökonomischen Seite sind im Zuge der Entwicklung „endogener Wachstumstheorien“, die technischen Fortschritt im Rahmen ihrer Modelle zu erklären suchen, Ansätze entstanden, die auf unter-schiedliche Weise Produkt- und Prozessinnovationen einbeziehen. Zum Teil ist dies sogar im expliziten Versuch geschehen, eine stringente Verbindung zwischen neoklassisch basierter Industrieökonomik und der Schumpeterschen Idee der schöpferischen Zerstörung herzustellen.18 In allen diesen Ansätzen wird die An-nahme vollkommener Konkurrenz durch monopolistischen Wettbewerb ersetzt und das walrasianische Standardmodell auf vielfältige andere Weise modifiziert. Durch die verbleibenden Bezüge auf das Standardmodell wird indirekt auch dessen Erklärungsanspruch erhöht und eine Verbindung mit anderen Erweiterungen, wie etwa den „neuen Theorien“ des internationalen Handels, hergestellt.19 Inwieweit der Ausdifferenzierungsprozess es noch erlaubt, von der Neoklassik als einem solide verbundenen Theoriengebäude auf einheitlichem Fundament zu sprechen, ist umstritten; das Thema muss uns hier aber nicht weiter beschäftigen.

Gleichgültig, ob „orthodox“ oder „heterodox“ – die Themen und Teilgebiete der Innovationsökonomie werden üblicherweise nach drei Ebenen unterschieden:

Auf der Mikroebene wird die Entstehung und Wirkung von Innovationen im Zusammenhang mit dem Verhalten einzelwirtschaftlicher Akteure unter-sucht. Im Vordergrund stehen Innovationsstrategien von Unternehmen, Kon-sumentenreaktionen, individuelles Lernverhalten und ähnliche Themen.

Auf der Mesoebene wird die Entstehung und Wirkung von Innovationen in einzelnen Sektoren (Industrien) und Regionen untersucht. Im Vordergrund stehen die wechselseitigen Einflüsse von Innovationen und Marktstrukturen, Cluster- und Netzwerkbildungen, regionale Innovationssysteme und ähnliche Themen.

Auf der Makroebene geht es schließlich um die gesamtwirtschaftlichen Rah-menbedingungen und Auswirkungen von Innovationen. Im Vordergrund ste-hen die Diffusion von Innovationen und ihre Auswirkungen auf Arbeits- und Finanzmärkte sowie die Zusammenhänge zwischen Innovationen, Wirt-schaftswachstum und internationalen Wirtschaftsbeziehungen.

Die vorliegenden Studienmaterialien behandeln Themen, die vorwiegend auf der Makroebene und zum Teil auch auf der Mesoebene liegen.

Schlüsselwörter: Wachstumsspirale, Kapitalakkumulation, technischer Fort-schritt, schöpferische Zerstörung, Produktinnovationen, Prozessinnovationen

18 Siehe hierzu Kapitel 3.2. 19 Siehe hierzu Kapitel 4.1.

Page 36: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 36

Aufgaben zur Lernkontrolle: 1. Welche Rolle spielen Produktinnovationen und Prozessinnovationen in der Wachstums-

spirale nach Adam Smith?

................................................................................................................................. 2. Erläutern Sie den Begriff der schöpferischen Zerstörung nach Schumpeter.

................................................................................................................................. 3. Durch welche Gemeinsamkeiten lassen sich die „unorthodoxen“ Ansätze der modernen

Innovationsökonomie kennzeichnen?

................................................................................................................................. Literatur zur Vertiefung: Fagerberg, Jan / Mowery, David / Nelson, Richard (2005, Hrsg.): The Oxford

Handbook of Innovation. Oxford: Oxford University Press.

Freeman, Chris / Soete, Luc (1997): The Economics of Industrial Innovation (3. Aufl.). Cambridge, Ms.: MIT Press.

Hanusch, Horst / Pyka, Andreas (2007, Hrsg.): The Elgar Companion to Neo-Schumpeterian Economics. Cheltenham: Edward Elgar.

Kurz, Heinz (2009): Technical Progress, Capital Accumulation and Income Distribution in Classical Economics: Adam Smith, David Ricardo, and Karl Marx. http://www.uni-graz.at/schumpeter.centre/download/summer school09/Literature/Kurz/Technical_change.pdf

List, Friedrich (1841): Das nationale System der Politischen Oekonomie. Hier nach der 3. Auflage, Jena: Gustav Fischer, 1920.

Marx, Karl (1894): Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie, Dritter Band. Hier in revidierter Ausgabe, Berlin: Dietz Verlag, 1964.

Nelson, Richard / Winter, Sydney (1982): An Evolutionary Theory of Eco-nomic Change. Cambridge, Ms.: Harvard University Press.

Ricardo, David (1817, 3. Aufl. 1821): Principles of Political Economy and Taxation. Hier nach: Vol. 1 of the Works and Correspondence of David Ri-cardo, hrsg. von Piero Sraffa. Cambridge: Cambridge University Press, 1951.

Page 37: Innovationen und internationale …...Innovationen steigern die Produktivität und erweitern die Produktpalette. Sie treiben die Entwicklung von Unternehmen und Märkten voran, tragen

1 SCHÖPFERISCHE ZERSTÖRUNG

INNOVATIONEN UND INTERNATIONALE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN 37

Sandelin, Bo / Trautwein, Hans-Michael / Wundrak, Richard (2008): A Short History of Economic Thought (2. Aufl.). London: Routledge.

Schumpeter, Joseph Alois (1911): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus. Hier nach der 4. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1934.

Schumpeter, Joseph Alois (1939), Business Cycles. A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process (2 Bände). New York: Mc-Graw-Hill (verkürzte Version des ersten Bandes herunterladbar unter: http://classiques.uqac.ca/classiques/Schumpeter_joseph/business_cycles/schumpeter_business_cycles.pdf )

Schumpeter, Joseph Alois (1942), Capitalism, Socialism and Democracy. Hier nach der 3. deutschen Aufl., München: Francke, 1972.

Smith, Adam (1776): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Hier nach 5. Aufl., London: Methuen & Co, 1904 (herunterladbar unter: http://www.econlib.org/library/Smith/smWNCover.html )

Swann, Peter (2009): The Economics of Innovation – An Introduction. Chel-tenham: Edward Elgar.