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Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung Eine rekonstruktive Studie zu Binnenperspektiven und Handlungsstrategien betroffener Eltern Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) genehmigt durch die Fakultät für Humanwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg von Diplom-Pädagogin Heike Gräbedünkel geb. am 03.01.1972 in Mühlhausen/ Thüringen Gutachter: Prof. Dr. Winfried Marotzki Gutachter: Prof. Dr. Winfried Baudisch Eingereicht am: 02.06.2016 Verteidigung der Dissertation am: 07.06.2017

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  • Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung

    Eine rekonstruktive Studie zu Binnenperspektiven und

    Handlungsstrategien betroffener Eltern

    Dissertation

    zur Erlangung des akademischen Grades

    einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.)

    genehmigt durch die

    Fakultät für Humanwissenschaften

    der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

    von Diplom-Pädagogin Heike Gräbedünkel

    geb. am 03.01.1972 in Mühlhausen/ Thüringen

    Gutachter: Prof. Dr. Winfried Marotzki

    Gutachter: Prof. Dr. Winfried Baudisch

    Eingereicht am: 02.06.2016

    Verteidigung der Dissertation am: 07.06.2017

  • 2

    Inhalt

    Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. 4

    1. Einleitung .............................................................................................. 5

    2. Diskurs Kindeswohl ............................................................................. 11

    2.1. Der Begriff Kindeswohl ...................................................................... 11

    2.1.1. Grundbedürfnisse des Kindes .............................................. 14

    2.1.2. Kindeswohl als Rechtsbegriff .............................................. 18

    2.2. Kindeswohlgefährdung ....................................................................... 26

    2.3. Vernachlässigung ................................................................................ 31

    3. Forschungslage ..................................................................................... 38

    3.1. Forschung zu Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung ..................... 42

    3.2. Forschung zu Herkunftsfamilien ......................................................... 45

    3.3. Forschung zu institutionsspezifischen Fragen des Jugendamtes ........ 47

    3.4. Juristische Aspekte .............................................................................. 48

    4. Forschungsdesign: Methode und Methodologie ............................... 50

    4.1. Erkenntnisinteresse und Forschungsfrage ........................................... 51

    4.2. Forschungslogik .................................................................................. 55

    4.2.1. Qualitative Sozialforschung ................................................. 55

    4.2.2. Biographieforschung ............................................................ 56

    4.2.3. Datenerhebung mittels narrativer Interviews ....................... 60

    4.3. Feldzugang .......................................................................................... 62

    4.4. Sample ................................................................................................. 66

    4.5. Datenauswertung ................................................................................. 71

    4.5.1. Grounded Theory ................................................................. 71

    4.5.2. Narrationsanalyse nach Schütze ........................................... 72

  • 3

    5. Empirische Ergebnisse: Musteranalyse ............................................. 73

    5.1. Muster Hilflosigkeit/Ohnmacht & Passivität ...................................... 74

    5.1.1. Fallportrait ............................................................................ 74

    5.1.2. Analyse ................................................................................. 92

    5.1.3. Struktur des Musters ............................................................. 117

    5.1.4. Mustervarianzen ................................................................... 129

    5.2. Muster Opfer & Konfrontation ........................................................... 136

    5.2.1. Fallportrait ............................................................................ 136

    5.2.2. Analyse ................................................................................. 154

    5.2.3. Struktur des Musters ............................................................ 170

    5.2.4. Mustervarianzen ................................................................... 181

    5.3. Muster Einsicht & aktive Gestaltung .................................................. 187

    5.3.1. Fallportrait ............................................................................ 187

    5.3.2. Analyse ................................................................................. 206

    5.3.3. Struktur des Musters ............................................................ 230

    5.3.4. Mustervarianzen ................................................................... 240

    6. Theoretisierung der Forschungsergebnisse ....................................... 245

    6.1. Biographietheoretische Aspekte ......................................................... 245

    6.1.1. Biographisierungsprozesse ................................................... 245

    6.1.2. Biographizität ....................................................................... 248

    6.1.3. Biographische Sinnfindung .................................................. 251

    6.1.4. Verlaufskurvenkonzept ........................................................ 253

    6.2. Diskussion der empir. Ergebnisse innerhalb des theoretischen Rahmens 255

    6.2.1. Muster Hilflosigkeit/Ohnmacht & Passivität ....................... 256

    6.2.2. Muster Opfer & Konfrontation ............................................. 266

    6.2.3. Muster Einsicht & aktive Gestaltung ................................... 273

    6.3. Forschungsertrag/Forschungsrelevanz ................................................ 280

    6.3.1. Wissenschaftsdiskurs ........................................................... 280

    6.3.2. Praxistransfer ....................................................................... 285

    7. Fazit ....................................................................................................... 295

    Literatur ..................................................................................................... 298

  • 4

    Abkürzungsverzeichnis

    Abs. Absatz

    ABM Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

    ALG II Arbeitslosengeld II

    ARGE Arbeitsgemeinschaft (zuständige Behörde für den Arbeitslo-

    sengeld II-Bezug, frühere Bezeichnung für das Jobcenter)

    ASD Allgemeiner Sozialer Dienst

    Art. Artikel

    BGB Bürgerliches Gesetzbuch

    BGBl. Bundesgesetzblatt

    BGH Bundesgerichtshof

    BRD Bundesrepublik Deutschland

    bspw. beispielsweise

    DJI Deutsches Jugendinstitut

    FGG Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichts-

    barkeit

    GG Grundgesetz

    JVA Justizvollzugsanstalt

    KITA Kindertagesstätte

    KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz

    Nr. Nummer

    Rn. Randnummer

    SorgeRG Sorgerechtsgesetz

    SGB VIII Sozialgesetzbuch VIII

    SPFH Sozialpädagogische Familienhilfe

    SPZ Sozialpädiatrisches Zentrum

  • 5

    1. Einleitung

    Die Tatsache, dass es Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Vergleich zu vielen

    anderen Ländern in materieller Hinsicht relativ gut geht, kann nicht darüber hinwegtäu-

    schen, dass viele von ihnen mit der Erfahrung von Vernachlässigung, körperlicher oder

    sexueller Gewalt aufwachsen müssen. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen als ge-

    sellschaftliche und nicht zuletzt auch staatliche Aufgabe ist daher als Kernaufgabe im Ge-

    samtauftrag der Kinder- und Jugendhilfe (hier im § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII) verankert

    und hat in den letzten Jahren im „öffentlichen Bewusstsein“ deutlich an Bedeutung ge-

    wonnen. Maßgeblichen Einfluss hierauf hatte sicherlich auch die mediale Berichterstattung

    über spektakuläre Einzelfälle, insbesondere von zu Tode gekommenen Kleinkindern, bei-

    spielsweise der „Fall Kevin“ Ende 2006. Obwohl sich die gesellschaftliche Verantwortung

    für den Kinderschutz insbesondere in den letzten Jahren im Fokus einer breiten Diskussion

    befindet und das Thema nicht nur im Jugendhilfediskurs Hochkonjunktur zu haben scheint,

    steht diese öffentliche Aufmerksamkeit jedoch in einem bemerkenswerten Gegensatz zu

    dem wenig gesicherten Wissen über die Problematik, insbesondere die Spezifik von Kin-

    deswohlgefährdung.

    Zur Versachlichung der entfachten Diskussion über gefährdete Kinder und Jugendliche

    und deren Familien sowie über einen wirksamen Kinderschutz in der Bundesrepublik

    Deutschland soll das Augenmerk in dieser Arbeit zunächst auf das quantitative Ausmaß

    dieses Phänomens gerichtet werden. Dabei fällt auf, dass es in Deutschland bis zum Jahr

    2012 keine verlässlichen Daten hinsichtlich des Ausmaßes der Gefährdungen des Kindes-

    wohls, respektive Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern gab, so dass Poth-

    mann (2006, S. 3) von einem „Stochern im Zahlennebel“ spricht. Dies wurde bereits im

    Zehnten Kinder- und Jugendbericht, dem so genannten „Kinderbericht“ konstatiert (vgl.

    BMFSFJ, 1998), aber bis 2012 hat sich daran kaum etwas geändert.

    Seit 2012 werden nun im Kontext des 2005 in das SGB VIII eingefügten § 8a SGB VIII

    zumindest einige Daten zur Gefährdungseinschätzung von Kindern und Jugendlichen in

    den Jugendämtern erhoben, die allerdings noch nicht aussagekräftig sind, da aktuell nur die

    Daten aus der ersten Erhebung vorliegen (vgl. Kaufhold/Pothmann, 2014). Dabei darf auch

    nicht verkannt werden, dass es sich hierbei in erster Linie um eine institutionelle Tätig-

  • 6

    keitsstatistik handelt, die weniger über die tatsächliche Häufigkeit von Kindeswohlgefähr-

    dungen als vielmehr über die Arbeit der Jugendämter und Familiengerichte Auskunft gibt.

    Obwohl damit aktuell erst ein kleiner Teil der „Datenlücke“ bezüglich des Ausmaßes von

    Kindeswohlgefährdungen geschlossen wird, leistet diese Datenerhebung dennoch einen

    Beitrag, um die aktuelle Diskussion um einen wirksamen Kinderschutz langfristig auf ein

    tragfähigeres empirisches Fundament als bisher zu stellen.

    Statt einer verlässlichen empirischen Dauerbeobachtung gab es in Deutschland für diesen

    Bereich bisher lediglich großzügige und restriktive Schätzungen. Der Elfte Kinder- und

    Jugendbericht spricht beispielsweise davon, dass 10% bis 15% aller Eltern ihre Kinder

    häufig und schwerwiegend körperlich bestrafen (vgl. BMFSFJ, 2002), wobei auf dieser

    Grundlage im Jahr 2005 allein bei den unter 6-Jährigen 430.000 bis 650.000 Kinder betrof-

    fen wären. Esser/Weinel (1990) schätzen, dass 5% bis 10% aller unter 7-jährigen Kinder

    von Vernachlässigung betroffen sind, dies würde für die ersten 5 Jahrgänge der in Deutsch-

    land lebenden Kinder einer Größenordnung von 220.000 bis 430.000 Kindern entsprechen,

    ähnliche Dimensionen legt UNICEF (2003) zugrunde und spricht sogar von ca. 50 Kin-

    dern, die jährlich infolge einer Vernachlässigung versterben.

    Diese Reihe könnte man noch mit methodisch weitaus undurchsichtigeren Schätzungen

    fortsetzen. So geht das UN-Kinderhilfswerk (zitiert in Pothmann, 2006, S. 3) davon aus,

    dass in Deutschland ca. 200.000 Kinder in Verwahrlosung leben und/oder misshandelt

    werden, die Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und –vernachlässigung (zi-

    tiert in Pothmann, 2006, S. 3) spricht dagegen „nur“ von 100.000 und nach Ansicht von

    Hurrelmann (vgl. Gaschke, 2006) sind täglich 80.000 Kinder im Alter bis zu 10 Jahren

    „von einer Katastrophe bedroht“.

    Bereits diese grobe Zusammenstellung von nicht immer genau zu rekonstruierenden Schät-

    zungen macht die Defizite in der Datenlage deutlich. Dabei gehen sowohl die zugrunde

    liegenden Definitionen und Begrifflichkeiten stark auseinander, aber auch die Erhebungs-

    verfahren der Basisdaten für die Schätzungen divergieren erheblich und nicht zuletzt wer-

    den zum Teil ganz unterschiedliche Altersgruppen als Ausgangspunkt für die Berechnun-

    gen herangezogen (vgl. Pothmann, 2006, S. 3).

  • 7

    Im Kontext dieser unterschiedlichen Schätzungen darf jedoch nicht vergessen werden, dass

    in der Fachdiskussion Einigkeit darüber besteht, dass man es insbesondere bei Kindes-

    misshandlungen und –vernachlässigung mit einem erheblichen „Dunkelfeld“ zu tun hat

    (vgl. Pothmann, ebda.). Aber immerhin ein Teil der betroffenen Kinder und deren Familien

    sind den Jugendämtern bekannt, so dass sich über die Kinder- und Jugendhilfestatistik dif-

    ferenziertere Aussagen treffen lassen. Beispielsweise wurden im Jahr 2014 124.213 Ge-

    fährdungseinschätzungen vom Jugendamt nach § 8a Abs. 1 SGB VIII vorgenommen, dabei

    ging die Behörde in 23.242 Fällen (ca. 18,7% der Fälle) von einer andauernden akuten

    Kindeswohlgefährdung aus (vgl. Statistisches Bundesamt, 2015a, S. 6).

    In dieser Studie soll der Fokus genau auf diese Kinder gerichtet werden, deren Wohl „er-

    wiesenermaßen“ gefährdet war. Insofern erscheint es sinnvoll, parallel zur Gesamtzahl der

    akuten Kindeswohlgefährdungen noch einmal die Anzahl der von Jugendämtern eingelei-

    teten Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche herauszustellen. Im Jahr 2014 waren

    dies in Deutschland insgesamt 48.059 Inobhutnahmen als Schutzmaßnahmen für Kinder

    und Jugendliche, bei denen diese außerhalb ihrer Familie untergebracht wurden. Von den

    Inobhutnahmen resultierten 36.612 (76%) aus einer dringenden Gefahr für das Wohl des

    Kindes oder Jugendlichen heraus und 11.447 (24%) erfolgten auf eigenen Wunsch der be-

    troffenen Kinder bzw. Jugendlichen (vgl. Statistisches Bundesamt, 2015, S. 6).

    Vorläufige Schutzmaßnahmen der Jugendhilfe/

    Inobhutnahmen für Kinder und Jugendliche

    2014

    Inobhutnahmen wegen akuter

    Gefährdung

    Inobhutnahmen auf eigenenWunsch der Kinder bzw.

    Jugendlichen

  • 8

    Legt man nun die Entwicklung der Inobhutnahmen wegen einer bestehenden Gefährdung

    seit Einführung des derzeit geltenden Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG – SGB

    VIII) am 01.01.1991 bzw. 03.10.1990 (in den neuen Bundesländern) zugrunde, so fällt auf,

    dass sich deren Anzahl seit Beginn der statistischen Erhebung nach Einführung des KJHG

    im Zeitraum 1995 mit ca. 15.400 bis ca. 20.000 im Jahr 2007 auf einem relativ konstant

    hohen Niveau befindet. Seit 2008 und damit nach der Etablierung des modifizierten SGB

    VIII und insbesondere des neu eingeführten § 8a SGB VIII steigt die Zahl der Inobhut-

    nahmen jedoch kontinuierlich an und erreicht 2014 mit einer Gesamtzahl von über 48.000

    Fällen einen neuen Rekord. Dabei machen die Inobhutnahmen wegen einer bestehenden

    akuten Gefährdung im Zeitraum 1995 - 2007 zunächst ca. zwei Drittel und ab 2008 sogar

    ca. drei Viertel der Gesamtheit aller Inobhutnahmen aus (vgl. Statistisches Bundesamt,

    2015, S. 33 ff.), was ebenfalls auf der Folie des § 8a SGB VIII zu betrachten ist.

    Entwicklung der Inobhutnahmen in Deutschland von 1995 - 2014

    0

    10000

    20000

    30000

    40000

    50000

    60000

    1995

    1997

    1999

    2001

    2003

    2005

    2007

    2009

    2011

    2013

    Inobhutnahmen auf

    eigenen Wunsch der

    Kinder bzw. Jugend-

    lichenInobhutnahmen

    wegen akuter

    Gefährdung

    Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass das Thema Kindeswohlgefährdung

    schon allein vor diesem quantitativen Hintergrund aufgrund der Anzahl erfasster Fälle ins-

    besondere im sozialpädagogischen Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe als ein außer-

    ordentlich drängendes Problem angesehen werden muss. Aber vor allem in der in den letz-

    ten Jahren intensiv geführten inhaltlichen Fachdiskussion um gefährdete Kinder und Ju-

    gendliche und deren Schutz bildet sich der sehr hohe thematische Stellenwert innerhalb der

  • 9

    Sozialpädagogik ab (vgl. AFET, 2007, S. 4). Gleichsam fällt jedoch auf, dass die öffentli-

    che Aufmerksamkeit für dieses Thema zwar momentan Hochkonjunktur zu haben scheint,

    aber in einem bemerkenswerten Gegensatz zu dem wenig gesicherten Wissen steht, das es

    über dieses Problem gibt. Hieraus ergibt sich der maßgebliche Stellenwert dieser Studie.

    Sowohl in meiner eigenen Tätigkeit im Allgemeinen Sozialen Dienst eines Jugendamtes in

    den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als auch in unzähligen Beratungen bzw. Fallbe-

    sprechungen mit Kollegen1 in diesem Arbeitsfeld wurde nicht nur der immense Nachhol-

    bedarf an entsprechender Forschung deutlich, sondern es wurde vielfach eine tiefgreifende

    Unzufriedenheit in der Bearbeitung von Einzelfällen beklagt. Diese resultiert in den meis-

    ten Fällen daraus, dass bei bestehender Kindeswohlgefährdung den betroffenen Familien

    entsprechende erzieherische Hilfen nahegelegt und in vielen Fällen auch durchgeführt

    werden, aber den betroffenen Eltern ein Gespür für die bestehenden Gefährdungsaspekte

    ihrer Kinder nicht bzw. nicht ausreichend nahegebracht werden kann. Vielmehr entsteht

    bei den Praktikern der Eindruck, dass gerade bei einer Inobhutnahme mit anschließender

    außerfamiliärer Unterbringung der Kinder bzw. Jugendlichen deren Eltern das Verständnis

    für die Gründe, die zu dieser drastischen Maßnahme führten, häufig völlig fehlt. Stattdes-

    sen wurde in vielen Fällen davon berichtet, dass die Eltern entweder eigene Anteile an der

    zur Inobhutnahme führenden Familiensituation gänzlich verleugnen und stattdessen mit

    anwaltlicher Hilfe gegen diese Maßnahme vorgehen, um eine Rückkehr der Kinder in die

    Familie zu erwirken oder sich gänzlich aus der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zu-

    rückziehen. Vielfach fiel auch auf, dass Eltern Situationen schaffen, die sie für geeignet

    halten, das Jugendamt davon zu überzeugen, dass eine Rückkehr der Kinder in die Familie

    möglich ist (wie z.B. das Aufräumen der Wohnung), die aber in den meisten Fällen bei den

    Gründen für die Inobhutnahme nur eine marginale Rolle spielten. Vor diesem Hintergrund

    entstand bei mir und sicher bei vielen Fachkollegen im ASD die Vermutung, dass die El-

    tern gefährdeter Kinder oftmals nicht in der Lage sind, das Geschehen, welches zur Inob-

    hutnahme führte, zu reflektieren, was wiederum die Arbeit mit dieser Zielgruppe im Rah-

    men des Hilfeplanverfahrens nach § 36 SGB VIII deutlich erschwert und in Härtefällen

    vermutlich sogar unmöglich macht.

    1 Aus Gründen der Lesbarkeit der Arbeit werden ausschließlich männliche Berufs- und Personenbezeichnun-

    gen verwandt, die jedoch selbstverständlich die entsprechenden weiblichen Bezeichnungen einschließen.

  • 10

    Daraus ergibt sich nun das Erkenntnisinteresse dieser Studie, die die Perspektive betroffe-

    ner Eltern auf das Kindeswohlverfahren gezielt in den Blick nimmt und danach fragt, wie

    sie zum einen ihre Elternschaft und die Genese ihrer Kinder wahrnehmen und zum ande-

    ren, welches Verständnis sie von Institutionen und hier speziell vom Jugendamt haben. Der

    Fokus wird dann thematisch erweitert auf das Verständnis der Eltern von einer Kindes-

    wohlgefährdung sowie auf deren Hilfeverständnis im Allgemeinen.

    Bevor jedoch der eigentliche Forschungsprozess in das Zentrum der Betrachtung rückt,

    wird zunächst im Kapitel 2 der aktuelle Diskurs bezüglich Kindeswohl und Kindeswohlge-

    fährdung rekonstruiert und aus der jeweiligen Perspektive verschiedener Professionen ana-

    lysiert. Daran anschließend wird im Kapitel 3 die thematisch relevante aktuelle For-

    schungslage einer näheren Betrachtung unterzogen. Diese erscheint gerade hierzulande

    insgesamt noch immer sehr unbefriedigend, wodurch sich der Begriff von Kindler (2008)

    als „Brachlandsituation“ durchaus rechtfertigen lässt. Diese Überlegung führt schließlich

    dazu, dass der Fokus hier in dem Maße erweitert wird, dass auch angrenzende Forschungs-

    bereiche, wie die institutionelle Spezifik des Jugendamtes, aber auch juristische Aspekte in

    die Betrachtung einbezogen werden.

    Im Kapitel 4 erfolgt dann die Fokussierung auf das Forschungsdesign und die Methodolo-

    gie der Studie. Dabei bestimmen schon das Erkenntnisinteresse und die Charakteristik der

    Forschungsfrage die methodische Architektur der Arbeit als Forschungsprojekt innerhalb

    der qualitativen Sozialforschung und hier explizit deren biographieanalytischen Zugang

    zum Forschungsgegenstand, nämlich den betroffenen Eltern gefährdeter Kinder als klassi-

    sche Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe. Mit Hilfe dieses Forschungsansatzes will die

    hier vorliegende Arbeit einen Beitrag zur „Kultivierung“ der beklagten „Brachlandsituati-

    on“ (ebda.) leisten, indem sie den Betroffenen ein Gesicht, respektive eine Stimme ver-

    leiht.

    Dazu wird im Kapitel 5 die Betroffenenperspektive mit den ihr inhärenten biographischen

    Orientierungsrahmen umfassend entfaltet. Hierbei werden sowohl die Modi des jeweiligen

    Selbst- und Weltverständnisses, aber auch die daraus resultierenden Handlungsstrategien

    herausgearbeitet, die auf der Folie der Herkunftsfamilie, der Genese der eigenen Eltern-

    schaft, aber auch im Umgang mit sozialstaatlichen Institutionen und hier speziell dem Ju-

  • 11

    gendamt und dessen Helfersystem ihren Ausdruck finden und schließlich das Verständnis

    der Inobhutnahme, aber auch der Kindeswohlgefährdung und nicht zuletzt die Charakteris-

    tik des Hilfeverständnisses der Betroffenen maßgeblich bestimmen.

    Im Kapitel 6 werden die empirischen Ergebnisse biographietheoretisch rückgebunden und

    in diesem Rahmen diskutiert, ehe abschließend der Erkenntnisgewinn der Studie sowohl

    für den wissenschaftlichen als auch den praxisrelevanten Fachdiskurs herausgestellt wird.

    2. Diskurs Kindeswohl

    2.1. Der Begriff Kindeswohl

    Bevor das Forschungsvorhaben angegangen werden kann, erscheint es zunächst zwingend

    notwendig, die thematisch relevanten Begriffe einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

    Dabei wird zunächst der Begriff des Kindeswohls näher skizziert, da dieser am weitesten

    gefasst ist und als übergeordnete Kategorie für die Begriffe fungiert, die für die Studie Re-

    levanz besitzen, nämlich den Begriff der Kindeswohlgefährdung und der Vernachlässi-

    gung.

    Glaubt man Hügli (2003, S. 21), so ist die Berufung auf das Wohl des Kindes das wohl am

    meisten gebrauchte und am meisten missbrauchte Argument, wenn es darum geht, Eingrif-

    fe von Seiten Erwachsener in das Leben eines Kindes zu rechtfertigen. Dabei lade die no-

    torische Vagheit des Begriffs „Kindeswohl“ zum Missbrauch geradezu ein und er müsste

    allein deshalb schon abgeschafft werden. Dettenborn (2007, S. 46 f.) folgt ebenfalls dieser

    Argumentation und gibt zu bedenken, dass als Folge der Interdisziplinarität des Begriffs

    jeder, der den Begriff Kindeswohl verwendet, bereits seine Kompetenzen überschreitet.

    Andere Autoren bezeichnen den Begriff des Kindeswohls wegen seiner Unbestimmtheit

    als „hohle Mystifikation“ (Mnookin, 1975) und „Pauschalfloskel“ (Keiser, 1998), als

    „Worthülse“ (Ell, 1990), „Mogelpackung“ (Goldstein/ Freud/ Solnit, 1974), „wolkige Vo-

    kabel“ (Hattenbauer, 1997) oder als „definitorische Katastrophe“ (Dettenborn, 2007).

    Steindorff (1994, S. 4) vergleicht ihn mit einer „leeren Schachtel“, die mit den Wahrneh-

  • 12

    mungen und Vorurteilen der Erwachsenen gefüllt wird und Frädrich/ Jerger-Bachmann

    (1995, S. 14) sehen in dem „höchst moralisch und emotional aufgeladenen“ Begriff einen

    „Knoten“, der in der deutschen Kinderrechtsdiskussion schwer aufzulösen ist und mit dem

    sich jeder Erwachsene leicht der Kritik entziehen kann.

    Dass die Problematik des Begriffs Kindeswohl im Fachdiskurs überwiegend als Misere

    empfunden wird, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen in der Diskussion: vom diffe-

    renzierten Aufzeigen der Risiken, die mit der Bestimmung des Kindeswohls verbunden

    sind (Zitelmann, 2001; Münder u.a., 2006) über die Proklamation der prinzipiellen Undefi-

    nierbarkeit des Begriffs Kindeswohl (Keiser, 1998; Heilmann, 1998; Köster, 1997; Su-

    ess/Fegert, 1999; Palandt, 2007; Schone, 2008a) bis hin zur Forderung, den Begriff gänz-

    lich abzuschaffen (Steindorff, 1994).

    Stattdessen konstatiert Dettenborn (2007, S. 49) nachvollziehbar, dass diese Radikalität

    überzogen erscheint, zumal sich aufgrund der derzeitigen flächendeckenden Verwendung

    des Begriffs Kindeswohl im Familien- und Kindschaftsrecht dessen ernsthaft gewollte Li-

    quidation derzeit verbietet und er anscheinend trotz aller Mängel und Nachteile in der

    Rechtspraxis eine unentbehrliche Funktion erfüllt (vgl. auch Hügli, 2003, S. 21).

    Auch verschiedene alternative Begriffsvorschläge wie das „beste Interesse des Kindes“

    (Liebel, 2005, S. 42), abgeleitet vom englischen Begriff: „best interest of the child“, oder

    die „für das Kind am wenigsten schädliche Alternative“ (Goldstein/Freud/Solnit, 1974, S.

    105) bzw. Dettenborns (2007, S. 50) Vorschlag der „für die Persönlichkeitsentwicklung

    des Kindes günstigen Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingun-

    gen“ erscheinen hier wenig praktikabel und konnten sich bisher auch nicht durchsetzen.

    Dettenborn (ebda.) plädiert deshalb auf der Suche nach einem Kompromiss vielmehr für

    eine produktive und differenzierte Nutzung des Kindeswohlbegriffs, um seine Eignung als

    Erkenntnisinstrument zu forcieren, seine Humanisierungspotenziale unter den jeweils kon-

    kreten sozialen Bedingungen und Rechtsverhältnissen auszuschöpfen und seine Bewegung

    von den Rechten Erwachsener und der Institution Familie hin zur kindlichen Individualität

    mitzuvollziehen.

  • 13

    Es wäre allerdings vorschnell, in diesem Kontext allein die „Leerformel-These“ der Kriti-

    ker des Begriffs aufzugreifen, da Zitelman (2000, S. 241) aus meiner Sicht zu Recht die

    Ausuferung dieser Diskussion beklagt, die eher am Problem vorbeigeht und dadurch Ge-

    fahr läuft, dieses zu verschärfen (vgl. hierzu auch Coester, 1983, S. 240).

    So liegt für Hügli (2003, S. 21) der Vorteil der fehlenden klaren rechtlichen Normierung

    des Begriffes in der Öffnung gegenüber sich wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen

    auf der Hand und Blandow (1997, S. 555 f.) spricht sogar davon, dass die gesellschaftliche

    Kontextgebundenheit des Kindeswohlbegriffs dessen Definition verbietet und stattdessen

    seine Bedeutung nur in einem spezifischen Kontext diskursiv bestimmt werden kann (vgl.

    auch Wiesner, 2001, S. 293 f.). Nave-Herz (2003, S. 75 ff.) zeigt in diesem Zusammen-

    hang auf, dass der Begriff Kindeswohl jeweils zeitbedingte unterschiedliche konkrete In-

    terpretationen erfahren hat, die in Abhängigkeit vom jeweils gerade präferierten Men-

    schenbild determiniert sind, was wiederum den Schluss zulässt, dass die Relativität des

    Begriffs auf seine gesamtgesellschaftliche Einbettung hindeutet. Dabei beeinflusst die Fra-

    ge, wer zu diesem Diskurs zugelassen wird und nach welchen Regeln er geführt wird, des-

    sen Ergebnis ganz entscheidend (vgl. auch Wyttenbach, 2003).

    Trotz aller bisher ausgeführten Unzulänglichkeiten bezeichnet es Maywald (2005, S. 236

    f.) als fatal, die Suche nach einer Definition des Begriffs Kindeswohl aufzugeben, weil dies

    seiner Auflösung gleichkommt und insbesondere für die schutzbedürftigen Kinder nicht

    absehbare Folgen nach sich zieht. Stattdessen fordert er eine positive Begriffsbestimmung

    dieses unbestimmten Rechtsbegriffs, die darauf fokussiert, was Kinder für ihre Entwick-

    lung brauchen und welche Bedingungen erforderlich sind, damit ein Kind sich sowohl kör-

    perlich, geistig und seelisch altersangemessen und gesund entwickeln kann. Hierfür schlägt

    er als Arbeitsdefinition vor: „Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjeni-

    ge, welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für

    das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative (i. S. von die am wenigsten schädigende)

    wählt.“ (Maywald, 2008, S. 40) Dies bedeutet, einen Wechselbezug zwischen deskriptiven

    Beschreibungen und normativen Setzungen dessen, was für eine gesunde Entwicklung von

    Kindern unabdingbar ist, darzustellen (vgl. auch Seithe, 2004, S. 4). Allerdings können

    diese Minimalstandards, um mit den Worten Blandows (1997, S. 556) zu sprechen, ledig-

    lich eine “Geschäftsgrundlage“ für den weiter erforderlichen, weil äußerst aktuellen Dis-

  • 14

    kurs zum Thema Kindeswohl darstellen, weil es bislang noch keinen wissenschaftlichen

    Konsens darüber gibt, welche Variablen als Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern

    anzusehen sind und welche Gewichtung einzelnen Indikatoren dabei zukommen (vgl. Hee-

    kerens/ Ohlig, 2007, S. 336)

    2.1.1. Grundbedürfnisse des Kindes

    Thematisch relevante erste Versuche einer Konkretisierung basaler kindlicher Bedürfnisse2

    sind in der Kindeswohl-Trilogie von Goldstein, Freud und Solnit (1974, 1982, 1988) zu

    finden. Sie rechnen zu den grundlegenden Bedürfnissen Nahrung, Schutz und Pflege, intel-

    lektuelle Anregungen und Hilfe beim Verstehen der Innen- und Außenwelt. Das Kind

    braucht außerdem Menschen, die seine positiven Gefühle empfangen und erwidern und

    sich seine negativen Äußerungen und Hassregungen gefallen lassen, denn von seiner Stel-

    lung innerhalb der Familie, d.h. von dem Gefühl geschätzt, anerkannt und als vollwertiges

    Familienmitglied betrachtet zu werden, hängen sein Selbstgefühl und seine Selbstsicherheit

    im späteren Leben ab.

    Fegert (1999, S. 326 f.) verfolgt in diesem Kontext das Ziel, die in der UN-Kinderrechts-

    konvention formulierten Normen sechs großen Bedürfnisbereichen zuzuordnen: (1) Liebe,

    Akzeptanz und Zuwendung (2) stabile Bindungen (3) Ernährung und Versorgung (4) Ge-

    sundheit (5) Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung (6) Wissen,

    Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung und dabei gleichzeitig mögliche negati-

    ve Folgen bei deren Nichtbeachtung zu beschreiben. Dabei erscheint mir die Einordnung

    dieser Bedürfnisse in ein hierarchisches Stufenmodell, wie es Maslow (1984) mit seiner

    Bedürfnis-Pyramide vorgenommen hat, durchaus sinnvoll, um den Stellenwert der einzel-

    2 Der hier bereits erfolgten Fokussierung auf kindliche Bedürfnisse liegt die Klassifikation menschlicher

    Bedürfnisse von Alderfer (1972) zugrunde, der die menschlichen Bedürfnisse in 3 übergeordnete Kategorien

    von Basisbedürfnissen einteilt, nämlich das Bedürfnis nach Existenz, das Bedürfnis nach sozialer Bindung

    und Verbundenheit sowie das Bedürfnis nach Wachstum. Diesen übergeordneten Bedürfniskategorien kön-

    nen einzelne Bedürfnisse aus feiner untergliederten Zusammenstellungen, z.B. kindlicher Bedürfnisse, zuge-

    ordnet werden (vgl. auch Lillig, 2006, S. 73-2). Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass die Grundbe-

    dürfnisse miteinander in Zusammenhang stehen und in ihrer Wirkung voneinander abhängig sind. In den

    unterschiedlichen Entwicklungsstadien des Kindes kommt dabei den verschiedenen Grundbedürfnissen un-

    terschiedliche Bedeutung zu und das Verhältnis von Fürsorge und Autonomie hinsichtlich deren Befriedi-

    gung verändert sich im Lauf der Entwicklung des Kindes maßgeblich und bedarf der kontinuierlichen Ausba-

    lancierung (vgl. Werner, 2006, 13-1).

  • 15

    nen Stufen zu verdeutlichen und auch Schmidtchens (1989) Illustration kindlicher Lebens-

    bedürfnisse kann an dieser Stelle zu einem besseren Verständnis beitragen. Um im Rah-

    men sozialer Arbeit die einzelnen kindlichen Bedürfnisse und das Ausmaß ihrer Erfüllung

    erkennen und einschätzen zu können, wurde im DJI-Projekt „Kindeswohlgefährdung und

    ASD“ ein entsprechendes Einordnungsschema zur „Erfüllung kindlicher Bedürfnisse“

    entwickelt, welches auf Maslows Kategorisierung basiert (vgl. Kindler u.a., 2006, A-9).

    Nach Ansicht von Lenz/Lehmkuhl (2009, S. 761) ist das Kindeswohl aus psychologischer

    Sicht dann gewährleistet, wenn Entfaltungsräume gegeben sind, in denen das Kind körper-

    liche, kognitive, emotionale, soziale sowie praktische Fähigkeiten, Eigenschaften und Be-

    ziehungen entwickeln kann, durch die es befähigt wird, in Übereinstimmung mit der Reali-

    tät und den gegebenen sozialen Werten und Normen für sein eigenes Wohlergehen zu sor-

    gen. Harnach (2007, S. 189) beschreibt es als wünschenswerten Zustand des Kindes, der

    körperliche, psychische und geistige Gesundheit, einen altersgemäßen oder den individuel-

    len Möglichkeiten entsprechenden Entwicklungsstand, altersgemäße und bestmögliche

    soziale Eingliederung sowie Chancen zur Realisierung der verfügbaren Potenziale umfasst.

    Dabei muss in dieser Argumentation jedoch neben dem aktuellen Status auch der Verlauf

    des Entwicklungsprozesses Beachtung finden.

    Einen aktuellen Versuch, sich über ein Bedürfniskonzept dem Kindeswohlbegriff zu nä-

    hern, unternehmen Brazelton und Greenspan (2002) und erarbeiten dabei folgenden Kata-

    log psychosozialer kindlicher Grundbedürfnisse:

    Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Zuwendung, Unterstützung und beständiger

    Erziehung

    Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit

    Bedürfnis nach neuen und entwicklungsgerechten Erfahrungen

    Bedürfnis nach Lob und (adäquater) Anerkennung

    Bedürfnis nach Verantwortung und Selbständigkeit

    Bedürfnis nach Orientierung, Strukturen, Regeln und Grenzen

    Bedürfnis nach Übersicht und Zusammenhang, nach stabilen und unterstützenden

    Gemeinschaften sowie nach einer sicheren Zukunft,

    wobei an dieser Stelle nochmals der Hinweis erfolgt, dass diese Bedürfnisse stets im Zu-

    sammenhang stehen und in ihrer Wirkung voneinander abhängig sind.

  • 16

    Balloff (2004, S. 67) geht allerdings zu Recht darüber hinaus und weist eindringlich darauf

    hin, dass die Sorge für das Kindeswohl zwar als Aufgabe der Eltern definiert ist, aber die

    Verwirklichung des Wohlergehens des Kindes nur dann gelingen wird, wenn politische,

    kulturelle, gesellschaftliche, rechtliche und unterstützende Rahmenbedingungen geschaffen

    werden, die es Eltern ermöglichen, den Bedürfnissen und Interessen der Kinder bei der

    Bewältigung alltäglicher Lebensaufgaben gerecht zu werden (vgl. auch Schneider, 2002, S.

    149 f.; Seithe, 2004, S. 4). Damit wird deutlich, dass die rechtlichen Vorgaben allein den

    Bereich dessen, was „Kindeswohl“ ausmacht, nicht hinreichend abdecken können, sondern

    das Recht lediglich einen Rahmen vorgibt, der einerseits mit Hilfe sozial- und humanwis-

    senschaftlicher Expertise ausgefüllt werden muss und sich andererseits auf gesellschaftli-

    che Grundwerte erstreckt, die auf konsensfähigen, geübten und mehrheitsfähigen Überzeu-

    gungen beruhen (vgl. auch Coester, 1991; Meysen, 2008, S.19).

    Um diesem Aspekt Rechnung zu tragen, erscheint es an dieser Stelle geboten, die ausge-

    führten Bedürfniskataloge auf dem Hintergrund einer sozialisatorischen Folie von Kindheit

    in der heutigen postmodernen Gesellschaft zu betrachten. Um den Rahmen der Arbeit nicht

    zu sprengen, wird hier jedoch nur stichwortartig auf entsprechende Charakteristika einge-

    gangen. Ein auf diesem Hintergrund aufbauendes Bild des Aufwachsens in der Postmoder-

    ne zeichnet Fend (1988, S. 61 ff. und S. 295 ff.) in Anlehnung an Habermas´ These von der

    Kolonialisierung der Lebenswelt (1981), wobei er dabei den antinomischen Charakter der

    postmodernen Lebensbedingungen genau wie Jostock (1999, S. 84) in den Vordergrund

    stellt. Fuchs-Heinritz/Krüger (1991, S. 9) stellen im Kontext der Destandardisierung von

    Lebenslaufmustern fest, dass das struktur-funktionalistische Altersnormen-Modell bzw.

    Statuspassagen als soziale biographisch relevante Ereignisse in diesem Konzept ihre Rolle

    als „fester Fahrplan durch die Jugendphase“ zugunsten von Entsynchronisierungstenden-

    zen verlieren (vgl. von Trotha, 1982; Kohli, 1988; Fend, 1988; Tillmann, 1993, S. 267;

    Schröder, 1995; Kötters, 2000, S. 32).

    Unter diesem Blickwinkel sind so verschiedene Aspekte wie: Kinder und Jugendliche als

    Aushandlungs-Akteure der eigenen „Bastel-“ oder „Wahlbiographie“ im Zuge einer Bio-

    graphisierung als Chance und zugleich auch Risiko (Beck, 1986; Heitmeyer u.a., 1995;

    Kötters, 2000, S. 34 ff.; Krappmann, 2000, S. 352) zu sehen; die Zerstückelung räumlicher

    und zeitlicher Strukturen im Leben der Kinder mit den Folgeerscheinungen der zu erarbei-

  • 17

    tenden Beziehungen, „Verhäuslichung“ (Zinnecker, 1990) und „Verinselung“ von Kind-

    heit, der Freizeitgestaltung als „Termingeschäft“ und „Pädagogisierungstendenzen“ (Zei-

    her, 1983; Witjes u.a., 1994; Büchner, 1994a, S. 16 ff.; Rolff/Zimmermann, 1997, S. 162

    ff.); der Bedeutungswandel von Kindern: ökonomische Last, aber zugleich elterliches

    Sinnstiftungsobjekt mit übersteigertem emotionalen Wert und dem Hang der Eltern zum

    Perfektionismus (Beck/Beck-Gernsheim, 1990; Fend, 1991, S. 15 ff.; Rolff/Zimmermann,

    1997, S. 39 ff.; Nave-Herz, 2003, S. 80 ff.); die These der rationalisierten, verrechtlichten

    Kindheit (Jostock, 1999, S. 87 ff; vgl. auch Honig, 2000, S. 252 ff.); der Gegenwartsbezug

    von Kindheit und Jugend, verbunden mit deren Kommerzialisierung und Mediatisierung

    (Wilk, 1994, S. 4; Ferchhoff, 1999, S. 64, 227 ff.) und andere zu diskutieren, was jedoch

    den Relevanzrahmen der Arbeit an dieser Stelle überfordern würde und daher lediglich

    erwähnt wird.

    Obwohl ausdrücklich auf die gesellschaftliche Ambivalenz bzw. die Doppelbödigkeit des

    Individualisierungsprozesses im Zusammenhang mit dem Aufwachsen von Kindern hin-

    gewiesen wurde, so greift diese, in der Sozialpädagogik oft überbetonte, kulturkritische

    „Schattenseite der Medaille“ bei der Betrachtung des sozialen Wandels doch zu kurz, da

    im Zusammenhang mit der Individualisierungstendenz gleichzeitig die „Vielfalt der Wahl-

    und Entfaltungsmöglichkeiten“ (Jaide, 1988, S. 258) deutlich zugenommen hat, was genau

    so gut als Chance oder „Sonnenseite der Medaille“ verstanden werden kann.

    Rolff/Zimmermann (1997, S. 14 f.) begreifen dieses widersprüchliche Verhältnis aber ins-

    gesamt als Fortschritt durch die Ausgliederung der Kinder und Jugendlichen aus der Ar-

    beitswelt und zugleich Reduktion der kindlichen Eigentätigkeit aufgrund der Einengung

    des kindlichen Erfahrungsraumes und konsumierender Aneignung der materiellen Kultur,

    zunehmender Erfahrungen aus zweiter Hand durch mediatisierte Aneignung der symboli-

    schen Kultur, zunehmender elterlicher Kontrolle sowie entmündigender Expertisierung der

    Erziehung und angesichts von Zeitknappheit und Beschleunigung einem inselhaften, pano-

    ramatischen Raumerleben (vgl. auch Büchner, 1994b, S. 178; Brinkhoff, 1996, S. 30 f.).

  • 18

    Im Ergebnis dieser Diskussion hat Dencik (1989, S. 176 f.) einen Aufgabenkatalog erarbei-

    tet, der seiner Ansicht nach für eine unter diesen Bedingungen gelingende Sozialisation

    notwendig ist:

    Entwicklung sozialer Flexibilität

    Entwicklung möglichst früher Reflexionsfähigkeit

    Entwicklung von Integrationsfähigkeit

    Entwicklung von Kommunikationsfähigkeit und der Kompetenz, eine eigene

    Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten

    Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Affektkontrolle

    Aufbau von Selbstvertrauen, Fähigkeit zur Eigeninitiative und Selbstrepräsen-

    tanz

    An dieser Stelle erscheint aber auch der Hinweis auf den immens hohen Anspruch dieser

    Aufgaben an den Einzelnen zwingend notwendig, der gleichzeitig die Gefahr birgt, dass

    gerade die Klientel Sozialer Arbeit ohne adäquate Hilfestellung hieran zu scheitern droht.

    Nach diesem Exkurs hin zu sozialisatorischen Prämissen wird nun der Blick auf die juristi-

    sche Charakterisierung des Kindeswohlbegriffs gelenkt.

    2.1.2. Kindeswohl als Rechtsbegriff

    Der Begriff „Kindeswohl“ bildet die zentrale Leitnorm im Bereich des Kindschafts- und

    Jugendrechts und hier insbesondere im Verhältnis Eltern-Kind-Staat oder wie Jestaedt

    (2008, S. 12) es formuliert, „die grundrechtsdogmatische Mitte, um die sich alle kindbezo-

    genen Regelungen der Verfassung gruppieren, von der her sie ihren Grund und ihre Grenze

    beziehen und deren Verwirklichung sie zu dienen bestimmt sind“. In der Rechtssprechung

    der letzten Jahre erlebt der Begriff eine Hochkonjunktur und wurde zu einem leitenden

    Rechtsbegriff, der internationale Geltung beansprucht. Mit ihm soll ein Perspektivenwech-

    sel in der Rechtssprechung dokumentiert werden: weg von der alleinigen elterlichen Sorge

    um das Kind hin zur Wahrung der Interessen des Kindes (vgl. Nave-Herz, 2003, S. 75).

  • 19

    In der juristischen Fachdiskussion herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Kin-

    deswohlbegriff als unbestimmter Rechtsbegriff kein deskriptives Tatbestandsmerkmal,

    sondern als Herzstück einer Generalklausel (§ 1666 Abs. 1 BGB) (wert-) ausfüllungsbe-

    dürftig und damit ein Auftrag zur (familien-)richterlichen Rechtskonkretisierung, also ein

    Auftrag zur schöpferischen Umsetzung des Normzwecks für den Einzelfall ist (vgl. Simi-

    tis, 1982, S. 194 f.; Nave-Herz, 2003, S. 75 f.; Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 58,

    66, 67; Jestaedt, 2008, S. 12). In der Argumentation von Staudinger/Coester (2009, § 1666

    Rn. 66 ff.) fungiert er dabei als heuristisches Prinzip, das in Gestalt von rechtlichen und

    außerrechtlichen Kindeswohlkriterien die zur Bildung der (entscheidungstragenden) Fall-

    norm erforderlichen einzelfallbezogenen Bausteine liefert, worin Goldstein u.a. (1974, S.

    103) jedoch eine Verstaatlichung, Verrechtlichung und uneingeschränkte Justiziabilität des

    Kindeswohlbegriffes ausmachen. Mit der von Zitelmann (2001, S. 122 ff.) beschriebenen

    sozialwissenschaftlichen Wende des Familienrechts verband sich dabei zunächst die Hoff-

    nung, mit Hilfe objektiver und wissenschaftlich erhärteter, ideologiefreier Ergebnisse der

    empirischen Sozialwissenschaft an eine von Vorurteilen unbelastete, exakte Diagnose von

    Problemen zu kommen (vgl. auch Simitis, 1994, S. 435 ff.). Allerdings erwies sich diese

    Hoffnung als trügerisch und birgt nun ihrerseits die Gefahr, dass sich an dieser Stelle ins-

    besondere die Konjunktur bestimmter „Schulen“ und Paradigmen des Wissenschaftsmark-

    tes niederschlägt (vgl. hierzu auch Koechel, 1995, S. 135 ff.). Fieseler (2004a, S. 6) weist

    an dieser Stelle jedoch ausdrücklich darauf hin, dass gerade im Hinblick auf die Konkreti-

    sierung des Begriffs im interdisziplinären Diskurs insbesondere sozialpädagogische Kom-

    petenz gefragt ist, so dass in seinen Augen die Sozialpädagogik maßgeblich an der An-

    wendungspraxis und Entwicklung des Kindeswohlbegriffs beteiligt ist.

    Staudinger/Coester (2009, § 1666 Rn. 65 f.) sehen den Kindeswohlbegriff in dreierlei

    Funktionen: als Eingriffslegitimation in das elterliche Erziehungsprimat, als Entschei-

    dungsmaßstab für den Familienrichter im Kontext der Auswahl notwendiger Maßnahmen

    zum Schutz des Kindes und als verfahrensleitendes Prinzip (vgl. auch Balloff, 2004, S. 64;

    Schone, 2008a, S. 26). Dabei enthält das Kindeswohlprinzip zwei Grundwertungen: zum

    einen den Vorrang der Kindesinteressen vor allen anderen beteiligten Interessen als „Leit-

    und Sperrfunktion“ und zum anderen den Vorrang der Einzelfallgerechtigkeit vor allge-

    meinen Regeln, wobei an dieser Stelle die bereits beschriebene und oftmals auch beklagte

    fehlende allgemeingültige Definition von Nutzen ist, um den Begriff offen für eine dem

  • 20

    Einzelfall gerecht werdende Auslegung zu halten. Allerdings wertet Mnookin (1975) den

    daraus resultierenden sehr hohen Auslegungsspielraum als offenkundigen Nachteil dieses

    Charakteristikums, der ggf. Einzelfallentscheidungen als ungerecht und nicht hinreichend

    vorhersehbar erscheinen lässt und Goldstein u.a. (1974, S. 100) sprechen davon, dass der

    hohe Individualitätsgrad jedes einzelnen Falles den Gesetzgeber praktisch zu einer Ab-

    straktion zwingt, die keinen anderen Ausweg zulässt als die partielle Substitution legislati-

    ver - durch richterliche Aktivität.

    Dabei weist der Kindeswohlbegriff schon per definitionem über den juristischen Bereich

    hinaus, da in diesem Kontext Kindeswohlkriterien, die innerhalb und außerhalb des Rechts

    angesiedelt sind, als Bausteine der richterlichen Normkonkretisierung fungieren (vgl. auch

    Simitis, 1994, S. 431 ff.; Zitelmann, 2000 , S. 241 ff.). Auf rechtlicher Ebene ist zunächst

    die entscheidende Blickrichtung vorgegeben, nämlich dass nur das Wohl des Kindes staat-

    liche Eingriffe in das elterliche Erziehungsprimat legitimiert. Staudinger/Coester (2009, §

    1666 Rn. 69) weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass hier das Gesamtwohl

    des Kindes im Fokus steht und sich dieses auch aus seiner Eingebundenheit und Angewie-

    senheit auf familiäre Gemeinschaft definiert. An dieser Stelle zeigt sich das Spannungsver-

    hältnis zwischen Kinder- und Elternrechten in aller Deutlichkeit.

    Hinsichtlich der inhaltlichen Kriterien des Kindeswohls nehmen Staudinger/Coester (2009,

    § 1666 Rn. 70) die Unterteilung in eine körperliche, geistige und seelische Komponente

    vor, wobei das seelische Wohl unter dem Eindruck wissenschaftlicher Erkenntnisse der

    Kindesentwicklung erst in neuerer Zeit zunehmend an Bedeutung gewann (vgl. Simitis

    u.a., 1979) und durch das SorgeRG 1979 nachträglich eingefügt wurde (vgl. auch Münch-

    Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 42). In diesem Kontext wendet Seithe (2001, S. 115) je-

    doch zu Recht ein, dass sich diese Bereiche in der Lebens- und Entwicklungsrealität des

    Kindes kaum voneinander abgrenzen lassen, sondern sich vielmehr unmittelbar bedingen

    und Auswirkungen aufeinander haben (vgl. auch Palandt, 2014, § 1666 Rn. 7).

    Als entscheidungsleitendes rechtliches Kriterium fungiert darüber hinaus das im Grundge-

    setz (GG) verankerte Erziehungsziel der selbständigen und eigenverantwortlichen, zu sozi-

    alem Zusammenleben fähigen Persönlichkeit (vgl. auch Münch-Komm-Olzen, 2012, §

    1666 Rn. 43; § 1 Abs. 1 SGB VIII) und die in der Fachdiskussion als rechtlich abgesichert

  • 21

    geltenden Prinzipien von Kontinuität und Stabilität der Betreuungs- und Erziehungsver-

    hältnisse, die Beachtlichkeit innerer Bindungen des Kindes, seines subjektiven Willens

    sowie des familiären Gesamtzusammenhangs des Kindesschutzes (vgl. Staudinger/Coester,

    2009 , § 1666 Rn. 70 ff.; Münch-Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 43). In dieser Argumen-

    tationslinie weisen sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch Olzen ausdrücklich da-

    rauf hin, dass sich ein Kind grundsätzlich in die Familie einfügen muss und den Eltern ein

    erheblicher Gestaltungsspielraum hinsichtlich ihrer Lebensverhältnisse zusteht, so dass

    dem Kind nicht mit Berufung auf sein Wohl „bessere Eltern“ verschafft werden können

    (vgl. auch BVerfGE 60, 79, 94; Münch-Komm-Olzen, 2012, § 1666, Rn. 44; Münning,

    1992, S. 236).

    Im Diskurs um die Operationalisierung des Kindeswohlbegriffes betont Maywald (2005, S.

    240 ff.), dass jedes Kind einen Anspruch auf die Respektierung und möglichst umfassende

    Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse hat, welcher in der rechtlichen Normie-

    rung der UN-Kinderrechtskonvention (vgl. BfFJ, 1993) verankert ist und so etwas wie ein

    Grundgesetz für alle Kinder dieser Welt darstellt. Mit ihrer Ratifizierung hat die BRD die

    Konvention zwar 1992 offiziell anerkannt, dies aber unter dem Vorbehalt, dass sich hieraus

    keine subjektiven Rechtsansprüche für das einzelne Kind ergeben, die dann auch im inner-

    staatlichen Recht geltend gemacht werden können, so dass die Konvention hierzulande

    lediglich Empfehlungscharakter besitzt oder kritisch formuliert, nur eine Alibifunktion

    innehat.

    Bei einem Blick in unsere Verfassung fällt auf, dass man den Begriff Kindeswohl dort ver-

    geblich sucht. Aber trotz der Tatsache, dass Kinder in unserer Verfassung nicht explizit als

    Träger eigener Rechte vorkommen, sondern vielmehr im Art. 6 GG als Anhängsel ihrer

    Eltern behandelt werden, ist ein Perspektivenwechsel, der Kinder nicht mehr als Objekte

    der Erwachsenen, sondern als Subjekte und damit als Träger eigener Rechte betrachtet,

    nicht mehr zu übersehen. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1968 in einem

    wegweisenden Urteil klargestellt, dass das Kind „ein Wesen mit eigener Menschenwürde

    und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit i.S.d. Art. 1 Abs. 1 und Art.

    2 Abs. 1 GG ist.“ (BVerfG 24, 119, 144) Jestaedt (2008, S. 12 f.) konkretisiert dies weiter,

    indem er das Wohl des Kindes als spezifische Adaption der in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten

    Menschenwürde begreift, die angesichts der Sondersituation des Kindes mit seiner beson-

  • 22

    deren Schutzbedürftigkeit einer alters- und entwicklungsbedingten Freiheits- und Persön-

    lichkeitsentfaltungshilfe bedarf und den rechtlichen Anknüpfungspunkt für den besonderen

    Anspruch auf Achtung, Schutz und Förderung des in wesentlichen Hinsichten selbstbe-

    stimmungsunfähigen Kindes in seiner Subjektivität und Personalität darstellt (vgl. auch

    Fritzsche, 2004, S. 121 ff.).

    Schmid/Meysen (2006, S. 2-2) erweitern und ergänzen diesen Gedanken und sehen das

    Kind als Grundrechtsträger mit eigener Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG), mit

    dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und dem

    Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), wel-

    ches gleichzeitig den Schutz seines Eigentums und Vermögens genießt (Art. 14 Abs. 1

    GG). Diese Grundrechte stellen die zentralen Bezugspunkte für eine Definition des Kin-

    deswohls dar und beinhalten gleichermaßen einen Gegenwarts- wie Zukunftsbezug, indem

    sie sowohl auf Förderung als auch auf Schutz abstellen. Sie formulieren damit sowohl die

    Rechtspositionen des Kindes zum Staat als auch gegenüber den Eltern. Schmid/Meysen

    (2006, S. 2-2) weisen in diesem Kontext darauf hin, dass es dabei nicht um eine an ein be-

    stimmtes Alter geknüpfte Grundrechtsmündigkeit des Kindes geht, sondern lediglich um

    die Grundrechtsträgerschaft, die jedem Kind, egal welchen Alters, zusteht.

    Der beschriebene Perspektivenwechsel zugunsten des Kindes fand seinen Ausdruck in der

    umfassenden Sorgerechtsreform von 1980, mit der der Übergang von der „elterlichen Ge-

    walt“ hin zur „elterlichen Sorge“ vollzogen wurde (vgl. auch Baviera, 2003, S. 143 f.).

    Dabei legt der in das BGB eingefügte § 1626 Abs. 2 die Mitsprache von Kindern und Ju-

    gendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen entsprechend ihres Entwicklungs-

    standes fest. Auch das im Jahr 1990 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz

    (KJHG-SGB VIII) benennt Kinder ausdrücklich als Träger eigener Rechte und die Kind-

    schaftsrechtsreform von 1998 stellt eheliche und nichteheliche Kinder gleich, räumt dem

    Kind den Umgang mit beiden Elternteilen ein und stellt ihm in besonders konfliktreichen

    gerichtlichen Kinderschutzverfahren (wie den meisten der hier untersuchten Fälle) einen

    eigenen Verfahrenspfleger als „Anwalt des Kindes“ zur Seite. Nach dem 2000 in Kraft

    getretenen Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung haben Kinder hierzulande nun

    nach der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB auch ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.

  • 23

    Diese Debatte würde allerdings zu kurz greifen, wenn man diesen offensichtlichen Wandel

    im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern mit einer Einebnung der Unterschiede

    zwischen beiden Gruppen gleichsetzen würde. Trotz der Tatsache, dass an die Stelle der

    Unterordnung des Kindes unter den Willen und die Macht der Eltern eine Beziehung auf

    der Basis gleicher Grundrechte tritt, in der die Würde und die Rechte des Kindes neben

    denen der Erwachsenen einen selbstverständlichen Platz einnehmen, wäre es fatal, Kinder

    als kleine Erwachsene zu begreifen. Vielmehr bedürfen sie eines altersangemessenen

    Schutzes und der Fürsorge, damit im Schonraum der Kindheit Verantwortlichkeit wachsen

    und eingeübt werden kann. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit einerseits,

    weil Kinder genauso Menschen sind und der Differenz andererseits, weil sie altersbedingte

    spezifische Bedürfnisse haben, liegt nach Ansicht von Maywald (2005, S. 242), dem ich

    mich anschließe, das besondere Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern. Und es ist

    auch unbestritten, dass im Zweifel Eltern über die Belange ihrer Kinder entscheiden, falls

    man sich trotz entsprechender Bemühungen nicht einvernehmlich einigen kann.

    Dettenborn (2007) unterscheidet beim Kindeswohlbegriff, der im Kindschaftsrecht allge-

    genwärtig ist, vier Gebrauchskontexte: nämlich eine

    Bestvariante am Beispiel des § 1671 Abs. 2 (2) BGB (die Sorgerechtsübertragung

    soll „dem Wohl des Kindes am besten“ entsprechen)

    Genugvariante am Beispiel der § 1741 Abs. 1 BGB sowie § 27 SGB VIII („wenn

    dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist“)

    den Maßstab zur Gefährdungsabwehr am Beispiel der §§ 1666 Abs. 1 (im Falle ei-

    ner Gefährdung des Kindeswohls „hat das Gericht die Maßnahmen zu treffen zur

    Abwendung der Gefahr“) und 1632 Abs. 4 BGB (die Herausgabe des Kindes aus

    einer Pflegefamilie kann das Gericht abwehren, „wenn und solange das Kindes-

    wohl durch die Wegnahme gefährdet würde“) sowie § 42 SGB VIII (das Jugendamt

    ist zur Inobhutnahme verpflichtet, „wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des

    Kindes dies erfordert“)

    das Kindeswohl als übergreifendes Kriterium im Sinne einer Metafunktion am Bei-

    spiel der §§ 1697a und 1696 BGB (das Gericht hat Anordnungen zu ändern, „wenn

    dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt

    ist“)

  • 24

    Obwohl eng an das Vorhandensein einer funktionierenden Familie gekoppelt, kennt das

    deutsche Recht eine dem britischen Recht vergleichbare „Welfare Checklist“, die eine po-

    sitive Definition des Kindeswohls vornimmt, nicht (vgl. Staudinger-Salgo, 2007 § 1631,

    Rn. 10; White/Carr/Lowe, 1995, S. 11 ff.). Seithe (2001, S. 89 ff.) erstellt jedoch in Anleh-

    nung an die kindlichen Grundbedürfnisse (siehe Kapitel 2.1.1.) einen Katalog von Bedin-

    gungen auf, die für die Gewährleistung des Kindeswohls notwendig sind. Diese Aufstel-

    lung erhebt zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber verdeutlicht anschaulich, wel-

    che Qualität der Grundversorgung ein Kind in unserer Gesellschaft beanspruchen kann:

    Bedingungen für das körperliche Wohl

    ausreichende und ausreichend gute Ernährung

    ausreichende körperliche Pflege

    ausreichende witterungs-, alters- und geschlechtsangemessene Kleidung

    ausreichende medizinische Versorgung

    körperliche Unversehrtheit

    geschützter Raum in der Wohnung, Platz zum Spielen, Möglichkeiten für Rückzug

    und Schlaf

    Bewegungs- und Spielmöglichkeiten außerhalb der Wohnung

    Bedingungen für das geistige Wohl

    Schaffung eines anregenden Umfeldes

    Förderung und Unterstützung

    Spielmöglichkeiten und Anregung zum Spiel

    Stabilität und Orientierung durch geordnete Abläufe, funktionale Regeln

    verbale Ansprache

    Wahl einer angemessenen Schule und Unterstützung beim Lernen

    Unterstützung bei der Berufswahl

    Bedingungen für das seelische (soziale, emotionale) Wohl

    eine positive Beziehung zwischen Eltern und Kind

    unterstützendes, akzeptierendes Geschwistersystem

    verlässliche Sicherheit, Geborgenheit und Schaffung von „Urvertrauen“

  • 25

    Schutz und Aufsicht

    offene Kommunikation und konstruktiver Umgang mit Konflikten

    Verständnis, Trost und Anteilnahme zeigen

    Kontakt mit anderen Kindern/Erwachsenen zulassen und fördern

    Setzung von Wertmaßstäben und Vorbildfunktion der Eltern

    Gewährung altersangemessener Mitbestimmung und Achtung der kindlichen Auto-

    nomiebedürfnisse

    Dabei darf allerdings das (gerade in dieser Arbeit offen zutage tretende) Risiko nicht außer

    acht gelassen werden, dass hierbei mittelschichtorientierte Moral- und Wertvorstellungen

    vor allem an ökonomisch/sozial deklassierte Familien angelegt werden, die dann leicht in

    entsprechende Defizitzuschreibungen münden können, welche in der Folge Gefahr laufen,

    als Erziehungsbedarf markiert und entsprechend diszipliniert bzw. sanktioniert zu werden.

    (vgl. Zitelmann, 2001, S. 133; Fieseler/Herborth, 2001, S. 192).

    Abschließend ist noch auszuführen, dass im Fachdiskurs weitgehend Einigkeit darüber

    besteht, dass der Wille des Kindes zwar zentraler und integrierter Bestandteil des Kindes-

    wohls ist, allerdings das Kindeswohl nicht im Kindeswillen aufgeht3 (vgl. Maywald, 2005,

    S. 236; Künzli/ Kaufmann-Hayoz/ Bertschy, 2003, S. 199; Coester, 1983; Zitelmann,

    2001; Dettenborn, 2007, S. 80 ff.; Köster, 1997, S. 131). Für Jaun (2003, S. 193) ist das

    Recht des Kindes auf Partizipation als Ausdruck seines eigenen Willens „kein Akt des

    Goodwills von Erwachsenen, hat nichts mit Wünsche-Erfüllen zum Tag des Kindes zu tun,

    sondern ist ein Grundrecht, auf dessen Erfüllung Kinder einen Anspruch haben.“ (vgl. auch

    Zitelmann, 2001, S. 145 ff.). Dettenborn (2007, S. 81) formuliert in diesem Kontext tref-

    fend, dass als Prinzip zur Sicherung des Kindeswohls gelten muss: Soviel Akzeptanz des

    Kindeswillens wie möglich, soviel staatlich reglementierender Eingriff wie nötig. Nach-

    dem allerdings in Untersuchungen von Fegert u.a. (1999 und 2001) fast alle befragten Kin-

    der beklagten, dass die Helfer für sie zwar Gutes wollten, aber im Sinne von Advokaten

    über ihren Kopf hinweg entschieden, befragte Lüscher (2003, S. 85 ff.) Kinder (vielleicht

    sogar erstmalig) am Rande einer Fachtagung zur Kindeswohlproblematik, was sie unter

    3 zu den Willenstheorien des Familienrechts vgl. Coester (1983), Moritz (1989) sowie Klußmann/ Stötzel

    (1995). Zitelmann (2001) hat mit ihrer Dissertation eine umfassende Untersuchung zum Spannungsverhältnis

    von Kindeswohl und Kindeswille im Rahmen der Verfahrenspflegschaft für Kinder gemäß § 50 FGG vorge-

    legt.

  • 26

    Kindeswohl verstehen und ließ diese Vorstellungen in die anschließende Fachdiskussion

    einfließen. Und Liebel (2005, S. 42) fasst diese Argumentationslinie noch einmal zusam-

    men, indem er sagt: „Gerade mit Blick auf Kinder und ihrem noch immer marginalen Sta-

    tus in der Gesellschaft ist es wichtig, zu betonen, dass sie selbst die Möglichkeit haben

    müssen, zu definieren und darauf Einfluss zu nehmen, was ihrem „Wohl“ dienlich ist.“

    2.2. Kindeswohlgefährdung

    Nachdem der Kindeswohlbegriff ausführlich diskutiert wurde und das ihm inhärente elter-

    liche Erziehungsprimat bereits an mehreren Stellen angeklungen ist, wird nun auf den für

    diese Arbeit maßgeblichen Begriff der Kindeswohlgefährdung fokussiert. Der familien-

    bzw. jugendhilferechtliche Gefährdungsbegriff unterscheidet sich vom klinisch gebräuchli-

    chen Gefährdungsbegriff, von dem bereits dann gesprochen wird, wenn Kinder bzw. Ju-

    gendliche vermeidbaren Belastungen ausgesetzt sind oder Entwicklungsverläufe zeigen,

    die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit negativer Entwicklungsergebnisse einhergehen,

    durch eine deutlich engere Fassung (vgl. Kindler, 2009, S. 765). An dieser Stelle weist

    Fegert (1997, S.15) zu Recht darauf hin, dass hier die jeweiligen Kriterien des Kindes-

    wohls nicht unter dem Blickwinkel der Optimalität, sondern unter dem Fokus des Noch-

    hinreichens diskutiert werden müssen. Dabei werden in jeder Definition von Kindeswohl-

    gefährdung Beobachtungen und Bewertungen miteinander verknüpft, so dass eine soziale

    Sinnkonstruktion entsteht, die ähnlich wie beim Kindeswohlbegriff verschiedenen Dimen-

    sionen unterliegt.

    Die Gefährdungsgrenze im rechtlichen Sinne ist das zentrale Tatbestandmerkmal des §

    1666 BGB und bezeichnet zugleich die Demarkationslinie zwischen grundgesetzlich ver-

    bürgtem elterlichen Erziehungsprimat und staatlichem Wächteramt, so die treffende For-

    mulierung von Coester (Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 81; vgl. auch Maywald,

    2005, S. 236). In diesem Kontext macht Zenz (1979, S. 307) auf den unverkennbaren

    Kompromisscharakter des geltenden Rechts aufmerksam, wonach das Recht zwar das Kind

    schützen, aber den Eltern „nicht weh tun“ will. Hier gilt es, eine „delikate Balance“ zu hal-

    ten zwischen konkreten Kindesinteressen, dem Elternrecht und Gesellschaftsinteressen

    (vgl. Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 81).

  • 27

    Bereits 1956 hat die Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes den Begriff der Kindes-

    wohlgefährdung, der im § 1666 Abs. 1 BGB verankert ist, konkretisiert und versteht da-

    runter „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der

    weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen

    lässt.“ Aus dieser Definition ergeben sich drei Kategorien, die für die Feststellung einer

    Kindeswohlgefährdung gleichzeitig erfüllt sein müssen:

    die gegenwärtig vorhandene Gefahr

    eine Erheblichkeit der Schädigung sowie

    die Sicherheit der Prognose (vgl. BGH, FamRZ 1956, 350).

    Bei der Frage nach der gegenwärtig vorhandenen Gefahr ist der Begriff nicht auf Sub-

    sumtion angelegt, sondern die Betrachtung orientiert sich dabei vielmehr strikt an der

    Konkretisierung der Situation des einzelnen Kindes oder Jugendlichen und hier an der Be-

    friedigung seiner Bedürfnisse nach Fürsorge, Schutz und Erziehung, so dass die Relativität

    des Gefährdungsbegriffs hier ihren Ausdruck findet (vgl. Coester, 2008, S. 5). Auf dieser

    Folie ist auch die Feststellung von Schone u.a. (1997, S. 163 ff.) nachvollziehbar, die die

    selbst in den einschlägigen familienrechtlichen Entscheidungen der Gerichte fehlende in-

    haltliche Kriterienbildung beklagen und nur minimale Kriterien für die Basisfürsorge im

    Bereich des körperlichen Kindeswohls, nämlich die Sicherstellung von Ernährung, Hygie-

    ne und ärztlicher Versorgung finden konnten, während unter den veröffentlichten gerichtli-

    chen Entscheidungen für den Bereich des geistigen oder seelischen Kindeswohls keinerlei

    übereinstimmende Kriterien ersichtlich waren, da sie sich vollends am Einzelfall orientier-

    ten. Als Indizien gelten hier – bei aller Vorsicht wegen der geringen Anzahl der untersuch-

    ten Fälle – jedoch eine nicht altersgerechte Sprache sowie Verhaltensauffälligkeiten im

    weitesten Sinne.

    Die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr kann sich dabei aus einem feststellbaren elterli-

    chen Unterlassen bzw. Handeln, den konkret vorfindbaren Lebensumständen eines Kindes

    oder aus Aspekten der Entwicklung des Kindes ergeben, zunächst einmal unabhängig vom

    elterlichen Verhalten. In den meisten Fällen wird es jedoch darauf ankommen, die Lebens-

    umstände bzw. das Tun oder Unterlassen der Eltern mit den Bedürfnissen eines konkreten

    Kindes in Beziehung zu setzen. Weil jedoch die Bedürfnisbefriedigung des Kindes oder

    Jugendlichen hier maßgeblich ist, muss dieses elterliche Handeln oder Unterlassen zwar

  • 28

    nicht mit dem gleichen, sehr hohen Beweisstandard nachgewiesen werden, aber zur An-

    nahme einer Gefahr für das Kindeswohl ist zumindest ein begründeter erheblicher Ver-

    dacht notwendig, bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. Schmid/Meysen, 2006, 2-5;

    Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 82 - 83).

    Bezüglich der Erheblichkeit einer drohenden oder bereits eingetretenen Schädigung erfolgt

    der explizite Hinweis von Schmid/Meysen (2006, 2-6), dass hier nicht jede Entwicklungs-

    beeinträchtigung bzw. jede elterliche Verletzung kindlicher Interessen unter Kindeswohl-

    gefährdung subsumiert werden kann, sondern der Gesetzgeber auf die Nachhaltigkeit und

    Ernsthaftigkeit der Gefährdung abstellt, um dem im Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG festgeschrie-

    benen Vorrang elterlicher Sorge vor staatlicher Einmischung gerecht zu werden. Kinder

    und Jugendliche müssen daher aufgrund ihrer Eingebundenheit in das familiäre Gesamt-

    system wirkliche und vermeintliche Nachteile durch Entscheidungen, Verhaltensweisen

    oder Lebenslagen ihrer Eltern oder Umwelt in Kauf nehmen, sofern sie dadurch in ihrer

    Entwicklung nicht erheblich bedroht werden (vgl. auch BVerfGE 60, 79, 94; Münch-

    Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 44 – 46; Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 84 – 85;

    Goldberg, 2009, S. 137). Coester (2008, S. 4 ff.) findet hierfür die treffende Formulierung,

    nämlich dass der Staat dies nicht tut, um „das Beste“ für das Kind zu gewährleisten, son-

    dern es nur vor dem „Schlimmsten“ zu schützen. Allerdings sieht er auch die Schwierigkeit

    dieser Grenzziehung in der Einzelfallentscheidung, da hierbei auch subjektive Vorver-

    ständnisse sowie dem gesellschaftlichen Wandel unterliegende Normen und Werte eine

    Rolle spielen und Schone (2007, S. 37) bringt das Dilemma auf den Punkt, indem er kri-

    tisch hinterfragt: „Wo schlägt überstrenges Erziehungsverhalten in körperliche und seeli-

    sche Misshandlung um, wo wird eine sehr ärmliche Versorgung in materieller und emotio-

    naler Hinsicht zur Vernachlässigung?“

    Als drittes Kriterium für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung ist die Sicherheit

    der Vorhersage einer gefährdungsbedingten erheblichen Beeinträchtigung der kindlichen

    Entwicklung für die Zukunft bedeutsam. Bei einer bereits eingetretenen Schädigung des

    Kindes bei weiter bestehender Gefährdungssituation erübrigt sich dieses. Ansonsten wird

    auf prognostische Bewertungen abgestellt, um der vielfach kumulativen oder verdeckten

    Wirkungsweise von Gefährdungen und daraus resultierenden „Schläfereffekten“ als zeit-

    lich verzögert auftretende Beeinträchtigungen im kindlichen Entwicklungsverlauf Rech-

  • 29

    nung zu tragen (vgl. Schmid/Meysen, 2006, S. 2-6). Gerade bei chronischen Formen von

    Vernachlässigung, die diese Arbeit in den Blick nimmt, darf dieser Aspekt keinesfalls

    unterschätzt werden. An dieser Stelle sei jedoch der für mich berechtigte Einwand von

    Coester (2008, S. 3) gestattet, dass das zentrale Anliegen des § 1666 BGB in erster Linie

    der Schutz gefährdeter Kinder ist und nicht der Schutz der Eltern und dass „kein Blut unter

    der Tür durchfließen muss, bevor eingeschritten werden kann.“

    Durch das am 12.07.2008 in Kraft getretene „Gesetz zur Erleichterung familiengerichtli-

    cher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ (BGBl. 1, S. 1188 ff.) reformierte der

    Gesetzgeber den § 1666 BGB mit dem Ziel, durch den Abbau von Tatbestandshürden ein

    frühzeitiges Einschreiten der Familiengerichte zu ermöglichen und Kausalitätsprobleme

    zwischen Elternverhalten und Kindeswohlgefährdung zu vermeiden. Zu diesem Zweck

    wurde das Merkmal des „elterlichen Erziehungsversagens“ aus dem Tatbestand der Norm

    gestrichen und zusätzlich wurde die Vorschrift um einen nicht abschließenden Katalog

    möglicher Maßnahmen, die vom Familiengericht zur Beseitigung der Kindeswohlgefähr-

    dung ergriffen werden können, ergänzt (vgl. Olzen, 2010, S. 1). Keine Veränderung erfuhr

    jedoch das Gefahrabwendungsprimat der Eltern, welches ein negatives Tatbestandsmerk-

    mal darstellt und dem Familiengericht erst die Möglichkeit des Eingriffs eröffnet, nachdem

    es sich davon überzeugt hat, dass die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr

    abzuwenden. (§ 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB). Coester (2008, S. 5) beklagt in diesem Kontext

    jedoch zu Recht die Schwierigkeit einer solchen Prüfung durch den Familienrichter, der im

    Rahmen seiner juristischen Ausbildung noch immer zu wenig auf diesen Tätigkeitsbereich

    vorbereitet wird, aber trotzdem in der elterlichen Anhörung entscheiden muss, ob die El-

    tern sich ernsthaft um die Beseitigung der Gefährdungslage bemühen und dazu auch in der

    Lage sind oder ob es sich um bloße Lippenbekenntnisse handelt (vgl. Staudinger/ Coester,

    2009, § 1666 Rn. 169).

    Das Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009, S. 32) schlägt auf der Grundlage der bisherigen

    Diskussion eine Arbeitsdefinition für Kindeswohlgefährdung vor, die mir insbesondere für

    sozialpädagogische Handlungsfelder hilfreich erscheint.

    Kindeswohlgefährdung ist demnach:

    „Ein das Wohl und die Rechte des Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich gelten-

    der Normen und begründeter professioneller Einschätzung)

  • 30

    beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. das Unterlassen einer angemesse-

    nen Sorge

    durch Eltern oder andere Personen

    in Familien und Institutionen,

    das zu nicht-zufälligen Verletzungen,

    zu körperlichen und seelischen Schädigungen

    und/oder zu Entwicklungsbeeinträchtigungen

    eines Kindes führen kann,

    was die Hilfe und evtl. das Eingreifen

    von Jugendhilfe-Einrichtungen und Familiengerichten

    in die Rechte der Inhaber der elterlichen Sorge

    im Interesse der Sicherung der Bedürfnisse und des Wohls eines Kindes notwendig

    machen kann.“

    Dabei wird schnell klar, dass es sich bei Kindeswohlgefährdung um ein vielgestaltiges,

    multifaktorielles, kontextuelles Mehrpersonen-Geschehen handelt, welches sich zudem

    auch laufend verändert.

    Um in diesem Kontext einerseits zu verdeutlichen, dass Gefährdungen entsprechend den

    unterschiedlichen Inhalten der elterlichen Sorge in unterschiedlichsten Bereichen der kind-

    lichen Existenz zutage treten können und andererseits eine Orientierungshilfe zu geben,

    entwickelte Coester eine Vielzahl unterschiedlicher Fallgruppen der Kindeswohlgefähr-

    dung, wie Gesundheitsgefährdungen mit den Untergruppen Kindesmisshandlung, Ausbeu-

    tung der Arbeitsleistung, Behandlungsverweigerung, Schwangerschaftsabbruch, AIDS-

    Probleme, Vernachlässigung, Overprotection und Gefährdung der Wertbildung. Als weite-

    re Fallgruppen benennt er Störungen der Bindungs- und Erziehungskontinuität, Beschrän-

    kungen von Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, Beschneidung des sozialen

    Kontakts, Adoleszenzkonflikte sowie Konflikte in Familien mit abweichendem kulturellen

    Hintergrund (vgl. Staudinger/ Coester, 2009, § 1666 Rn. 96 – 165).

    Auch in den Augen von Münder u.a. (2000, S. 45 f.) handelt es sich bei dem Begriff der

    Kindeswohlgefährdung um eine Sammelkategorie, unter deren „Begriffsdach“ sich eine

    Spannweite unterschiedlicher kindeswohlgefährdender Aspekte und Handlungen verbirgt.

    Für ihr Forschungsprojekt, welches dieser Studie in vielen Bereichen als Grundlage dient,

  • 31

    erwiesen sich die Fallgruppen im Gesetzestext des § 1666 BGB jedoch als zu grob oder

    unzutreffend, zumal sie verschiedene Ebenen der Gefährdung ansprechen, so dass die For-

    schergruppe selbst eine neue Kategorisierung vornimmt. Hierbei lehnen sich Münder u.a.

    an Simitis u.a. (1979) an, der zwischen Kindesmisshandlung, Vernachlässigung, Wechsel

    der Bezugsperson, Adoleszenzkonflikten und Elternkonflikten unterschied. Diese Katego-

    risierung wurde dann weiter spezifiziert und in:

    Vernachlässigung

    körperliche Kindesmisshandlung

    seelische Kindesmisshandlung

    sexueller Missbrauch

    Erwachsenenkonflikte ums Kind und

    Autonomiekonflikte

    unterteilt, wobei dieses Kategoriensystem auch für diese Arbeit als geeignet erscheint und

    daher den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt wird. Für die weitere Untersuchung

    wäre es jedoch zu komplex, Fälle aus allen Fallgruppen der näheren Betrachtung zu unter-

    ziehen, da es sich hierbei um ganz unterschiedliche Phänomene mit jeweils spezifischer

    Dynamik handelt. Bei der weiteren Fokussierung wird daher auf die Vernachlässigung als

    spezielle Form der Kindeswohlgefährdung abgestellt, weil es sich hierbei nach den Er-

    kenntnissen von Münder u.a. (2000, S. 99 ff.) um die am häufigsten vorkommende Ge-

    fährdungslage von Kindern und Jugendlichen handelt, die nach Aussagen der Fachkräfte in

    den untersuchten Jugendämtern/ASD 65,1% der Gefährdungslagen von Kindern und Ju-

    gendlichen ausmacht (Mehrfachnennungen waren hier möglich). Die seit 2012 eingeführ-

    ten detaillierten statistischen Erhebungen zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung

    bestätigen dies mit einem Anteil der Vernachlässigung im Jahr 2014 von 50,5% an allen

    akuten Gefährdungslagen (vgl. Statistisches Bundesamt, 2015a, S. 6 f.).

    2.3. Vernachlässigung

    Vernachlässigung stellt eine Form der Kindeswohlgefährdung dar, die in der bis August

    2008 gültigen Fassung des § 1666 BGB ausdrücklich als eigene Fallkategorie ausgewiesen

    wurde (zum Wegfall der Gefährdungsursachen im § 1666 BGB, siehe Kapitel 2.2.), aber

    niemals eine ähnlich hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie z.B. Kindesmisshand-

    lung oder sexueller Missbrauch auf sich ziehen konnte. Wolock/Horowitz (1984) prägten

  • 32

    hierfür den Ausdruck der „Vernachlässigung der Vernachlässigung“ und Fegert (1997, S.

    15) spricht von einer thematischen Tabuisierung des Phänomens, welches im Verhältnis zu

    seinem quantitativen Ausmaß und der ihm inhärenten erheblichen Folgen eher unterer-

    forscht in Deutschland geblieben ist (vgl. Wolff, 2007, S. 71).

    Dabei unterscheiden Garbarino/ Gilliam (1980) Kindeswohlgefährdungen danach, ob die

    Gefahr von bestimmten Handlungen der Betreuungspersonen oder vom Unterlassen be-

    stimmter Handlungen durch die Betreuungspersonen ausgeht, wobei die Vernachlässigung

    hierbei das gesamte Spektrum relevanter Unterlassungen umfasst. In dieser Lesart bedeutet

    Vernachlässigung die Entgleisung bzw. das Versagen adäquaten elterlichen Verhaltens und

    ist durch mangelnde oder unangemessene Förderung des Kindes, die Missachtung seiner

    Gesundheit, die mangelnde Aufsicht des Kindes und dessen mangelnde Pflege und Fürsor-

    ge gekennzeichnet (vgl. Petermann, 1991; Engfer, 1986, S. 621; Zobel 2005, S. 156; Fe-

    gert/ Ziegenhain, 2008, S. 7).

    Schone u.a. (1997, S. 21) entwickeln eine umfassendere Definition und begreifen Vernach-

    lässigung als „andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorge-

    verantwortlicher Personen (Eltern oder anderer von ihnen autorisierte Betreuungsperso-

    nen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes

    notwendig wäre. Diese Unterlassung kann aktiv oder passiv (unbewusst) aufgrund unzu-

    reichender Einsicht oder unzureichenden Wissens erfolgen. Die durch Vernachlässigung

    bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichti-

    gung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder

    schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden

    bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen.“ Ähnlich definieren sie auch

    Coester (2009, § 1666 Rn. 117 ff.) und Olzen (Münch-Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 100

    – 102) in den entsprechenden Gesetzeskommentaren zum BGB sowie Deegener (2005, S.

    37). Kindler (2006, S. 3-1) ergänzt die Definition von Schone u.a. um den Aspekt, dass

    diese Unterlassung „für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträch-

    tigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorher-

    sehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet“, wobei sich an dieser Stelle die Frage

    aufdrängt, wonach er die Einsichtigkeit von Dritten bemisst. Dies impliziert zumindest,

    dass der Hinweis verschiedener Autoren berechtigt erscheint, dass ein Verständnis von

  • 33

    Vernachlässigung nur auf der Grundlage eines guten Informationsstandes über altersab-

    hängige Bedürfnisse bzw. Entwicklungsaufgaben von Kindern gewonnen werden kann

    (vgl. Zuravin, 1999; Scannapieco/ Connell-Carrick, 2002). Bei dieser Argumentation ist

    aber auch zu beachten, dass bei der inhaltlichen Auslegung des Begriffes schichtspezifi-

    sche Wertungen als normative Elemente nicht zu unterschätzen sind (vgl. Schone u.a.,

    1997, S. 166), wobei die Gefahr naheliegt, dass die Bewertungen zwischen den meist mit-

    telschichtangehörigen Fachkräften des ASD bzw. Familienrichtern und den meist zur Un-

    terschicht gehörenden betroffenen Familien aneinander vorbeigehen, wobei mich gerade

    diese Vermutung zu dieser Untersuchung animiert hat.

    Balloff (2003, S. 154) spezifiziert die eben genannte Definition nochmals und sieht Ver-

    nachlässigung als deutliches und dauerhaftes Außerachtlassen der grundlegenden körperli-

    chen und seelischen Bedürfnisse des Kindes nach Nahrung, Sauberkeit, Pflege, Förderung,

    Beaufsichtigung, Schutz vor Gefahren, bedarfsgerechter Kleidung, Unterkunft und medizi-

    nischer Versorgung sowie affektiver Kommunikation (vgl. auch Kinderschutz-Zentrum

    Berlin, 2009, S.43).

    Unter Bezugnahme auf die bereits skizzierte Definition von Schone u.a. ist Vernachlässi-

    gung die Folge elterlicher Unterlassungen und Fehlhandlungen und resultiert zumeist aus

    der Unfähigkeit (sei es durch mangelndes Wissen oder Überforderung), angemessen auf

    die Bedürfnisse von Kindern einzugehen. Schone u.a. (1997, S. 22) zählen z. B. das Allein-

    lassen von Kindern über unangemessen lange Zeit und unzureichende Versorgung und

    Pflege zur passiven Form der Vernachlässigung, während sie in der Verweigerung von

    Schutz und Krankheitsbehandlung und dem Vorenthalten von Nahrung als Strafmaßnahme

    eine aktive Form der Vernachlässigung sehen.

    Mit dem Hinweis, dass Kinder zu einem gegebenen Alterszeitpunkt in jeweils mehreren

    Entwicklungs- und Lebensbereichen der Fürsorge bedürfen, eine vorhandene Vernachläs-

    sigung aber nicht alle diese Bereiche gleichermaßen betreffen muss, nimmt Kindler (2006,

    S. 3-2) in Anlehnung an bestehende amerikanische (Sedlak/ Broadhurst, 1996) und kanadi-

    sche (Trocme u.a., 2001) Kategorisierungssysteme eine Einteilung in verschiedene Ver-

    nachlässigungsbereiche vor, die im Wesentlichen an den von Seithe (2001, S. 89 ff.) erar-

    beiteten Bedingungskatalog für das Kindeswohl (siehe Kapitel 2.1.2.) anknüpfen:

  • 34

    körperliche Vernachlässigung

    unzureichende Versorgung mit Nahrung, Flüssigkeit, sauberer Kleidung, Hygiene,

    Wohnraum, medizinischer Versorgung

    kognitive bzw. erzieherische Vernachlässigung:

    Mangel an Konversation, Spiel und anregenden Erfahrungen; fehlende erzieheri-

    sche Einflussnahme auf regelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz, Suchtmittelge-

    brauch; fehlende Beachtung eines besonderen und erheblichen Erziehungs- und

    Förderbedarfs

    emotionale Vernachlässigung:

    Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind, fehlende Reaktion auf emotionale

    Signale des Kindes

    unzureichende Beaufsichtigung:

    Kind bleibt längere Zeit allein und auf sich gestellt, keine Reaktion auf längere un-

    angekündigte Abwesenheit des Kindes

    Dabei geht das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg in

    seinem Papier zum Kinderschutz nach meiner Ansicht zu Recht davon aus, dass sich diese

    Bereiche nicht scharf voneinander trennen lassen, sondern oftmals ineinander übergehen

    (vgl. Land Brandenburg, 1997, S. 11). Kindlers (2006, S. 3-2) Argument, wonach in den

    meisten Fällen die körperliche Vernachlässigung oder unzureichende Beaufsichtigung ei-

    nes Kindes den Anlass der Kontaktaufnahme (in der Regel des Jugendamtes) mit der Fami-

    lie darstellen und erst im Verlauf der Fallbearbeitung dann unter Umständen auch Formen

    von emotionaler, erzieherischer und kognitiver Vernachlässigung ins Auge fallen, er-

    scheint in diesem Kontext logisch, zumal die beiden genannten „Einfallstore“ für Außen-

    stehende am ehesten sichtbar werden. An dieser Stelle müssen auch die Hinweise von

    Krieger u.a. (2007, S. 17) und Ziegenhain (2006, S. 12) bedacht werden, dass sich Ver-

    nachlässigung von Kindern meist als chronischer Zustand mit schleichendem Verlauf zeigt

    und nur selten einzelne Ereignisse wie etwa bei körperlicher Misshandlung oder sexuellem

    Missbrauch auszumachen sind. Bezüglich der emotionalen Vernachlässigung verweist das

    Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009, S. 54 ff.) darauf, dass diese Form der Vernachlässi-

    gung zwar nicht auf den ersten Blick ins Auge fällt, aber aus entwicklungspsychologischer

    Sicht möglicherweise das Kernstück aller Vernachlässigungsformen bildet, da sie die

    schwersten psychosozialen Folgen für das Kind nach sich zieht.

  • 35

    In der Fachdiskussion besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass meist Kinder, die in be-

    sonderem Maße auf Schutz, Fürsorge und Förderung angewiesen sind, von dieser Form der

    Kindeswohlgefährdung betroffen sind, wie z.B. kleinere und/oder behinderte Kinder, die

    (noch) nicht in der Lage sind, solche Mangelsituationen aus eigenen Ressourcen heraus zu

    kompensieren oder die erfahrene Nichtberücksichtigung ihrer Bedürfnisse öffentlich aus-

    zudrücken (vgl. Münder u.a., 2000, S. 49; Deegener, 2005, S. 37; Schone, 2008b, S. 52 f.;

    Wolff, 2007, S. 70; Reinhold/ Kindler, 2006a, S. 17-1 ff.). Ziegenhain (2006, S. 12) spricht

    hier von der besonderen Vulnerabilität in der frühen Kindheit. Dabei ist zu beachten, dass

    die Gefährdung eines Kindes durch Vernachlässigung umso schwerwiegender ist, je jünger

    das Kind ist sowie bei zusätzlicher Krankheit oder Behinderung (vgl. Fegert, 2002; Zie-

    genhain, 2006, S. 12 f.) und Schone (2008b, S. 53) spricht davon, dass gerade kleine Kin-

    der die Mangelsituationen quasi ungefiltert erleiden, ohne dass sie ihnen ausweichen oder

    sie aus eigenen Ressourcen kompensieren könnten.

    Schone u.a. (1997, S. 21) charakterisieren Vernachlässigung als besondere Form der Bin-

    dungsstörung zwischen den sorgeverantwortlichen Personen und dem Kind, da sie die Un-

    fähigkeit oder fehlende Bereitschaft der Eltern/Betreuungspersonen zur Wahrnehmung und

    Befriedigung kindlicher Lebensbedürfnisse abbildet. Sie zeigen in ihrer empirischen Ana-

    lyse (ebda., S. 21 f.), dass neben der materiellen Situation auch soziale und familiäre Be-

    lastungen, z.B. Familiengröße, Konflikte bzw. Instabilität in der Partnerschaft, Trennung/

    Scheidung, Krankheit oder Tod in der Familie sowie persönliche Probleme, wie mangelnde

    Leistungsfähigkeit, Überforderung, Krankheit, Sucht, mangelndes Selbstwertgefühl, sozia-

    le Isolation, gesellschaftliches Umfeld mit aggressiven Handlungen und Defizite bzw. ne-

    gative Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte eine gewichtige Rolle spielen. Deege-

    ner (2005, S. 37 f.) konkretisiert die Belastungsdimensionen und sieht Armut, beengte

    Wohnverhältnisse, Überforderung/ Krisen/ Krankheiten der Eltern, mangelndes Wissen

    und unzureichende erzieherische Kompetenz, absichtliches Ignorieren in Verbindung mit

    Ablehnung des Kindes, arbeits- oder wohlstandssüchtige bzw. aus Notlagen entstehende

    übermäßige Berufstätigkeit als mögliche Ursachen einer Vernachlässigung an. Dabei ist

    davon auszugehen, dass es sich auch hierbei nur um mögliche Indikatoren handelt, die ih-

    rerseits nicht zwangsläufig zu einer Vernachlässigung führen müssen, jedoch die Wahr-

    scheinlichkeit einer solchen deutlich erhöhen, insbesondere wenn es zu einer Verschrän-

  • 36

    kung von persönlichkeitsbezogenen und strukturbezogenen Merkmalen kommt (vgl. auch

    Schone, 2008b, S. 54).

    Esser (2007, S. 103 ff.) kann mit Hilfe seiner Mannheimer Risikokinder-

    Längsschnittstudie folgende Risikofaktoren für eine Ablehnung des Kindes bzw. Vernach-

    lässigung4 ausmachen:

    ungewollte Schwangerschaft

    unvollständige Familie, meist alleinerziehende Mutter

    sehr frühe Elternschaft

    Geburten in kurzen Abständen (unter 18 Monaten)