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Leseprobe Muhlstein, Anka Die Austern des Monsieur Balzac Eine delikate Biografie Aus dem Französischen von Grete Osterwald © Insel Verlag insel taschenbuch 4103 978-3-458-35803-9 Insel Verlag

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Leseprobe

Muhlstein, Anka

Die Austern des Monsieur Balzac

Eine delikate Biografie

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4103

978-3-458-35803-9

Insel Verlag

Honoré de Balzac war Asket und Gourmet, Hungerleider und Viel-fraß in einer Person. Nach Phasen strengster Arbeitsdisziplin undAbstinenz stürzte er sich in wahre Fresszüge durch die Feinkost-läden, Märkte und Bäckereien von Paris. Dabei entdeckte er auchdas Restaurant für sich, das sich zunehmend als öffentlicher Ortdes kulinarischen Genusses etablierte: Nicht nur diente es ihm alsideale Bühne für die Inszenierung seiner Sittengemälde – sondernauch als perfekter Ort für seine ganz persönliche Lust am exzessi-ven Essen.

Die Austern des Monsieur Balzac ist mehr als eine Biografie. Esist eine Liebeserklärung an das Paris des 19. Jahrhunderts, das hierin all seiner sinnlichen Pracht wiederaufersteht. Ein Buch, das Heiß-hunger weckt – auf die Stadt, auf Balzacs Romane und auf dasLeben.

Anka Muhlstein wurde 1935 in Paris geboren. Zusammen mit ih-rem Mann, dem Romancier und Anwalt Louis Begley, lebt die His-torikerin und Autorin seit 1974 in New York. 1996 wurde ihr derPrix Goncourt verliehen. Die Austern des Monsieur Balzac wurdevon der Zeitschrift DAMALS als ›Das historische Buch des Jahres2011‹ ausgezeichnet.Zuletzt erschienen von ihr im Insel Verlag: Königinnen auf Zeit.Katharina von Medici, Maria von Medici, Anna von Österreich(it 3132), Napoleon in Rußland (2008) und Die Gefahren der Ehe.Elisabeth von England und Maria Stuart (2009).

insel taschenbuch 4103Anka Muhlstein

Die Austerndes Monsieur Balzac

Aus dem Französischen vonGrete Osterwald

Insel Verlag

Copyright © 2009 by Anka MuhlsteinUmschlagfoto: RelaxImages/plainpicture

Für Louis

Erste Auflage 2012insel taschenbuch 4103Insel Verlag Berlin 2012

© by Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2011Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: bürosüd, MünchenSatz: Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-35803-9

Einleitung

Für einen Schriftsteller, der seine Romanfiguren so oft insRestaurant schickt, der so viel Zeit in Esszimmern verbringt,den Köchinnen über die Schultern schaut und die bestenAdressen für sämtliche Spezialitäten zu kennen scheint,schreibt Balzac erstaunlich wenig über das, was sich aufden Tellern befindet. Nichts in seinem Werk entspricht denbewegten Seiten, auf denen Proust sich an das unvergleich-liche Bœuf en Gelée der Françoise, an die Saucen von Ma-dame Verdurin oder die Petits Fours von Madame Swannerinnert; nirgendwo bei Balzac wird die Marmelade so sorg-fältig abgeschäumt, wie Kitty und ihre Schwestern es in An-na Karenina tun; man bewundert nicht die leidenschaftlicheSorge fürs Detail, mit der Graf Rostow in Krieg und Friedenden Ablauf eines Galadiners überwacht. Was Balzac inte-ressiert, ist nicht der Geschmack der Dinge, sondern das Es-sen als Sittenstudie. Damit unterscheidet er sich von VictorHugo, dem die Nahrung oder vielmehr die Entbehrung der-selben stets dazu dient, das grausame Elend der Armen auf-zuzeigen, oder von George Sand, die sich vorzugsweise ineher idyllischen als realistischen Schilderungen ländlicherMahlzeiten ergeht. In seinem Romanzyklus Die mensch-liche Komödie benutzt Balzac Tischszenen aller Art, um so-wohl die Gesellschaft als auch den Charakter seiner Figuren

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zu beschreiben. Sag mir, wo du isst, was du isst und wann duisst, und ich sage dir, wer du bist.

Auf Balzac selbst angewandt, wäre diese Methode aller-dings zum Scheitern verurteilt. Zu exzentrisch waren seineGewohnheiten. Wenn man die Porträts dieses beleibtenMannes mit dem vorstehenden Bauch sieht, die Schilderun-gen mancher Essensszenen liest, wie sollte man sich Balzacanders vorstellen denn als unersättlichen Schlemmer, le-benshungrig, gierig nach Geld, nach Frauen, nach Ruhm?Was läge näher als die Vermutung, dass er sein Werk nachdem eigenen Bild erschaffen habe? »Beim Anblick einer Py-ramide von Birnen oder schönen Pfirsichen, von denen kei-ne der anderen an Verlockungen nachstand, geriet er beina-he in wollüstige Verwirrung, sodass seine Lippen zu zucken,seine Augen zu funkeln anfingen und seine Hände zitterten.Er pflegte hastig zu essen, ja das Obst verschlang er nurso. Bei Tisch erwies er sich als prächtiger Pantagruelist: Erhatte die Krawatte abgelegt und den Hemdkragen geöffnet,hielt das Obstmesser fest in der Faust . . ., lachte . . ., platztelos wie eine Bombe . . . Dann schwoll seine Brust, die Schul-tern tanzten unter dem bebenden Kinn . . . Er konnte sichschütteln vor unbändigem Vergnügen . . . , dass wir oft glaub-ten, Rabelais im Refektorium der Abtei Thélème vor uns zuhaben.«1 Aber ziehen wir keine voreiligen Schlüsse. Balzacwar kein gewöhnlicher Esser.

Er schrieb schnell. Bedrängt von seinen Gläubigern, ge-trieben von einer überschäumenden Vorstellungskraft, schlosser die Tür, machte sich ans Werk, arbeitete achtzehn Stun-den am Tag, und zwei Monate später hatte der Druckerdas Manuskript von Vater Goriot oder Verlorene Illusionen

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in der Hand. Während seiner Schaffenszeiten trank Balzacnur Wasser, aß Obst, manchmal gegen neun Uhr morgensein weich gekochtes Ei oder, wenn er hungrig war, mit But-ter verrührte Sardinen, etwas Geflügel oder ein Stück Lamm-keule am Abend und beschloss seine Mahlzeit mit ein biszwei Tassen exzellenten schwarzen Kaffees ohne Zucker.Ein Asket also, unser Balzac? In gewisser Weise ja. Aber nichtimmer. Kaum war das »Gut zum Druck« erteilt, eilte er insRestaurant, schlürfte hundert Austern, die er als Vorspeisemit vier Flaschen Weißwein begoss, und bestellte dann dasWeitere: zwölf Lammkoteletts vom Pré-salé natur, eine Jung-ente auf weißen Rüben, zwei gebratene Rebhühner und eineSeezunge in Sauce Normande, ganz abgesehen von sonstigenLeckereien wie Süßspeisen, Früchten, feinsten Doyenné-Bir-nen, und selbige nie unter einem Dutzend. Satt gegessen,ließ er die Rechnung meistens an seinen Verleger schicken.Auch allein zu Hause konnte ihn, vor allem, wenn er Ängsteoder Kummer litt, ein derartiger Heißhunger überfallen,dass er binnen einer Viertelstunde »eine Gans und etwas En-divien samt drei Birnen und einem Pfund Weintrauben«2

verschlang, was ihn natürlich krank machte.Ein Vielfraß also? Auch nicht. Ein Vielfraß isst nach Bal-

zacs eigenen Worten »ohne Methode, ohne Verstand, ohneSeele . . . Er verschluckt ganze Bissen; sie gehen durch seinenMund, ohne den Gaumen zu kitzeln, ohne die geringste Fan-tasie zu wecken; sie verlieren sich auf direktem Wege ineinem Magen von erschreckendem Fassungsvermögen; . . .nichts kommt aus seinem Mund heraus, alles verschwin-det darin!«3 Nein, das ist nicht Balzac, nicht der Mann, dervon seinen Zeitgenossen einhellig als überaus liebenswerter

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Tischgenosse beschrieben wird und der, mitnichten uner-sättlich, auch maßvolle Zeiten kannte. Als er gegen Ende sei-nes Lebens ein Jahr in Polen verbrachte, nahm er am Famili-enleben der Frau teil, die er liebte, Madame Hanska, undstellte sich auf ihren Tagesablauf ein. Zum ersten Mal inseinem Leben arbeitete er wenig und aß regelmäßig zu fest-gesetzten Zeiten.

Nur war das Essen in Polen leider nicht gut. Er klagte hu-morvoll über das schlechte Obst, über Karotten, die nachRüben, und Räben, die nach nichts schmeckten. Was aberschwebte ihm vor, um die Kost zu verbessern? Er verriet esden Töchtern seiner Schwester:

»Meine lieben kleinen Nichten,seid bitte so nett und steckt mir in den nächsten Brief,

den Eure Mutter oder Großmutter mir schreibt, eine gutverständliche und klare Anleitung, klar und verständlichgenug, damit wir den Muschiks hier in der Küche sagenkönnen, wie man 1. die von Eurer Mutter erfundene Toma-tensauce macht . . . 2. das Zwiebelpüree, wie Louise es beiEurer Großmutter zu machen pflegte, denn hier, das müsstIhr wissen, leben wir in einer großen Wüste . . .«4

Bescheidener könnte die Bitte kaum sein.

Wie sind diese Gegensätze zu vereinbaren? Einfach indemman anerkennt, dass Balzac nie gleichzeitig mit seinen Ro-manfiguren aß, es war stets ein Entweder-oder: er oder sie.Beginnen wir mit ihm, um besser zu verstehen, welche Be-deutung er dem Essen und der Gestaltung von Tischszenenin seiner Menschlichen Komödie verleiht.

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I | Balzac bei Tisch

Die Fantasie bietet, was das Leben nicht geboten hat. Beiden Balzacs wurde nicht gut gegessen, und dem kleinen Ho-noré war es nie vergönnt, in einer von köstlichen Düften er-füllten Küche herumzuschnüffeln, den Deckel eines verfüh-rerisch dampfenden Kochtopfs zu lüften oder aufzupassen,bis der Kuchen gebacken war. Vater Balzac, Monsieur Père,dessen einziger Ehrgeiz darin bestand, hundert Jahre alt zuwerden, aß nur etwas Obst um fünf Uhr nachmittags undging so früh wie möglich nach oben, ins Bett. Die Mutter,Madame Mère, allzu beschäftigt mit ihren Lieben und denLustbarkeiten der mondänen Gesellschaft, hatte keine Aderfür »Zärtlichkeiten, Küsse, schlichte Freude am Leben«,5 siekümmerte sich kaum um das Wohlbefinden ihres ältestenSohnes, Honoré. Balzac war kein verwöhntes Kind. SeineMutter liebte ihn nicht, davon war er zumindest überzeugt,und die mütterliche Kälte färbte auf seine gesamten Jugend-erinnerungen ab. Tatsächlich scheint er sogar für eine Zeit,da in puncto Kindererziehung raue Sitten herrschten, überdas übliche Maß vernachlässigt worden zu sein.

Gleich nach der Geburt, am 20. Mai 1799, wurde Honoréeiner Amme anvertraut und war bereits vier Jahre alt, als erins Elternhaus zurückkehrte. Mit acht Jahren wurde er zuden Oratorianern von Vendôme in Pension gegeben, wo er

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sechs Jahre blieb, ohne ein einziges Mal nach Hause zu fah-ren, und wo seine Eltern, die sich im sechzig Kilometer ent-fernten Tours niedergelassen hatten, ihn nur zwei Mal be-suchten. Während dieser ganzen Zeit war das Essen für ihnkeine Freude, sondern brachte ihm ständige Demütigungenein. Da er kein Taschengeld bekam, konnte er sich nichtdie Leckereien beschaffen, mit denen sich seine Kameradenden Bauch vollstopften. Daran erinnert er sich, als er späterin Die Lilie im Tal beschreibt, welche Qualen der kleine Fe-lix Vandenesse in der Schule leiden musste. »Das berühmteSchmalzfleisch und die Grieben von Tours waren Haupt-bestandteil der Mahlzeit, die wir mittags einnahmen, zwi-schen Frühstück und dem Essen zu Hause, das mit der Stun-de unserer Rückkehr zusammenfiel. Diese Zubereitung, dievon manchen Feinschmeckern so gelobt wird, sieht man sel-ten auf den aristokratischen Tafeln in Tours. Wenn ich auchdavon gehört hatte, ehe ich in Pension kam, so hatte ichdoch niemals das Glück gehabt, den braunen Aufstrich aufmeinem Brot zu kosten. Auch wenn er in der Pension nichtMode gewesen wäre, hätte ich doch ein nicht weniger star-kes Verlangen danach gehabt, denn es war eine fixe Ideefür mich geworden, ungefähr wie wenn eine der elegantes-ten Herzoginnen von Paris Verlangen nach der Küche vonPortiersleuten hatte und es, weil sie eine Frau war, auchbefriedigte . . . Meine Kameraden, die alle aus kleinbürger-lichen Familien stammten, führten mir ihre herrlichen Grie-ben vor und fragten mich, ob ich wisse, wie man sie macht,wo man sie verkauft und warum ich keine hätte. Sie lecktensich die Lippen und priesen ihre Grieben, diese Reste vonausgelassenem Schweinefett, die gekochten Trüffeln ähnlich

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sehen. Sie durchstöberten meinen Korb und fanden nur Oli-vet-Käse oder trockene Früchte und brachten mich um mitihrem: ›Hast du denn gar nichts?‹«6

Im Lauf der Jahre, die Balzac im Pensionat verbrachte, ent-wickelte er sich, mangels Essfreuden, zu einem begierigenLeser. Wie bei dem vereinsamten Schüler in Louis Lam-bert – auch dies ein stellenweise autobiografischer Text –war die Lektüre bei ihm »zu einer Art Heißhunger gewor-den, den nichts stillen konnte. Er verschlang Bücher allerArt und labte sich wahllos an religiösen, geschichtlichen,philosophischen und physikalischen Werken«, ja er gestandsogar, »dass er einen unglaublichen Genuss bei der Lektürevon Wörterbüchern empfand«.7 Unter dem Einfluss dieserunausgewogenen Kost, die bereits den erwachsenen Roman-cier ankündigt, wurde der Junge krank und kehrte mit vier-zehn Jahren nach Hause zurück. Im folgenden Jahr zog dieganze Familie von Tours nach Paris. Wieder wurde Honoréin Pension gegeben – in ein Haus, in dem sich heute übrigensdas Musée Picasso befindet; wieder litt er darunter, dass ersich beim Portier, der, wie damals üblich, eine Kantine be-trieb, nicht mit Leckereien versorgen konnte. Zwei Jahrespäter schrieb er sich in der juristischen Fakultät ein und ent-deckte das gewöhnliche Essen der Studentenrestaurants. Mitsiebzehn begann er, nebenbei als Schreiber in einer Anwalts-kanzlei zu arbeiten. Hier lernte er Ehedramen kennen, häus-liche Tragödien, den Stoff so vieler seiner späteren Romane,hier teilte er das fröhliche, ausgelassene, von Streichen undScherzen erfüllte Leben der anderen Bürogehilfen. Der jungeBalzac, überschwänglich, unwiderstehlich komisch, lenkteseine Kollegen so sehr ab, dass er eines Tages vom Kanzlei-

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vorsteher folgendes Billett erhielt: »Monsieur Balzac wirdgebeten, heute nicht zu kommen, da viel Arbeit vorliegt.«Die Schreiber waren, wie alle jungen Leute, ob damals oderheute, immer hungrig. Auf dem Marmor des zugemauertenKamins in dem staubigen Gemeinschaftsraum, der ihr Ar-beitszimmer war, sah man etliche »Stücke Brot, dreieckigeAbschnitte Brie-Käse und frische Schweinskoteletten nebenGläsern, Flaschen und einer Tasse Schokolade für den Vor-steher des Büros. Der Duft all dieser Speisen mischte sichwunderbar mit dem Brodem des Ofens, der über alles Maßgeheizt wurde, dazu kam noch der eigentümliche Muff derSchreibstuben und der aufgehäuften Masse Makulatur, allesin allem eine so starke Mischung, dass darin der Gestankeines Fuchses spurlos untergegangen wäre.«8

Der Ekel vor Dreck und den widerwärtigen Gerüchen die-ser Nahrungsmittel sollte bei Balzac tiefe Spuren hinterlas-sen. Er erinnert sich daran, als er in Vater Goriot den Tischder Pension Vauquer beschreibt, »einen langen Tisch mitWachstuch, fettig genug, um einen übermütigen Externenzu locken, seinen Namen mit dem Finger daraufzuschrei-ben«, das lautstarke Gerangel an diesem Tisch, wo sich diePensionäre um die Porreesuppe scharen, oder das übel rie-chende Esszimmer der Madame Marneffe in ihren Elends-zeiten. Und wie sollte man übersehen, dass ein Festmahlbei Balzac weniger ein gastronomisches Ereignis war als ei-nes, das der Prachtentfaltung diente, eher eine Augenweidedenn eine Gaumenfreude. Essen um des Essens willen warihm schon immer ein Graus. Lieber stehend in einen Apfelbeißen als sich an einen ungepflegten Tisch setzen. Eineschmutzige Serviette, ein schlecht gespültes Glas verdarben

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ihm den Appetit. Wenn er unterwegs war, steckte er sich zurStärkung lieber eine geräucherte Rinderzunge und ein Dut-zend Brötchen in die Tasche, statt sich an den Mittagstischzu setzen, wo die Reisenden der Postkutsche an den Um-spannstationen »Gasthausfraß« bekamen, wie der junge Os-car Husson es in Der Eintritt ins Leben nennt.

Balzac blieb nicht lange in der Anwaltskanzlei. Seine El-tern, die Paris wieder hatten verlassen müssen und in dasnahe gelegene Dorf Villeparisis gezogen waren, ließen sicherweichen und gaben ihm zwei Jahre Zeit,um sich als Schrift-steller zu erproben. Mit einer bescheidenen Summe für denLebensunterhalt ausgestattet, hauste er in einer Mansardeim dritten Stock eines Hauses an der Rue de Lesdiguières,unweit der Bastille, und fristete ein kümmerliches Dasein.Elend kann man es nicht nennen – die Zuwendung von tau-sendfünfhundert Francs pro Jahr entsprach dem dreifachenDurchschnittslohn eines Arbeiters –, aber es waren zwei ein-same Jahre, zurückgezogen, bei intensiver Arbeit und sehrknapp bemessener Kost. Er verpflegte sich selbst und aßwie eine Spitzmaus,winzige Mahlzeiten,die er seinen Schwes-tern beschrieb, bestehend aus Brot und Kirschen oder Brotund Käse, mit etwas Milch für ein paar Sous. Wenn er ein-mal über die Stränge schlug und sich zwei Melonen leistete,begnügte er sich am nächsten Tag mit einer Handvoll Nüs-sen. Schon jetzt scheint er sich hauptsächlich von Obst zu er-nähren, aber wichtiger noch, er wird diese Erfahrung mehr-fach benutzen, um die Anfänge junger Menschen zu beschrei-ben, denen eine glorreiche Zukunft bevorsteht, so im Falldes großen Arztes Desplein, des Malers Joseph Bridau oderdes bewundernswerten Politikers Z. Marcas. Dass Arbeit

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und Exzesse unvereinbar seien, davon war Balzac sehr frühschon überzeugt.

»Ich wohnte damals in einer Gasse . . ., der Rue de Lesdi-guières, sie führt von der Rue Saint-Antoine, gegenübereinem Brunnen nächst dem Bastilleplatz, bis zur Rue de laCerisaie . . . Ich lebte äußerst einfach, ja fast mönchisch,wie ein Geistesarbeiter eben leben muss«, schreibt er aneiner wiederum mit autobiografischen Details gespicktenStelle.9 Diese zwei Jahre der Entbehrung haben zwar keinMeisterwerk hervorgebracht, aber Balzac stellt sie stets alseine wenn auch nicht sehr angenehme, so doch für den Künst-ler notwendige Prüfung dar. Im Roman illustriert er seineTheorie am Beispiel des Bildhauers Wencelas Steinbock, derdie schönsten Kunstwerke schafft, solange er unter der Fuch-tel von Tante Lisbeth steht, die ihn behandelt wie ein Pferd,»dem man Scheuklappen anlegt, damit es nicht von sei-nem Wege nach rechts und links blickt«.10 Doch kaum dassWencelas’ junge Ehefrau ihre Reichtümer und Freuden anihn verschwendet, gibt er sich der Faulheit hin. Das materiel-le Glück, »die Zärtlichkeiten des Weibes verjagen die Muse,sie beugen die Kraft und die Standhaftigkeit des Schaffen-den«.11

Im Jahr 1820 gab Balzac die Mansarde auf und stürztesich ins tätige Leben, indem er zuerst unter PseudonymSchundromane schrieb, dann sein Glück in verschiedenenProjekten unternehmerischer Art versuchte, um schließlichsein Geld mit der Veröffentlichung von Romanen, Erzählun-gen und Artikeln zu verdienen. Unglücklicherweise nahm erstets weniger ein, als er mit vollen Händen ausgab, und solebte der berühmte Schriftsteller, Stern am Himmel der fran-

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zösischen Literatur, bis zum Tag seines Todes in der Angst,wegen Schulden im Kerker zu landen. Aber egal, wie es umdie Finanzen stand, ob es fette oder magere Jahre waren, sei-ne Essgewohnheiten änderten sich kaum: Fasten in den Zei-ten pausenloser Arbeit, »damit die Verdauungsmüdigkeitnicht zum Gehirn aufsteigt«,12 Exzesse, sobald er die Federaus der Hand legte – maßlose, schockierende Exzesse, ver-gleichbar den Ausschweifungen von Matrosen, die nach lan-ger Seefahrt in einem Hafen landen. Es war ein ständigerWechsel zwischen hastigen Imbissen und einer minutiösenSuche nach höchsten Gaumenfreuden. Sein Freund LéonGozlan hat ihn auf der Jagd nach Makkaroni begleitet, einerTeigware, die bei den Parisern groß in Mode war.

Balzac hatte einen Bäcker in der Rue Royale entdeckt, derdiese Delikatesse in Form kleiner Pasteten auf dem Back-blech zubereitete. Nach einer Theaterprobe, um drei Uhrnachmittags, zu spät fürs Mittag- und zu früh fürs Abend-essen, stürmte er vom Boulevard des Capucines zur RueRoyale in den fraglichen Laden, wo er zum Entsetzen desServierfräuleins »mit drei oder vier Bissen, die eines Gargan-tua würdig gewesen wären«, vier Portionen davon ver-schlang und dabei »lachend mit vollem Munde FenimoreCooper rühmte«, dessen Trapper am Ontario-See er geradegelesen hatte.13 Seinen Freunden zufolge durchstreifte erganz Paris, um die beste Kaffeemischung aufzutreiben. »SeinRezept war grundgelehrt, raffiniert und göttlich wie sein Ge-nie. Dieser Kaffee setzte sich aus drei Sorten von Bohnenzusammen: Bourbon, Martinique, Mokka. Den Bourbonkaufte er in der Rue du Mont-Blanc (heute Rue de la Chaus-sée d’Antin; A. M.), den Martinique in der Rue des Vielles-

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Audriettes . . . und den Mokka im Faubourg Saint-Germainbei einem Händler der Rue de l’Université . . . Es war jedesMal eine halbe Tagesreise quer durch Paris. Aber ein guterKaffee ist so viel Mühe schon wert.«14 Er war derart verses-sen auf seine Spezialmischung, dass er sie mitnahm oder sichschicken ließ, wenn er sich in der Touraine aufhielt, denndort war der Kaffee abscheulich, wie überall in der Provinz.Es empörte ihn maßlos, dass der Kaffee außerhalb derHauptstadt weder aufgebrüht noch gefiltert, sondern ein-fach gekocht wurde, und in zahlreichen Romanen beklagter diese barbarische Sitte. In Die Bauern beispielsweise be-schreibt er das Städtchen Soulanges, zweihundert Kilome-ter von Paris entfernt, wo der Inhaber der Herberge, VaterSocquard, den Kaffee in einem Gefäß kocht, »das in jedemHaushalt unter dem Namen ›der große braune Pott‹ bekanntist; er ließ das Wasser auf den gemahlenen und mit Zichorieversetzten Kaffee laufen und servierte das Gebräu mit derKaltblütigkeit eines Pariser Straßenkellners in einer Porzel-lantasse, die nicht zerbrochen wäre, wenn man sie auf denBoden geworfen hätte«.15

Bekanntlich trank Balzac unerhörte Mengen extra star-ken Kaffees, nicht nur gegen die Müdigkeit, sondern vor al-lem als Stimulanz. Dank dem Kaffee, behauptete er, »gerätalles in Aufruhr: Die Gedanken rücken vor wie Batailloneder großen Armee auf einem Schlachtfeld, . . . die Erinnerun-gen kommen im Sturmschritt, . . . die Geistesblitze rücken inSchützenlinie vor; die Metaphern erheben sich; das Papierfüllt sich mit Tinte.«16 Wenn er sich mitten in der Nacht andie Arbeit machte, bereitete er seinen Kaffee selbst in einerbesonderen Kanne zu, einer Cafetière »à la Chaptal«, beste-

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hend aus zwei Behältnissen mit dazwischen gesetztem Filter,die auch der weltgewandte Romanheld Charles Grandet sei-ner provinziellen Cousine Eugénie empfiehlt. Im Lauf derJahre wurde Balzacs Kaffee immer stärker. Ohne die Droge,die »dieses grausame geistige Aufputschmittel« für ihn ge-worden war, glaubte er nicht mehr schreiben zu können.Am Ende trank er ihn in Sturzbächen, in Strömen, trotz derschrecklichen Krämpfe, die ihn oft genug plagten, trotz desnervösen Augenzuckens, trotz des brennenden Magens. Tee,so bildete er sich gern ein, hätte den Kaffee ersetzen können,aber er fand einfach keinen guten. Als er Madame Hanskavon diesem Missstand schrieb, schickte sie ihm aus Polen»Karawanen-Tee«, das heißt Tee aus China. Im Gegenzugbesorgte er ihr »Cotignac«, ein Quittengelee, das außer-ordentlich schwierig aufzutreiben war. Um dieses Gelüstzu befriedigen, musste er sämtliche Feinkostläden von Parisabklappern, ehe er bei Corcellet, einem neu eröffnetenSchlemmerparadies am Palais-Royal, die letzte Dose aufstö-berte. Bedauern wir ihn nicht deswegen: Er liebte diese ArtBesorgungen.

Aber ehe ich fortfahre, muss ich zunächst Balzacs großeLiebe, Madame Hanska, vorstellen. Eine Unbekannte hatteihm 1832 einen so feinsinnigen und bezaubernden Brief ge-schrieben, dass er sie persönlich kennenlernen wollte. Ertraf sich mit der Fremden, einer polnischen Gräfin, in Genf,verliebte sich glühend und arrangierte im Folgejahr ein Wie-dersehen. Ungeachtet ihres Ehemanns erlebten die beiden ei-ne »unvergessliche« Nacht, und trotz der Entfernung, trotzder seltenen Begegnungen – einmal vergingen acht Jahre, oh-ne dass sie einander sahen – dauerte die Beziehung an. Das

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dokumentiert ein Briefwechsel von zweitausend Seiten, derAufschluss über viele Einzelheiten aus Balzacs Alltagslebengibt. Nachdem ihr Mann gestorben und ihre Tochter verhei-ratet war, willigte Madame Hanska in die Ehe mit Balzacein. Aber noch fehlte die Erlaubnis des Zaren, dessen Unter-tanin sie war. Die Altverlobten mussten sich weitere Jahregedulden, bis 1850 die letzte Genehmigung vorlag. Im Märzfand die Hochzeit statt. Balzac starb im August desselbenJahres. Aber kehren wir in die 1830er Jahre zurück, die Zeitdes furiosen Schaffens und der ersten Meisterwerke, der al-les verschlingenden Schulden, der maßlosen Ausgaben undder Kaffeeorgien.

Sobald er nicht gezwungen war, sich mit dem Essen um derbloßen Ernährung willen zu begnügen, sondern über genü-gend Mittel verfügte, um ein paar Freunde zur geselligenRunde an den Tisch zu laden, ließ er seiner Lust an der In-szenierung freien Lauf. Natürlich sind üppige Tafelfreudenbilliger in einem Roman zu haben – wie etwa in Das Cha-grinleder, wo das Festmahl des Bankiers Taillefer aus Tau-sendundeine Nacht entsprungen scheint –, aber Balzac warnicht der Mann, der sich im eigenen Leben gegen Ver-schwendung gesträubt hätte. Erst recht nicht, wenn er eineDame beeindrucken wollte. So lud er eines Abends die hin-reißende Olympe Pélissier ein, eine Kurtisane, die ihm vor-übergehend ihre Gunst erwiesen hatte. Olympe, auch alsfrüheres Modell von Horace Vernet bekannt, war die Mä-tresse des erfolgreichen Romanciers Eugène Sue gewesen,ehe sie eine feste Verbindung mit Rossini einging und 1847dessen Frau wurde.

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