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Fachbereich Informatik und Mathematik ISMI - Institut f¨ ur Stochastik & Mathematische Informatik Integrationstheorie WS 2012 H. Dinges 16. Juli 2012

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Fachbereich Informatik und Mathematik

ISMI - Institut fur Stochastik

& Mathematische Informatik

Integrationstheorie

WS 2012

H. Dinges

16. Juli 2012

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Zum Anliegen der Veranstaltung ‘Integrationstheorie’

Die moderne Integrationstheorie entwickelte sich zusammen mit der abstrakten Mengen-lehre (nach G. Cantor, F. Hausdorff u. a.) zu Beginn des 20.ten Jahrhunderts. Ein Abrissdieser Entwicklung findet sich im Lehrbuch von M. Brokate und G. Kersting (Birkhauser-Verlag 2011). Das Wichtigste der Maß-und Integrationstheorie des 20. Jahrhunderts istder Gegenstand dieses schonen Buchleins.

Das Interesse der Mathematiker an Flachen- und Volumeninhalten ist naturlich vielalter; beruhmt ist beispielsweise die Art und Weise, wie Archimedes das Volumen unddie Oberflache der Kugel bestimmt hat. Wir wollen in unserer Veranstaltung fur Studie-rende im 2. Studienjahr nicht alle Fragen zur Integration ausklammern, uber welche dieMathematiker nachgedacht haben, bevor (durch die Konstruktionen von H. Lebesgue, C.Caratheodory u. a.) die Begriffe Messbarkeit und σ-Additivitat die allesbeherrschendenThemen der Maß-und Integrationstheorie wurden.

Noch ein kleiner Unterschied zum didaktischen Ansatz von Brokate und Kersting: Beiunserer Herangehensweise bleiben wir zuerst einmal noch nahe an den unseren Anfangernvertrauten gleichmaßig stetigen Funktionen auf einem Intervall, bevor wir in die (vonvielen als sehr abstrakt empfundene) Welt der messbaren Raume eintauchen.

Vorgeschichte: Ubersetzungen der Bucher von Heron (um 100) und Archimedes hat-ten im 15. Jahrhundert den Mathematikern die antiken Integrationsmethoden zuganglichgemacht und die Untersuchung von Kurven (z. B. die Bahnen von Projektilen) angeregt.Schwerpunktsberechnungen waren ein Lieblingsthema der Archimedes-Nachfolger. Dabeihaufte sich ein gewisses praktisches Wissen uber die Anfangsgrundes dessen an, was wirheute Infinitesimalrechnung nennen. Unmittelbar nach den ersten Wegbereitern (unterwelchen Simon Stevin und Paul Guldin hervorragen) entstanden die großen Arbeiten vonJ. Kepler(1571- 1630), B. Cavalieri (1598- 1647) und E. Torricelli (1608- 1647), in denenMethoden entwickelt wurden, die schliesslich zur Erfindung der Differential- und Inte-gralrechnung fuhrte. Typisch fur die Autoren dieser Zeit war, dass sie die ‘archimedischeStrenge’ zuruckstellten gegenuber dem Wunsch schnell zu Ergebnissen zu kommen. FurKepler beispielsweise war die Kugel aus unendlich vielen sptzen Pyramiden mit einergemeinsamen Spitze im Mittelpunkt zusammengesetzt. Galilei entwickelte in seinen ‘Dis-corsi’ (1636) das mathematische Studium der Bewegung sowie die die Beziehung zwischenWeg, Geschwindigkeit und Beschleunigung. Da die die einzige bekannte Naturwissenschaftmit einem einigermaßen zusammenhangenden systematischen Aufbau die Mechanik warund die Mathematik den Schlussel zum Verstandnis der Mechanik bildete, wurde dieMathematik zum wichtigsten Hilfsmittel fur das Verstandnis des Universums.

Das Erscheinen des Buches von Cavalieri regte zahlreiche Mathematiker in verschie-denen Landern zum Studium von Fragen an, die sich aus infinitesimalen Betrachtungenergeben. Man begann, die Grundprobleme in mehr abstrakter Form anzugehen, und er-zielte auf diese Weise einen Gewinn an Allgemeinheit. Das Tangentenproblem, das dar-in besteht, Methoden zur Bestimmung der Tangente an eine Kurve in einem gegebenenPunkt zu erforschen, spielte allmahlich eine immer starker hervortretende Rolle neben den

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ii Integrationstheorie

alten Problemen der Volumen- und Schwerpunktsbestimmungen. Bei diesen Forschun-gen zeichneten sich deutlich zwei Richtungen ab, eine geometrische und eine algebrai-sche. Die Nachfolger von Cavalieri, besonders Torricelli und Isaac Barrow, der Lehrervon Newton, wendeten geometrische Schlussweisen an, ohne sich allzuviel um Strengezu kummern. Andere aber, insbesondere Fermat (1601- 1665), Descartes (1596- 1650)und John Wallis(1616- 1703), vertraten die entgegengesetzte Richtung undwendeten dieneue Algebra auf dieselben Fragestellungen an. Praktisch alle Autoren in dieser Zeit von1630 bis 1660 beschrankten sich auf die Fragen, die bei algebraischen Kurven auftreten,besonders solchen, die auf Potenzen (auch mit negativen und gebrochenen Exponenten)gegrundet sind. Nur gelegentlich tauchte eine nichtalgebraische Kurve auf, wie etwa dievon Descartes und Blaise Pascal untersuchte Zykloide. Pascals Artikel ‘Traite general dela roulette’ (1658) ubte einen großen Einfluss auf den jungen Leibniz aus. In dieser Zeit be-gannen mehrere charakteristische Zuge der Infinitesimalrechnung aufzutauchen, die dannbekanntlich bei Newton und Leibniz zu begeisternden Erfolgen gefuhrt haben.

Wir wollen unseren Abriss der Vorgeschichte der Integralrechnung hier nicht wei-terfuhren. Viele gangige Lehrbuchern informieren uber die Entwicklungen im 18. Jahr-hundert und insbesondere die Hochschatzung des sog. Hauptsatzes der Differential-undIntegralrechnung (wo die Integration als die Umkehrung der Differentiation verstandenwird).

Was wir hier uber die Zeit vor Leibniz und Newton gesagt haben, stutzt sich (teilweisewortlich) auf das beruhmte Buchlein

Dirk. J. Struik Abriss der Geschichte der Mathematik VEB Deutscher Verlag derWissenschaften, Berlin 1963.

Wir hoffen, dass unsere Verkurzungen keine groben Fehler beinhalten und dass sienicht zu ernsten Fehlvorstellungen fuhren.

Die ersten allgemeinen Integrationstheorien: Nachdem man sich bis ins 19. Jahr-hundert hinein nur mit Integralen von solchen Funktionen beschaftigt hatte, die durchFormeln beschrieben werden, bemuhte sich A. Cauchy als erster (um 1820) um eine all-gemeine Theorie der Integration von beliebigen stetigen Funktionen auf einem endlichenIntervall. Die Bemuhungen standen im Zusammenhang mit der Frage, wie man die intuiti-ven Vorstellungen von einer stetigen Funktion (auf einem Intervall) in eine mathematischhandbare Form bringen kann. Cauchy versuchte seine Theorie der Integration auf dieBegriffsbestimmung zu grunden, die B. Bolzano im Jahr 1817 vorgeschlagen hatte:

Nach einer richtigen Erklarung namlich versteht man unter der Redensart, daßeine Funktion f(x) fur alle Werte von x, die inner- oder ausserhalb gewisserGrenzen liegen, nach dem Gesetze der Stetigkeit sich andere, nur soviel, daß,wenn x irgend ein solcher Wert ist, der Unterschied f(x + ω)− f(x) kleinerals jede gegebene Große gemacht werden konne, wenn man ω so klein, als mannur will, annehmen kann.

Cauchy ging (irrtumlich) davon aus, dass man jede in diesem Sinne in jedem Punkt

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stetige Funktion bis auf einen Fehler < ε durch eine elementare Treppenfunktion appro-ximieren kann. Er ubersah, dass man aus der Stetigkeit in jedem Punkt nur dann aufdie gleichmaßige Stetigkeit auf jedem endlichen Intervall schliessen kann, wenn man dielokale Kompaktheit ins Spiel bringt. Cauchy’s Integrationstheorie musste mathematischwackelig bleiben, weil Begriffe wie Vollstandigkeit und lokale Kompaktheit noch nicht zurVerfugung standen.

Der Anlass fur die Integrationstheorie, die B. Riemann 1854 vorlegte, waren kontroversdiskutierte Fragen um die trigonometrische Reihen, mit welchen sich schon die großen Ma-thematiker des 18. Jahrhunderts ( insbesondere d’Alembert, Lagrange und D. Bernoulli)im Zusammenhang mit dem Problem der schwingenden Seite beschaftigt hatten. J. Fouri-er hatte in seiner in seiner ‘Theorie analytique de chaleur’ (1822) die Tatsache klargestellt,dass eine 2π-periodische Funktion f(t), die sich durch ein Aneinanderfugen von stetigenKurvenstucken darstellen lasst, durch eine trigonometrische Reihe dargestellt werden kann

f(t) = 12a0 +

∞∑

1

(ak · cos kt + bk · sin kt

)oder f(t) =

∞∑

−∞cn · eint

Die trigonometrischen Reihen fanden auch jenseits der Theorie der Schwingungen selbstan-diges Interesse. Ihre Handhabung bei Fourier drangte die Frage auf, was allgemein untereiner Funktion zu verstehen ist. Im Anschluss an Arbeiten von P.J. Dirichlet, dem Nach-folger von Gauss auf dem Gottinger Lehrstuhl, zur Entwickelbarkeit einer 2π-periodischenFunktion in eine Fourier-Reihe pragte und untersuchte Riemann den Begriff einer ‘inte-grablen’ Funktion. Fur welche (auch unstetige) Funktionen f(t) kann man die ‘Fourier-Koeffizienten’ bilden

ak = 1π

∫ 2π

0

cos kt f(t) dt, bk = 1π

∫ 2π

0

sin kt f(t) dt., bzw. cn = 12π

∫ 2π

0

e−int f(t) dt?

Und was kann man uber die ‘formale’ Reihe∑∞

−∞ cn · eint sagen? Mit diesen Fragen lostesich der Begriff der ‘integrablen’ Funktion vom Begriff der ‘stuckweise stetigen’ Funkti-on. Es war jetzt eine Theorie der zu den Fourier-Reihen passenden Funktionen gefordert.Riemann hat das Problem nicht zufriedenstellend gelost; die endgultige Losung brach-te erst 1906 die Theorie der L2-Raume von F. Riesz und E. Fischer auf der Grundlageder Integrationstheorie von H. Lebesgue von 1902. Das naheliegende und mathematischkorrekte Vorgehen von Riemann wird manchmal in den Anfangervorlesungen vorgefuhrt:seine Schwachen und die Behebung dieser Schwachen werden wir spater verstehen lernen.

Eine Absage: Die Modulbeschreibung zur neueingefuhrten zweistundigen Vorlesung‘Integrationstheorie’ fur Studierende im dritten Semester nennt auch das Thema ‘Intergra-tion auf Mannigfaltigkeiten’. Diesem Anspruch werden wir nicht gerecht werden konnen.Wir werden nur Vorstufen zu dieser Thematik skizzieren, in dem wir uns auch mit sog.Kurvenintegralen befassen.

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iv INHALTSVERZEICHNIS Integrationstheorie

Inhaltsverzeichnis

1 Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals 1

2 Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale 7

2.1 Funktionen beschrankter Schwankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72.2 Rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum . . . . . . . . . . . . . . 92.3 Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

3 Mengenalgebren, Maße und Integration 14

3.1 Erzeugte σ-Algebren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.2 Der Eindeutigkeitssatz fur σ-endliche Maße. . . . . . . . . . . . . . . . . . 173.3 Das Integral zu einem Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.4 Der Satz von Fubini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233.5 Gleichheit µ-fastuberall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

4 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale 29

4.1 Holders Ungleichung und die p-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304.2 Vollstandigkeit, Konvergenzsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324.3 Diverse Funktionenraume uber der Gruppe R/2π. . . . . . . . . . . . . . . 384.4 Fourier-Integrale und Fourier-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

5 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale 46

5.1 Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring(Ω,R

). . . . . . . . . . . 46

5.2 Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym . . . . . . . . . . . . . . . . 505.3 Genaueres uber Totalstetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

6 Messbarkeit 62

6.1 Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . 626.2 Messbarkeit im Sinne von Caratheodory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

7 Diverse Konstruktionen von Pramaßen 74

7.1 Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea . . . . . . . . . . . . . . 747.2 Regulare Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807.3 Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen Raumen . . . . . . . . . . . . . . 85

8 Die Integration von Differentialformen 90

8.1 Orientierte affine Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908.2 Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel . . . . . . . . . . . . . . 978.3 Die Integration von k-Formen uber glatte Zellen . . . . . . . . . . . . . . . 1038.4 Der Randoperator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

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1 Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals

Eine stetige Funktion auf dem abgeschlossenen Einheitsintervall [0, 1] ist gleichmaßig ste-tig und beschrankt. Jeder solchen Funktion f ordnet man (seit Cauchy) ihr (‘bestimmtes’)Integral zu:

I(f) =

∫ 1

0

f(x) dx =

∫f(x) dx.

Wir wollen an dieser Stelle nicht uber Untersummen und Obersummen reden. Das wohl-definierte Funktional I(·) auf dem Vektorverband E = C

([0, 1]

)ist unser Ausgangspunkt.

Wir nennen dieses Funktional I(·) das Cauchy-Integral. – Das klassische Lebesgue-Integraluber dem Einheitsintervall wird sich durch eine Fortsetzung ergeben; auf eine andere be-liebte Fortsetzung, das sog. Riemann-Integral werden wir nicht speziell eingehen. Dieseund andere Fortsetzungen des Cauchy-Integrals unterscheiden sich nur durch ihren De-finitionsbereich; wenn eine Funktion im Durchschnitt der Definitionsbereiche liegt, dannstimmen die Integralwerte fur alle die gebrauchlichen Fortsetzungen uberein.

Definition 1.1. Ein Vektorverband reellwertiger Funktionen E (auf irgendeiner Grund-menge Ω) wird ein Stone’scher Verband genannt, wenn mit f auch f ∧ 1 zu E gehort.

Ein Beispiel ist die Menge der stetigen Funktionen auf dem Rd, die einen beschranktenTrager besitzen, die also ausserhalb einer genugend großen Kugel identisch verschwinden.

Ein weiteres Beispiel liefern die linksstetigen elementaren Treppenfunktopnen uber R.Dies sind die Linearkombinationen von Indikatorfunktionen endlicher halboffener Inter-valle f(·) =

∑j cj · 1(aj ,bj ](·).

Definition 1.2 (Elementar-Integral).Ein reellwertiges Funktional I(·) auf einem Stone’schen Verband E heisst ein Elementa-

rintegral auf E, wenn gilt

1. f ≤ g ⇒ I(f) ≤ I(g); (Monotonie)

2. I(f + g) = I(f) + I(g), I(α · f) = α · I(f) fur alle α ∈ R; (Linearitat)

3. fn ց 0 ⇒ I(fn)ց 0. (Monotone Stetigkeit)

(Der Pfeil ց bedeutet die punktweise absteigende Konvergenz. Wir notieren manchmalauch ↓. Entsprechend sind die Symbole ր und ↑ zu verstehen.)

Die fundamentale Bedeutung der dritten Eigenschaft, der monotonen Stetigkeit, warCauchy nicht bewusst; sie erwies sich erst in der Integrationstheorie nach Lebesgue (1902).Fur das Cauchy-Integrale ergibt sie sich aus dem Satz von Dini. Nach diesem Satz im-pliziert namlich die monotone Konvergenz stetiger Funktionen gegen die Nullfunktionauf einem kompakten Grundraum die gleichmaßige Konvergenz; und die Stetigkeit beigleichmaßiger Konvergenz liegt auf der Hand.

2 Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals Integrationstheorie

Die monotone Stetigkeit liefert die Grundlage fur die Fortsetzung des Elementarinte-grals auf großere Funktionenklassen. Entscheidend ist der

Satz 1.0.1. Sei I(·) ein Elementarintegral auf E. Es gilt dann

fn ↑ f ′, gn ↑ g′, f ′ ≥ g′ =⇒ lim ↑ I(fn) ≥ lim ↑ I(gn);fn ↑ f ′, gn ↓ g′′, f ′ ≥ g′′ =⇒ lim ↑ I(fn) ≥ lim ↓ I(gn).

Man beachte, dass die punktweisen Limiten f ′, g′ und g′′ im Allgemeinen nicht zu E

gehoren. Im Falle des Cauchy-Integrals handelt es sich um unterhalbstetige bzw. ober-halbstetige Funktionen.

Beweis Wir benutzen wie ublich die Bezeichnung h\k = (h− k)+ = h− h ∧ k.In der ersten Situation steigt die Folge (fn)n uber jedes gk. Die Folge (gk\fn)n steigt abnach 0. Also gilt I(gk\fn) < ε fur genugend großes n.

I(fn)− I(gk) = I(fn\gk)− I(gk\fn) > 0− ε;lim ↑ I(fn) > I(gk)− ε fur alle ε > 0;

lim ↑ I(fn) ≥ I(gk) fur alle k.

In der zweiten Situation ist die Funktionenfolge gn\fn absteigend gegen die Nullfunktion.Fur große n gilt also I(gn\fn) < ε und

I(gn)− I(fn) = I(gn\fn)− I(fn\gn) < ε;

lim ↓ I(gn)− lim ↑ I(fn) < ε fur alle ε > 0.

Satz 1.0.2 (Konstruktion des Verbandskegels E↑).Es sei E ein Stone’scher Vektorverband (uber irgendeiner Grundmenge Ω); (Die Elementef ∈ E nennen wir die elementaren Funktionen.)Und es sei E↑ die Menge derjenigen Funktionen, die man als Limes einer aufsteigendenFolge elementarer Funktionen gewinnen kann. Es gilt dann

1. f, g ∈ E↑ =⇒ f + g, f ∧ g, f ∨ g ∈ E↑,

2. f ∈ E↑, α ∈ R+ =⇒ α · f ∈ E↑

3. f1 ≤ f2 ≤ · · · mit fn ∈ E↑ =⇒ f = lim ↑ fn ∈ E↑

Man sagt: E↑ ist ein Verbandskegel, der aufsteigend-σ-vollstandig ist. Man beachte,dass die Funktionen in E↑ den Wert +∞ aber nicht den Wert −∞ annehmen konnen.

Beispiel. Die elementaren Funktionen seien die stetigen Funktionen auf einem metrisier-baren Raum. Die Funktionen f in E↑ sind dann die unterhalbstetigen Funktionen, die einestetige Minorante besitzen. Die punktweisen Suprema stetiger Funktionen sind namlichunterhalbstetig; und in einem metrisierbaren Raum kann man jede unterhalbstetige Funk-tion, die eine stetige Minorante besitzt, als aufsteigenden Limes einer Folge stetiger Funk-tionen darstellen. Das sieht man folgendermaßen:

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INHALTSVERZEICHNIS 3

1. Die Indikatorfunktion einer offenen Menge U kann man als aufsteigenden Limesstetiger Funktionen darstellen. Oder, aquivalent dazu: die Indikatorfunktion einerabgeschlossenen Menge F kann als absteigender Limes stetiger Funktionen gewon-nen werden:

1F (·) = lim ↓(1− n · d(·, F )

)+,

wo d(·, F ) den Abstand von der Menge F bezeichnet.

2. Wenn g1, g2, . . . nichtnegative Funktionen sind, die als aufsteigender Limes nichtne-gativer stetiger Funktionen dargestellt sind, dann kann man auch die Summe

∑∞1 gk

und das Supremum∨∞

1 gk so darstellen. Zu gk = limn ↑ f (n)k betrachte namlich

h(n) = f(n)0 + f

(n−1)1 + · · ·+ f (0)

n , bzw. k(n) = f(n)0 ∨ f (n−1)

1 ∨ · · · ∨ f (0)n .

Die h(n) streben aufsteigend gegen die Summe, die k(n) gegen das Supremum.

3. Wir wollen hier zunachst einmal nur die nichtnegativen unterhalbstetigen f aufstei-gend approximieren. Fur n = 1, 2, . . . und k = 0, 1, 2, . . . sei f

(n)k die Indikator-

funktion der offenen Menge f > k2n, und g(n) = 1

2n

∑k f

(n)k .

Offenbar ergibt sich g(n)(ω) aus f(ω) durch Abrunden auf das nachste ganzzahligeVielfache von 1

2n . Die g(n) liefern eine aufsteigende Approximation von f .

4. Wenn h unterhalbstetig ist mit der stetigen Minorante h, dann approximieren wirh− h und addieren zu den approximierenden Funktionen die stetige Funktion h.

Satz 1.0.3 (Aufsteigende Fortsetzung).Jedes Elementarintegral I(·) auf E besitzt genau eine aufsteigend-σ-stetige Fortsetzung.Diese Fortsetzung I↑(·) ist ausserdem isoton, additiv und positivhomogen, d. h.

1. f ≤ g ⇒ I↑(f) ≤ I↑(g);

2. I↑(f + g) = I↑(f) + I↑(g), I↑(α · f) = α · I↑(f) fur alle α ∈ R+;

3. f1 ≤ f2 ≤ · · · mit fn ∈ E↑ =⇒ I↑(lim ↑ fn) = lim ↑ I↑(fn)

Beweis Wir haben bereits gesehen, dass fur zwei aufsteigende Folgen elementarer Funk-tionen die Integralwerte gegen denselben Grenzwert streben, und dass das so gewonneneFunktional I↑(·) isoton ist. Man beachte, dass es auch den Wert +∞ annehmen kann.Die Additivitat und die positive Homogenitat liegen auf der Hand. Sei (fn) eine auf-steigende Folge mit lim ↑ fn = f . Die fn ∈ E↑ seien als aufsteigende Limiten gegeben:fn = limm ↑ fnm. Die Folge der elementaren Funktionen kn = f1n∨· · ·∨ fnn ist aufsteigendmit kn ≤ fn und lim ↑ kn = f . Wir haben also f ∈ E↑, I↑(f) = lim ↑ I(kn) = lim ↑ I↑(fn).Wir betrachten jetzt auch den zu E↑ diametralen Kegel E↓ = −E↑ =

g = −f : f ∈ E↑.

Es handelt sich um einen Verbandskegel, der gegenuber absteigenden Limiten abgeschlos-sen ist. Interessant sind nun diejenigen Funktionen, die sich ‘knapp’ einschliessen lassenzwischen eine Majorante aus E↑ und eine Minorante aus E↓.

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4 Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals Integrationstheorie

Definition 1.3 (Daniell-Integrabilitat).Es sei I(·) ein Elementarintegral. Eine Funktion h heisst Daniell-integrabel, wenn gilt

∀ε < 0 ∃ f ∈ E↑, g ∈ E↓ :(g ≤ h ≤ f

)∧(I↑(f)− I↓(g) < ε

).

Die Menge aller Daniell-Integrablen Funktionen bezeichnen wir mit E∗; und fur h ∈ E∗

setzen wirI∗(h) = infI↑(f) : f ≥ h = supI↓(g) : g ≤ h.

Satz 1.0.4.

Die Daniell-Fortsetzung ubernimmt Eigenschaften des Elementarintegrals. Es gilt

1. Fur jede elementare Funktion f gilt I∗(f) = I(f).

2. h ∈ E∗, α ∈ R =⇒ αh ∈ E∗, I∗(αh) = αI∗(h)

3. h(1), h(2) ∈ E∗ =⇒ h(1) ∨ h(2), h(1) ∧ h(2) ∈ E∗;

4. h = h(1) + h(2) mit h(1), h(2) ∈ E∗ =⇒ h ∈ E∗, I∗(h) = I∗(h(1) + h(2)).

5. h(1) ≤ h(2) ≤ · · · mit h(n) ∈ E∗, lim ↑ I∗(h(n)) <∞=⇒ h = lim ↑ h(n) ∈ E∗, und I∗(h) = lim ↑ I∗(h(n)).(

Satz von der monotonen Konvergenz fur das Daniell-Integral)

Beweis. Die beiden ersten Aussagen des Satzes sind offensichtlich.Wir bemerken: Die Integrabilitatsbedingung kann man auch formulieren, ohne von denKonstrukten I↑(·), I↓(·) expliziten Gebrauch zu machen:

h ∈ E∗ ⇐⇒ ∀ε < 0 ∃(fn), (gn) : lim ↑ fn ≥ h ≥ lim ↓ gn, lim ↑ I(fn\gn) < ε.

Wir beweisen die Aussagen 3) und 4):Zu h(1), h(2) ∈ E∗ und ε < 0 wahlen wir monotone Folgen elementarer Funktionen mit

lim ↑ f (i)n ≥ h(i) ≥ lim ↓ g(i)

n , lim ↑ I(f (i)n \g(i)

n ) < ε/2.

Eine Einschließung bis auf 2ε fur h(1) ∨ h(2) wird geleistet von den monotonen Folgenfn = f

(1)n ∨ f (2)

n , gn = g(1)n ∨ g(2)

n . Analog verfahren wir fur die Summe. Das Minimumerledigt sich wie das Maximum, wenn wir am Nullpunkt spiegeln.Fur den Beweis der funften Aussage, dem sog. Satz von der monotonen Konvergenz,wahlen wir zu jedem h(n) Funktionen f (n) ∈ E↑ und g(n) ∈ E↓ mit

f (n) ≥ h(n) ≥ g(n), I↑(f (n))− I↓(g(n)) < 12n · ε.

Die Funktion f ′ = lim ↑ (f (1) ∨ · · · ∨ f (n)) dominiert den aufsteigenden Limes lim ↑ h(n).Andererseits: Fur genugend großes N erfullt g′′ = g(1) ∨ · · · ∨ g(N) ∈ E↓ die Bedingungen

f ′ ≥ h ≥ g′′, I↑(f ′)− I↓(g′′) < 2ε.

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INHALTSVERZEICHNIS 5

Anmerkungen:

Die Daniell-Fortsetzung erinnert an die Konstruktion von Riemann, wenn man beimVektorverband E an die Menge der elementaren Treppenfunktionen denkt. Bei Daniellstammen allerdings die Ober- und Unterfunktionen nicht dem Vektorverband E, sondernvielmehr aus den Funktionenkegeln E↑ bzw. E↓.

Die Daniell-integrierbaren Funktionen sind numerische Funktionen in dem Sinne, dasssie auch die Werte ±∞ annehmen konnen. Funktionen dieser Art konnen nicht punktwei-se addiert werten. Im Unterschied zur Menge der Riemann-integrablen Funktionen ist dieMenge E∗ kein Vektorraum. Man gewinnt einen Vektorverband, wenn man (in vertragli-cher Weise!) zu Aquivalenzklassen ubergeht, wo jede Aquivalenzklasse Reprasentantenbesitzt, die nur endliche Werte annehmen. Die zur Integrationstheorie passende Aquiva-lenzrelation ist die ‘Gleichheit fast-uberall’. Mit solchen Aquivalenzrelationen werden wiruns ausfuhrlich zu beschaftigen haben. Fur die die aktuelle Situation konnen wir aberschon einiges sagen:

1) Ein bemerkenswerter Typ von Daniell-integrablen Funktionen sind die Funktionenf mit I∗(|f |) = 0, die sog. Nullfunktionen. Wenn f eine Nullfunktion ist, dann ist jedeFunktion g mit |g| ≤ |f | eine Nullfunktion. Jedes Vielfache einer Nullfunktion ist eineNullfunktion; abzahlbare Summen von nichtnegativen Nullfunktionen sind Nullfunktio-nen. Eine nichtnegative Funktion f ist genau dann eine Nullfunktion, wenn zu jedemε > 0 eine aufsteigende Folge von Elementarfunktionen (fn)n existiert mit

lim ↑ fn ≥ f ; lim ↑ I(fn)< ε.

2) Unter einer Nullmenge versteht man eine Menge, deren Indikatorfunktion eine Nullfunk-tion ist. Wir bemerken: Jede Teilmenge einer Nullmenge ist eine Nullmenge; abzahlbareVereinigungen von Nullmengen sind Nullmengen. Zwei Funktionen heissen fastuberallgleich, wenn sie sich nur auf einer Nullmenge unterscheiden.3) Zur Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals gewinnen wir eine Mengenfunktionµ(·), wenn wir definieren µ(B) = I∗(1B) fur die Mengen B mit einer integrablen Indi-katorfunktion. Im Falle eines normierten Elementarintegrals (d h. I(1Ω) = 1) ist dieseMengenfunktion ein sog. Wahrscheinlichkeitsmaß. Mit solchen und etwas allgemeinerenMengenfunktionen, (die auch den Wert +∞ annehmen konnen,) werden wir uns nochausfuhrlich befassen.

Sprechweise. Das Wort ‘Integral’ wird nicht einheitlich benutzt. Aus der Sicht der ele-mentaren Funktionalanalysis, die wir in dieser Veranstaltung meistens einnehmen, kannman (cum grano salis) sagen.

Ein Integral ist ein monotones lineares Funktional auf einem Vektorverband reellwer-tiger Funktionen, welches monoton stetig ist.

(Monotone Stetigkeit bedeutet hier: Fur jede punktweise monoton (aufsteigende oderabsteigende) gegen ein Element des Definitionsbereichs konvergierende Folge konvergierendie Werte des Funktionals gegen den Wert des Funktionals in der Grenzfunktion. Es wird

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6 Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals Integrationstheorie

nichts daruber gesagt, unter welchen Umstanden eine monoton konvergierende Folge gegeneine Funktion im Definitionsbereich des Funktionals konvergiert.)

Die Integrationstheorie behandelt u. a. Fragen der Fortsetzbarkeit so, wie wir das ebenbei der Daniell-Fortsetzung gesehen haben.

Die saloppe Beschreibung passt auf das Cauchy-Integral. Der Definionsbereich ist hierder Vektorverband aller stetigen Funktionen mit beschrankten Trager.

Die Beschreibung passt nicht ganz auf die Daniell-Fortsetzung eines Elementarinte-grals, weil man da den Definitionsbereich sinnvollerweise als einen Vektorverband vonAquivalenzklassen reellwertiger Funktionen verstehen muss.

Die Beschreibung passt auf das klassische Riemann-Integral. Der Definitionsbereichist schwerlich anders zu beschreiben als durch die bekannte Einschliessbarkeitsforderung.Dies gilt als eine der großen Schwachen des Riemann-Integrals. Wir werden sehen, dassdas klassische Lebesgue-Integral diese Schwache nicht hat. Die Elemente des Definitions-bereichs entsprechen hier genau den Elementen eines vervollstandigten metrischen Raums.

Ein interessanter, leicht zu uberblickender Anwendungsfall der Daniell- Fortsetzungist der, wo der Grundraum Ω eine abzahlbare Menge ist und E der Stone-Verband allerFunktionen mit endlichem Trager. Jedes Elementarintegral ist da durch eine nichtnegativeGewichtung der Punkte gegeben,

p(ω) : ω ∈ Ω

: I(f) =

∑Ω p(ω) · f(ω).

Man kann leicht sehen, dass in diesem Falle die Daniell-integrablen Funktionen diebzgl. der gegebenen Gewichtung absolut summablen Funktionen sind.

Ω

p(ω) · |f(ω)| <∞; I∗(f) = I∗(f+)− I∗(f−).

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2.1 : Funktionen beschrankter Schwankung 7

2 Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale

In diesem zweiten einleitenden Kapitel skizzieren wir einige Ideen zum Integralbegriff, diefruher in der Analysis III Heimatrecht hatten, heute in den Veranstaltungen zu Maß undIntegral aber meistens nur am Rande erwahnt werden.

2.1 Funktionen beschrankter Schwankung

Konstruktion des Cauchy-Stieltjes-Integrals:

Es sei F (·) eine monotone Funktion auf [0, 1] mit F (1) = 1, F (0) = 0 die rechtsseitigstetig ist. (In der Stochastik nennt man eine solche Funktion die Verteilungsfunktioneines Wahrscheinlichkeitsmaßes auf [0, 1]).

Es sei(Z : 0 = t0 < t1 < · · · < tN = 1

)eine Unterteilung des Einheitsintervalls und

f(·) eine stetige Funktion. Wir definieren dann

∫ 1

0

f dF = limn→∞

k

f(t(n)k−1) ·

(F(t(n)k

)− F

(t(n)k−1

)),

wo der Limes uber eine Folge von Unterteilungen, deren Feinheitsgrad nach 0 strebt,zu erstrecken ist. Der Limes heisst das Stieltjes-Integral der Funktion f bzgl. F . DasFunktional

I(·) : E ∋ f 7−→ I(f) =

∫ 1

0

f dF

heisst das Cauchy-Stieltjes-Integral bzgl. der Verteilungsfunktion F . Wenn man das Funk-tional (etwa nach dem Verfahren von Daniell) fortsetzt, dann nennt man das so gewonneneFunktional manchmal das Lebesgue-Stieltjes-Integral.

Bemerke: Die Existenz des Limes ergibt sich aus der gleichmaßigen Stetigkeit von f .Zu jedem ε > 0 existiert ein δ > 0, sodass gilt: Wenn die Zerlegung die Feinheit < δ hat,dann gilt f(x) =

∑N1 f(ti−1) · 1(ti−1,ti](x) + Rε(x) mit |Rε(x)| < ε fur x ∈ (0, 1]. und

die Summe∑

k f(t(n)k−1) ·

(F(t(n)k

)− F

(t(n)k−1

))liegt bis auf ε bei

∫ 1

0f dF.

Verallgemeinerungen: Ahnlich kann man konstruieren, wenn G(·) eine rechtssteti-ge monotone Funktion auf R ist mit limT→∞

(G(T ) − G(−T )

)< ∞. Man erhalt ein

Elementarintegral IG(·) auf dem Stone’schen Verband der stetigen Funktionen f mitkompakten Trager. Den Wert des Integrals von f bezeichnet man ublicherweise mitIG(f) =

∫f(t) dG(t) oder kurz

∫f dG. Fur die Funktion G(t) = t ergibt sich offen-

bar das klassische Cauchy-Integral f 7→∫f(t) dt.

Sprechweise (Schwankung). Eine rechtsstetige Funktion G(t) auf R nennt man eineFunktion beschrankter Schwankung, wenn eine Zahl S existiert, sodass fur jede aufstei-gende Folge t0 < t1 < · · · < tN gilt

∑k

∣∣G(tk)−G(tk−1

∣∣ ≤ S.Die kleinste Schranke S heisst die (Gesamt-)Schwankung von G(·).

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8 Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale Integrationstheorie

Lemma. Eine (rechtsstetige) Funktion G(·) ist genau dann von beschrankter Schwankung,wenn sie sich als Differenz zweier monotoner (rechtsstetiger) Funktionen darstellen laßt.

Beweis. Es sei (der Einfachheit halber) G(−∞) = 0. Eine sehr naturliche Darstellungvon G als Differenz ansteigender Funktionen ist G = G+ −G− mit

G+(t) = sup∑

k

(G(tk)−G(tk−1

)+, G−(t) = sup

k

(G(tk)−G(tk−1

)−,

wobei die Suprema uber alle gegen t aufsteigenden Folgen zu erstrecken sind: t0 < t1 <. . . < tN = t. Die Funktionen G+, G− sind in der Tat rechtsstetig, wenn G rechtsstetigist. Die spezielle Zerlegung G = G+−G− ist dadurch ausgezeichnet, dass die Summe derSchwankungen von G+ und G− die Schwankung der Funktion G ist.

Auch fur die G mit beschrankter Schwankung definiert man das Cauchy-Stieltjes-Integral f 7→

∫f dG (auf dem Stone’schen Verband der stetigen Funktionen mit kom-

pakten Trager). Man spricht in diesem Fall von einem Integral bezuglich einer Ladungs-verteilung. Allgemein sind Integrale bezuglich einer Ladungsverteilung Differenzen vonIntegralen bezuglich endlicher Maße.

Spezialfalle: Man sagt von einer ansteigenden stetigen Funktion G(·), sie sei absolut-

stetig, wenn eine Funktion p(·) existiert, sodass fur alle a ≤ b gilt G(a)−G(b) =∫ bap(t) dt.

In diesem Fall haben wir∫f dG =

∫f(t) · p(t) dt.

Eine ansteigende Funktion nennt man eine rechtsstetige Sprungfunktion, wenn eineabzahlbare Familie von Paaren existiert,

(xα, pα) : α ∈ I

mit xα ∈ R, pα > 0, sodass

fur alle a ≤ b gilt G(b)−G(a) =∑

α: a<xα≤b pα.

In diesem Fall haben wir∫f dG =

∑α f(xα) · pα.

Konvention: Wir bemerken zu den (fortgesetzten) Stieltjes-Integralen : Im Ausdruck∫f dG nennt man f den Integranden, wahrend dG den Integrator beschreibt. Die Kon-

vention, dass G rechtsstetig ist, spielt bei stetigen Integranden keine Rolle. Sei nun aberbeispielsweise f die Indikatorfunktion eines halboffenen Intervalls ist, links offen und rechtsabgeschlossen, f(·) = 1(a,b](·); oder sei allgemeiner f = 1B eine linksseitige Indikatorfunk-tion. Wir haben dann (wie man leicht sieht)

∫1B dG =

∑α: xα∈B pα. Man assoziert mit

der Sprunfunktion G die Mengenfunktion µ(·), welche dem halboffenen Intervall (a, b] dieSumme der Sprunge in (a, b] zuweist.

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2.2 : Rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum 9

2.2 Rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum

Sprechweise 2.2.1 (Aquivalente parametrisierte Kurven).Eine parametrisierte Kurve in der Menge S ist eine Abbildung γ(·) eines kompakten

Intervalls [a, b] in S. γ(a) heisst der Startpunkt oder Ausgangspunkt oder Anfangspunktder Kurve, γ(b) heisst der Endpunkt.

Wir werden uns hauptsachlich fur rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum(S, d(·, ·)

)interesssieren. Zunachst befassen wir uns allgemeiner mit stetigen Kurven in

einem topologischen Raum(S,U

).

Zwei parametrisierte Kurven γ′(t) : t ∈ [a′, b′] und γ′′(s) : s ∈ [a′′, b′′] heissenaquivalent, wenn es eine stetige, striktwachsende und surjektive Abbildung T (·) gibt,

T : [a′′, b′′] −→ [a′, b′] sodass ∀ s ∈ [a′′, b′′] : γ′′(s) = γ′(T (s)).

Wir haben es tatsachlich mit einer Aquivalenzrelation zu tun. Die Umkehrabbildungzu T (·) ist eine stetige striktwachsende surjektive Abbildung S(·) mit γ′(t) = γ′′(S(t)) furalle t. Wenn S(·) und T (·) stetig striktwachsend surjektiv sind mit passenden Definitions-bereichen

[a′, b′]S−→ [a′′, b′′]

T−→ [a′′′, b′′′],

dann ist auch die zusammengesetzte Abbildung T (S(·)) stetig striktwachsend surjektiv.

Sprechweise 2.2.2.

Eine Kurve in der Menge S ist eine Aquivalenzklasse C von parametrisierten Kurven. DieReprasentanten γ(·) heissen die Parametrisierungen der Kurve C.

Das Bild des kompakten Intervalls unter γ(·) als Punktmenge in S heisst die Spur derKurve; wir notieren σ(C).

Wir bemerken, dass die Spur einer stetigen Kurve eine kompakte zusammenhangendeMenge ist.

Konstruktion: Unterteilte Kurven

Es seien C1, C2 stetige Kurven mit β(C1) = α(C2). Wir konnen die Kurven dann zusam-menfugen zu einer stetigen Kurve von α(C1) nach β(C2). Wir bezeichnen diese zusammen-gefugte Kurve mit C = C1 ~∪ C2.

Es sei γ(t) : t ∈ [a, b] eine Parametrisierung der Kurve C. Eine Unterteilung derIntervalls

(Z : a = t0 < t1 < · · · < tN = b

)liefert dann ein N -Tupel von parametrisier-

ten Kurven γ(t) : t ∈ [tk−1, tk], wo der Endpunkt der k-ten Kurve der Startpunkt der(k + 1)-ten Kurve ist (fur k = 1, 2, . . . , N − 1). Wir haben C = C1 ~∪ C2 ~∪ · · · ~∪ CN .

Die Idee der Unterteilung einer stetigen Kurve C ist offenbar nicht an die Wahl einerParametrisierung gebunden.

Es ist klar, was eine Verfeinerung einer Unterteilung der Kurve C ist. Wir notierenZ2 ⊒ Z1, wenn Z2 feiner ist als Z1. Wir sagen, dass der Feinheitsgrad einer Folge vonUnterteilungen (Zn)n nach 0 strebt fur n → ∞, wenn in einer (und damit in jeder)

Parametrisierung max|t(n)k − t

(n)k−1| : k nach Null strebt fur n→∞.

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10 Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale Integrationstheorie

Definition 2.1 (Kurvenlange).Fur eine Kurve C in einem metrischen Raum

(S, d(·, ·)

)definiert man die Kurvenlange

L(C) = sup LZ(C) : Z ,

wobei LZ(C) =∑N

k=1 d(α(Ck), β(Ck)

)fur die Unterteilung C = C1 ~∪ C2 ~∪ · · · ~∪ CN , und

das Supremum uber alle Unterteilungen zu erstrecken ist.

Die Kurvenlange kann +∞ sein. Wenn sie endlich ist, dann nennt man die Kurverektifizierbar. Die Kurvenlange ist additiv: L

(C1 ~∪ C2

)= L(C1) + L(C2).

Hinweis: Ein Thema der elementaren Integralrechnung (mit vielen beliebten Ubungs-aufgaben) ist die Langenmessung fur doppelpunktfreie glatte Kurven im euklidischen Rn.Fur uns ist das Thema hier nicht weiter interessant; hier nur ein einziges

Beispiel. Der Funktionsgraph eine glatten Funktion f(x) auf einem Intervall [a, b] kannals eine parametrisierte Kurve C im euklidischen R2 aufgefasst werden, wo (a, f(a)) derAnfangspunkt und (b, f(b)) der Endpunkt ist. In der elementaren Analysis lernt man eine

Formel fur die Lange, namlich L(C) =∫ ba

√1 + f ′(x)2 dx. Betrachten wir z. B.

f(x) =√

1− x2 fur −1 ≤ a < b ≤ +1 f ′(x) =−x√1− x2

.

Wegen√

1 + f ′(x)2 = 1√1−x2 haben wir (unter Beachtung der Vorzeichen)

L(C) =

∫ b

a

1√1− x2

dx = arccos∣∣∣a

b.

Die Parametrisierung durch x ist hier (wie auch sonst oft) nicht gunstig.Wenn

(x(t)y(t)

): t ∈ [t0, t1] eine glatte Umparametrisierung ist, dann finden wir die

Lange als das Integral∫ t1t0

√x(t)2 + y(t)2 dt. Die naheliegende Parametrisierung fur un-

seren Kreisbogen ist die durch den Winkel (im Sinne der Polarkoordinaten).C : γ(φ) =

(cos φsinφ

): φ ∈ [0, 2π]. Hier zeigt die Formel sofort, dass die Kurvenlange die

Differenz der Winkel ist.

Der Begriff der Kurvenlange ist offenbar nicht an die glatte Parametrisierbarkeit ge-bunden. Es gilt daruber hinaus: Wenn eine Kurve C doppelpunktfrei ist, dann hangt dieLange nur von der Spur der Kurve ab; doppelpunktfreie Kurven mit derselben Spur habendieselbe Lange.

C. Caratheodory hat im Jahr 1914 in einer bahnbrechenden Arbeit Lineares Maß ei-ne Theorie der Mengenfunktionen entwickelt, die die Langenmessung auf den Wegen dermodernen Maßtheorie behandelt. Wir kommen spater darauf zuruck.

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2.3 : Kurvenintegrale 11

2.3 Kurvenintegrale

Definition 2.2 (Das Kurvenintegral einer 1-Form).Es sei C eine rektifizierbare Kurve in einem metrischen Raum

(S, d(·, ·)

). Auf ihrer Spur

sei g(·) eine bzgl. der induzierten Metrik Lipschitz-stetige Funktion Fur jede auf der Spurstetige Funktion f(·) definiert man dann

Cf · dg = lim

n→∞

k

f(t(n)k−1) ·

(g(t(n)k

)− g

(t(n)k−1

)).

wobei der Limes uber eine Folge von Unterteilungen, deren Feinheitsgrad nach 0 strebt,zu erstrecken ist. Der Limes heisst das Integral der 1-Form f · dg entlang der Kurve C.

Wir wollen uns hier nicht mit dem Beweis aufhalten, dass der Limes existiert undunabhangig ist von der Wahl der Folge von Unterteilungen; denn wir werden in der ab-strakten Maßtheorie allgemeinere Fragen dieser Art behandeln. Der Zusammenhang dermaßtheoretischen Konstruktionen mit der aktuellen Situation der Kurvenintegrale ergibtsich aus der folgenden Beobachtung: Fur jede Parametrisierung unserer rektifizierbarenKurve γ(t) : t ∈ [a, b] ist die zuruckgenommene Funktion G(t) = g(γ(t)) eine Funktionbeschrankter Schwankung. Das folgt aus der Annahme, dass die Kurve rektifizierbar unddie Funktion g Lipschitz-stetig ist. Das Kurvenintegral ergibt sich als das Stieltjes-Integralder stetigen zuruckgenommenen Funktion F (t) = f(γ(t)).

Cf · dg =

∫ b

a

F (t) dG(t).

Wenn f im Betrag < ε ist, und g entlang der Kurve die Totalvariation ≤ g besitzt, danngilt die Abschatzung

∣∣∫C f · dg

∣∣ < ε · g.

Durch das Zurucknehmen (‘pullback’) der Funktionen f und g werden die maßtheoreti-schen Aspekte sehr einfach. Die eigentliche Bedeutung der Integration entlang von Kurvenliegt aber nicht in der Maßtheorie; sie liegt im Bereich der Geometrie. Wir kommen daraufzuruck, wenn wir uns mit glatten Mannigfaltigkeiten befassen. Die Integranden der Kur-venintegrale sind dort die sog. Pfaff’schen Formen ω =

∑k fk · dgk, wo die fk stetige und

die gk stetig differenzierbare Funktionen sind. Den Beweis des folgenden Satz verschiebenwir in die Integrationstheorie.

Satz 2.3.1.

Es sei C eine rektifizierbare Kurve in einem metrischen Raum; und es sei g Lipschitz-stetigauf ihrer Spur. Es gilt dann

1. Das Funktional I(·) : f 7−→∫C f · dg ist linear auf dem Vektorraum der stetigen

Funktionen, I(α1f1 + α2f2) = α1I(f1) + α2I(f2),

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12 Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale Integrationstheorie

2. Das Kurvenintegral ist additiv bei Unterteilungen

C = C1 ~∪ C2 =⇒∫

Cf dg =

C1

f dg +

C2

f dg,

3. Ist auch f Lipschitzstetig, so gilt die Regel der partiellen Integration

Cf · dg +

Cg · df =

(f · g

)(β(C))−

(f · g

)(α(C)) kurz notiert =

[f · g

]β(C)

α(C),

Zum Beweis der Formel fur die partielle Integration bemerken wirF (tk−1) ·

(G(tk)−G(tk−1) + G(tk) ·

(F (tk)−F (tk−1)

)= G(tk) ·F (tk)−F (tk−1) ·G(tk−1).

Umlaufsintegrale im R2: In manchen Anfangervorlesungen bewies man fruher denberuhmten Jordan’schen Kurvensatz. Wir konnen den Sachverhalt hier nur andeuten.

Eine Jordankurve im R2 ist eine doppelpunktfreie geschlossene Kurve. Eine Parame-trisierung hat die Gestalt γ(t) =

(x(t)y(t)

): t ∈ [t0, t1] mit γ(t0) = γ(t1) und γ(t′) 6= γ(t′′)

fur t′ 6= t′′ im Inneren des Parametrisierungsintervalls. Der Jordan’schen Kurvensatz be-sagt nun: Fur jede Jordankurve C ist R2 \ C die disjunkte Vereinigung zweier einfachzusammenhangender Gebiete, dem beschrankten Innengebiet B und dem unbeschrankten‘Aussengebiet’. Die Kurve ist der Rand dieser Gebiete; man notiert ∂B = C. Eine einfachesehr spezielle Version des Satzes von Stokes besagt nun:

Satz. Es seien f = f(x, y) und g = g(x, y) stetig differenzierbare Funktionen auf demeuklidischen R2, und h(x, y) = −∂f

∂y+ ∂g

∂x. Fur eine Jordankurve C mit dem Innengebiet

B zur Linken gilt dann

C

(f dx+ g dy

)=

Bh(x, y) dx dy.

Spezialfall: Fur die ‘Pfaff’schen Formen −y dx, x dy, und 12(−y dx+ x dy) ergibt das

Umlaufsintegral die Flache des Innengebiets. Dies bringt uns zuruck zum Cauchy-Integral.

Es sei k(x) eine positive stetige Funktion uber einem Intervall [a, b]. Das ‘Gebiet un-ter der Kurve’ kann man als das Innengebiet einer Jordankurve im euklidischen R2 be-schreiben. Es passt z. B. die Kurve C = C1 ~∪ C2 ~∪ C3 ~∪ C4, wo C1 vom Punkt (a, k(a))senkrecht absteigt zum Punkt (a, 0)), C2 auf der Abszissenachse weitergeht zum Punkt(b, 0)), C3 senkrecht aufsteigt zum Punkt (b, k(g)), und C4 entlang dem Funktionsgraphenzuruckgeht zum Ausganspunkt (a, k(a)). Das Kurvenintegral der Form −y dx uber dieersten drei Teilstucke verschwindet; das Kurvenintegral uber das vierte Teilstuck liefertdas Cauchyintegral

∫ bak(x) dx.

Die Idee der Flachenmessung eines Bereichs B durch ein Kurvenintegral uber denRand C = ∂B funktioniert (in einem erweiterten Sinn) auch in allgemeineren Fallen. Es

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2.3 : Kurvenintegrale 13

sei γ(t) = (x(t)y(t)

): t ∈ [t0, t1] eine glatt parametrisierte Kurve, die nicht notwendigerweise

doppelpunktfrei ist. Das Integral

12

C

(− y dx+ x dy

)= 1

2

∫ t1

t0

(− y · x+ x · y

)dt

liefert hier eine gewichtete Summe von Flacheninhalten; die von Teilkurven eingeschlos-senen Bereiche sind gemaß ihren Umlaufszahlen zu zahlen. Insbesondere ist beim ‘Gebietunter der Kurve’ einer Funktion k(x) auf [a, b], die auch negative Werte annehmen kann,die Flache unterhalb der Abszissenachse negativ zu zahlen. Diese wird namlich im Uhr-zeigersinn umlaufen, wahrend die Bereiche uber der Abszissenachse im mathematischpositiven Sinn umlaufen werden.

Schluss: Die geometrische Linie der Integralrechnung, so wie wir sie hier angedeu-tet haben mit ihren Kurven und Kurvenintegrale, wollen wir jetzt nicht fortsetzen. Imnachsten Kapitel geht es wieder um Funktionenraume, Funktionale und verwandte ma-thematische Objekte wie etwa Mengensysteme und Mengenfunktionen.

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14 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

3 Mengenalgebren, Maße und Integration

Bei der Konstruktion von Daniell machen die Funktionswerte ±∞ Schwierigkeiten. DieSachlage wird ubersichtlicher, wenn man die Integrationstheorie von der Maßtheorie heraufbaut und zunachst nur die messbaren Funktionen mit Werten in R+ = R+ ∪ +∞integriert. Dabei wird nicht subtrahiert; der Funktionswert −∞ tritt nicht auf.

3.1 Erzeugte σ-Algebren

Definition 3.1 (Mengenalgebren, σ-Algebren).Ein System A von Teilmengen einer Grundmenge Ω heißt eine Mengenalgebra wenn

i) ∅ ∈ A , Ω ∈ A,

ii) A ∈ A =⇒ Ω\A ∈ A

iii) A,B ∈ A =⇒ A ∩B ∈ A(und A ∪ B ∈ A

).

vi) Eine Mengenalgebra A uber Ω heißt eine σ-Algebra, wenn zusatzlich gilt

A1, A2, . . . ∈ A =⇒∞⋃An ∈ A

(und

∞⋂An ∈ A

).

Die Elemente A einer σ-Algebra A heissen die A-messbaren Mengen.

Die Definition besagt in Worten: Das Komplement einer A-messbaren Menge ist A-messbar. Abzahlbare Vereinigungen und abzahlbare Durchschnitte A-messbarer Mengensind A-messbar.

Beispiel 3.1.1 (diskrete σ-Algebra).Wenn Ω =

∑Cn eine abzahlbare Partition der Grundmenge ist, dann ist das System

der Mengen, die sich als Vereinigung von abzahlbare vielen ‘Atomen’ Cn darstellen lassen,eine σ-Algebra. Eine σ-Algebra dieser Art heisst eine diskrete σ-Algebra uber Ω.

Sprechweise. Sind A′ und A′′ σ-Algebren uber Ω mit A′ ⊆ A′′, so nennt man A′ eineVergroberung von A′′ und A′′ eine Verfeinerung von A′.

Bemerke: Die feinste aller σ-Algebren uber Ω ist die Potenzmenge, die grobste allerσ-Algebren uber Ω hat zwei Elemente, namlich die leere Menge und die Gesamtmenge Ω.

Lemma.

IstAα : α ∈ I

irgendeine (moglicherweise uberabzahlbare) Familie von σ-Algebren uber

Ω, so ist auch der Durchschnitt A =⋂α Aα eine σ-Algebra.

Wenn S irgendein Mengensystem uber Ω ist, dann heisst die grobste σ-Algebra, dieS umfasst, die von S erzeugte σ-Algebra. (Sie ist der Durchschnitt aller S umfassendenσ-Algebren.)

IstAn : n ∈ N

eine aufsteigende Folge von σ-Algebren uber Ω, A1 ⊆ A2 ⊆ . . ., so

ist die Vereinigung⋃n An eine Mengenalgebra, im Allgemeinen aber keine σ-Algebra.

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3.1 : Erzeugte σ-Algebren 15

Beispiel 3.1.2 (Borel-Algebra). Ein wichtiger Typ von σ-Algebren sind die Borelalgebren.Wenn S ein topologischer Raum ist, dann heisst die vom System der offenen Mengenerzeugte σ-Algebra die Borelalgebra uber diesem topologischen Raum. Wenn die Topologieauf S eine abzahlbare Basis besitzt, dann ist Borelalgebra abzahlbar erzeugt.

Betrachten wir den topologischen Raum S = R. Die Abschnitte (−∞, r] mit rationa-lem r erzeugen die Borelalgebra. Diese Borelalgebra ist so groß, dass es aussichtslos ist,sich eine Menge reeller Zahlen vorzustellen, die nicht borelsch ist.

Definition 3.2 (Mengenring, Inhalt, Pramaß).Ein Mengenring uber der Grundmenge Ω ist ein Mengensystem R mit

A, B ∈ R =⇒ A \B, A ∪ B ∈ R.

Ein Inhalt ist eine nichtnegative Funktion ρ(·) auf einem Mengenring mit

ρ(∅) = 0. ρ(A ∪B) + ρ(A ∩ B) = ρ(A) + ρ(B).

Ein Pramaß ist ein Inhalt mit

A1 ⊇ A2 ⊇ · · ·⋂

An = ∅ =⇒ ρ(An)ց 0.

Definition 3.3 (Maß, Wahrscheinlichkeitsmaß).

Ein Maß ist eine R+-wertige Funktion auf einer σ-Algebra A mit den Eigenschaften

i) µ(∅) = 0 ; µ(A) ≥ 0 fur alle A ∈ A,

ii) A ⊆ B =⇒ µ(A) ≤ µ(B)

iii) A1, A2, . . . paarweise disjunkt =⇒ µ (∑∞

1 Ai) =∑∞

1 µ(Ai).

Wenn µ(Ω) = 1, dann spricht man von einem Wahrscheinlichkeitsmaß; wir schreibenauch kurz W-Maß. Man spricht auch von einer normierten nichtnegativen σ-additivenMengenfunktion.

Wenn zu dem Maß µ(·) auf A eine Folge von A-messbaren Mengen An existiert, sodassµ(An) <∞ fur alle n und

⋃nAn = Ω, dann nennt man µ(·) ein σ-endliches Maß und die

Folge (An)n eine ausschopfende Folge.

Beispiel 3.1.3. Es sei Ω =∑Cn eine abzahlbare Partition der Grundmenge und (pn)n eine

nichtnegative Gewichtung der Atome. Wir erhalten ein Maß auf der erzeugten σ-Algebra,wenn wir definieren

µ(A) =∑

n: Cn⊆Apn.

Jedes Maß auf einer diskreten σ-Algebra entsteht aus einer nichtnegativen Gewichtungder Atome. Es handelt sich um ein σ-endliches Maß. Wenn

∑pn = 1, dann spricht man

von einer konvexen Gewichtung; das dazugehorige Maß ist ein W-Maß.

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16 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

Bemerke: Ein Inhalt ist (bei uns) endlichwertig, aber nicht notwendig beschrankt.Die Einschrankung eines Maßes auf das System der Mengen mit endlichem Maß ist einPramaß. Ein Mengenring ist genau dann eine Mengenalgebra, wenn er die GrundmengeΩ als Element enthalt.

Beispiel 3.1.4. Es sei E ein Stone’scher Vektorverband, welcher die konstante Funktionenc·1Ω enthalt, und I(·) ein Elementarintegral mit I(c·1Ω) = c. (Man spricht von einem nor-mierten Elementarintegral.) Wenn A eine Menge ist, fur welche 1A Daniell-integrabel ist,dann nennt man A eine Daniell-messbare Menge. Das System A∗ der Daniell-messbarenMengen ist eine σ-Algebra, und die Mengenfunktion µ(A) = I∗(1A) ist ein Wahrschein-lichkeitsmaß. Das Mengensystem A∗ ist vollstandig in dem Sinn, dass alle Teilmengeneiner Daniell-messbaren Nullmenge N Daniell-messbar sind. Eine Menge N ist Daniell-Nullmenge genau dann, wenn es zu jedem ε > 0 eine aufsteigende Folge von Elementar-funktionen gibt, sodass lim ↑ fn ≥ 1N und lim ↑ I(fn) < ε.

Beispiel 3.1.5. Denken wir nochmals an das klassische Cauchy-Integral. Wir erhalten einnormiertes Elementarintegral, wenn wir jeder stetigen Funktion uber dem EinheitsintervallΩ = [0, 1] die ’Flache unter der Kurve’ zuordnen, wobei die Flache unterhalb der Abszis-senachse negativ zu zahlen ist. (Die monotone Stetigkeit war Cauchy nicht bekannt.) DieDaniell-Fortsetzung fuhrt zum Lebesgue-Integral uber [0, 1] und daraus ergibt sich dasLebegue-Maß, das Langenmaß auf der σ-Algebra der Daniell-messbaren Teilmengen desIntervalls [0, 1]. — Die Lehrbucher sind sich allerdings nicht einig, ob man nicht lieberdie Einschrankung dieses vollstandigen Maßes auf die Borel-Algebra das Lebesgue-Maßnnennen sollte.

Riemann gelangte zu seinen Ober- und Untersummen, indem er die x-Achse fein unter-teilte. Lebesgue hat betont, dass es genauso naturlich ist, die y-Achse zu unterteilen unddas Maß der Mengen x : a < f(x) ≤ b fur kleine Intervalle (a, b] zur Flachenmessungheranzuziehen. Fur großes n sollte

∑k2n · λ

x : k

2n < f(x) ≤ k+12n

= 1

2n ·∑

λx : f(x) > k

2n

.

eine genaue Approximation der ‘Flache unter der Kurve’ ergeben. Wenn man diese Ideeauf allgemeine messbare Funktionen ubertragt, dann zeigt sich ein Weg, wie man vomLebegue-Maß λ(·) zum Lebesgue-Integral gelangen kann: Es sei f eine nichtnegative Funk-tion und Ff(y) fur jedes y > 0 das Lebesgue-Maß der Menge ω : f(ω) > y, dann giltI(f) =

∫∞0Ff (y) dy. Das Integral der Funktion f(ω) ist also die Flache unter der monoton

fallenden Funktion Ff (y) auf der positiven y-Achse.— Wir werden diese Idee spater inallgemeinerem Zusammenhang weiterverfolgen.

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3.2 : Der Eindeutigkeitssatz fur σ-endliche Maße. 17

3.2 Der Eindeutigkeitssatz fur σ-endliche Maße.

Zwei Maße µ(·) und ν(·) sind (definitionsgemaß!) gleich, wenn sie auf derselben σ-AlgebraA definiert sind und µ(A) = ν(A) fur alle A ∈ A. Wir werden zeigen, dass σ-endliche Maßeschon dann gleich sind, wenn sie auf einem ’genugend großen’ Erzeugendensystem der σ-Algebra A ubereistimmen. Wir schicken eine Uberlegung uber Mengensysteme voraus

Definition 3.4 (Dynkin-Systeme).Ein Mengensystem D uber der Grundmenge Ω heisst Dynkin-System, wenn gilt

i) Ω ∈ D, A ∈ D =⇒ Ω−A ∈ D,

ii) A1, A2, . . . ∈ D und Ai paarweise disjunkt =⇒ ∑∞1 Ai ∈ D.

Bemerkung: In einem Dynkin-System gilt(A,B ∈ D und A ⊆ B

)⇒ B − A ∈

D. Es gilt namlich (B − A)c = Bc + A. Dynkinsysteme sind somit stabil gegenuber(abzahlbarer!) disjunkter Vereinigung und gegenuber ‘echter’ Differenzbildung.Ein Dynkinsystem ist genau dann eine σ-Algebra, wenn es durchschnittsstabil ist.Zu jedem Mengensystem S uber Ω gibt es kleinstes S umfassendes Dynkin-System, das‘von S erzeugte Dynkin-System’; denn der Durchschnitt von (beliebig vielen) Dynkin-Systemen ist ein Dynkin-System.

Satz 3.2.1. Es sei S ein durchschnittsstabiles Mengensystem und D das davon erzeugteDynkin-System. Dann ist D durchschnittsstabil, d. h. D ist die erzeugte σ-Algebra Aσ.

Beweis. Fur jedes feste S ∈ S ist das Mengensystem DS = A : A ∩ S ∈ D einDynkin-System, welches S umfasst. Es gilt also

∀S∈S DS ⊇ D; d. h. S ∈ S, D ∈ D⇒ S ∩D ∈ D.

Fur ein festes D ∈ D ist DD = A : A∩D ∈ D ein Dynkin-System, welches D umfasst.Es gilt daher ∀D∈D DD ⊇ D; d. h. D ∈ D, A ∈ D⇒ A ∩D ∈ D

Das erzeugte Dynkin-System ist also durchschnittsstabil, was zu beweisen war.

Beispiel 3.2.1. 1)Es sei S das System aller beschrankten und unbeschrankten halboffenenIntervalle (linksseitig offen, rechtsseitig abgeschlossen) auf der reellen Achse Ω = R:S =

(a, b] : −∞ ≤ a < b ≤ +∞

. S ist durchschnittsabgeschlossen. Die Gesamtheit

aller disjunkten Vereinigungen bilden eine Mengenalgebra uber R.2) Wenn man nur die beschrankten Intervalle und ihre Vereinigungen zulasst, erhalt maneinen Mengenring.3)Das System aller Abschnitte D =

(−∞, b] : b ≤ +∞

ist ein Dynkin-System, welches

die Borel-Algebra erzeugt. Ein endliches Borel-Maß µ auf R ist eindeutig bestimmt durchdie Werte µ

((−∞, b]

), d. h. durch die sog. Verteilungsfunktion.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

18 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

4)Ein halboffenes Intervall im R2 nennt man auch ein elementares Rechteckω : ω = (x1, x2) mit a1 < x1 ≤ b1, a2 < x2 ≤ b2

= (a1, b1]× (a1, b1].

Das System S aller Rechtecke ist durchschnittsstabil; das System aller disjunkten Ver-einigungen von Rechtecken ist ein Mengenring. Es handelt sich um eine Mengenalgebra,wenn man auch die nichtbeschrankten Rechtecke zulasst.5) Wenn man nur die Rechtecke mit rationalen Eckpunkten zulasst, erhalt man ein abzahl-bares Mengensystem, welches die Borelalgebra B erzeugt.

Nach diesen Vorbereitungen kommen wir nun zum Eindeutigkeitssatzes fur σ-endlicheMaße:

Satz 3.2.2. Auf dem messbaren Raum(Ω,A) seien µ und ν Maße. Es mogen messbare

Menge Ωn existieren mit⋃

Ωn = Ω und µ(Ωn) = ν(Ωn) < ∞. Wenn die Maße µ undν auf einem durchschnittsabgeschlossenen Erzeugendensystem ubereinstimmen, dann sindsie gleich.

Beweis. Es genugt, den Satz fur Wahrscheinlichkeitsmaße zu beweisen; denn die Maßeµ(·∩Ωn) und ν(·∩Ωn) sind bis auf eine Normierung Wahrscheinlichkeitsmaße; und wennµ(A ∩An) = ν(A ∩ An) fur alle A ∈ A und alle n, dann sind µ und ν gleich.

Der Beweis ergibt sich aus der Beobachtung, dass das Mengensystem D =D :

µ(D) = ν(D)

ein Dynkinsystem ist, welches von einem durchschnittsstabilen Mengen-system erzeugt wird.

Didaktischer Hinweis: Die Methode, mit der wir eben eine Aussage uber σ-endlicheauf eine Aussage uber W-Maße zuruckgefuhrt haben, ist bei vielen Gelegenheiten an-wendbar. Wir nutzen die Spezialisierung der Aussagen auf W-Maße manchmal, um dieentscheidenden Argumente durchsichtiger herauszustellen.

Maße, die nicht σ-endlich sind, sind fur uns in dieser Veranstaltung nicht besonders in-teressant (Eine Ausnahme ist der Abschnitt uber Hausdorff-Maße.) Wenn wir fur mancheAussagen die σ-Endlichkeit des zugrundeliegenden Maßes voraussetzen, dann dient dasder Ubersichtlichkeit, sagt aber nicht unbedingt, dass nicht auch ganz ahnliche Aussagenim ganz allgemeinen Fall bewiesen werden konnen.

Beispiel (Eigentlich ein Gegenbeispiel). Es sei Ω eine uberabzahlbare Menge und A dieσ-Algebra, die von den einpunktigen Mengen erzeugt wird. Eine Menge A gehort zuA genau dann, wenn sie entweder abzahlbar ist oder ein abzahlbares Komplement hat.Wir erhalten ein Pramaß auf dem Mengenring der endlichen Mengen, indem wir denPunkten ω Gewichte p(ω) ≥ 0 zuordnen: ρ(A) =

∑ω∈A p(ω). Wir konnen ρ einerseits

in naheliegender Weise zu einem Maß fortsetzen, indem wir fur alle A ∈ A definierenµ(A) =

∑ω∈A p(ω). Betrachten wir andererseits das Maß µ, welches auf den abzahlbaren

Mengen mit µ ubereinstimmt und allen uberabzahlbaren A ∈ A den Wert µ(A) = +∞zuordnet, ist ebenfalls eine Fortsetzung von ρ. Wenn die Summe aller Gewichte endlichist, dann sind µ und µ verschieden.

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3.3 : Das Integral zu einem Maß 19

3.3 Das Integral zu einem Maß

Definition 3.5 (Messbarer Raum, Maßraum).Ein Menge Ω wird zu einem messbaren Raum, indem man eine σ-Algebra A auszeichnet.Ein messbarer Raum

(Ω,A

)wird zu einem (σ-endlichen) Maßraum, indem man ein (σ-

endliches) Maß µ auf A auszeichnet. Er wird zu einem W-Raum, indem man ein W-Maßauszeichnet.

Definition 3.6 (Messbare numerische Funktion). Eine Funktion f(·) auf einem messba-ren Raum

(Ω,A

)mit Werten in R+ = R+ ∪ +∞ heisst eine A-messbare nichtnegative

numerische Funktion, wenn ω : f(ω) > y A-messbar ist fur alle y.

Man nennt eine solche Funktion oft auch kurz eine nichtnegative messbare Funktion.Man bemerke, dass man solche Funktionen (‘punktweise’) addieren, aber nicht subtrahie-ren kann. Die Summe ist in der Tat A-messbar; denn f + g > y ist als eine abzahlbareVereinigung messbarer Mengen darstellbar: f + g > y =

⋃r∈Qf > r ∩ g > y − r.

Eine messbare Funktion, die nur endlich viele Werte annimmt, heisst eine A-Treppen-funktion.

Im Hinblick auf spatere Diskussionen wollen wir fur die nachsten Satze nicht anneh-men, dass das ausgezeichnete Mengensystem (uber der Grundmenge Ω) eine σ-Algebraist. Wir lassen auch Mengenalgebren oder Mengenringe zu.

Sprechweise 3.3.1 (Elementare Treppenfunktion). Auf der Menge Ω sei ein MengenringR ausgezeichnet. Eine Funktion f , die nur endlich viele Werte annimmt mit f = y ∈ R

fur alle y, nennen wir eine elementare R-Treppenfunktion.

Bemerke: Die elementaren R-Treppenfunktionen haben die Form h(ω) =∑

j cj ·1Aj(ω)

mit Aj ∈ R. Die elementaren reellwertigen Treppenfunktionen bilden einen Stone’schenVektorverband.

Sei beispielsweise R der Mengenring uber R, die von den beschrankten halboffenenIntervallen erzeugt wird. Die elementaren Treppenfunktionen sind dann die Funktionen∑

j cj · 1(aj ,bj ], wobei man annehmen darf, dass die Intervalle (aj , bj ] paarweise disjunktsind. Es sind die elementaren Treppenfunktionen, die man bei der bekannten Konstruktiondes Riemann-Integrals ins Spiel bringt.

Satz 3.3.1 (Das Elementarintegral zu einem Pra-Maß).Es sei µ(·) ein Inhalt auf einem Mengenring A uber der Grundmenge Ω.Es existiert dann genau ein lineares Funktional I(·) auf dem Stone’schen VektorverbandE der elementaren A-Treppenfunktionen f(·) mit I(1A) = µ(A) fur alle A ∈ A. Es gilt

I(f) =

∫ ∞

0

µ(f > t

)dt fur alle nichtnegativen f .

Wenn µ(·) ein Pramaß ist, dann das Funktional ein Elementarintegral im Sinne derDaniell-Fortsetzung.

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20 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

Beweis. Eine A-Treppenfunktion h kann man auf sehr viele Weisen als Linearkombina-tion von Indikatorfunktionen darstellen. Es gilt zu beweisen

∑aj · 1Aj

= h =∑

bk · 1Bk=⇒

∑aj · µ(Aj) =

∑bk · µ(Bk).

1) Wir betrachten zuerst den Fall, wo sowohl die Aj als auch die Bk paarweise dis-junkt sind. Wir konnen diese Tupel durch Mengen A0, B0 ∈ A erganzen, sodass wir zweiPartitionen einer Menge Ω erhalten, auf deren Komplement alle beteiligten Funktionenverschwinden. Die Koeffizienten zu 1A0 bzw. 1B0 sind naturlich a0 = 0 = b0 zu setzen. Esgilt

h =∑

j,k

cjk · 1Aj∩Bkmit Aj ∩ Bk 6= ∅ ⇒ cjk = aj = bk.

Es gilt daher wegen Bk =∑

j Aj ∩Bk, Aj =∑

k Aj ∩Bk

∑bk · µ(Bk) =

j,k

cjk · µ(Aj ∩ Bk) =∑

aj · µ(Aj).

2) Es sei h =∑bk · 1Bk

, und es sei∑

j Aj = Ω eine Partition, die eine Mengenalgebraerzeugt, welche alle Bk enthalt.

Bk =∑

j:Aj⊆BkAj, µ(Bk) =

j:Aj⊆Bkµ(Aj) fur alle k

h =∑

(j,k):Aj⊆Bkbk · 1Aj

=∑

j

aj · 1Ajmit aj =

k:Aj⊆Bkbk,

∑bk · µ(Bk) =

(j,k):Aj⊆Bkbk · µ(Aj ∩ Bk) =

j

aj · µ(Aj).

Da alle Darstellungen von h mit paarweise disjunkte Aj denselben Wert liefern, liefernalle Darstellungen denselben Wert I(h). Das Funktional I(·) ist auf E wohldefiniert. Esist monoton und positivlinear.

3) Wenn 0 = c0 < c1 < · · · < cM die moglichen Werte von h sind, dann gilt

h =∑

m

cm · 1Cmmit Cm = h = cm

Diesen Wert I(h) konnen als das Integral einer abnehmenden Sprungfunktion auf R+

gewinnen. In der Tat haben wir zunachst einmal fur Funktionen, die (ausser der 0) nureinen einzigen Wert c annehmen konnen, d. h. fur die Vielfachen von Indikatorfunktionen

h = c · 1C =⇒ I(c · 1C) = c · µ(C) =

∫ ∞

0

µ(h > y) dy;

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3.3 : Das Integral zu einem Maß 21

Ebenso einfach ist das Argument fur h =∑hj =

∑aj · 1Aj

mit paarweise disjunkten Ajwegen h > y =

∑hj > y∫ ∞

0

µ(h > y) dy =∑∫ ∞

0

µ(hj > y) dy = I(∑

hj) = I(h).

4) Fur eine punktweise nach 0 absteigende Funktionenfolge (hn)n gilt

hn > y

ց ∅ fur alle y > 0 und daher fur jedes Pramaß µhn > y ց 0, sowie

I(hn) =

∫ ∞

0

µhn > y dy ց 0.

Die Funktionen Fn(y) = µhn > y sind auf R+ rechtsstetig und sie fallen nach 0 fury →∞. Die Integrale

∫∞0Fn(y) dy fallen nach 0 fur n→∞.

5) Wir bemerken: h ist genau dann der aufsteigende Limes der Funktionenfolge(hn)n, wenn limn ↑ hn > y = h > y fur alle y. Wenn die hn nichtnegative elementareTreppenfunktionen sind und µ(·) ein Pramaß, dann gilt limn ↑ µ

(hn > y

)= µ

(h > y

)

fur alle y und daher lim I(hn)ր∫∞0µ(h > y

)dy.

Lemma. Wenn A eine σ-Algebra ist, dann lasst sich jede A-messbare nichtnegative nume-rische Funktion f als aufsteigender Limes einer Folge von Treppenfunktionen gewinnen.

Beweis. Wir konstruieren fur k, n ∈ N

A(n)k = ω : k2−n < f(ω) ≤ (k + 1)2−n,

B(n)k =

l=k

A(n)l = ω : k2−n < f(ω),

f (n) = 2−n ·∞∑

1

k · 1A

(n)k

= 2−n ·∞∑

1

1B

(n)k

.

f (n) entsteht aus f , indem man die Funktionswerte auf das nachste ganzzahlige Vielfachevon 2−n abrundet. Die Folge der Treppenfunktionen

(f (n) ∧ n

)n

konvergiert aufsteigendgegen f .

Bemerkung: Die rechtsstetige abnehmende Sprungfunktion F (n)(y) = µ(f (n) > y) isteine Minorante der Funktion F (y) = µ(f > y); und es gilt F (n)( k

2n ) = F (k+12n ) fur k < n2n.

Wenn der Limes der Integrale endlich ist, nennt man h eine µ-integrable Funktion.Unserer Konstruktionen liefern einen der zentralen Satze der Integrationstheorie:

Satz 3.3.2 (Satz von der monotonen Konvergenz fur nichtnegative Funktionen).Es sei

(Ω, A

)ein messbarer Raum, und F+ der Kegel aller A-messbaren nichtnegativen

numerischen Funktionen. Zu jedem Maß µ(·) existiert dann genau ein monotones additivesFunktional I(·) mit Werten in R+ mit I(1A) = µ(A) fur alle A ∈ A. Es gilt

0 ≤ f1 ≤ f2 ≤ · · · f = lim ↑ fn =⇒ I(f) = lim ↑ I(fn).Man notiert I(f) =

∫f dµ oder auch I(f) =

∫f(ω) dµ(ω) =

∫f(ω) µ(dω).

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22 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

Die Additivitat des fortgesetzten Funktionals ergibt sich aus der Additivitat seinerEinschrankung auf den Kegel der nichtnegativen Treppenfunktionen: Zu f, g ∈ F+ wahlenwir aufsteigende Folgen von Treppenfunktionen fn ր f, gn ր g. Die Folge (fn+gn) strebtdann aufsteigend gegen f + g, und fur die Integrale gilt

I(f + g) = lim ↑ I(fn + gn) = lim ↑ I(fn) + lim ↑ I(gn) = I(f) + I(g).

Die aufsteigende Stetigkeit ergibt sich so:

fn ր f =⇒ ∀y > 0 fn > y ր f > y =⇒ ∀y > 0 µ(fn > y

)ր µ

(f > y

)

=⇒∫ ∞

0

µ(fn > y

)dy ր

∫ ∞

0

µ(f > y

)dy.

Die absteigende Stetigkeit konnen wir nur erschliessen, wenn fur die beteiligten fn dasIntegral endlich ist. Eine Variante des Satzes von der monotonen Konvergenz, welche invielen Rechnungen Verwendung findet, ist der

Satz 3.3.3 (Lemma von Fatou). Fur jede Folge nichtnegativer messbarer Funktionen gilt

∫ (lim inf fn

)dµ ≤ lim inf

∫fn dµ.

Beweis. Der Limes inferior der Folge (fn)n ist der aufsteigende Limes der Folge (gm)m,wenn gm = inffn : n ≥ m. Wegen

∫gm ≤

∫fn dµ fur alle n ≥ m gilt nach dem Satz

von der monotonen Konvergenz

∫ (lim inf fn

)dµ = lim ↑

∫gm dµ ≤ lim inf

∫fn dµ.

Wenn die Folge (fn)n punktweise konvergiert, kann man nicht ohne weitere Annahmenschliessen, dass die Integrale gegen das Integral der Grenzfunktion konvergieren.

Beispiel. Fur x ≥ 0 sei f1(x) = x1+x4 und fn(x) = n · f1(nx). Es gilt

∫∞0fn(x) dx =∫∞

0f(x) dx = 1

2

∫∞0

11+u2 du fur alle n, wahrend fn(x) = n2x

1+n4x4 → 0 fur alle x.

Definition 3.7 (µ-Integrabilitat). Eine A-messbare Funktion h, die auch negative Werteannehmen kann, nennt man eine µ-integrable Funktion, wenn I(|h|) <∞. In diesem Falldefiniert man

∫h dµ =

∫h+ dµ−

∫h− dµ.

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3.4 : Der Satz von Fubini 23

3.4 Der Satz von Fubini

In der elementaren Differentialrechnung versteht man den Ausdruck∫∫

B

f(x, y) dx dy

als das ‘Flachenintegral’ der Funktion f(x, y) bzgl. des ‘Flachenelements’ dx dy uber denBereich B. Man lernt, dass man dieses Doppelintegral unter gewissen Umstanden auchals ein iteriertes Integral auswerten kann, und dass es dabei nicht auf die Reihenfolge dereindimensionalen Integrationen ankommt

∫dx

∫f(x, y) dy =

∫∫f(x, y) dx dy =

∫dy

∫f(x, y) dx.

Das Thema hat mehrere Aspekte. Wir konnen es z. B, als einen Vorschlag verstehen,das zweidimensionale Lebesgue- Maß uber R2 als ein Produktmaß zu konstruieren. EineVerallgemeinerung ist die folgende Konstruktion von Produktmaßen uber Produktraumen

Satz 3.4.1 (Das Produkt zweier Mengenringe).Es sei R1 ein Mengenring uber Ω1 und R2 ein Mengenring uber Ω2. Es sei S das Systemaller Rechtecke S = R1 ×R2 und R das System aller disjunkten Vereinigungen. Dann istS ein Mengensystem uber dem cartesischen Produkt Ω = Ω1 × Ω2 mit der EigenschaftS ′, S ′′ ∈ S =⇒ S ′ ∩ S ′′ ∈ S, S ′ \ S ′′ ∈ R; und R ist ein Mengenring.

Der Beweis ist trivial.

Notation 3.1. Man nennt den so konstruierten Mengenring R den Produktring undbezeichnet ihn R1 ⊗R2.

Satz 3.4.2 (Produkt-Inhalt).Die Bezeichnungen seien wie eben. ρ1 sei ein Inhalt auf R1, ρ2 ein Inhalt auf R2.Es gibt dann genau einen Inhalt ρ auf R1⊗R2 mit ρ

(R1×R2

)= ρ(R1) · ρ2(R2) fur

alle Rechtecke. (Er heisst der Produktinhalt und wird mit ρ1⊗ ρ2 bezeichnet.) Wenn die‘Faktoren’ ρ1, ρ2 Pramaße sind, dann ist auch das Produkt ρ = ρ1 ⊗ ρ2 ein Pramaß.

Beweis. Wir benutzen die Beschreibung des Produktinhalts durch ein iteriertes Integral,um zu zeigen, dass man unser Funktional ’Lange × Breite’ auf der Menge der Rechteckein eindeutiger Weise zu einem Inhalt auf R fortsetzen kann. Wir verstehen unsere Inhalteρ1, ρ2 als Funktionale auf den betreffenden Systemen von Treppenfunktionen.

Fur eine R2-Treppenfunktion h2 ∈ RTr+2 notieren wir I2(h2) =

∫h2(ω2) dρ(ω2).

Entsprechend notieren wir die Elementarintegrale I1(h1) fur h1 ∈ RTr+1 . Fur das Integral

der Indikatorfunktion eines Rechtecks h = 1R1×R2 bieten sich mehrere Darstellungen an.∫h(ω1, ω2) dρ(ω1, ω2) =

∫1R1(ω1)

(∫1R2(ω2)

)dρ(ω1).

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24 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

Fur h ∈(R1 ⊗ R2

)Tr+und ω1 ∈ Ω1 nennen wir die Funktion hω1(·) = h(ω1, ·) den

Schnitt uber ω1. Der Schnitt einer Summe h1+h2 ist uber jedem ω1 die Summe der Schnit-te. Fur die Indikatorfunktion eines Rechtecks hangt das ρ2- Integral des Schnitts uber ω1 inder Form einer R1−Treppenfunktion von ω1 ab. Aus der Linearitat des Elementarintegrals

I ergibt sich fur beliebige h ∈(R1 ⊗R2

)Tr+

∫h(ω1, ω2) dρ(ω1, ω2) =

∫ (∫hω1(ω2) dρ(ω2)

)dρ(ω1).

Betrachten wir nun den Fall der Pramaße. Wir zeigen die Pramaßeigenschaft fur denProduktinhalt.

A(1) ⊇ A(2) ⊇ · · · ∈ R1 ⊗R2,⋂

A(n) = ∅ =⇒ ρ(A(n))ց 0.

Fur h(n) = 1A(n) bilden die Schnitte uber ω1 eine Folge von R2-Indikatorfunktionen,

die punktweise gegen die Nullfunktion abfallen. h(n)ω1 (·) = h(n)(ω1, ·) ց 0. Die Pramaß-

Eigenschaft von ρ2 garantiert, dass die ρ2-Integrale nach 0 fallen; und die Pramaß-Eigen-schaft von ρ1 liefert

ρ(A(n)) =

∫h(n)(ω1, ω2) dρ(ω1, ω2) =

∫ (∫h(n)ω1

(ω2) dρ(ω2))dρ(ω1)ց 0.

Satz 3.4.3 (Satz von Fubini).Gegeben seien σ-endliche Maße µi auf Ai (i = 1, 2). A bezeichne die von A1 ⊗ A2

erzeugte σ-Algebra uber Ω1 × Ω2 . Das ‘iterierte Integral’

A ∋ A 7−→∫ (∫

1A(ω1, ω2) dµ2(ω2))dµ1(ω1).

ist die eindeutig bestimmte monotone Fortsetzung µ des Produktinhalts µ1 ⊗ µ2.Fur beliebige A-messbare nichtnegative h gilt

∫h dµ =

∫ (h(ω1, ω2) dµ(ω2)

)dµ(ω1).

Beweis. Die Gesamtheit derjenigen nichtnegativen Funktionen h(ω1, ω2), fur welche je-der Schnitt h(ω1, ·) A2-messbar ist, enthalt die nichtnegativen Treppenfunktionen; sie istgegenuber monotoner Limesbildung abgeschlossen und umfasst daher A+. Mit anderenWorten: Fur jedes f ∈ A+ sind alle Schnitte messbar. Mit demselben Argument siehtman, dass die ρ2-Integrale dieser Schnitte in A1-messbarer Weise von ω1 abhangen. Dasiterierte Integral ist daher ein wohldefiniertes Funktional. Es ist positivlinear und aufstei-gendstetig, und es liefert fur die Indikatoren der Rechtecke die gewunschten Werte. Es istdaher gleich dem Funktional I+(·) zum Produktpramaß ρ1 ⊗ ρ2.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.4 : Der Satz von Fubini 25

Notation. Die von den Rechtecken erzeugte σ-Algebra bezeichnen wir mit A1 ⊗σ A2

Wenn ρ1 das σ-endliche Maß µ1 erzeugt und ρ2 das σ-endliche Maß µ2, dann bezeichnetµ1 ⊗σ µ2 das von ρ1 ⊗ ρ2 erzeugte σ-endliche Maß auf

(Ω1 × Ω2,A1 ⊗σ A2

). Dieses Maß

heisst das Produktmaß. Manchmal schreibt man auch einfach µ1⊗µ2, wenn klar ist, dassman nicht nur den Produktinhalt meint, sondern schon seine Fortsetzung zu einem Maß.

Hinweise: Man kann naturlich die Reihenfolge der Faktoren des cartesischen ProduktsΩi vertauschen. Der Satz liefert somit insbesondere die Vertauschbarkeit der Reihenfolgeder Integrationen. Altere Lehrbucher vermeiden den Begriff des Produktintegrals. Sienennen den Satz von der Vertauschbarkeit der Integrationsreihenfolge der Satz von Fubinigenannt.

Die Mathematiker des 19. Jahrhunderts kampften deswegen mit der Frage der Ver-tauschbarkeit, weil sie sich gelegentlich (auf dem Weg uber iterierte Integrale) auch umIntegration von Funktionen h bemuhen wollten, fur die der Positivteil und der Negativteilunendliches Integral haben.

∫h+ dρ = +∞ =

∫h− dρ.

Man versuchte beispielsweise die Formel∫∞0

sinxx

dx = π2

mit den Mitteln einerIntegrationstheorie zu rechtfertigen. Die damals ins Auge gefassten Ansatze zu einer Ver-allgemeinerung des Integralbegriffs haben sich als nicht tragfahig erwiesen.

‘Uneigentliche Integrale’ und ‘bedingt integrable Funktionen’ gibt es nicht in der mo-dernen Integrationstheorie. Viele (teilweise sehr ansprechende) Formeln mit Integralen,welche die ‘Integrationstheorie’ des 19. Jahrhunderts zu behandeln versuchte, mussen inder modernen Integrationstheorie als Limiten von Integralen gedeutet und mit der gebo-tenen Vorsicht behandelt werden.

Fazit: Wenn man bei den Integranden f bleibt, fur welche f+ und f− endliches Integralhaben, dann gibt es keine Probleme mit dem iterierten Integrieren.

Wir prasentieren ‘Beispiele’ verschiedener Art. Das erste ist vollig unproblematisch.Das zweite stellt eine problematische Situation gegen einen Zusammenhang, der aufgrundvon Erfahrungen mit expliziten Rechenbeispielen von vielen ‘Anwendern’ als unproble-matisch empfunden wird. Gemeint ist die sog. Fourier-Inversionsformel.

Beispiel 3.4.1. Es sei h(ω) ≥ 0 messbar auf dem Maßraum(Ω,A, µ

). Die bekannte Formel∫

h(ω) dµ(ω) =∫∞0µ(h > y) dy kann man sehr einfach mit dem Satz von Fubini herleiten:

Wir schreiben h(ω) =∫∞0

1h(ω)>y dy und erhalten∫h(ω) dµ(ω) =

∫1h(ω)>y dy dµ(ω) =

∫ ∞

0

µ(h > y) dy.

Beispiel 3.4.2. Fur integrable Funktionen auf der reellen Achse F (·), g(·) definiert man

f(t) =

∫eitxF (x) dx, G(x) =

1

∫e−itxg(t) dt.

Unter gewissen Umstanden kann mit dem Satz von Fubini bewiesen werden

1

∫f(t) · g(t) dt =

∫F (x) ·G(x) dx.

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26 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

Wenn namlich g(t) · F (x) produktintegrabel ist, dann gilt

1

∫f(t) · g(t) dt =

1

∫dt g(t) ·

(∫e−itxF (x) dx

)=

=1

∫∫dt g(t) · F (x) e−itx dx dt =

∫dx F (x)

1

(∫g(t) · e−itx dt

)=

=

∫dx F (x) ·G(x).

Der Satz von Fubini fuhrt nicht zum Ziel, wenn man die Fourier-Inversionsformel beweisenwill. Die Inversionsformel besagt fur ‘gute’ F (·):

f(t) =

∫eitxF (x) dx =⇒ F (x) =

1

∫e−itxf(t) dt

Wenn man einfach einsetzt, erhalt man

1

∫e−itxf(t) dt =

1

∫dte−itx

(∫eityF (y) dy

)=

? =1

∫∫dt dy eit(y−x)F (y) =? =

∫F (x+ z) · 1

(∫eitz dt

)dz =? = F (x).

Welche Funktionen F (·) die guten sind, und wie man die Inversionsformel beweist, werdenwir spater klaren.

Wir erinnern noch an einige expliziten Formeln, die aus der Anfanger-Vorlesung be-kannt sein sollten:

Beispiel.

f(t) = e−|t|, F (x) =1

∫e−itxf(t) dt = 1

π· 1

1+x2 ;∫eitx F (x) dx =

∫eitx 1

π· 1

1+x2 dx = e−|t|;

f(t) =(sintt

)2, F (x) = 1

∫ ∞

−∞e−itx

(sintt

)2dt = 1

2

(1− |x|

2

)+

(sintt

)2=

∫eitx 1

2

(1− |x|

2

)+dx.

gσ(t) = exp(−σ2

2(t21 + · · ·+ t2p)

);

Gσ(x) =(

12π

)p∫e−itxgε(t) dt =

(1√2πσ

)p· exp

(− 1

2σ2 (x21 + · · ·+ x2

p)),

∫eitx Gσ(x) dx = gσ(t).

Wir bemerken: Gσ(x) dx heisst die Dichte der p-dimensionalen Normalverteilung mit derCovarianzmatrix σ2 · I (auf dem Raum der reellen p-Spalten). Die Funktion gσ(t)auf dem Raum der reellen p-Zeilen heisst ihre charakteristische Funktion.

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3.5 : Gleichheit µ-fastuberall 27

3.5 Gleichheit µ-fastuberall

Es sei(Ω, A, µ

)ein Maßraum. Eine numerische Funktion f(ω) heisst bekanntlich A-

messbar, wenn ω : f(ω) > y A-messbar ist fur alle y. Und das bedeutet f ∈ B ∈ A

fur alle B in der von den Intervallen erzeugten σ-Algebra B uber R = R ∪ +∞,−∞.Wir betrachten die Menge F aller A-messbaren numerischen Funktionen. Es handelt

sich um einen σ-vollstandigen Verband; fur jede Folge (fn)n existieren Supremum undInfimum. Es gilt namlich

sup fn > y =⋃fn > y, inf fn ≥ y =

⋂fn ≥ y.

Messbare numerische Funktionen heissen µ-fastuberall gleich, wenn µω : f(ω) 6= g(ω) =0. Messbare Mengen A,B heissen gleich bis auf eine Nullmenge, wenn die Indikatorfunk-tionen fastuberall gleich sind. Das heisst, wenn µ(AB) = 0.

Man sagt, f sei µ-fastuberall kleinergleich g, und man notiert f ≤ g µ-fastuberall,wenn µω : f(ω) > g(ω) = 0. Dies ist genau dann der Fall, wenn f > y \ g > y eineNullmenge ist fur alle y. Das ergibt sich aus

ω : f(ω) > g(ω) =⋃

r∈Q

f(ω) > r ≥ g(ω).

Wenn f µ-fastuberall kleinergleich g ist, dann notieren wir auch f ≤µ g. Die Menge derAquivalenzklassen

(F,=µ

)ist ein σ-vollstandiger Verband. Wenn namlich fn =µ gn fur

alle n ∈ N, dann gilt sup fn =µ sup gn und inf fn =µ inf gn.Fur jede Folge (fn)n in

(F,=µ

)sind der obere Limes f = lim sup fn und der untere Limes

f = lim inf fn wohldefinierte Aquivalenzklassen. Wir sagen, dass die Folge µ-fastuberallgegen f konvergiert, wenn lim inf fn =µ lim sup fn =µ f .

Ein Element f ∈(F,=µ

)wird eine µ-fastuberall endliche Funktion genannt, wenn ein

Reprasentant existiert, der nur endliche Werte annimmt. Die Menge aller µ-fastuberallendlichen Funktionen ist ein Vektorraum.

Ein Element f ∈(F,=µ

)heisst wesentlich beschrankt (‘essentially bounded’ im Eng-

lischen), wenn eine Zahl M existiert, sodass µ|f | > M = 0; das Infimum der Werte Mmit dieser Eigenschaft heisst die Supremumsnorm von f und wird mit ‖f‖∞ bezeichnet.Es handelt sich wirklich um eine Vektorraumnorm: ‖f‖∞ = 0 gilt genau dann, wenn feine Nullfunktion ist, wenn also f ausserhalb einer µ-Nullmenge verschwindet. Es gilt‖c ·f‖∞ = |c| · ‖f‖∞ fur alle c ∈ R. Und ‖ ·‖ ist subadditiv: ‖f+g‖∞ ≤ ‖f‖∞+‖g‖∞. Dermit ‖ · ‖∞ normierte Vektorraum der Aquivalenzklassen wesentlich beschrankter Funk-tionen wird mit L∞(Ω, A, µ

)bezeichnet. Ein Element f ∈

(F,=µ

)heisst µ-integrabel,

wenn ‖f‖1 =∫|f | dµ < ∞. Der mit ‖ · ‖1 normierte Vektorraum der Aquivalenzklassen

integrabler Funktionen wird mit L1(Ω, A, µ

)bezeichnet.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

28 Mengenalgebren, Maße und Integration Integrationstheorie

Ruckblick: Wir haben in diesem Kapitel 3 alle Argumente herausgearbeitet, die eineRolle spielen in einem Satz, welcher vielen Lehrbuchern als einer der Hauptsatze derMaßtheorie gilt.

Satz 3.5.1 (Satz von der eindeutigen Fortsetzbarkeit eines Pramaßes).Es sei R ein Mengenring uber der Grundmenge Ω, und A die von ihm erzeugte σ-Algebra.Zu jedem Pramaß ρ auf R existiert eine Fortsetzung zu einem Maß auf A. Die Fortsetzungist eindeutig bestimmt auf dem σ-Ring derjenigen A-Mengen A, die sich mit abzahlbarvielen R-Mengen uberdecken lassen. Fur diese Mengen A gilt

µ(A) = inf∑

ρ(Ai) : A ⊆∞⋃Ai,

wobei das Infimum uber alle abzahlbaren Uberdeckungen zu erstrecken ist.

Beweis. Wir wiederholen nochmals in Kurze die Beweisschritte: Beim Existenzbeweisstutzen wir uns auf die Fortsetzungsidee von Daniell.

1) Das Pramaß ρ liefert ein Elementarintegral I(·) auf dem Stone’schen Vektorverbandder R-Treppenfunktionen. Fur eine Daniell-integrable Indikatorfunktion 1A gilt

I∗(1A) = inf

limN↑ ρ(

N⋃Ai

):

∞⋃Ai ⊃ A

= inf

∞∑

1

ρ(Ai) :

∞⋃

1

Ai ⊃ A;

denn bei den aufsteigenden Folgen von Elementarfunktionen, die uber 1A hinauswachsen,konnen wir uns auf die aufsteigenden Folgen von Indikatorfunktionen beschranken. Wirkonnen auch annehmen, dass die Ai paarweise disjunkt sind.

2)Die Mengen A, fur welche 1A Daniell-integrabel ist, nennen wir Daniell-summierbareMengen. Eine Daniell-summierbare Menge ist nicht notwendigerweise A-messbar; sie un-terscheidet sich aber nur um eine Nullmenge von einer A-Menge. Die Gesamtheit derDaniell-summierbaren Mengen ist ein Mengenring Rf . Nach dem Satz von der monoto-nen Konvergenz gilt weiter

A1 ⊆ A2 ⊆ · · · ∈ Rf , lim ↑ I∗(An) <∞ =⇒ A∞ :=

∞⋃An ∈ Rf , I∗(1An

)ր I∗(A∞).

3) Wir erhalten ein Maß µ(·), wenn wir den A-messbaren Daniell-summablen MengenA den Wert µ(A) = I∗(1A) zuordnen und den ubrigen A-messbaren Mengen den Wert∞. Wenn An paarweise disjunkte A-messbare Daniell-summable Mengen sind, dann giltµ(∑An) =

∑µ(An). Wenn eine Vereinigung von abzahlbar vielen A-Mengen nicht mit

abzahlbar vielen R-Mengen uberdeckt werden kann, dann lasst sich mindestens eine nichtmit abzahlbar vielen R-Mengen uberdecken.

Hinweis: Manche Lehrbucher lassen bei den Pramaßen auch den Wert +∞ zu. DerFortsetzungssatz ist bei diesen Konventionen naturlich etwas anders zu formulieren.

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4.1 : Holders Ungleichung und die p-Normen 29

4 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale

Wir erinnern an einige Begriffsbildungen aus der elementaren Vektorraumtheorie:Ein (reeller oder komplexer) Vektorraum V wird zu einem normierten Vektorraum,

indem man eine Norm ‖ · ‖ auszeichnet. Eine Seminorm ist eine nichtnegative FunktionN(·) auf V , welche subadditiv und ‘absoluthomogen’ ist.

N(v + w) ≤ N(v) +N(w), N(c · v) = |c| ·N(v) fur alle Skalare c.

Eine Seminorm, die nur im Nullvektor den Wert 0 annimmt, heisst eine Norm. Ein nor-mierter Vektorraum wird auch ein Pra-Banachraum genannt.

Eine Linearform auf einem normierten Vektorraum heisst eine stetige Linearform,wenn sie auf der Einheitskugel beschrankt ist. Der Vektorraum aller stetigen Linearformenauf (V, ‖ · ‖) heisst der (topologische) Dualraum und wird mit V ′ bezeichnet. Die dualeNorm

V ∗ ∋ ℓ 7−→ ‖ℓ‖ = sup|ℓ(v)| : ‖v‖ ≤ 1

macht den Dualraum V ′ zu einem normierten Vektorraum,Ein normierter Vektorraum wird zu einem metrischen Raum, wenn man den Abstand

zweier Vektoren als die Norm der Differenz definiert: d(v, w) = ‖w−v‖. Jeden metrischenRaum kann man vervollstandigen; in der Standardinterpretation versteht man die Punktedes vervollstandigten Raums als die Aquivalenzklassen von Cauchy-Folgen.

Ein vervollstandigter normierter Vektorraum ist selbst ein normierter Vektorraum,wenn man die Norm stetig fortsetzt. Ein vollstandiger normierter Vektorraum wird einBanachraum genannt.

Ein (Pra)-Banachraum heisst ein (Pra)-Hilbertraum, wenn die Norm die sog. Parallelo-gramm-Gleichung erfullt

‖v + w‖2 + ‖v − w‖2 = 2‖v‖2 + 2‖w‖2.

Beispiel 4.0.1. Es sei Vtrig der komplexe Vektorraum der trigonometrischen Polynome

f(t) =∑

cn · eint = 12a0 +

k=1

(ak cos kt+ bk sin kt

)

Wir machen ihn zu einem Pra-Hilbert-Raum, indem wir festlegen

‖v‖2 = 12π

∫ 2π

0

|f(t|2 dt =∑|cn|2.

Mittels der Integrationstheorie werden wir zwei interessante Darstellungen der Vektorenim vervollstandigten Raum finden: Eine Darstellung durch quadratsummable Folgen undeine Darstellung durch quadratintegrable 2π-periodische Funktionen. Den Zusammenhangzwischen den beiden Darstellungen beschreibt die Theorie der Fourier-Reihen.— Wir wer-den dieses Beispiel immer wieder in den Blick nehmen.

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30 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

4.1 Holders Ungleichung und die p-Normen

Definition 4.1. Es sei(Ω, A, µ

)ein Maßraum und p ∈ (1,∞).

Eine Aquivalenzklasse messbarer Funktionen f heisst p-integrabel bzgl. µ, wenn∫|f |p dµ <

∞. Fur solche f definiert man die p-Norm

Np(f) = ‖f‖p =

(∫|f |p dµ

)1/p

Wir zeigen, dass ‖ · ‖p in der Tat eine Norm auf dem Vektorraum der p-integrablenFunktionen ist. Dieser normierte Vektorraum wird mit Lp

(Ω, A, µ

)bezeichnet.

(Wir unterdrucken im Folgenden den Hinweis, dass es sich bei den Elementen derRaume Lp nicht um Funktionen handelt, sondern um Aquivalenzklassen. Wir sprechen vonden p-integrablen Funktionen oder manchmal auch von den p-summablen Funktionen.)

Satz 4.1.1 (Die Holder’sche Ungleichung).Es sei h p-integrabel, und k q-integrabel mit 1/p + 1/q = 1. Das Produkt h · k

ist dann integrabel und es gilt

∫|h · k| dµ ≤ Np(h) ·Nq(k).

Fur jedes h ∈ Lp existiert ein k ∈ Lq, sodass

∫h · k dµ = Np(h) ·Nq(k).

Beweis. Es genugt, den Fall Np(h) = 1 = Nq(k) zu behandeln.Bekanntlich gilt a1/p · b1/q ≤ 1

p· a + 1

q· b. fur alle a, b ≥ 0. Angewandt auf die Funktionen

a = |h|p, b = |k|q erhalten wir |h · k| ≤ 1p· |h|p + 1

q· |k|q. Und die Integration liefert die

erste Behauptung.Zu h mit Np(h) = 1 assoziieren wir zunachst k = |h|p/q. Es gilt Nq(k) = 1 und wegen

a = |h|p = |k|q = b haben wir |h| · |k| = a1/p · b1/q = 1p· a + 1

q· b = 1

p· |h|p + 1

q· |k|q.

Wenn h = |h|eiφ, dann leistet k = |k|e−iφ, das Verlangte.

Die Aussage des Satzes kann man kurz auch so ausdrucken: Fur h ∈ Lp ist

Np(h) = sup∣∣∫h · k dµ

∣∣ : Nq(k) ≤ 1.

das Supremum des Absolutbetrags einer Linearform 〈h, ·〉 auf der Einheitskugelk :

Nq(k) ≤ 1. Fur die Summe 〈h1 + h2, ·〉 ist das Supremum hochstens gleich der Summe

der Suprema. Damit haben wir die Subadditivitat des Funktionals Np(·); und das liefertden

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4.1 : Holders Ungleichung und die p-Normen 31

Satz 4.1.2 (Die Ungleichung von Minkowski). Die p-Norm ‖ · ‖∞ = Np(·) macht denRaum der p-integrablen Lp

(Ω, A, µ

)zu einem normierten Vektorraum. Es gilt

‖f + g‖p ≤ ‖f‖p + ‖g‖p

Satz 4.1.3. Sei µ ein W- Maß und h eine nichtnegative Funktion. Die Norm ‖h‖p istdann ansteigend als Funktion von p ∈ [1,∞). Der Limes fur p → ∞ ist das wesentlicheSupremum , oder = +∞, wenn h nicht wesentlich beschrankt ist.

Beweis. Wenn |k|r integrabel ist fur ein r > 1 ist, dann ergibt sich aus der Holder’schen

Ungleichung∫|k| dµ ≤ ‖k‖r =

(∫|k|r dµ

)1/rWir wenden die Ungleichung auf k = |h|p

an und erhalten

∫|h|p dµ ≤

(∫|h|pr dµ

)1/r

; ‖h‖p ≤(∫|h|pr dµ

)1/rp

= ‖h‖rp.

Es sei mε = µ(h > M − ε) > 0 Es gilt dann∫hp dµ ≥ mε · (M − ε)p. Es gilt (mε)

1/p → 1und lim infp→∞ ‖h‖p ≥M − ε.

Mit der abnehmenden Funktion Fh(t) = µ(h > t) auf R+ haben wir

∫hp dµ =

∫ ∞

0

Fh(t) · ptp−1 dt : denn

∫hp dµ =

∫µ(hp > t) dt =

∫µ(h > t1/p) dt =

∫µ(h > s) psp−1ds. Fh(t) verschwindet

fur t > M . Wegen Fh(0) ≤ 1 haben wir(∫

Fh(t) · ptp−1 dt)1/p ≤

(∫M0ptp−1 dt

)1/p

= M.

Betrachten wir auf der anderen Seite ein unendliches Maß µ auf einer diskreten σ-Algebra wie z. B. das Zahlmaß uber Z. µ(B) ist hier also die Anzahl der Punkte im B.Eine Funktion f auf Z heisst eine p-summable Folge, wenn

∑ |f(n)|p <∞. Fur p ∈ [1,∞)wird der Raum ℓp(Z) der p-summablen Folgen zu einem normierten Raum, wenn mandefiniert: ‖f‖pp =

∑ |f(n)|p. Eine p-summable Folge ist offenbar auch p′-summabel furalle p′ > p. Die Raume ℓp(Z) werden großer, wenn p wachst.

Auf einem allgemeinen unendlichen Maßraum gibt es keine derartigen Inklusionen furdie Raume Lp

(Ω,A, µ

). Fur eine nichtnegative Funktion h kann die Flache unter der Kur-

ve Fh(t) ptp−1 aus zwei Grunden unendlich sein: Fh(t) pt

p−1 kann fur t→∞ zu langsamabfallen, oder fur tց 0 zu schnell ansteigen.

Wir werden beweisen, dass die Raume Lp vollstandig sind und dass fur 1/p+ 1/q = 1Lp der Dualraum von Lq ist, dass es also ausser den Linearformen 〈h, ·〉 keine stetigenLinearformen auf dem Raum Lq gibt. Die Vollstandigkeit beweisen wir im nachsten Unter-abschnitt; den Beweis der zweiten Behauptung mussen wir auf einen spateren Abschnittverschieben, den Abschnitt, der sich mit totalstetigen Maßen befasst.

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32 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

4.2 Vollstandigkeit, Konvergenzsatze

Wir betrachten zuerst einen besonders durchsichtigen Fall.

Beispiel. Es sei µ das Zahlmaß auf der σ-Algebra aller Teilmengen der Grundmenge Ω = Z.Die p-integrablen Funktionen f sind die p-summablen Folgen:

∑ω∈Z |f(ω)|p < ∞. Der

Vektorraum lp(Z) dieser ’Folgen’ wird (wegen der Ungleichung von Minkowski) zu einem

normierten Vektorraum vermittels der Norm ‖f‖p =(∑

ω∈Z |f(ω)|p)1/p

. Warum sollte

nun dieser normierte Vektorraum vollstandig sein? Wenn (f (n))n∈N eine Cauchy-Folge ist,dann suchen wir zuerst ein f (∞), welches als Limes in Frage kame. Die Eigenschaft einerCauchy-Folge (im ℓp-Sinn) impliziert offensichtlich die punktweise Konvergenz; und dieLimiten in den Punkten ω liefern eine ‘Funktion’, deren p-Summabilitat bewiesen werdenmuß. Anschliessend muß dann aber auch noch bewiesen werden, dass die Folge (f (n))n∈N

nicht nur punktweise, sondern auch in der p-Norm gegen f (∞) konvergiert.Fur den ersten Schritt benutzen wir das Lemma von Fatou, angewandt auf die Folge

der nichtnegativen Funktionen |f (n)(·)|p, die punktweise gegen |f (∞)(·)|p konvergieren:∑

ω

|f (∞)(ω)|p ≤ lim inf∑

ω

|f (n)(ω)|p = lim inf ‖f (n)‖pp <∞.

Wir wahlen N so groß, dass ‖f (n)−f (m)‖p < ε fur alle m,n ≥ N . Fur jedes m ≥ N liefertuns das Lemma von Fatou beim Grenzubergang n→∞

‖f (m) − f (∞)‖pp =

∫|f (m) − f (∞)|p dµ ≤ lim inf

n

∫|f (m) − f (n)|p dµ < εp.

Im allgemeinen Fall kostet es etwas Muhe, einen Kandidaten f (∞) ausfindig zu machen,gegen welchen die Cauchy-Folge konvergieren sollte. Wir finden einen solchen, indem wireine Teilfolge finden, welche µ-fast uberall konvergiert. Wir brauchen Vorbereitungen:

Satz 4.2.1 (Lemma von Borel-Cantelli).Sind A1, A2, . . . messbare Mengen mit

∑µ(An) <∞, so ist die Menge N aller derjenigen

ω, die in unendlichvielen An liegen,eine Nullmenge.

Beweis. Man nennt N den Limes superior der Mengenfolge; denn N =⋂m

⋃n≥mAn.

Andererseits ist hm(ω) =∑

n≥m 1An(ω) die Anzahl derjenigen n ≥ m, fur welche An den

Punkt ω enthalt. Aus∑µ(An) <∞ folgt

∫hm dµց 0.

µ(N) = limm↓ µ(⋃

n≥mAn

)≤ lim

m↓∑

n≥mµ(An) = 0

Satz 4.2.2 (Kriterium fur fastsichere Konvergenz).

Eine Folge (fn)n im Raum der messbaren Funktionen uber (Ω,A, µ)

ist fastsicher kon-vergent, wenn Zahlenfolgen αn, βn > 0 existieren mit

∑n αn <∞,

∑n βn <∞ und

µ(ω : |f (n+1)(ω)− f (n)(ω)| ≥ αn

)< βn.

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4.2 : Vollstandigkeit, Konvergenzsatze 33

Beweis. Nach dem Lemma von Borel-Cantelli gilt fur fast alle ω: Fur nur endlichvielen gilt |f (n+1)(ω)− f (n)(ω)| ≥ αn. Wenn wir also eine Nullmenge ausschliessen, dann istfur die ubrigen ω die Zahlenfolge (f (n)(ω))n eine Cauchy-Folge. Sie besitzt einen Limesf (∞)(ω) und f (∞)(·) ist A-messbar.

Satz 4.2.3. Wenn fur p-integrable Funktionen gilt∫|hn − h|p dµ→ 0, dann gilt

∀ε, α > 0 ∃ N : ∀n ≥ N µ(ω : |hn − h| ≥ α

)< ε,

Beweis (Markov-Ungleichung). |hn − h|p ≥ αp · 1|hn−h|≥α

µ(ω : |hn − h| ≥ α

)≤ 1

αp ·∫|hn − h|p dµ.

Satz 4.2.4. Es sei (hn)n eine Cauchy-Folge im Raum Lp(Ω, A, µ

);

und es seien αk, βk > 0 mit∑

k αk <∞,∑

k βk <∞.Es existiert dann eine Teilfolge (fk)k = (hn(k))k mit µ

(ω : |fk+1 − fk| ≥ αk

)< βk;

und die Folge (fk)k konvergiert fastuberall gegen eine p-integrable Funktion f (∞).

Beweis. Wir wahlen n1 so, dass fur alle m ≥ n1 gilt∫|hm − hn1 |p dµ < αp1 · β1.

Wir wahlen n2 > n1 so, dass fur alle m ≥ n2 gilt∫|hm − hn2 |p dµ < αp2 · β2.

Wenn wir so fortfahren, erhalten wir eine Teilfolge (fk)k, welche das Kriterium fur Kon-vergenz fastuberall erfullt. Die p-Integrabilitat von |hN − f (∞)| und damit von f (∞) ergibtsich aus dem Lemma von Fatou. Fur genugend großes N ergibt sich sogar∫|hN − f (∞)|p dµ ≤ lim infk

∫|hN − hnk

)|p dµ < ε. So sehen wir, dass die Folge auch inder p-Norm gegen f (∞) konvergiert. Die Vollstandigkeit des Raums Lp ist bewiesen.

Bemerkungen: Es sei I(·) ein Elementarintegral auf einem Stone’schen Vektorver-band E uber Ω. Das Integral des Absolutbetrags f 7→ ‖f‖1 = I(|f |) ist eine Seminormauf E. Man kann

(E, ‖ · ‖1

)(wie jeden normierten Vektorraum) vervollstandigen. Unsere

Konstruktionen zeigen: Die Elemente der Vervollstandigung kann man als die Aquivalenz-klassen der Daniell-integrablen Funktionen beschreiben. (Bei den Reprasentanten kannman sich auf solche Funktion beschranken, die messbar sind bzgl. der σ-Algebra, die vonden Mengen ω : f(ω) > 0 erzeugt ist.)

Die Uberlegung passt insbesondere auf das Cauchy-Integral I(·) auf dem Stone’schenVektorverband der stetigen Funktionen mit kompaktem Trager uber dem Raum Rd. DieVervollstandigung fuhrt zum Banachraum L1(Rd,B, λ(·)) der Lebesgue-integrablen Funk-tionen.

Es sei ρ ein Pramaß auf einem Mengenring R uber Ω. Der Raum der elementarenTreppenfunktionen ist ein Stone’scher Vektorverband E, und fur jedes p ∈ [1,∞) ist

f 7→ ‖f‖p = p

√I(|f |p) eine Seminorm. Die Vervollstandigung fuhrt zum Banachraum

Lp(Ω,A, µ), wo A die von R erzeugte σ-Algebra ist und µ die Fortsetzung des Pramaßesρ auf A.

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34 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

Konvergenz der Integralwerte und Fastuberall-Konvergenz

Das Integral ist ein lineares Funktional auf dem Vektorraum der integrablen Funktionen.(Die Elemente des Definitionsbereichs sind eigentlich nicht Funktionen, sondern Aquiva-lenzklassen; die Aquivalenzrelation ist aber fur alle p dieselbe.) Das Integral I(·) ist aufder Einheitskugel des L1 beschrankt. Wenn das zugrundeliegende Maß ein endliches Maßist, dann ergibt sich aus der Holder’schen Ungleichung, dass I(·) auch auf den Einheits-kugeln der p-Normen beschrankt ist. I(·) ist hier also stetig bzgl. aller p-Normen. Fur dieLp uber einem unendlichen Maß µ gilt kein solcher Satz.

Wir diskutieren im Folgenden etwas genauer die alte und wichtige Frage, unter welchenUmstanden man ‘unter dem Integralzeichen’ zum Limes gehen darf:

∫fn dµ

?−→∫

lim fn dµ.

Hier kommt es naturlich zuerst einmal ganz wesentlich darauf an, in welchem Sinne dieFunktionenfolge (fn)n gegen die Grenzfunktion f konvergiert. Eine bemerkenswerte, wenn-gleich aus vielen Grunden merkwurdige Konvergenz ist die Fastuberall-Konvergenz. Furnumerische Funktionen kann man sie so beschreiben

fn → f f. u ⇐⇒ lim sup fn = f = lim inf fn f. u.

Hier gilt nun ein vielbenutzter Satz, welcher der Satz von der dominierten (oder majori-sierten) Konvergenz genannt wird:

Satz 4.2.5 (Satz von der majorisierten Konvergenz).Es sei f = lim fn µ-fastuberall. Wenn nun eine µ-integrable Funktion h existiert, sodass|fn| ≤ h fur alle n, dann gilt limn

∫fn dµ =

∫fdµ.

Beweis. Das Lemma von Fatou wird angewendet auf die Funktionenfolgen (fn +h)n und(h− fn)n. Es ergibt sich

∫(f + h) dµ ≤ lim inf

∫(fn + h) dµ,

∫(h− f) dµ ≤ lim inf

∫(h− fn) dµ.

Aus∫f ≤ lim inf fn,

∫f ≥ lim sup fn ergibt sich

∫fn →

∫f.

Satz 4.2.6 (Normkonvergenz und Integralkonvergenz).Die Folge p-integrabler (fn)n konvergiere fast uberall gegen f ∈ Lp. Sie konvergiert genaudann auch in der p-Norm, ‖fn − f‖p → 0, wenn

∫|fn|p dµ→

∫|f |p dµ.

Beweis. Die eine Richtung ist offensichtlich: Aus dem Lemma von Fatou ergibt sichnamlich ‖f‖p ≤ lim inf ‖fn‖p. Mit der Minkowski-Ungleichung ‖fn‖p ≤ ‖f‖p + ‖fn− f‖p,ergibt sich ‖f‖p ≥ lim sup ‖fn‖p aus ‖fn − f‖p → 0. Aus der Konvergenz in der p-Normfolgt also

∫|fn|p →

∫|f |p.

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4.2 : Vollstandigkeit, Konvergenzsatze 35

Die einfachste Version der nichttrivialen Richtung ist bekannt unter dem Namen ‘Satzvon Scheffe’: Wenn die integrablen nichtnegativen fn fastuberall gegen die integrable Funk-tion f konvergieren, dann impliziert

∫fn →

∫f die Normkonvergenz

∫ ∣∣fn − f∣∣→ 0.

In der Tat gilt zunachst einmal |fn − f | = fn \ f + f \ fn = f + fn − 2 · fn ∧ f. Nachdem Satz von der majorisierten Konvergenz gilt

∫fn∧f →

∫f . Aus

∫fn →

∫f folgt

also∫|fn − f | → 0.

Fur den allgemeinen Fall mussen wir einen Begriff heranziehen, der an verschiedenenStellen der Vorlesung eine Rolle spielen wird, den Begriff der gleichgradigen Integrierbar-keit. Wir stellen den Beweis zuruck und begnugen uns hier auf ein paar einfache Uberle-gungen, welche zeigen, dass man sich auf Folgen nichtnegativer p-integrabler Funktionenbeschranken kann. Trivialerweise gilt

fn → f fast u. ⇐⇒ f+n → f+ fast u. und f−

n → f− fast u..

Auf der anderen Seite zeigen wir

‖fn − f‖p → 0 ⇐⇒ ‖f+n − f+‖p → 0, und ‖f−

n − f−‖p → 0.

Fur den Beweis stutzen wir uns auf die Abschatzung

21−p · |fn − f |p ≤ |f+n − f+

n |p + |f−n − f−

n |p

Dort, wo die Funktionen verschiedenes Vorzeichen haben, ist die Abschatzung eine Kon-sequenz der Holder’schen Ungleichung |a+ b|p ≤ (ap + bp) · 2p/q. Mit derselben Holder-Ungleichung sehen wir

21−p|fn − f |p ≤(fn \ f

)p+(f \ fn

)p

Das Integral des zweiten Summanden strebt nach 0 nach dem Satz von der majorisiertenKonvergenz. Was jetzt noch fehlt, ist der Beweis des folgenden Satzes:

Sind fn nichtnegative p-integrable Funktionen, die fastuberall gegen f konvergieren mit∫f pn →

∫f p. Dann gilt

∫ (fn \ f

)p → 0.

Auch die folgende Verscharfung des Satzes von der dominierten Konvergenz stutzt sichauf den Begriff der gleichgradigen Integrierbarkeit.

Definition 4.2 (Gleichgradig integrierbar).Eine Familie

fα : α ∈ I

heisst gleichgradig µ-integrierbar, wenn supα |fα| dµ <∞ und

∀ε > 0 ∃gε µ-integrabel : ∀α∫

|fα|>gε|fα| dµ < ε.

Im Folgenden wird es bequem sein, sich nur mit nichtnegativen Funktionen zu befassen;die Formeln werden durchsichtiger.

Eine Familiefα : α ∈ I

ist offenbar genau dann gleichgradig integrierbar, wenn die

Familienf+α : α ∈ I

und

f−α : α ∈ I

gleichgradig integrierbar sind.

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36 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

Satz 4.2.7.

Konvergiert eine gleichgradig integrierbare Folge (fn)n µ-fastsicher, so konvergieren dieIntegrale gegen das Integral der Grenzfunktion. Umgekehrt: Wenn eine Funktionenfolgeim L1-Sinn konvergiert, dann ist sie gleichgradig integrierbar.

Kurz gesagt: Fur eine fastuberall konvergierende Folge integrabler Funktionen ist diegleichmaßige Integrierbarkeit notwendig und hinreichend fur die L1-Konvergenz.

Beweis. Wir beschranken uns auf nichtnegative fn.Sei f = lim fn f. u. Das Lemma von Fatou liefert

∫f ≤ lim inf

∫fn. Wenn die Folge

gleichgradig integrierbar ist, dann liefert der Satz von der majorisierten Konvergenz, an-gewandt auf die Funktionenfolge (fn ∧ gε)n, lim sup

∫fn ≤ ε+

∫f . Wir haben namlich

wegen fn ≤∫fn>gε fn +

∫fn ∧ gε

lim sup

∫fn ≤ ε+

∫f ∧ gε ≤ ε+

∫f.

Fur den Beweis der gleichgradigen Integrierbarkeit einer L1-konvergenten Folge benoti-gen wir einige Vorbereitungen. Wir haben bereits gesehen, dass jede Teilfolge einer L1-konvergenten Folge , ‖fn− f‖1 → 0, eine Teilfolge besitzt, die fastuberall gegen f konver-giert. Betrachten wir entlang einer solchen Teilfolge die Funktionen gk = fnk

· 1fnk≤2f.

Diese Funktionenfolge konvergiert f. u. gegen f . Nach dem Lemma von Fatou gilt also∫f ≤ lim inf

∫ (fnk− fnk

· 1fn>2f)

=

∫f − lim sup

fn>2ffnk

.

Die Zahlenfolge an =∫fn>2f fn hat also die Eigenschaft, dass jede Teilfolge eine Teilfolge

besitzt, die nach 0 konvergiert. Die Folge (an)n ist daher eine Nullfolge. Daraus folgtaufgrund des folgenden Lemma die gleichgradige Integrierbarkeit.

Lemma. Eine Folge (fn)n mit supn∫|f | < ∞ ist genau dann gleichgradig integrierbar,

wenn zu jedem ε > 0 ein integrierbares gε existiert, sodass lim sup∫|fn|≥gε |fn| < ε.

Beweis. Wenn∫|fn|≥gε |fn| < ε fur alle n ≥ N , dann gilt fur die integrable Funktion

gε = gε + |f1|+ · · ·+ |fN | die gewunschte Abschatzung∫|fn|≥gε |fn| < ε fur alle n.

Wir formulieren (ohne Beweis) die entsprechende Aussage fur die Konvergenz in derp-Norm.

Satz 4.2.8. Es sei(Ω, A, µ

)ein σ-endlicher Raum und (fn)n eine Folge in Lp

(Ω, A, µ

)

mit supn ‖f‖p <∞, die µ-fastuberall gegen die Funktion f konvergiert. Es gilt ‖fn−f‖p →0 genau dann, wenn eine p-integrable Funktion g existiert, sodass gilt

∀ ε > 0 ∃C∫

fn>Cg|fn|p dµ < ε.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.2 : Vollstandigkeit, Konvergenzsatze 37

Wa es mit der hier angesprochenen gleichgradigen p-Integrierbarkeit auf sich hat, wer-den wir im Abschnitt uber gleichgradige Totalstetigkeit ausfuhrlich diskutieren.

Die Integration komplexwertiger Funktionen Bei unseren Konstruktionen imvorigen Kapitel haben wir die Ordnung der (erweiterten) reellen Achse ernsthaft benutzt.Viele Resultate konnen dann aber auch auf die komplexen Vektorraume Lp

(Ω, A, µ

)

ubertragen werden. Ihre Elemente sind die Aquivalenzklassen derjenigen komplexwertigenFunktionen, fur welche der Real- und der Imaginarteil p-integrable Funktionen sind.

∫(f + ig) dµ =

∫f dµ+ i ·

∫g dµ; ‖f + ig‖pp =

∫|f + ig|p dµ.

Die komplexen Lp(Ω, A, µ

)sind komplexe Banachraume; der komplexe L2

(Ω, A, µ

)ist

ein Hilbertraum.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

38 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

4.3 Diverse Funktionenraume uber der Gruppe R/2π.

Es existiert genau ein translationsinvariantes Borel’sches W-Maß λ(·) auf der GruppeR/2π. Man nennt es das normierte Haar-Maß. Das dazugehorige Integral I(·) liefert furdie stetigen 2π-periodischen Funktionen f(·) den Wert

I(f) =

∫f dλ = 1

∫f(t) dt,

wobei das letztere Integral uber eine volle Periode zu erstrecken ist. Die Notation erinnertan die Verwandtschaft von λ(·) mit dem Lebesgue-Integral auf dem Intervall [0, 2π].

Wir wollen in diesem Unterabschnitt einige normierte Vektorraume 2π-periodischerFunktionen etwas naher diskutieren.

Stetige 2π-periodische Funktionen und trigonometrische Polynome

In der elementaren Analysis (beispielsweise beim Satz von Stone-Weierstraß) betrachtetmanchmal den mit der Supremumsnorm ‖ · ‖ausgestatteten Raum C′

([0, 2π]

)derjeni-

gen stetigen Funktionen auf [0, 2π], die im Anfangspunkt denselben Wert haben wie imEndpunkt. Dieser Raum ist nichts anderes als der Raum der stetigen 2π-periodischenFunktionen. Er hat sowohl die Struktur eines Vektorverbandes als auch die Struktur einerAlgebra (mit der punktweisen Multiplikation). Es gilt ‖f · g‖∞ ≤ ‖f‖∞ · ‖g‖∞. Wegen derVollstandigkeit der Algebra spricht man von einer Banachalgebra.

Eine interessante Teilalgebra ist der Raum der trigonometrischen Polynome.(∑

k

akeikt

)·(∑

l

bleilt

)=∑

n

cneint mit cn =

k

ak · bn−k.

Die punktweise Multiplikation lasst sich auch als die Faltung der Koeffizientenfolgen be-schreiben. Jede stetige 2π-periodische Funktion f(·) lasst sich (nach dem Satz von Stone-Weierstrass) durch trigonometrische Polynome gleichmaßig (also in der Supremumsnorm)approximieren. Neben der Supremumsnorm wollen wir nun auch die p-Normen auf demRaum der trigonometrischen Polynome betrachten; und wir werden die Elemente aus derVervollstandigung diskutieren.

Die Raume Lp(R/2π, B, λ

)

Es handelt sich (streng genommen) nicht wirklich um Funktionenraume; die Elemen-te sind Aquivalenzklassen von 2π-periodischen Borel-messbaren Funktionen. Jeder derRaume mit 1 ≤ p < ∞ ergibt sich als eine Vervollstandigung gewinnen, z. B. als dieVervollstandigung des Raums der trigonometrischen Funktionen (mit rationalen Koeffi-zienten). Die Raume Lp werden immer kleiner, wenn p ansteigt; der Raum L1 ist dergroßte.

Quadratsummable trigometrische Reihen.

Die 2-Norm auf dem Raum der trigonometrischen Funktionen kann man sehr bequemdurch die Koeffizienten beschreiben

‖f‖22 =∑|cn|2 fur f(t) =

∑cne

int.

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4.3 : Diverse Funktionenraume uber der Gruppe R/2π. 39

Dies Formel lasst sich auf den vervollstandigten Raum L2 ausdehnen: Jedes f ∈ L2 besitzteine Darstellung f(t) =

∑cne

int, wo die Summation im Sinne des quadratischen Mittelszur verstehen ist. Das soll heissen

Zu jedem ε > 0 existiert ein N , sodass fur jede zu −N,−N + 1, . . . , N − 1, N dis-junkte (endliche) Indexmenge J gilt ‖∑n∈J cne

int‖2 =√∑

n∈J |cn|2 < ε.Die Koeffizienten in der Darstellung von f ∈ L2 als trigonometrische Reihe sind eindeutigbestimmt. Wie bei den trigonometrischen Polynomen gilt cn = 1

∫e−int dt.

Die Erweiterung der Faltung

Ein weiterer normierter Raum 2π-periodischer Funktionen ist der RaumA der Funktionenvon der Gestalt f(t) =

∑∞−∞ ake

ikt mit der Norm ‖f‖A =∑ |ak|. Es handelt sich um eine

Vervollstandigung der Algebra der trigonometrischen Polynome. Das punktweise Produktsolcher Funktionen liegt wieder im Raum A und es gilt ‖f · g‖A ≤ ‖f‖A · ‖g‖A. Mannennt die f ∈ A manchmal die absolutkonvergenten trigonometrischen Reihen. Ob dieseAusdrucksweise glucklich ist, darf allerdings bezweifelt werden; die Symbole eint dienennur der notationellen Bequemlichkeit; die Interpretation als Funktionen ist irrelevant.Inhaltlich geht es um den Raum ℓ1(Z) der 1−summablen Folgen, der durch die Faltungzu einem kommutativen Ring mit Einselement wird. In der Stochastik interessiert mansich fur eine konvexe Teilmenge, die Menge der W-Gewichtungen. Die nichtnegativenKoeffizientenfolgen (ak)k∈Z mit

∑ak = 1 entsprechen den W-maßen auf Z.

Den Raum L1(R/2π, B, λ

)kann man zu einem kommutativen Ring (ohne Einsele-

ment) machen, indem man die Faltung als Multiplikation einfuhrt:

f ∗ g = h ⇐⇒ h(t) =

∫f(s) · g(t− s) ds λ-fast uberall

(Das Integral ist uber eine Periode zu erstrecken.) Die reellwertigen Elemente f sollteman als die bzgl. λ totalstetigen signierten Maße auf R/2π verstehen. — Der Begriff des(bzgl. eines Maßes µ) totalstetigen Maßes soll spater erortert werden.

Die trigonometrischen Reihen sind irrelevant fur das Studium der 2π-periodischenFunktionen von dieser Art.

Einige merkwurdige trigonometrische Reihen

Die 2π-periodische Funktion E(·) mit Werten E(t) = π − t im Intervall (0, 2π) heisst dieEuler’sche Sagezahnfunktion . Es handelt sich um eine reellwertige ungerade Funktionmit Sprungen der Hohe 2π in den Positionen k · 2π. Sie ist quadratintegrabel und kanndaher durch eine trigonometrische Reihe dargestellt werden. Man rechnet leicht nach

E(t) =∞∑

k=1

bk sin kt mit bk =1

π

∫E(t) sin kt dt =

1

k.

Das approximierende trigonometrische Polynom vom Grad ≤ N hat die Ableitung

E ′N (t) = 2 ·

N∑

1

cos kt =

N∑

−Neikt − 1 = DN (t)− 1,

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40 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

wo DN(t) =∑N

−N eint der Dirichlet-Kern der Ordnung N genannt wird. Aus dieser Folge

(DN)N gewinnt man die Folge der Fejer-Kerne.

FN =1

N

(D0 +D1 + · · ·+DN−1

)=∑(

1− |k|N

)+

eik(·)

Diese Funktionen kann man auch elementar geschlossen darstellen — man muss nur geo-metrische Reihen summieren.

Satz 4.3.1.

DN(t) =(eit/2 − e−it/2

)−1 ·(ei(N+1/2)t − e−i(N+1/2)t

)=

sin(N + 1/2)t

sin t/2.

FN(t) =(eit/2 − e−it/2

)−1 1

N

N−1∑

−N+1

(ei(N+1/2)t − e−i(N+1/2)t

)=

1

N

(sinNt/2

sin t/2

)2

.

Sprechweise. Wenn f eine integrable 2π-periodische Funktion ist, dann nennen wir

fN(t) = 12π

∫f(t− s) FN (s) ds

die mit dem N -ten Fejer-Kern geglattete Funktion.

Es ist wichtig, zu bemerken, dass die Fejer-Kerne positiv sind mit 12π

∫ π−π FN(t) dt = 1;

und die Masse ist (fur großeN) auf eine kleine Umgebung der 0 konzentriert. Die Dirichlet-Kerne haben zwar ebenfalls das Integral

∫DN dλ = 1; sie sind aber nicht positiv und

daher nicht geeignet fur die Glattung. Dennoch sind die mit DN gefalteten Funktionenvon Interesse. Es gilt namlich der

Satz 4.3.2. Ist f ein trigonometrisches Polynom, f(t) =∑K

−K ak eikt, so gilt

pN (t) = 12π

∫f(t− s) DN(s) ds =

K∧N∑

−K∧Nak e

ikt

Beweis. Fur n ∈ N bezeichne en die Funktion en(t) = eint. Es gilt en ∗ em = 0 fur n 6= mund = 1 fur n = m.

Die Faltung mit dem N -ten Dirichlet-Kern projiziert den Vektorraum aller trigono-metrischen Polynome auf den Raum der trigonometrischen Polynome vom Grad ≤ N .

Die Glattung mit den Fejer-Kernen liefert fur jedes integrable f eine Folge von tri-gonometrischen Polynomen (fN). Und man kann fragen, fur welche Funktionen f dieseFolge (in irgendeinem Sinn) die Funktion approximiert. Beruhmte Untersuchungen dieserArt haben P. L. Dirichlet (1805- 1859) und L. Fejer (1880- 1959) angestellt. Wir wollendarauf aber hier nicht weiter eingehen.

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4.3 : Diverse Funktionenraume uber der Gruppe R/2π. 41

Schlussbemerkung uber trigonometrische Reihen.

Man kann zwar jeder integrablen 2π-periodischen Funktion f ∈ L1(R/2π, B, λ

)die Folge

der Fourier-Koeffizienten cn = 12π

∫e−int · f(t) dt zuordnen, und man dann eine ‘formale

Fourier-Reihe’ anschreiben:∑cn ·eint; aber man kann solchen Reihen allenfalls mit großer

Muhe einen guten Sinn geben, wenn die Koeffizientenfolge nicht quadrat-summabel ist.— Hier ist nicht der Platz, um uber die (uberaus schwer zu beweisenden) Resultate zurFastuberallkonvergenz solcher Reihen fur f ∈ L1+δ zu berichten.

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42 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

4.4 Fourier-Integrale und Fourier-Transformation

Auf der Gruppe Rd gibt es ein σ-endliches translationsinvariantes Borelmaß; es ist bisauf eine Konstante eindeutig bestimmt. Man wahlt eine Normierung und nennt diesesMaß dann das d-dimensionale Lebesgue-Maß. Im Folgenden unterscheiden wir den RaumRdSp der d-Zeilen vom Raum Rd

Sp der d-Spalten. Fur x ∈ RdSp, t ∈ Rd

Sp ist das ‘Matrizen-Produkt’ t · x eine reelle Zahl, die wir auch mit 〈t , x〉 bezeichnen.

Definition (Das Fourier-Integral).Fur die Funktion ϕ(t) ∈ L1 ∩ L2 heisst die Funktion

f(x) =(

12π

)d ·∫e−itx ϕ(t) dt das Fourier-Integral zu ϕ(·).

Fur eine Funktion h(x) ∈ L1 ∩ L2 heisst die Funktion

χ(t) =

∫eitx h(x) dx das inverse Fourier-Integral zu h(·).

Wir notieren h = F(ϕ) und χ = F−1(h).

Konvention: Die Konventionen um den Faktor(

12π

)dvariieren in den Lehrbuchern.

Unsere Konvention orientiert sich an dem Vorbild der Fourier-Reihen. Fur eine quadrat-integrable 2π-periodische Funktion ϕ(t) nennen wir die Folge cn = 1

∫e−intϕ(t) dt die

Fourier-Folge zu ϕ(·). Fur eine quadratsummable Folge (cn)n nennen wir χ(t) =∑cn e

int

die Fourier-Reihe zu (cn)n. Wenn man einmal davon absieht, dass die Summation der Reiheim L2-Sinn zu verstehen ist und nur dann eine Integration ist, wenn

∑ |cn| <∞ dann istdie Bildung der Fourier-Reihe zur Folge (cn)n die inverse Operation zur Berechnung derFourier-Folge.

Warnung: Die Konstruktion der Fourier-Integrale kann man als das kontinuierlicheAnalogon zur Bildung der Fourier-Reihen verstehen. Dabei ist aber zu beachten, dass dasFourier-Integral h(·) zu einer Funktion χ(·) ∈ L1 ∩ L2 nicht immer integrabel ist, dassalso

∫eitx h(x) dx fur manche χ(·) nicht definiert ist. Fur diejenigen χ(·) fur welche das

Fourier-Integral auf eine im Unendlichen schnell abfallende Funktion h(·) fuhrt, ist dieRede von der Inversen berechtigt, wie wir sehen werden.

Satz 4.4.1 (‘Lemma von Riemann-Lebesgue’).Jedes Fourier-Integral verschwindet im Unendlichen: lim‖x‖→∞

∫e−itx ϕ(t) dt = 0.

Beweis. Es genugt, den Satz fur die Elemente einer Im L1-Sinn dichte Funktionenmen-ge zu beweisen. Geeignet sind z. B. die Indikatorfunktionen der elementaren Rechteckef(t) = 1R(t) = 1[a1,b1)(t1) · · · · · 1[ap,bp)(tp) zu beweisen. Jede integrable Funktion kann inder L1-Norm durch Linearkombinationen solcher Funktionen approximiert werden. Fur

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4.4 : Fourier-Integrale und Fourier-Transformation 43

ein r(t) mit∫|r(t)| dt ≤ ε ist die Fourier-Transformierte eine gleichmaßig stetige Funk-

tion R(x) mit supx |R(x)| ≤(

12π

)pε. Beginnen wir mit den Intervallen auf R : Fur a < b

und c = 12(a + b), h = 1

2(b− a) gilt

12π

∫e−itx1[a,b)(t) dt = 1

2πe−icx

∫ h

−he−iux du = 1

2πe−icx · 2h · sin(hx)

hx.

Diese Funktionen konvergieren nach 0 fur x → ±∞, allerdings nicht schnell genug, umLebesgue-integrabel zu sein.

Fur den d-dimensionalen Fall bemerken wir:

ϕ(t1, . . . , td) = ϕ1(t1) · · · · · ϕd(td) =⇒ F(ϕ)(x1, . . . , xd) = F(ϕ1)(x1) · · · · · F(ϕd)(x

d).

Das inverse Fourier-Integral kann man fur jede integrierbare Funktion f(x) definieren;fur Funktionen, die nicht auch quadratintegrabel sind, liefert das Fourier-Integral jedocheinen Typ Funktionen, der wohl in der Stochastik, nicht aber in der klassischen Fourier-Analyse betrachtet wird. Wir formulieren fur solche ‘Integral-Transformierte’ dennocheinen Satz, einen Satz, der in der sog. Theorie der charakteristischen Funktionen eineErweiterung erfahrt:

Satz 4.4.2. Das inverse Fourier-Integral macht aus jeder Lebesgue-integrablen Funktionauf dem Spaltenraum Rd

Sp eine gleichmaßig stetige Funktion auf dem Zeilenraum RdZ .

Diese verschwindet im Unendlichen.

Die gleichmaßige Stetigkeit werden wir unten beweisen.

Zielsetzung: Die Fourier-Transformation und ihre Inverse

Man kann die Bildung des Fourier-Integrals fortsetzen auf den gesamten Hilbertraum L2.Diese Fortsetzung heisst die Fourier-Transformation. Die Fourier-Transformation bildetden Raum der quadrat-integrablen Funktionen auf Rd

Z isometrisch und surjektiv auf denRaum der quadrat-integrablen Funktionen auf Rd

Sp, und die Umkehrabbildung ist diestetige Fortsetzung des ınversen Fourier-Integrals. Dies gilt es zu beweisen.

Beispiel. Die Dichte der eindimensionalen Standard-Normalverteilung ist bekanntlichh(x) = 1√

2πexp(−1

2x2). Es gilt

χ(t) =

∫eitx h(x) dx = exp(−1

2t2) h(x) = 1

∫e−itx χ(t) dx.

Es sei Q eine positivdefinite d × d-Matrix mit detQ = 1, und C = Q−1 die Inverse. Fur

die gauss’sche Dichte g(x) =(

1√2π

)dexp(−1

2xTQx) gilt dann

χ(t) =

∫eitx g(x) dx = exp(−1

2tCtT ) g(x) =

(12π

)d∫e−itx χ(t) dx.

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44 Die Raume Lp(Ω,A, µ), Fourier-Integrale Integrationstheorie

Lemma.

Fur jedes integrable ϕ(·) liefert das Fourier-Integral eine gleichmaßig stetige Funktionf(x) =

(12π

)p ·∫e−itx ϕ(t) dt.

Beweis. Der Ubersichtlichkeit halber nehmen wir an(

12π

)d ·∫|ϕ(t)| dt = 1. Wir wahlen

R so groß, dass(

12π

)d ·∫|t|≤R |ϕ(t)| dt < ε/2. Und wir wahlen δ > 0 so klein , dass

∣∣eity − 1∣∣ ≤ ε/2 fur |y| ≤ δ, |t| ≤ R.

Es gilt dann∣∣f(x+ y)− f(x)

∣∣ ≤(

12π

)d ·∫ ∣∣e−it(x+y) − e−itx

∣∣ ϕ(t) dt < ε.

Satz 4.4.3 (Faltung und punktweise Multiplikation).

Es seien ϕ, ψ ∈ L1(RdZ) , und χ(t) =

(12π

)d ∫ϕ(s) · ψ(t− s) ds. Es gilt dann

F(χ) = F(ϕ) · F(ψ).

Es seien f, g ∈ L1(RdSp) , und h(x) =

∫f(y) · g(x− y) dy. Es gilt dann

F−1(h) = F−1(f) · F−1(g).

Beweis. Im Beweis benotigen wir Satze uber Doppelintegrale bzw. iterierte Integrale, diemit dem Satz von Fubini behandelt werden konnen. In manchen Situationen (allerdingsnicht bei der Fourierinversion) erlaubt der Satz von Fubini die Vertauschung der Reihen-folge von Integrationen.

(12π

)d∫e−itxχ(t) dt =

(12π

)2d∫ ∫ ∫

e−i(t−s)x · e−isx ϕ(s)ψ(t− s) ds dt = f(x) · g(x).

Die zweite Aussage bedarf keines separaten Beweises.

Beispiel 4.4.1. Es sei gσ(y) =(

1√2πσ2

)dexp(− 1

2σ2 yT · y), und f(x) integrabel.

Fur die Funktion hσ(x) =∫f(x− y) · gσ(y) dy gilt dann

F−1(hσ)(t) = F−1(f)(t) · exp(−12σ2‖t‖2)

Die Funktion χσ(t) = F−1(hσ)(t) ist fur alle σ integrabel und auch quadratintegrabel.Fur kleine σ ist χσ in einer großen Kugel ‖t‖ ≤ R nahe an der gleichmaßig stetigenbeschrankten Funktion χ0 = F−1(f), (die nicht notwendigerweise integrabel ist.)

Satz 4.4.4 (L2-Isometrie zum Fourier-Integral).Es sei ϕ(t) ∈ L1 ∩ L2 so dass f(x) = F(ϕ)(x) ∈ L1 ∩ L2. Es gilt dann

(12π

)p∫ ∣∣ϕ(t)

∣∣2 dt =

∫ ∣∣f(x)∣∣2 dx.

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4.4 : Fourier-Integrale und Fourier-Transformation 45

Beweis. Aus typographischen Grunden bezeichnen wir die zu f komplex konjugierte Funk-tion mit ϕ∗ statt mit ϕ. Wir haben also |ϕ|2 = ϕ∗ · ϕ.

Wir zeigen die (auf den ersten Blick) etwas allgemeinere Gleichheit

f = F(ϕ), ψ = F−1(g) =⇒(

12π

)d∫ϕ∗(t) · ψ(t) dt =

∫f(x)∗ · g(x) dx,

fur Funktionen ϕ, g, die sowohl integrabel als auch quadratintegrabel sind. Der Satz vonFubini kann angewendet werden auf das Doppelintegral

(12π

)d∫ ∫

ϕ∗(t) · eit·x · g(x) dx dt.

Wenn wir zuerst nach x integrieren, erhalten wir den Ausdruck auf der linken Seite derbehaupteten Gleichheit. Wenn wir zuerst nach t integrieren, dann mussen wir beachten,dass

(12π

)p ∫ϕ∗(t) · eit·x dt die komplex konjugierte Funktion zur Fourier-Transformierten

von ϕ ist.

Wir fassen die Definitionen und Einsichten nochmals zusammen.

Satz 4.4.5 (Fourier-Transformation).Die durch das Fourier-Integral gegebene Abbildung wird eingeschrankt auf den Teilraumderjenigen integrablen Funktionen, die auch quadratintegrabel sind und dann L2-stetigfortgesetzt auf den Raum aller quadratintegrablen ϕ. Diese isometrische Bijektion

F : L2(RpZ

)−→ L2

(RpSp

)

heisst die Fourier-Transformation. Auf dem Raum der Funktionen auf dem Spaltenraum,die sowohl integrabel als auch quadratintegrabel sind liefert das inverse Fourier-Integraltatsachlich die Umkehrabbildung.

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46 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

5 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Zu einem bestimmten Integral I(f) =∫f(ω) dµ(ω) gehoren ein Integrand f(·) und ein

Integrator dµ(·). Die Integranden sind (bei uns hier) Aquivalenzklassen messbarer Funk-tionen. Die Integratoren sind (bei uns hier) σ-additive Mengenfunktionen auf einer σ-Algebra A. Das Resultat der Integration von f bzgl. µ ist eine reelle Zahl. Wir werdenuns in diesem Abschnitt auch um sog. unbestimmte Integrale bemuhen; hier wird derIntegrationsbereich als eine Variable gesehen: A 7−→

∫Af(ω) dµ(ω) =

∫1A · f(ω) dµ(ω)

ist eine Mengenfunktion auf dem Mengensystem A.

5.1 Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring(Ω,R

)

Wir interessieren uns fur Raume von Maßen auf einem messbaren Raum. Wir holen aberweiter aus: Das ausgezeichnete Mengensystem A uber Ω darf zunachst einmal auch einMengenring sein.Und die σ-Additivitat bringen wir erst spater ins Spiel. Wir beschaftigenuns mit endlichwertigen additiven Mengenfunktionen auf dem Mengenring A.

Definition 5.1. Eine nichtnegative additive Mengenfunktion auf einem Mengenring A

heisst ein Inhalt; eine additive Mengenfunktion, die sich als Differenz zweier Inhalte dar-stellen lasst, heisst eine Ladungsverteilung.

Die Menge aller Ladungsverteilungen auf(Ω,A

)ist ein partiell geordneter Vektor-

raum; die Menge der Inhalte ist der positive Kegel in diesem Vektorraum. Wenn eineLadungsverteilung ‘punktweise’ großer oder gleich als eine andere, dann ist die Differenzein Inhalt ist. Dies alles ergibt sich aus dem folgenden

Satz 5.1.1 (Verbandsoperationen).Zu jedem Paar von Inhalten ρ1, ρ2 existiert ein großter Inhalt drunter µ = ρ1 ∧ ρ2 undein kleinster Inhalt druber ν = ρ1 ∨ ρ2. Es gilt ρ1 ∧ ρ2 + ρ1 ∨ ρ2 = ρ1 + ρ2.

Beweis. Ein penibel durchgefuhrter Beweis braucht recht viele (nicht durchwegs inter-essante) Zeilen. Wir begnugen uns mit der Prasentation der entscheidenden Gedanken.Wir konstruieren fur A ∈ A

µ(A) = inf∑

minρ1(Ai), ρ2(Ai), ν(A) = sup

i

maxρ1(Ai), ρ2(Ai)

wobei die Extrema uber alle endlichen A-Partitionen der Menge A zu erstrecken sind.Ist Z :

∑Ai = A eine Partition von A, so gilt fur jede Verfeinerung Z′ :

∑Bj = A

∑minρ1(Bj), ρ2(Bj) ≤

∑minρ1(Ai), ρ2(Ai);

∑maxρ1(Bj), ρ2(Bj) ≥

∑maxρ1(Ai), ρ2(Ai);

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5.1 : Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring(Ω,R

)47

und Addition ergibt ρ1(A) + ρ2(A).Fur reelle Zahlen c, d gilt namlich offenbar c ∧ d+ c ∨ d = c+ d sowie

(c1 + c2) ∧ (d1 + d2) ≥ c1 ∧ d1 + c2 ∧ d2; (c1 + c2) ∨ (d1 + d2) ≤ c1 ∨ d1 + c2 ∨ d2.

µ(·) und ν(·) sind additive Mengenfunktionen, also Inhalte, mit der Summe ρ1 + ρ2. µliegt unter ρ1 und unter ρ2.Fur jeden Inhalt ρ(·), der unter ρ1(·) und ρ2(·) gilt ρ(A) ≤∑minρ1(Ai), ρ2(Ai) fur jedePartition von A. Es gilt also ρ ≤ µ. Der hier konstruierte Inhalt µ ist also tatsachlich dasMinimum von ρ1 und ρ2; und es ist legitim, zu notieren µ = ρ1 ∧ ρ2. Analog findet manν = ρ1 ∨ ρ2.

Bemerkung: Wenn σ1 und σ2 Ladungsverteilungen sind, dann liefert unsere Konstruk-tion das Minimum σ1 ∧ σ2 und das Maximum σ1 ∨ σ2. Wenn man jedoch allgemeinereadditive Mengenfunktionen zulasst, dann ist nicht gesichert, dass die Infimums -(oderSupremums)-bildung auf endliche Werte fuhrt. Offensichtlich gilt der

Satz 5.1.2 (Jordan-Zerlegung einer Ladungsverteilung).Es sei σ(·) eine Ladungsverteilung und

σ+(A) =(σ ∨ 0

)(A) = sup

i

maxσ(Ai), 0),

wo das Supremum uber alle endlichen A-Partitionen der Menge A zu erstrecken ist. Danngilt mit σ− = (−σ) ∨ 0 = −(σ ∧ 0).

σ = σ+ − σ−, σ+ ∧ σ− = 0.

Sind ρ1, ρ2 Inhalte mit σ = ρ1 − ρ2, so existiert ein Inhalt ρ, sodass

ρ1 = σ+ + ρ, ρ2 = σ− + ρ.

Definition 5.2. Wenn σ eine Ladungsverteilung ist, dann heisst der Inhalt σ+ der Posi-tivteil und der Inhalt σ− der Negativteil von σ.Die Summe σ+ + σ− = σ ∨ (−σ) wird manchmal die Schwankung von σ genannt undmit |σ|(·)bezeichnet. Der Wert sup|σ|(A) : A ∈ A (der auch +∞ sein kann) heisst dieGesamtschwankung oder die Totalvariation des Ladungsverteilung.

Satz 5.1.3. Fur jedes A gilt

σ+(A) = sup∑

i

σ(Ai) :∑

Ai ⊆ A

= supσ(A′) : A′ ⊆ A

σ−(A) = sup∑

i

−σ(Ai) :∑

Ai ⊆ A

= sup− σ(A′′) : A′′ ⊆ A

∣∣σ|(A) = (σ+ + σ−)(A) = sup∑

i

|σ(Ai)| :∑

Ai = A.

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48 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

Beweis. Zur letzten Behauptung bemerken wir: Wir konnen die Partition A =∑Ai so

fein wahlen, dass gilt

∑σ(Ai)

+ ≤ σ+(A) ≤∑

σ(Ai)+ + ε

∑σ(Ai)

− ≤ σ−(A) ≤∑

σ(Ai)− + ε

∑|σ(Ai)| ≤

(σ+ + σ−)(A) ≤

∑|σ(Ai)|+ 2ε

Zu jedem gegebenen A existiert zu jedem ε > 0 eine Zerlegung A = A′ + A′′, sodassσ+(A′′) + σ−(A′) < ε. Darauf kommen wir nochmals bei der Hahn-Zerlegung zu sprechen.

Satz 5.1.4 (Totalvariationsnorm).Die Gesamtheit der Ladungsverteilungen mit endlicher Gesamtschwankung ist ein nor-mierter Vektorraum mit der Totalvariationsnorm ‖σ‖TV = sup|σ|(A) : A ∈ A. DieTotalvariation eingeschrankt auf den Verbandskegel der beschrankten Inhalte ist ein addi-tives Funktional.

Beweis. Wir mussen die Subadditivitat beweisen:Es sei A so, dass ‖σ + τ‖TV ≤

∣∣σ + τ∣∣(A) + ε, und die Partition A =

∑Ai so fein, dass∣∣σ + τ

∣∣(A)− ε ≤∑ |(σ + τ)(Ai)|. Es gilt dann

‖σ + τ‖TV − 2ε ≤∑|σ(Ai)|+

∑|τ(Ai)| ≤ ‖σ‖TV |+ ‖τ‖TV

Beispiel 5.1.1. Es sei A der Mengenring uber Ω = R oder uber Ω = Q, der von den be-schrankten halboffenen Intervallen (a, b] erzeugt wird. (Seine Elemente sind bekanntlichdie disjunkten Vereinigungen solcher Intervalle.) Es sei G(·) eine Funktion beschrank-ter Schwankung auf R. Wir erhalten eine Ladungsverteilung mit endlicher Totalvariationσ(·), wenn wir den Intervallen den Zuwachs von G(·) zuordnen: σ

((a, b]

)= G(b) − G(a)

(und diese Mengenfunktion in additiver Weise auf den Mengenring der disjunkten Verei-nigungen fortsetzen.) Die ‘Verteilungsfunktion’ G(·) ist durch die Mengenfunktion σ bistauf eine additive Konstante eindeutig bestimmt. Die Totalvariation ‖σ‖TV ist die Ge-samtschwankung der ‘Verteilungsfunktion’ G(·). Wenn G(·) monoton steigend ist, dannist ρ ein Inhalt. Jede Darstellung der Ladungsverteilung σ als Differenz zweier Inhal-te σ = ρ1 − ρ2 entspricht einer Darstellung der Verteilungsfunktion als Differenz zweiermonoton ansteigender Funktionen. Fur die speziellen Darstellung σ = σ+ − σ− ergebensich monotone Funktionen, deren Gesamtschwankungen sich zur Gesamtschwankung derVerteilungsfunktion aufsummieren.

Die Inhalte σ+ und σ− sind genau dann Pramaße, wenn die Verteilungsfunktion G(·)rechtsstetig ist. Die Notwendigkeit der Rechtsstetigkeit ist klar: Die Mengenfolge (a, a+ 1

n]

konvergiert absteigend gegen die leere Menge. Dass die Rechtsstetigkeit auch hinreichendist, ist nicht so leicht zu sehen. Man muß tiefer in die Theorie eindringen, etwa mit derFortsetzungsidee von Daniell.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.1 : Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring(Ω,R

)49

Wir wenden uns der σ-Additivitat zu. Die Pramaße sind spezielle Inhalte. Die Diffe-renzen von Pramaßen nennt man auch signierte Pramaße.

Satz 5.1.5 (σ-additiver Anteil). Zu jedem Inhalt ρ existiert ein großtes Pramaß drunter,genannt der σ-additive Anteil von ρ.

Beweis. Es sei ρ(·) ein Inhalt auf (Ω,A). Wir setzen fur jedes A im Mengenring A

ρσ(A) = inf∑

ρ(Ai) :

∞∑Ai = A

wo das Infimum uber alle abzahlbaren Partitionen der Menge A zu erstrecken ist.

Wie oben bei den finiten Partitionen gilt auch hier, dass sich die Summen∑ρ(Ai)

bei Verfeinerungen verkleinern. ρσ(·) ist σ-additiv in dem Sinn: Wenn (Cj)j eine Folgepaarweise disjunkter Elemente der Mengenalgebra ist, deren Vereinigung C =

∑∞1 Cj in

A liegt, dann gilt∑ρσ(Cj) = ρσ(C). Da unsere Inhalte und Pramaße endlichwertig sind,

ist diese σ-Additivitat aquivalent zur absteigenden Stetigkeit in ∅:

ρ(C)−∞∑

1

ρ(Cj) = ρ(C)− limNρ(

N∑

1

Cj) = lim ↓ ρ(C \

N∑Ci)

Offenbar gilt: Jedes σ-additive Inhalt unter ρ liegt auch unter ρσ.

Bemerke: Wenn ρ(·) ein Inhalt ist und ρσ(·) das großte Pramaß drunter, dann hat derInhalt δ(·) = ρ(·)− ρσ(·) die Eigenschaft: Zu jedem A ∈ A und jedem ε > 0 existiert eineabzahlbare Partition A =

∑Ai, sodass δ(Ai) < ε.

Jeder Inhalt, der kleiner ist als ein Pramaß, ist selbst ein Pramaß. Die Summe vonPramaßen ist ein Pramaß. Eine Ladungsverteilung σ ist, die sich als Differenz von Prama-ßen darstellen lasst, wird manchmal ein signiertes Pramaß genannt; σ+ und σ− sind indiesem Falle Pramaße. Wenn eine Folge von Pramaßen mit beschrankter Schwankung inder Totalvariation konvergiert, dann ist der Limes ein Pramaß. Wenn eine Folge von In-halten ‘punktweise’ konvergiert (ρn(A) → ρ(A) fur alle A ∈ A), dann ist der Limes ρ(·)ein Inhalt. Wenn die ρn(·) Pramaße sind, dann kann man nicht schliessen, dass auch ρ(·)ein Pramaß ist.

Im nachsten Unterabschnitt werden wir uns auf die Pramaße konzentrieren. Fur vieleZwecke ist es gunstig oder gar erforderlich, Pramaße zu Maßen fortzusetzen. Dabei mussenwir dann aber auf den Wert +∞ achten.

Man bemerke: Wenn ρ ein Pramaß auf (Ω,A) ist, dann liefert die Einschrankung aufdie Teilmengen einer festen Menge Ω ∈ A ein beschranktes Pramaß uber der GrundmengeΩ; man nennt es manchmal die Spur von ρ auf Ω. Wenn Ω1 ⊆ Ω2 ⊆ · · · , dann liefert dieEinschrankung von ρ auf die Teilmengen von Ω =

⋃Ωn ein Pramaß, welches sich in

eindeutiger Weise zu einem σ-endlichen Maß fortsetzen lasst.Wir werden im Folgenden (der Ubersichtlichkeit halber) nur σ-endliche Maßraume

betrachten.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

50 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

5.2 Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym

Wir ubertragen einige Notationen aus der Welt der Inhalte und Pramaße in die Welt derσ-endlichen Maße. Wenn µ ein σ-endliches Maß ist und ν ein endliches Maß auf (Ω,A)ist, dann notieren wir ν \µ = (ν−µ)+ = ν− ν ∧µ. Gelegentlich benutzen wir auch dieNotation µ \ ν = (µ− ν)+ = (ν − µ)−. Wenn wir diese Notation benutzen, dann habenwir

(ν \ µ

)∧(µ \ ν

)= 0

Wir mussen stets beachten, wo wir es mit beschrankten (Pra)-Maßen zu tun haben, undan welchen Stellen auch σ-endliche (Pra)-Maße zugelassen werden konnen.

Definition 5.3. Zwei σ-endliche Maße µ, ν auf dem messbaren Raum(Ω,A

)nennt man

(zueinander) singular, wenn eine Zerlegung Ω = A+B existiert, sodass µ(B) = 0 = ν(A).Man notiert µ ⊥ ν.

Satz 5.2.1 (Hahn-Zerlegung).Auf dem Mengenring R uber Ω seien µ, ν σ-endliche Pramaße mit µ ∧ ν = 0.Die Fortsetzungen µ, ν sind dann zueinander singulare Maße. µ ⊥ ν.

Beweis. Es genugt, den Satz fur beschrankte Pramaße zu beweisen.Wenn namlich Ω =

∑Ωn mit µ(Ωn) < ∞, ν(Ωn) < ∞, dann fugen sich die Zerlegungen

der Ωn zusammen zu einer Zerlegung von Ω.Wir erinnern an den Beweis zur Jordan-Zerlegung. Zu jedem ε > 0 existiert eine

Partition

Ω = Aε +Bε, sodass µ(Bε) < ε, ν(Aε) < ε.

Wir wahlen zu jedem εn in einer summablen Folge∑εn <∞ eine Zerlegung Ω = An+Bn

und betrachten

Aµ =⋂

m

n≥mAn; Aν =

m

n≥mBn = ∁Aµ

Fur jedes m ist⋂n≥mBn eine µ-Nullmenge, weil das µ-Maß kleiner ist als jedes εn, und

Vereinigungen von Nullmengen selbst Nullmengen sind. Nach dem Lemma von Borel-Cantelli ist Aµ eine ν-Nullmenge.

Definition (Totalstetig I). Auf dem Mengenring R uber Ω sei ν ein beschrankter und µein σ-endliches Pramaß. Man sagt ν sei totalstetig (oder auch absolutstetig) bzgl. µ, undman notiert ν ≪ µ, wenn gilt ν ∧ Cµր ν fur C ↑ ∞.

Satz 5.2.2 (Lebesgue-Zerlegung). Es sei ν ein endliches Pramaß und µ ein σ-endlichesPramaß auf dem Mengenring R uber Ω. Es existiert dann eine Zerlegung

ν = νa + νs, sodass νa ≪ µ, νs ⊥ µ.

Der ‘absolutstetige Anteil‘ νa und der ‘singulare Anteil’ νs sind eindeutig bestimmt.

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5.2 : Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym 51

Beweis. Fur C ↑ ∞ betrachten wir die Zerlegungen ν = ν ∧ (Cµ) + ν \ (Cµ). Der ersteSummand konvergiert (aufsteigend und in der Totalvariationsnorm) gegen ein absolutste-tiges Pramaß. Wir mussen zeigen, dass die νC = ν \ (Cµ) gegen ein Pramaß absteigen,welches zu µ singular ist. Es gilt νC = νC ∧ µ + νC \ µ = νC ∧ µ + νC+1. Die DifferenzνC − νC+1 strebt (absteigend und in der Totalvariationsnorm) gegen das Nullmaß, q. e. d.

Satz 5.2.3 (Totalstetig II).Es seien ν und µ beschrankte Pramaße auf dem Mengenring R.Genau dann ist ν totalstetig bzgl. µ, ν ≪ µ, wenn gilt

∀ε > 0 ∃δ > 0 : ∀R ∈ R µ(R) < δ =⇒ ν(R) < ε.

Beweis. Sei C so groß. dass ‖ν \ Cµ‖ < ε/2. Fur jedes R mit µ(R) < δ = ε2C

gilt dannν(R) =

(ν \ Cµ

)(R) +

(ν ∧ Cµ

)(R) < ε/2 + Cµ(R) < ε.

Sei nun lim ‖ν \ (Cµ)‖ = γ∗ > 0 Wegen ν \ (Cµ) ⊥ (Cµ) \ ν gibt es eine R-Zerlegung Ω = A+B, sodass

(ν \ Cµ

)(A) +

(Cµ \ ν

)(B) = f < 1

2γ∗. Es gilt

ν(B) =(ν \ Cµ

)(B) +

(ν ∧ Cµ

)(B) =

=(ν \ Cµ

)(Ω)−

(ν \ Cµ

)(A) + Cµ(B)−

(Cµ \ ν

)(B)

ν(B) + f =(ν \ Cµ

)(Ω) + C · µ(B)

Dies ergibt einerseits ν(B) > 12γ∗ und andererseits C · µ(B) < ν(B).

Lemma.(Ω,A, µ

)sei ein σ- endlicher Maßraum, und ρ ein σ-endliches Pramaß auf

einem Mengenring R, welcher die σ-Algebra A erzeugt. ν sei die eindeutige Fortsetzungvon ρ zu einem Maß auf A.Wenn α, β > 0 existieren, sodass ∀ R ∈ R µ(R) < α =⇒ ρ(R) ≤ β, dann gilt auch

∀ A ∈ A µ(A) < α =⇒ ρ(A) ≤ β.

Beweis. Es sei A ∈ A mit µ(A) < α − ε, und A ⊂ ∑∞Ri eine abzahlbare R-Uber-deckung, sodass

∑µ(Ri) < µ(A) + ε. Wir haben dann fur alle die R-Mengen

∑N Ri dieAbschatzungen

µ( N∑

Ri

)< α und daher ρ(

N∑

i

R) ≤ β.

Es folgt ν(A) ≤∑∞ ρ(Ri) ≤ β.

Mit unserer zweiten Kennzeichnung der Relation ν ≪ µ stellen wir einen Zusam-menhang her zu einer bedeutsamen Definition von G. Vitali aus dem Jahr 1905. Dorthat die Idee der Totalstetigkeit ihren ersten Ausdruck gefunden. Bei Vitali ist Absolut-stetigkeit eine Bedingung an eine Funktion F auf einem kompakten Intervall, die zumLangenmaß in Beziehung gesetzt wird. Dort heisst es

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52 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

Definition (G. Vitali). Eine reelle oder komplexwerige Funktion F auf dem Intervall[a, b] heisse absolut stetig, wenn zu jedem ε > 0 ein δ > 0 existiert, sodass

∑∣∣F (bk)− F (ak)∣∣ < ε

gilt fur alle Zerlegungen a ≤ a1 < b1 ≤ a2 < · · · ≤ an < bn ≤ b mit∑(

bk − ak)< δ.

Wir bemerken:1) Es wird bei Vitali nicht angenommen, dass F reellwertig und monoton ist. Realteil

und Imaginarteil einer absolut stetigen Funktion sind jedoch offenbar Funktionen mitbeschrankter Schwankung und lassen sich daher als Differenz von monoton steigendenFunktionen schreiben.

2) Lebesgue, Vitali und andere haben aufgeklart, dass die absolute Stetigkeit von Fgarantiert, dass die Funktion in Lebesgue-fastallen Punkten differenzierbar ist, und dassdie Ableitung f = F ′ Lebesgue-integrierbar ist mit

∫ dcf(t) dt = F (d) − F (c) fur alle

[c, d] ⊆ [a, b].3)In vielen Lehrbuchern der Differentialrechnung wird das folgende Resultat aus der

Zeit von Lebesgue und Vitali bewiesen: Wenn F (·) eine monotone Funktion ist, dann

existiert in Lebesgue-fastallen Punkten die Ableitung f = F ′ und es gilt∫ dcf(t) dt ≤

F (d)− F (c) fur alle [c, d] ⊆ [a, b].4) Die punktweise Differenzierbarkeit in Lebegue-fastallen Punkten ist fur die moderne

Integrationstheorie kein wichtiges Thema; sie fuhrt nicht weiter. Wenn wir (in Beispielen)von einer absolutstetigen Funktion F auf einem Intervall [a, b] sprechen, dann meinenwir eine Funktion, die als unbestimmtes Integral einer Lebesgue-integrablen Funktion fgewonnen werden kann. Die Berechtigung liefert der oben angegebene Satz von Vitali,der besagt, dass eine Funktion genau dann absolut stetig ist im obigen Sinn, wenn sie einunbestimmtes Integral ist.

5) Ein beruhmtes Beispiel einer im Einheitsintervall stetig ansteigenden Funktion, dienicht absolutstetig ist, ist die Cantor-Funktion. Sie wird folgendermaßen konstruiert.

Beispiel (Die Cantor-Funktion). Die Cantor-Funktion C(x) steigt stetig von 0 auf 1 mitC(0) = 0, C(1) = 1. Die Funktion hat Konstanzintervalle in den Hohen k

2n , n =1, 2, . . . ; k(ungerade) = 1, 3, . . . , 2n − 1. Die Lange der Konstanzintervalle der n-tenGeneration ist (1

3)n; diese Konstanzintervalle erfullen das mittlere Drittel zwischen den

Konstanzintervallen der (n− 1)-ten Generation.

Fur n = 1, k = 1 x : C(x) = 12 =

[13, 2

3

],

Fur n = 2, k = 1, 3 x : C(x) = 14 =

[19, 2

9

], und x : C(x) = 3

4 =

[79, 8

9

],

Fur n = 3, k = 1, 3, 5, 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Menge D der Endpunkte dieser Intervalle heisst das Cantor’sche Diskontinuum;sie besteht aus den Zahlen der Gestalt y =

∑∞1 ωi · (1

3)i mit ωi ∈ 0, 2. Das Komplement[

0, 1]− D ist die disjunkte Vereinigung von offenen Intervallen mit der Gesamtlange

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5.2 : Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym 53

λ([0, 1

]−D) = 1

3+2(1

3)2+4(1

3)3+· · · = 1. Das Cantor’sche Diskontinuum ist eine Lebegue-

Nullmenge. Das Stieltjes-Maß zur Cantorfunktion ist auf das Cantor’sche Diskontinuumkonzentriert.— Wir haben hier also ein nichttriviales Beispiel fur eine Hahn-Zerlegung.

Wir fixieren jetzt einen σ-endlicher Maßraum(Ω,A, µ

)und betrachten endliche Maße

ν auf A, und manchmal auch signierte Maße σ = σ+ − σ−.

Definition 5.4 (Unbestimmtes Integral). Wenn h integrabel ist, dann definiert man dasunbestimmte Integral als die Mengenfunktion

ν : A ∋ A 7−→ ν(A) =

∫1A(ω) · h(ω) dµ =

A

h.

Man schreibt dν = h · dµ oder auch dν(ω) = h(ω) · dµ(ω).

Bemerke: Unbestimmte Integrale sind σ-additive Mengenfunktionen. Wenn h ≥ 0,dann ist das unbestimmte Integral ein endliches Maß. Die σ-Additivitat ergibt sich ausdem Satz von der monotonen Konvergenz. Wenn h auch negative Werte annimmt, dannist das unbestimmte Integral ein signiertes Maß σ, und die Zerlegung h = h+ − h− liefertdie Darstellung σ = σ+ − σ− mit σ+ ∧ σ− = 0.

Die Punktfunktion h ist durch die Mengenfunktion ν µ-fastuberall eindeutig bestimmt.Man notiert

h =dν

dµµ-fastuberall;

und man nennt die L1-Funktion h die Radon-Nikodym-Dichte von ν bzgl, µ.

Satz 5.2.4 (Stetigkeitsmodul).Es sei h ≥ 0 integrabel und ν das unbestimmte Integral. Es existiert dann eine Funktionβ(·) auf R+ mit limα→0 β(α) = 0, sodass

µ(B) < α =⇒ ν(B) ≤ β(α).

Beweis. Es sei H(y) = ν(ω : h(ω) > y

). Wir zeigen

supν(A) : µ(A) < α

≤∫ ∞

0

α ∧H(y) dy.

(Man nennt die absteigende Funktion H(·) manchmal die komplementare Verteilungsfunk-tion in Analogie zum Begriff der Verteilungsfunktion FX(·) einer nichtnegativen Zufalls-großen X: FX(x) = Ws

(X ≤ x

))

Die Funktion H(y) kann Sprunge und Flachstellen haben. Trotzdem kann man in sinn-voller Weise eine Umkehrfunktion Y (·) konstruieren, (wie man an einem Bild leichtersieht als an einer Formel). Sei α ein Wert, der von der Funktion H angenommen wird,H(r) = α. Es gilt dann ν(h > r) ≤ β(α). Das µ-Integral der nichtnegativen Funktion

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54 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

1(h>r) ·(h−r) ergibt namlich einerseits den Wert = ν(h > r)−r·µ(h > r) = ν(h > r)−r·αund andererseits

∫1(h>r) · (h− r) dµ =

∫ ∞

0

µ(h− r > t) dt =

∫ ∞

r

H(y) dy

=

∫ ∞

0

α ∧H(y) dy − r · α.

Betrachten wir nun im Vergleich zu ω : h(ω) > r eine weitere Menge B mit µ(B) ≤ αWir zeigen ν(B)− ν(A) ≤ 0. In der Tat

(ν(B)− ν(A)

)≤(ν(B)− ν(A)

)− r ·

(µ(B)− µ(A)

)=

=

∫ (1A − 1B

)(h− r

)dµ =

=

∫ (1A\B − 1B\A

)((h− r)+ − (h− r)−

)dµ ≤ 0.

denn (h − r)+ verschwindet auf der Menge A \ B, und (h − r)− verschwindet auf derMenge B \ A.

Satz 5.2.5 (Satz von Radon-Nikodym).Es sei

(Ω,A, µ

)ein σ-endlicher Maßraum. Jedes bzgl. ν totalstetige endliche Maß ν ≪ µ

ist dann ein unbestimmtes Integral.

Beweis. 1)Wir schicken voraus: Wenn h eine nichtnegative messbare Funktion ist, undAy = ω : h(ω) > y, dann gilt Ay =

⋃y<r∈QAr; und die Familie Ay : y ∈ (0,∞)

ist eine abnehmende rechtsstetige Schar messbarer Mengen mit⋂y Ay = ω : h(ω) =

∞, ⋃y Ay = ω : h(ω) > 0 Weiter gilt h(ω) = supr ∈ Q : ω ∈ Ar

2)Ist umgekehrt Ay : y ∈ (0,∞) ist eine abnehmende rechtsstetige Schar messbarerMengen mit

⋂y Ay = ∅, ⋃

y Ay = Ω, so existiert eine Funktion h, sodass h > y =Ay. In der Tat ist das Supremum einer Zahlenmenge genau dann > y, wenn es in dieserZahlenmenge ein Element r > y gibt. Fur die Funktion h(ω) = supr ∈ Q : ω ∈ Ar giltalso h(ω) > y genau fur diejenigen ω, die in einem der Ar mit r > y liegen. Wegen derRechtsstetigkeit der Mengenfamilie bedeutet das ω ∈ Ay.

3) Bei der Konstruktion der Radon-Nikodym-Dichte kann man sich offenbar auf denFall eines endlichen dµ beschranken. Fur jedes r ∈ Q sind die Maße ν \ rµ und rµ \ νzueinander singular. Es existiert eine Hahn-Zerlegung

Ω = Ar +Br,(ν \ rµ

)(Br) = 0,

(rµ \ ν

)(Ar) = 0.

Fur alle A ⊆ Ar gilt(rµ − ν

)(A) ≤ 0, also ν(A) ≥ rµ(A). Fur alle B ⊆ Br gilt

ν(B) ≤ rµ(B).

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.2 : Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym 55

4)Wir gehen uber zu einer absteigenden Familie Ay =⋃r>y Ar. Fur alle A ⊆ Ay mit

µ(A) > 0 gilt ν(A) > y · µ(A); fur alle B ⊆ ∁Ay gilt ν(B) ≤ y · µ(A).Die Familie Ay : y ∈ (0,∞) ist absteigend und rechtsstetig. h(·) sei die dazugehorigeFunktion: Ay = h > y Wir zeigen

∫Ah dµ = ν(A) zunachst fur A ⊆ c < h ≤ C

mit festen c > 0, C < ∞. Dies macht die relevanten Summen im nachsten Abschnitt zuendlichen Summen.

5) Wir setzen A(n)k = ω : k

2n < h(ω) ≤ k+12n Die Funktion h(n) =

∑∞1

k2n 1

A(n)k

entsteht

aus h durch Abrunden auf das nachste ganzzahlige Vielfache von 12n . Es gilt

A

h(n) dµ =∑

k

k

2nµ(A ∩A(n)

k

)=∑ 1

2nµ(A ∩ k

2n < h).

Fur jedes B ⊂ A(n)k gilt k

2nµ(B) ≤ ν(B) ≤ k+12n . Das ergibt

k

k

2nµ(A ∩ A(n)

k

)≤∑

k

ν(A ∩ A(n)

k

)≤∑

k

k + 1

2nµ(A ∩ A(n)

k

),

A

h(n) dµ ≤ ν(A) ≤ 12nµ(A) +

A

h(n) dµ.

Der aufsteigende Limes liefert die Behauptung∫Ah dµ = ν(A) fur die A ⊂ ω : h(ω) ≤

C. Da wir ν ≪ µ angenommen haben, ist alles bewiesen.

Hinweis auf gleichgradige Totalstetigkeit:

In unserer zweiten Kennzeichnung der Totalstetigkeit ν ≪ µ haben wir nicht nur an-genommen, dass ν ein beschrankter Inhalt ist; wir haben auch die Beschranktheit vonµ angenommen. Das hat einen guten Grund, wenn man eine weiterfuhrende Theorie imAuge hat. Die folgende Begriffsbildung hat sich als fruchtbar erwiesen:

Definition 5.5 (Gleichgradige Totalstetigkeit).Es sei

(Ω,A, µ

)ein σ-endlicher Maßraum, und νι : ι ∈ I eine Familie von Pramaßen

auf einem Mengenring R, welcher A erzeugt. Die Familie heisst gleichgradig totalstetig,wenn gilt

i) supι ‖νι‖ <∞

ii) Es existiert ein endliches Maß µ≪ µ, sodass gilt∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀R ∈ R

(µ(R) < δ =⇒ supι νi(R) < ε

).

Diese Begriffsbildung stellt in der Tat den Anschluss her zum Begriff der gleichgradigenIntegrierbarkeit einer Familie von L1-Funktionen fι : ι ∈ I, die wir bei den Konver-genzsatzen kennengelernt haben. Bei einzelnen beschrankten Inhalten ν bzw. einzelnenintegrablen f gibt es keinen Unterschied. Wenn ‖ν \Cµ‖ ց 0 fur ein σ-endliches µ, danngibt es auch ein endliches µ≪ µ mit ‖ν \ Cµ‖ ց 0.

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56 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

Hinweis: Wenn man die Begriffe der gleichgradigen Totalstetigkeit von Inhalten undder gleichgradigen Integrierbarkeit von Funktionen auf Maßraume ausdehnen will, dienicht σ-endlich sind, dann muss man noch etwas behutsamer zu Werke gehen. Wir wollendas hier nicht weiter verfolgen.

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5.3 : Genaueres uber Totalstetigkeit 57

5.3 Genaueres uber Totalstetigkeit

Wir haben fruher darauf aufmerksam gemacht, dass fur 1 ≤ p < ∞ der Dualraum desBanachraums Lp

(Ω,A, µ

)der Raum Lq

(Ω,A, µ

)ist, mit 1/p + 1/q = 1. Der Satz von

Radon-Nikodym liefert ein schnellen Beweis:

Satz 5.3.1. Zu jeder stetigen Linearform ℓ auf dem Raum Lp(Ω,A, µ

)mit 1 ≤ p < ∞

gibt es ein h ∈ Lq, 1/p+ 1/q = 1, sodass

ℓ(f) =

∫h · f dµ fur alle f ∈ Lp.

Beweis. Mit der Holder’schen Ungleichung haben wir gesehen, dass fur jedes h ∈ Lq

ℓh(·) : Lp(Ω,A, µ

)∋ f 7−→

∫h · f dµ

eine stetige Linearform ist mit der Norm ‖ℓh‖ = sup|ℓh(f)| : ‖f‖p ≤ 1 = ‖h‖q.

Es sei nun andererseits ℓ(·) eine stetige Linearform auf dem Raum Lp. Wir wollendazu eine q-Integrable Funktion h finden. Dabei nehmen wir zuerst einmal an, dass µ einendliches Maß ist.

Wenn wir das Funktional ℓ auf die Indikatorfunktionen einschranken, dann liefertσ(A) = ℓ(1A) eine Ladungsverteilung. Es existiert eine Partition Ω = A + B, sodassσ = σ+ − σ− mit σ+(C) = σ(A ∩ C), σ−(C) = −σ(B ∩ C). Die Stetigkeit von ℓ zeigtσ+(C) = σ(A ∩ C) ≤ ‖ℓ‖ · µ(A ∩ C)1/p. Dies zeigt die Absolutstetigkeit σ+ ≪ µ; dasselbegilt fur σ− ≪ µ. Der Satz von Radon-Nikodym liefert Funktionen h+, h−, sodass

ℓ(1C) = σ+(C)− σ−(C) =

C

(h+ − h−) dµ =

∫(h+ − h−) · 1C dµ.

Die Linearitat zusammen mit der Stetigkeit in der p-Norm zeigt, dass auch fur die Trep-penfunktionen und ihre Limiten f in der p-Norm gilt

ℓ(f) =

∫h · f dµ, ‖ℓ‖ = ‖h‖q.

Im Falle eines Maßes, welches auch den Wert +∞ annehmen kann, betrachten wir dieFunktion f · 1|f |>1/n auf dem endlichen Maßraum Ωn = |f | > 1/n.

Bemerkung: Im Fall p = 1 erhalten wir eine wesentlich beschrankte Funktion h mit

ℓ(f) =

∫h · f dµ mit sup

|ℓ(f)| :

∫|f | dµ ≤ 1

= ‖h‖∞

Der Fall L∞ liegt anders. Wenn nicht A eine endliche σ-Algebra ist, dann gibt nochweitere stetige Linearformen auf dem L∞ neben den Integralen ℓ(f) =

∫p · f dµ mit

einem integrablen p. Allerdings kann man solche Linearformen nicht explizit angeben.

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58 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

Gleichgradige Totalstetigkeit

Fur den weiteren Unterabschnitt fixieren wir einen σ-endlichen Maßraum(Ω,A, µ

). Mess-

bare Funktionen sind A-messbar. Gleichheit fastuberall bezieht sich auf das Maß µ; wirsprechen auch von fastsicherer Gleichheit.Wir haben den Begriff der Totalstetigkeit fur beschrankte Pramaße eingefuhrt. Was dortkonstruiert und hergeleitet wurde, kann nun auf Grund des Satzes von Radon-Nikodym indie Sprache der integrablen Funktionen ubersetzt werden. Manche, aber nicht alle Aspekteder (gleichgradigen) Totalstetigkeit sind durchsichtiger, wenn man die Radon-Nikodym-Dichten zunachst einmal nicht ins Spiel bringt.

Wir erinnern zuerst noch einmal an einige Ergebnisse des vorigen Abschnitts.

Satz 5.3.2. Es sei µ′ die Einschrankung von µ auf einen Mengenring R von Mengen Rmit µ(R) < ∞ , der A erzeugt. ρ sei ein beschranktes Pramaß auf R und ν das Maß,welches ρ auf A fortsetzt. Es gilt ν ≪ µ genau dann, wenn eine der folgenden zueinanderaquivalenten Bedingungen erfullt ist.

1. ‖ρ \ Cµ‖TV → 0 fur C →∞

2. ∀ α > 0 ∃ β > 0 : ∀R ∈ R µ′(R) < α⇒ ρ(R) < β.

3. Es existiert eine Funktion β(·) mit limα↓0 β(α) = 0, sodass

supρ(R) : µ′(R) < α

≤ β(α).

Bemerke: Wenn β(·) ein Stetigkeitsmodul im Sinne von 3) ist, dann leistet auch jedesβ ′(·) ≥ β(·), welches ebenfalls nach 0 strebt, das Verlangte. Man kann naturlich immerannehmen, dass die Stetigkeitsmoduln ansteigende Funktionen sind.

Wir wollen jetzt dem Begriff der gleichgradigen Totalstetigkeit entwickeln. Dieser Be-griff soll so gefasst werden, dass eine Familie von beschrankten Pramaßen

ρι : ι ∈ I

ge-

nau dann gleichgradig totalstetig genannt wird, wenn die dazugehorigen Radon-Nikodym-Dichten gleichgradig integrierbar sind. Eine Forderung ist die, dass die ρι gleichmaßigbeschrankt sind (sup ‖ρι‖TV < ∞) und dass ein fur alle ι ∈ I gultiger Stetigkeitsmodulexistiert. Das ist aber nicht ganz hinreichend, wie wir sehen werden. Man muß fordern,dass ein endliches Maß µ existiert, sodass gilt

∀ α > 0 ∃ β > 0 ∀R ∈ R : µ(R) < α⇒ supιρι(R) ≤ β.

Entscheidend sind die folgenden elementaren Lemmata:

Lemma. Das endliche Maß ν sei totalstetig bzgl. des σ-endlichen Maßes µ, dν ≪ dµ.Ist nun g integrabel mit g > 0 fast uberall, so ist ν auch totalstetig bzgl. des endlichenMaßes g · dµ, dν ≪ g · dµ.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.3 : Genaueres uber Totalstetigkeit 59

Beweis. Wir haben gesehen, dass die Bedingung der Totalstetigkeit dν ≪ dµ aquivalentist mit der Bedingung, dass jede µ-Nullmenge auch ν-Nullmenge ist. Das heisst hier: JedeMenge A mit

∫Ag ·dµ = 0 ist eine µ-Nullmenge. Und das ist wegen der strikten Positivitat

von g klar.Wir bemerken: Ein Maß µ ist genau dann σ-endlich, wenn es eine strikt positive

Funktion gibt, die µ-integrabel ist.

Lemma. Es sei g > 0 integrabel und gε ≥ 0 integrabel. Wenn C so groß ist, dass∫gε>Cg gε < ε/2, Dann gilt

|f |>Cg|f |dµ < ε fur jedes f mit

|f |>gε|f |dµ < ε/2.

Beweis. Die Abschatzung gewinnt man folgendermaßen

|f | > Cg

⊆|f | > gε

|f | ≤ gε

∩|f | > Cg

∫gε≥|f |>Cg

|f | dµ ≤∫gε>Cg

ge dµ < ε/2

Das Lemma zeigt, dass man die oben gegebene Definition der gleichgradigen Integrier-barkeit einer Familie

fι : ι ∈ I

∈ L1 mit sup ‖fι‖ < ∞ folgendermaßen vereinfachen

kann

∃g ∈ L1 ∀ε > 0 ∃C supι

∫|fι|>Cg

|fι| dµ < ε.

Man benotigt (im σ-endlichen Fall) keine Familie gε; man kommt mit geeigneten Viel-fachen einer beliebig gewahlten strikt positiven Funktion g ∈ L1 aus.

Beispiel 5.3.1. Es sei Ω = Z und µ das Zahlmaß auf der Potenzmenge A = P(Z).

fn(ω) =

1 fur ω = n

0 fur ω 6= n

Die Familie (fn)n∈Z ist nicht gleichgradig integrierbar. Wenn namlich g > 0 auf Z inte-grabel ist, dann gilt g(ω) → 0 fur ω → ±∞ und fur jedes C > 0 gilt

∫fn≥Cg fn dµ = 1

fur alle genugend großen |n|.Beispiel 5.3.2. Es sei Ω = [0, 1] und λ das Lebesgue-Maß. Sei f(x) ≥ 0 auf R+ mit∫∞0f(x) dx = 1. Fur x ∈ Ω sei fn(x) = n · f(nx). Die Folge (fn)n∈Z ist nicht gleichgradig

integrierbar.— Die Funktion f(x) = x1+x4 haben wir schon fruher als Beispiel betrachtet.

Dort haben wir direkt verifiziert, dass die Funktionenfolge punktweise nach 0 strebt,wahrend die Integrale nach π

4konvergieren.

Was die gleichgradige Integrierbarkeit stort, ist das Phanomen, dass das Lebesgue-Maßeines Bereichs, der wesentlich zum Integral beitragt, fur große n beliebig klein wird.

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60 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale Integrationstheorie

Satz 5.3.3. Es sei(Ω,A, µ

)ein W-Raum mit einer abzahlbar erzeugten σ-Algebra. Wenn

Die Familie M = fι : ι ∈ I gleichgradig integrierbar ist, dann existiert zu jeder M-Folgeeine Teilfolge (fn)n und ein f ∈ L1

(Ω,A, µ

), sodass

A

fn dµ −→∫

A

f dµ fur alle A ∈ A.

Beweis. Wir konnen annehmen, dass die fι nichtnegativ sind; andernfalls studieren wirdie Familie der f+

ι und f−ι .

Es sei (fk)k eine M-Folge und ρk die unbestimmten Integrale, eingeschrankt auf ei-ne abzahlbare Mengenalgebra Af , die A erzeugt. Die Elemente von Af seien aufgezahlt:A1, A2, . . ..

Es sei ρ1,1, ρ1,2, . . . eine Teilfolge, sodass ρ1,n(A1) konvergiert; der Grenzwert sei ρ(A1).Aus der Teilfolge wahlen wir eine Teilfolge ρ2,1, ρ2,2, . . ., sodass ρ2,n(A2) konvergiert;

der Grenzwert sei ρ(A2).So fahren wir fort. Die ‘Diagonalfolge’ liefert eine Teilfolge ρ1 = ρ1,1, ρ2 = ρ2,2, ρ3 =

ρ3,3 . . . mit ρn(Aj) → ρ(Aj) fur alle Aj Die Grenzwerte fugen sich zu einem Inhalt aufAf zusammen. Es handelt sich in der Tat um ein Pramaß, welches bzgl. µ totalstetigist. Ist namlich β(·) ein gemeinsamer Stetigkeitsmodul fur die Inhalte νι, µ(A) < α⇒sup νι(A) ≤ β(α), so ist β(·) auch ein Stetigkeitsmodul fur das Pramaß ν. Nach dem Satzvon Radon-Nikodym ist die Fortsetzung auf A ein unbestimmtes Integral dν = f · dµ

Wir zeigen, dass∫Afn →

∫Af nicht nur fur die A ∈ Af gilt sondern auch fur beliebige

A ∈ A. Sei also A ∈ A. Es genugt zu zeigen, dass fur beliebiges β > 0 gilt

−2β ≤ lim inf

A

(fn − f) ≤ lim sup

A

(fn − f) ≤ 2β.

Um das zu zeigen, wahlen wir ein abzahlbare Af -Uberdeckung von A, A ⊆∑∞Ak, sodass∑∞ µ(Ak) < µ(A)+α. Wenn N genugend groß ist, dann ist das µ-Maß der Menge BN =∑∞N+1Ak kleiner als jedes vorgegebene α > 0. Wegen der gleichgradigen Integrierbarkeit

gilt νn(BN) ≤ β fur alle n und auch ν(BN ) ≤ β. Fur das gewahlte A =∑∞Ak ⊃ A gilt

A

(fn − f) =

∫PN Ak

(fn − f) + νn(BN)− ν(BN ).

Der erste Summand strebt nach 0 fur n → ∞, der zweite ist im Betrag ≤ β. Wegenµ(A − A) < α haben wir auch νn(A − A) ≤ β und ν(A − A) ≤ β, und daraus folgt dieBehauptung.

Wir betrachten als Beispiel die Menge A† = ω : lim inf(fn − f)(ω) > 0. UnserArgument liefert µ(A) = 0. Der Ubersichtlichkeit halber beweisen wir das nur im Falle,wo die Funktionen f, fn beschrankt sind. In diesem Falle konnen wir namlich Fatou’sLemma direkt anwenden mit dem Ergebnis

A†

lim inf(fn − f) dµ ≤ lim inf

A†

(fn − f) = 0.

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5.3 : Genaueres uber Totalstetigkeit 61

Es folgt µ(A†) = 0. Zusammen mit der entsprechenden Aussage fur die Folge (f − fn)nergibt das

lim inf(f − fn) ≤ 0 ≤ lim inf(f − fn) µ-fastuberall.

Die Folge fn − f oszilliert µ-fastuberall um die Nullfunktion.

Das Resultat kann man erweitern: Nicht nur fur die Indikatorfunktion, sondern furbeliebige wesentlich beschrankte h gilt

∫h · fn →

∫h · f

Ein wesentlich beschranktes h kann man namlich in der ‖ · ‖∞-Norm durch Treppenfunk-tion beliebig genau approximieren, und der Aproximationsfehler stort nicht.

Hinweis: Man darf nicht erwarten, dass die hier durch Teilfolgenauswahl gewonneneFolge im Sinne der Banachraumnorm ‖ · ‖1 gegen die Limesfunktion f konvergiert. Eshandelt sich hier vielmehr um eine sog. schwache Konvergenz .

Beispiel 5.3.3. Betrachten wir auf dem Einheitsintervall mit dem Lebesgue-Maß die Funk-tionenfolge fn(x) = sin(2πnx). Dies ist eine gleichgradig integrierbare Folge mit der of-

fensichtichen Eigenschaft∫ bafn(x) dx→ 0 fur alle Intervalle [a, b]. Wie wir eben bewiesen

haben, konvergieren die Integrale uber beliebige Borelmengen nach 0. Von einer Konver-genz in der L1-Norm kann aber nicht die Rede sein.

Den Satz ist zu verstehen als ein Kompaktheitskriterium im Raum L1(Ω,A, µ

). Das

Resultat ist bekannt als das Dunford-Pettis-Theorem: Eine Teilmenge M des L1 mit derschwachen Topologie ist genau dann bedingt kompakt, wenn sie gleichgradig integrierbarist.

Kompaktheitskriterien fur die starke Topologie (d. h. in der Topologie zur Norm) sindschwieriger. Es geht darum, die Moglichkeit der Oszillation einzuschranken. Der interes-sierte Leser sei verwiesen auf den Artikel:

Maria Girardi Weak vs. Norm Compactness in L1: the Bocce Criterion, Studia Math.98 (1991) 95-97.

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62 Messbarkeit Integrationstheorie

6 Messbarkeit

Wir haben schon fruher mit Folgen (fn)n zu tun gehabt, die fastuberall konvergieren.Das waren Folgen, fur welche die Menge A =

ω : lim inf fn(ω) 6= lim sup fn(ω)

eine

Nullmenge ist. Wir haben damals die Frage uberspielt, ob Mengen wie dieses A A-messbar sind.

In allgemeineren Zusammenhangen mussen wir uber Fragen dieser Art genauer nach-denken. Die Fragen werden noch etwas komplexer, wenn wir es nicht mit Funktionensondern mit Aquivalenzklassen zu tun haben.

6.1 Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur

Es gibt (auf einem elementaren Niveau) augenfallige Parallelen zwischen der sog. allgemei-nen Topologie und der allgemeinen Messbarkeitslehre. Was in der Topologie die stetigenAbbildungen sind, das sind in der Messbarkeitslehre die messbaren Abbildungen.

Definition 6.1.

Eine Abbildung eines messbaren Raums in einen messbaren Raum heisst eine messbareAbbildung, wenn die vollen Urbilder von messbaren Mengen messbar sind.

ϕ :(Ω′,A′) −→

(Ω′′,A′′) messbar, wenn ϕ−1(A′′) ∈ A′ fur alle A′′ ∈ A′′.

Man sagt manchmal ausfuhrlicher, die Abbildung ϕ in den Raum(Ω′′,A′′) sei eine A′-

messbare Abbildung.

Bemerkungen:1)Wenn das Mengensystem S′′ die σ-Algebra A′′ erzeugt und ϕ−1(S ′′) ∈ A′ fur alle

S ′ ∈ S′′, dann ist ϕ messbar.

2) Fur jede Abbildung der Menge Ω′ in den messbaren Raum(Ω′′,A′′) ist das System

aller vollen UrbilderA′ = ϕ−1(A′′) : A′′ ∈ A′′ eine σ-Algebra uber Ω′. Sie heisst die

von ϕ erzeugte σ-Algebra.

3) Die von ϕ erzeugte σ-Algebra ist die grobste σ-Algebra uber Ω′, bzgl. welcher dieAbbildung ϕ : Ω′ →

(Ω′′,A′′) messbar ist.

Satz 6.1.1 (Hintereinanderschalten). Sind ϕ und ψ messbare Abbildungen

(Ω′,A′) ϕ−→

(Ω′′,A′′) ψ−→

(Ω′′′,A′′′)

so ist auch die zusammengesetzte Abbildung χ(·) = ψ(ϕ(·)) messbar.

Beweis. Fur alle A′′′ ∈ A′′ gilt χ−1(A′′′) = ϕ−1(ψ−1(A′′′)

)∈ A′.

(Man beachte die Reihenfolge der Symbole χ = ϕ ψ, χ−1 = ψ−1 ϕ−1.)

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6.1 : Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur 63

Satz 6.1.2 (Nebeneinanderstellen). Sind ϕ1 und ϕ2 messbare Abbildungen

(Ω,A

) ϕ1−→(Ω1,A1

),

(Ω,A

) ϕ2−→(Ω2,A2

)

so ist (ϕ1, ϕ2) eine messbare Abbildung in den Produktraum

(Ω,A

) (ϕ1,ϕ2)−−−−→(Ω1 × Ω2,A1 ⊗ A2

)

Beweis. Das System der Rechtecke A1 × A2 ist ein Erzeugendensystem der Produkt-σ-Algebra A1 ⊗ A2, und das volle Urbild eines solchen Rechtecks ist die A-messbare Menge(ϕ1, ϕ2)

−1(A1 × A2) = ϕ−11 (A1) ∩ ϕ−1

2 (A2).

Beispiel 6.1.1. Es seien v(ω) und w(ω) messbare Abbildungen des messbaren Raums(Ω,A

)in einen normierten Vektorraum

(V, ‖ · ‖

)mit seiner Borelalgebra B. Die Summe

v(ω)+w(ω) ist dann ebenfalls messbar. Die Addition α :(V ×V,B⊗B) −→

(V, B) ist

namlich stetig und damit messbar. Und die Summe entsteht durch Hintereinanderschalten(v + w)(·) = α (v, w)(·).

Man spricht das Resultat auch folgendermaßen aus: Wenn v und w in messbarer Weisevon ω abhangt, dann hangt auch v + w in messbarer Weise von ω ab.

Beispiel 6.1.2. Es seien ϕ(ω) und ψ(ω) messbare Abbildungen des messbaren Raums(Ω,A

)in einen metrischen Raum

(S, d(·, ·

). Die Menge ω : ϕ(ω) = ψ(ω) ist dann

messbar.

Die Menge A, auf welcher zwei vorgegebene messbare Abbildungen ubereinstimmen,A = ω : ϕ(ω) = ψ(ω), ist auch bei vielen anderen Zielraumen

(Ω, A

)messbar. Man

benotigt die Messbarkeit der Diagonalen im Produktraum(Ω × Ω, A ⊗ A

). Diese ist

beispielsweise gegeben, wenn der Zielraum ein Hausdorff-Raum mit abzahlbarer Basis(HRaB) ist. Wenn namlich (Ur)r eine abzahlbare Basis ist, dann existiert zu jedem Punk-tepaar P 6= Q ein Ur, sodass P ∈ Ur, Q /∈ Ur. Somit ist ∁A eine messbare Menge

∁A = ω : ϕ(ω) 6= ψ(ω) =⋃

r

ω : ϕ(ω) ∈ Ur ∩ ω : ψ(ω) /∈ Ur.

Beispiel 6.1.3. Es sei (ϕn)n eine Folge messbarer Abbildungen in einen metrischen Raum(S, d(·, ·

)mit seiner Borelalgebra. Die Menge C derjenigen ω, fur welche (ϕn(ω))n eine

Cauchyfolge ist, ist messbar. In der Tat: eine Punktfolge (Pn)n ist genau dann eine Cauchy-Folge, wenn gilt ∀ε > 0 ∃N : ∀n,m ≥ N d(Pm, Pn) ≤ ε. Dabei konnen wir uns aufdie rationalen ε > 0 beschranken oder auf irgendeine Folge positiver ε. welche gegen 0konvergiert. Die Mengen Aε,m,n = ω : d(ϕ(·), ψ(ω)) ≥ ε sind messbar und daher auch

C =⋂

ε>0

N

m,n≥NAε,m,n.

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64 Messbarkeit Integrationstheorie

Beispiel 6.1.4. Es sei(S, d(·, ·

)ein vollstandiger metrischer Raum, den wir durch Hin-

zunahme eines weiteren Punkts ∂ zum Raum S erweitern. (Man nennt den Extrapunktmanchmal den ‘cemetary point’.). Es sei nun (ϕn)n) eine Folge messbarer Abbildungen von(Ω,A

)nach S. Wir setzen ϕ∞(ω) = limϕn(ω), wenn der Limes existiert und ϕ∞(ω) = ∂,

wenn der Limes nicht existiert. Wir zeigen, dass ϕ∞ eine messbare Abbildung nach S ist.Es genugt zu zeigen, dass das volle Urbild einer belibigen abgeschlossenen Menge F ⊆ SA-messbar ist. Es bezeichne F ε die ε-Umgebung von F .

F ε = Q : d(Q,F ) < ε = Q : infP∈F

d(Q,P ) < ε.

Fur eine konvergente Folge liegt der Limes genau dann in F , wenn fur jedes ε > 0 schliess-lich alle Punkte in F ε liegen.(Wir benotigen auch hier lediglich eine Folge echtpositiverε. die nach 0 konvergiert.) Wir wissen bereits, dass die Menge C derjenigen ω, fur die(ϕn(ω))n eine Cauchyfolge ist und somit konvergiert, eine messbare Menge ist. Diejenigenω, fur welche der Limes ϕ∞(ω) in F liegt, ist die messbare Menge

ω : ϕ∞(ω) ∈ F = C ∩⋂

ε>0

N

n≥Nω : ϕn(ω) ∈ F ε.

Satz 6.1.3 (Bildmaße). Sei ϕ :(Ω′,A′) −→

(Ω′′,A′′) eine messbare Abbildung. Zu

jedem W-Maß ν ′ auf A′ erhalt man ein W-Maß ν ′′ auf dem Zielraum, wenn man definiert

ν ′′(A′′) = ν ′(ϕ−1(A′′)

)fur alle A′′ ∈ A′′.

Der Beweis ist trivial. ν ′′ heisst das ϕ-Bild von ν ′. Leider gibt es keinen allgemein ak-zeptierten Namen fur die Abbildung ν ′ 7−→ ν ′′. (In Frage kame ’Pushforward-Abbildung’fur W-Maße) Die Abbildung ist dual zur Pullback-Abbildung fur messbare Funktionen;ist namlich f ′′ ≥ 0 A′′-messsbar und f ′ = ϕ∗(f ′′) (d. h. f ′(ω′) = f ′′(ϕ(ω′))), so gilt

∫f ′′(ω′′) dν ′′(ω′′) =

∫ϕ∗(f ′′)(ω′) dν ′(ω′)

kurz geschrieben⟨ν ′′, f ′′⟩ =

⟨ν ′, ϕ∗(f ′′)

⟩.

Messbare Raume mit Nullmengenstruktur

In der Integrationstheorie waren wir gezwungen, bei den messbaren numerischen Funktio-nen zu Aquivalenzklassen uberzugehen. Diesen Konstruktionsschritt wollen wir jetzt auchbei messbaren Abbildungen (mit geeigneten Zielraumen) gehen. Das Nullmengensystemmuss nicht notwendigerweise das Nullmengensystem zu einem Maß sein.

Definition 6.2. Es sei(Ω,A

)ein messbarer Raum. Ein Mengensystem N ⊆ A heisst ein

σ-Ideal in A, wenn gilt

i) N ∈ N, A ∈ A⇒ N ∩ A ∈ N,

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6.1 : Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur 65

ii) N1, N2, . . . ∈ N⇒ ⋃nNn ∈ N

Definition 6.3. Ein messbarer Raum(Ω,A

)wird zu einem messbaren Raum mit Null-

mengenstruktur, indem man σ-Ideal N als das System der Nullmengen auszeichnet. Einenmessbaren Raum mit Nullmengenstruktur notieren wir

(Ω,A,N

)oder

(Ω,A/N

).

Das Nullmengenideal generiert eine Aquivalenzrelation in der σ-Algebra A, wenn mandefiniert

A =N B ⇔ A B ∈ N.

Aquivalente Mengen nennen wir N-fast sicher gleich. Wir notieren A ⊆N B, wenn A\B ∈N. Die Relation ⊆N ist vertraglich mit der Aquivalenz. Es gilt

A =N B ⇔(A ⊆N B

)∧(B ⊆N A

).

Die Aquivalenzrelation ist vertraglich mit den Boole’schen Operationen, d. h. mit derKomplementbildung, der Maximums- und der Minimumsbildung. Auch abzahlbare Ope-rationen sind zulassig; zu jeder abzahlbaren Familie gibt es in A/N ein wohlbestimmtesSupremum und ein wohlbestimmtes Infimum. Man sagt kurz:

Satz. Die geordnete Menge der Aquivalenzklassen(A/N, ⊆N

)ist ein σ-vollstandiger

Boole’scher Verband.

Hinweis: Die Ereignisfelder in der Stochastik sind σ-vollstandige Boole’sche Verbande.Ihre Elemente beschreiben die beobachtbaren Ereignisse. Es ist ublich, die Ereignisfelderdurch messbare Raume mit Nullmengenstruktur darzustellen. Die Darstellbarkeit ergibtsich aus dem beruhmten Darstellungssatz von Loomis aus dem Jahr 1948: Ist E ein σ-vollstandiger Boole’scher Verband, so existiert ein messbarer Raum mit Nullmengenstruk-tur

(Ω,A,N

)und ein σ-isomorphe Bijektion E←→ A/N.

Definition 6.4. Es sei N ein σ-Ideal in der σ-Algebra A eines messbaren Raums. Zwei A-messbare Abbildungen ϕ, ψ in einen messbaren Raum

(Ω, B

)heissen N-fastsicher gleich,

wenn fur jedes B ∈ B die vollen Urbilder ϕ−1(B) und ψ−1(B) N-fastsicher gleich sind.Wir notieren in diesem Fall ϕ =N ψ.

Wir bemerken: Wenn S die s-Algebra B erzeugt, und ϕ−1(S) =N ψ−1(S) fur alleS ∈ S, dann gilt ϕ =N ψ. Die Gesamtheit aller A, fur welche ϕ−1(A) =N ψ−1(A) gilt, istnamlich eine σ-Algebra.

Sprechweise. Wir nennen ein Maß ν auf(Ω,A

)ein N-vertragliches Maß und notieren

ν ≪ N, wenn ν(N) = 0 fur alle N ∈ N.

Ein N vertragliches ν kann als eine σ-additive Funktion auf dem σ-vollstandigen Boo-le’schen Verband A/N verstanden werden.

Wenn die messbaren Abbildungen ϕ, ψ N-fastsicher gleich sind ϕ =N ψ, dann fur jedesN-vertragliche Maß das ψ-Bild gleich dem ϕ-Bild.

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66 Messbarkeit Integrationstheorie

6.2 Messbarkeit im Sinne von Caratheodory

Nehmen wir einmal an, es ware moglich, ‘jeder’ Teilmenge A des d-dimensionalen An-schauungsraums eine

”Lange“ λ∗(A) (die auch +∞ sein kann) zuzuordnen. Welche Ei-

genschaften konnten oder sollten wir von der Mengenfunktion λ∗(·) erwarten?Wenn wir einen axiomatischen Zugang zum Begriff der Lange einer Punktmenge ver-

suchen mochten, dann wurden wir jedenfalls postulieren:

1. Fur eine Strecke PQ sollte der euklidische Abstand der Endpunkte herauskommen,d.h.

λ∗(PQ)

= dist(P,Q) .

Fur einen Polygonzug ist ebenfalls klar, was die Lange ist.

2. Auch fur eine doppelpunktfreie stetig differenzierbare Kurven haben wir eine Vor-stellung, was die Lange sein sollte, namlich

λ∗(C) =

1∫

0

‖γ(t)‖dt =

1∫

0

√∑(xj(t))2dt

3. Die Langenmessung sollte verschiebungsinvariant und drehungsinvariant sein

4. Fur disjunkte Mengen, die einen positiven Abstand voneinander haben, sollte die

”Lange“ der Vereinigung gleich der Summe der

”Langen“ sein. (Eingeschrankte Ad-

ditivitat). Wenn man allerdings an zwei Mengen denkt, die zwar disjunkt, aber dochrecht ‘verzahnt’ nahe beieinander liegen, dann scheint fraglich, ob eine Langenmes-sung λ∗(·) auch dafur additiv sein kann.

5. In jedem Fall wurden wir aber erwarten

i) A ⊆ B ⇒ λ∗(A) ≤ λ∗B) (Monotonie)

ii) λ∗(A ∪B) ≤ λ∗(A) + λ∗(B) (Subadditivitat)

iii) λ∗(∞⋃

Ai

)≤

∞∑λ∗(Ai) (Vereinigungsbeschranktheit)

Auf der Grundlage der Axiome gewinnen wir bereits fur einige Mengen konkrete Zahlen-werte. Denken wir z.B. an die Menge Q der rationalen Punkte im Einheitsintervall unddie Menge [0, 1]\Q der irrationalen Punkte. Wenn man Q eine echt positive Lange zuer-kennen mochte, dann kame man in Schwierigkeiten mi der Additivitat. Die Additivitatzusammen mit der Verschiebungsinvarianz impliziert, daß die Menge Q die Lange 0 unddie Menge [0, 1]\Q die Lange 1 bekommen sollte.Die Forderung der Subadditivitat erscheint ziemlich schwach. Die Frage ist, fur wie allge-meine Paare von disjunkten Mengen die Additivitat der Langenmessung garantiert werden

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6.2 : Messbarkeit im Sinne von Caratheodory 67

kann. Eine hochst befriedigende Antwort gibt ein Satz von Caratheodory (1873-1950) ausdem Jahre 1914: Solange man bei Borel’schen Mengen bleibt, gilt nicht nur Additivitat,sondern sogar σ-Additivitat.

Der Beweis ist von einer Art, die vor 100 Jahren neuartig erschien, aber doch wohlwol-lend aufgenommen wurde. Nach dem Vorschlag von Caratheodory definiert man zunachst(fur ein vorgegebenes ρ > 0) eine Mengenfunktion Lρ(·), die zwar so noch nicht als Langen-messung in Frage kommt, aber doch im Limes ρ −→ 0 etwas sehr Brauchbares liefert, ein‘ausseres’ Maß mit bemerkenswerten Eigenschaften.

Caratheodorys Konstruktion: Gegeben A ⊆ Rd und ρ > 0.Wir uberdecken A mit ρ-feinen offenen Mengen Ui so, daß die Summe der Durchmesser∑d(Ui) moglichst klein ist. Das Infimum nennen wir Lρ(A). Lρ(A) wachst, wenn ρց 0.

Der Limes sei mit L∗(A) bezeichnet.Beispiele fur Mengen A ⊆ [0, 1] :

1) A = Q ∩ [0, 1]. Wir legen ein Intervall der Lange ε2n um den rationalen Punkt rn,

wobei r1, r2 . . . eine Abzahlung der Menge A ist. Die Summe der Durchmesser ist = 2ε.Lρ(A) = 0 fur alle ρ.

2) A = Cantor’sches Diskontinuum.Wenn wir k-mal den Prozeß des Herausschneidens vollzogen haben, dann bleiben

2k Teilintervalle der Lange(

13

)kubrig. Die Gesamtlange ist

(23

)k. Die Uberdeckung ist

zulassig fur ρ > 13k . Also

Lρ(A) ≤(

2

3

)kfur ρ >

(1

3

)k, Lρ(A) = 0 fur ρ >

(1

3

)k.

Also gilt Lx(A) = 0 fur die uberabzahlbare Menge A.3) A = [0, 1]. Wir versuchen moglichst sparsam mit ρ-feinen offenen Mengen zu

uberdecken. Es gilt∑

i d(Ui) ≥ 1 fur alle ρ. Der Beweis baut auf die Kompaktheit vonR, oder elementar gesprochen, auf den Satz von Heine-Borel. Das Argument von Borel:Die Summe der Durchmesser der uberdeckenden offenen Mengen kann nicht klein sein.Es reichen schon endlich viele; und wenn man mit endlich vielen Mengen uberdeckt, istdie Summe der Durchmesser mindestens 1.Mit dieser Entdeckung von E. Borel beginnt(nach Meinung vieler Mathematikhistoriker) die moderne Maß- und Integrationstheorie.

4) Fur die Teilmengen A ⊆ R1 wird der Limes ρ → 0 nicht benotigt. L∗(A) kanndirekt als ein Infimum gewonnen werden. A sei z.B. der Graph der Kurve t 7−→ t ·sin 1

t

(t ∈ [0, 1]

). Fur ρ > 0 haben wir Lρ(A) endlich. Aber limLρ(A) = +∞. Die Kurve

hat unendliche Lange.5) Sei [t0, t1] ∋ t 7−→ γ(t) eine stetig differenzierbare doppelpunktfreie Kurve. Man

kann leicht beweisen: L∗(γ(·))

ist das Supremum der Langen von einbeschriebenen Po-lygonzugen. Und das ist in der Tat die Lange im Sinne der klassischen Differential- undIntegralrechnung.

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68 Messbarkeit Integrationstheorie

Definition 6.5 (Ausseres Maß).Eine nichtnegative Funktion µ∗(·) (Wert +∞ erlaubt) auf einer σ-Algebra A∗ heißt einaußeres Maß, wenn sie monoton und vereinigungsbeschrankt ist, d.h. wenn gilt

i) 0 ≤ µ∗(A) ≤ +∞ fur alle A, (‘Erweiterte Positivitat’)

ii) B ⊆ A =⇒ µ∗(B) ≤ µ∗(A), (’Monotonie’)

iii) µ∗(∞⋃

Ak

)≤

∞∑µ∗ (Ak) . (‘Vereinigungsbeschranktheit’)

Unsere Mengenfunktionen Lρ(·) und L∗(·) sind offenbar außere Maße. Sie sind auchtranslationsinvariant. Fur L∗ = limLρ(·) haben wir daruber hinaus:Wenn A1 und A2 positiven Abstand haben, dann gilt L∗ (A1 + A2) = L∗ (A1) + L∗ (A2).Auf diese Eigenschaften von L∗(·) kommen wir spater zuruck. Hier beschaftigen wir unszunachst mit einem ganz allgemeinen außeren Maß. Eine geniale Erfindung von Caratheo-dory ist der Begriff des Zerlegers fur µ∗(·). (Caratheodory gebrauchte die Bezeichnung

”meßbare Menge“; diese Bezeichnung ist aber heutzutage anderweitig vergeben).

Definition 6.6 (Zerleger fur µ∗).

A heißt Zerleger fur das außere Maß µ∗(·), wenn

µ∗(W ) = µ∗(W\A) + µ∗(W ∩ A) fur alle W .

Satz 6.2.1.

Die Gesamtheit A aller Zerleger fur µ∗(·) ist eine σ-Algebra und die Einschrankung µ(·)von µ∗(·) auf A ist ein Maß.

Beweis.

1) Eine Menge A ist schon dann ein Zerleger fur das außere Maß µ∗(·), wenn fur alleW mit µ∗(W ) <∞ gilt

µ∗(W ) ≥ µ∗(W ∩ A) + µ∗(W\A) .

2)Wir zeigen, daß die Gesamtheit A der Zerleger eine Mengenalgebra ist. Offensichtlichgilt

∅ ∈ A,Ω ∈ A und A ∈ A =⇒ Ω\A ∈ A .

Der Nachweis, daß mit A,B ∈ A der Durchschnitt D = A ∩B ein Zerleger ist, erfordertetwas Muhe. Wir zeigen, daß fur alle W mit µ∗(W ) <∞ gilt

µ∗(W\D) = µ∗(W\A) + µ∗(W ∩ A)− µ∗(W ∩D) .

Zu diesem Zweck zeigen wir

(i) µ∗(W\D) = µ∗(W\A) + µ∗(W ∩A)\D)(ii) µ∗(W ∩ A) = µ∗((W ∩ A)\D

)+ µ∗(W ∩D) .

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.2 : Messbarkeit im Sinne von Caratheodory 69

Zum Beweis von (i) wenden wir die Zerlegereigenschaft von A auf W1 : = W\D an,wobei wir bemerken

W1\A = (W\D)\A = W\A ; W1 ∩A = (W\D) ∩A = (W ∩ A)\D .

Zum Beweis von (ii) wenden wir die Zerlegereigenschaft von B auf W2 : = W ∩ A an,wobei wir bemerken

W2\B = (W ∩ A)\(A ∩B) = (W ∩ A)\D ; W2 ∩ B = W ∩D .

3) Seien A1, A2 . . . Zerleger mit

A1 ⊆ A2 ⊆ . . . und A =∞⋃An .

Wir zeigen, daß A ein Zerleger ist, indem wir fur alle W mit µ∗(W ) <∞ zeigen

(i) µ∗(W ) ≥ µ∗(W\A) + µ∗(W ∩An) fur alle n(ii) µ∗(W ∩ A) = limր µ∗ (W ∩ An) .

Die Behauptung (i) ist evident wegen W\A ⊆W ∩An. Zum Nachweis von (ii) zeigen wirzunachst

µ∗(W ∩ An+1) = µ∗(W ∩ An) + µ∗(W ∩ (An+1 − An))

indem wir bemerken

(W ∩ An+1

)∩ An = W ∩An; (W ∩An+1) \An = W ∩ (An+1 − An)

und An ist ein Zerleger. Es folgt

µ∗ (W ∩ An+1) = µ∗ (W ∩A1) + µ∗(W ∩ (A2 −A1))

+ . . .+ µ∗(W ∩ (An+1 − An))

Nun gilt W ∩ A ⊆∞⋃n=1

(W ∩ (An −An−1)

)und wegen der Vereinigungsbeschranktheit

µ∗(W ∩A) ≤∞∑µ∗(W ∩ (An −An−1)

)= lim

nր µ∗ (W ∩ An) q.e.d.

4) Sei W eine beliebige Menge und

µ(A) = µ∗(W ∩A

)fur alle A ∈ A (System der Zerleger) .

Wir zeigen, daß µ(·) ein Maß ist: Seien A,B disjunkte Zerleger. Es gilt dann

(W ∩ (A+B)

)\A = W ∩B,

(W ∩ (A+B)

)∩A = W ∩ A

µ(A+B) = µ(B) + µ(A) .

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70 Messbarkeit Integrationstheorie

Seien A1 ⊆ A2 ⊆ . . . Zerleger und A =∞⋃An. Es gilt

µ(A) = µ∗(W ∩ A

)= limր µ∗ (W ∩ An) = limր µ (An) .

Also ist µ(·) aufsteigend stetig.Damit ist der Satz vollstandig bewiesen.

Aussere Maße und die daraus abgeleiteten Maße sind nur dann interessant, wenn dieσ-Algebra der Zerleger hinreichend reichhaltig ist. Wir werden sehen, dass in unseremFall die offenen Mengen Zerleger sind. Die Herleitung stutzt sich auf die ‘eingeschrankteAdditivitat’ des ausseren Maßes: Fur Mengen mit positivem Abstand voneinander gilt

µ∗(A1 + A2) = µ∗A1 + µ∗A2.

Satz 6.2.2. Ist µ∗(·) ein außeres Maß auf der Gesamtheit aller Teilmengen eines metri-schen Raums

(E, d(·, ·)

)mit

d(A1, A2) > 0 =⇒ µ∗(A1 + A2) = µ∗A1 + µ∗A2.

so ist jede offene Menge G ein Zerleger fur µ∗.Die Einschrankung von µ∗ auf die Borelalgebra ist also ein Maß.

Beweis.

Sei F das Komplement F von G. Wir mussen fur alle W mit µ∗(W ) <∞ zeigen

µ∗(W ) ≥ µ∗(W ∩G) + µ∗(W ∩ F ) .

Fur n = 1, 2, . . . sei Gn =x : dist(x, F ) > 1

n

.

Da jedes Gn positiven Abstand von F hat, haben wir

µ∗(W ) ≥ µ∗ (W ∩Gn) + µ∗(W ∩ F ) ,

Der Satz ist bewiesen, wenn wir zeigen.

µ∗(W ∩G) = limր µ∗ (W ∩Gn) .

Die Subadditivitat sagt µ∗(W ∩G)≤ µ∗(W ∩Gn

)+ µ∗(W ∩ (G−Gn)

).

Wir zeigen, dass zu jedem ε > 0 ein n existiert, sodass

µ∗(W ∩ (G−Gn))< ε.

Das ergibt sich folgendermaßen: Fur jedes n haben Gn und E−Gn+1 positiven Abstand.Wenn namlich x und y Punkte sind mit dist(x, F ) > 1

n, dist(y, F ) ≤ 1

n+1,

dann gilt dist(x, y) ≥ 1n− 1

n+1= 1

n(n+1).

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6.2 : Messbarkeit im Sinne von Caratheodory 71

Die Mengen G2 −G1 , G4 − G3 . . . haben paarweise positiven Abstand. Fur ihreVereinigung R1 gilt

µ∗ (W ∩ R1) = µ∗(W ∩ (G2 −G1))

+ µ∗(W ∩ (G4 −G3))

+ . . .

Dasselbe gilt fur die Mengen G3 −G2 , G5 −G4 , . . . und ihre Vereinigung R2

µ∗ (W ∩ R2) = µ∗(W ∩ (G3 −G2))

+ µ∗(W ∩ (G5 −G4)). . . .

Die Summen konvergieren wegen µ∗(W ) <∞. Wenn n genugend groß ist, dann gilt

µ∗(W ∩ (G−Gn))≤

∞∑

k=n

µ∗(W ∩ (Gk+1 −Gk))< ε.

Caratheodory hat nicht nur das lineare Maß eingefuhrt. Auch sein Vorschlag fur dieDefinition des

”Oberflachenmaßes“ im Rd hat allgemeine Anerkennung gefunden. Ca-

ratheodory konstruiert folgendermaßen.

Weitere Konstruktionen:

Fur eine offene konvexe Teilmenge K des Rd sei d(2)(K) der maximale zweidimensionaleSchatten, d.h. das Maximum der Flachen von orthogonalen Projektionen von K auf einenzweidimensionalen Teilraum des Rd.Wir arbeiten nun mit konvexen K mit Durchmesser < ρ.Eine beliebige Menge A ⊆ Rd soll nun moglichst sparsam mit ρ-feinen konvexen Ki

uberdeckt werden; man konstruiert

L(2)ρ (A) = inf

∑d(2) (Ki) :

∞⋃Ki ⊇ A , d (Ki) < ρ fur alle i

Der aufsteigende Limes L∗(2)(A) = limρց0

L(2)ρ (A) erfullt die Voraussetzungen der beiden

Satze. Die Einschrankung auf die Borelalgebra liefert eine Flachenmessung fur Mengenim Rd. Man sieht leicht, dass fur sich fur ein Rechteck im Rd die klassische Flache er-gibt: Flache = Lange × Breite. Auch fur allgemeinere ‘Flachenstucke’ A, denen man inder klassischen Infinitesimalrechnung einen Flacheninhalt zumisst, liefert CaratheodorysKonstruktion das gewunschte Ergebnis.

F. Hausdorff hat 1919 weitere metrische außere Maße im Rn konstruiert, die in denletzten Jahren im Anschluß an einige Aufsatze von B. Mandelbrot sehr popular gewordensind. Eine sehr schone Darstellung gibt

Falconer, K.: Fractal Geometry, Wiley, 1990.

Hausdorff konstruierte insbesondere fur s > 0

µ(s)ρ (A) = inf

∑(d (Ui)

)s:

∞⋃Ui ⊇ A , d (Ui) < ρ

.

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72 Messbarkeit Integrationstheorie

Der Limes µ(s)(·) = limր µ(s)ρ (·) ist offenbar ein Maß auf der Borelalgebra.

Fur die meisten B hat man µ(s)(B) =∞ oder µ(s)(B) = 0 .Wenn µ(s)(B) <∞, dann gilt offenbar µ(t)(B) = 0 fur alle t > s.Das Infimum der s, mit µ(s)(B) <∞ heißt die Hausdorff-Dimension von B.Man kann in der Tat zeigen, dass die in den Rd eingebeteten k-dimensionalen glattenMannigfaltigkeiten die Hausdorff-Dimension k haben. Fur nichtglatte Mengen B findetman auch nichtganzzahlige Werte der Hausdorff-Dimension.

Hinweis fur Stochastiker:

Der zweidimensionale Graph der eindimensionalen Brown’schen Bewegung hat (fast si-cher) die Dimension 3

2. Diese Brown’schen Pfade im R3 haben (fast sicher) die Hausdorff-

Dimension 2. Die Brown’schen Graphen und die Brown’schen Pfade sind mit Erfolg sehrgenau untersucht worden, nicht nur auf ihre Dimension hin.Zur genaueren Untersuchung dient die folgende Verallgemeinerung des Ansatzes von Haus-dorff.

Konstruktion

Sei h(·) : R+ → R+ eine isotone Funktion mit h(0) = 0. Fur Teilmengen B des Rd

definiert man das Hausdorff-Maß von B bzgl. h(·) als Limes

µ(h)(B) = limρ→0↑ µ(h)

ρ (B) = limρ→0↑ inf

∞∑h(d (Ui)

):

∞⋃Ui ⊇ B , d (Ui) < ρ

.

Bemerke: Das Hausdorff-Maß zur Dimensionsfunktion h(·) hangt monoton von h(·) ab.Je steiler h(·) im Nullpunkt ansteigt, desto großer ist das entsprechende Hausdorff-Maß(fur alle B). Genauer gesagt: Sind h(·) und k(·) Funktionen, so daß fur ein δ gilth(d) ≤ k(d) fur alle d ∈ (0, δ), dann gilt µ(h)(B) ≤ µ(k)(B) fur alle Borel’schen B.

Beispiele

1) Es stellt sich heraus, daß die Brown’schen Pfade im Rn nicht nur fur die Funktiond2 endliches Hausdorff-Maß haben, sondern sogar fur die steiler ansteigende Funktion

h(d) = d2 · log log

(1

d

).

Dieses h(·) liefert eine wirklich genaue Ausmessung der Brown’schen Pfade. Man kannbeweisen : Fur jede Dimension n ≥ 3 gibt es eine Konstante cn, so daß fur fast alleBrown’schen Pfade im Zeitabschnitt [0, T ] gilt

L(h)(Bω[0, T ]

)= T · cn .

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6.2 : Messbarkeit im Sinne von Caratheodory 73

2) In den Dimensionen n = 1 und n = 2 sind die Verhaltnisse etwas anders. Fur dieGraphen der eindimensionalen Brown’schen Bewegung beschreibt

h(d) = d3/2 ·

√log log

1

d

die genaue Hausdorff-Dimension. Es gilt

Lh(Γω([0, T ]

))= c · T fast sicher .

Diese feinen Resultate sind noch nicht sehr alt. Siehe

S.J. Taylor, The measure theory of random fractals, Math. Proc. Cambridge Phil. Soc.100 (1986), S. 383-406.

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74 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

7 Diverse Konstruktionen von Pramaßen

Wir haben zwei Wege kennengelernt, wie man Pramaße gewinnen kann. Beim Cauchy-Integral (und einigen Verwandten) ist die Grundlage der Satz von Dini uber monotoneFolgen von stetigen Funktionen auf einem Kompaktum. Beim Ansatz von Caratheodorywerden ebenfalls topologische Eigenschaften des Grundraums benotigt, wenn man garan-tieren will, dass der Raum der ‘messbaren’ Mengen nicht zu klein ist. Wir behandeln hiernoch weitere Konstruktionen. Ideen der Topologie stehen da zunachst einmal nicht imVordergrund.

7.1 Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea

Wir wollen den Begriff einer messbaren Abbildung verallgemeinern zum Begriff des sto-chastischen Kerns. Bekanntlich ordnet eine messbare Abbildung

(Ω1,A1

) ϕ−→(Ω2,A2

)

jedem Punkt ω1 einen Punkt ω2 = ϕ(ω1) zu. Wir konnen aber auch sagen: ϕ ordnet demPunkt ω1 das δ-Maß δω2 zu, und das in messbarer Weise.Entsprechend legen wir fest: Ein stochastischer Kern ordnet jedem Punkt ω1 ein W-Maßauf

(Ω2,A2

)zu, und das in messbarer Weise. Dabei ist σ-Algebra A, die den Raum

Ω = M(Ω2,A2

)der W-Maße zu einem messbaren Raum macht, diejenige σ-Algebra, die

durch die Auswertungen der Maße in den A2 erzeugt wird.

Definition 7.1.(Ω1,A1

)und

(Ω2,A2

)seien messbare Raume. Eine Abbildung

P :(Ω1,A1

)∋ ω1 7→ P (ω1, ·) ∈M

(Ω2,A2

)

heisst ein stochastischer Kern, wenn P (·, A2) A1-messbar ist fur jedes ist fur jedes A2 ∈ A2.Wir nennen P einen stochastischen Kern von Ω1 nach Ω2, und notieren

(Ω1,A1

) P−→(Ω2,A2

).

Wir betrachten auch die Integrale nichtnegativer A2-messbarer Funktionen f2 bezuglichder W-Maße P (ω1, ·) und benutzen dabei die Notationen

P (ω1, A2) =

∫P (ω1, dω2) · 1A2(ω2) = P ∗(1A2)(ω1)

P (·, f2) =

∫P (·, dω2) · f2(ω2) = P ∗(f2)(·).

Die Abbildung P ∗, die der nichtnegativen A2-messbaren Funktionen f2 die nichtnegativeA1-messbaren Funktionen f1 = P ∗(f2) zuordnet, heisst die Pullbackabbildung zum KernP . Wir bemerken, dass die Pullback-Abbildung monoton stetig ist:

g(1)2 ≤ g

(2)2 ≤ g

(3)2 ≤ . . . =⇒ P ∗( lim ↑ g(n)

2

)= lim ↑ P ∗(g(n)

2 ).

Daraus ergibt sich der

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7.1 : Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea 75

Satz 7.1.1 (Hintereinanderschalten). Gegeben seien stochastische Kerne

(Ω1,A1

) P 12−→(Ω2,A2

),

(Ω2,A2

) P 23−→(Ω3,A3

).

Wir gewinnen einen stochastischen Kern P 13 = P 1

2 P 23 von Ω1 nach Ω3 wenn wir definieren

P 13 (ω1, A3) =

∫P 1

2 (ω1, dω2) ·∫P 2

3 (ω2, dω3) · 1A3(ω3)

=

∫P 1

2 (ω1, dω2) · P 23∗(

1A3

)(ω2) = P 1

2∗(P 2

3∗(

1A3

))

Die Pullback-Abbildungen werden hintereinandergeschaltet: P 13∗(·) = P 1

2∗ P 2

3∗(·).

Beispiel 7.1.1 (Stochastische Matrizen). Es seien I und J abzahlbare Mengen.Eine I × J-Matrix P = (P i

j) heisst eine stochastische Matrix, wenn alle Eintrage nicht-negativ sind und alle Zeilensummen den Wert = 1 haben. Fur jedes i ∈ I ist also P i

(·)eine Wahrscheinlichkeitsgewichtung auf der Menge J . Wir haben hier einen stochastischenKern von I nach J .Wir notieren die nichtnegativen Funktionen f auf der Menge Ω2 = J als J-Spalten, und dienichtnegativen Funktionen g auf der Menge Ω1 = I als I-Spalten. Die Pullback-Abbildungf 7→ g = P ∗(f) ist die Matrizenmultiplikation: gi =

∑j P

ij · f j .

Wenn P eine stochastische Matrix vom Format I ×J ist und Q eine stochastische Matrixvom Format J ×K, dann ist das Matrizenprodukt R = P · Q eine stochastische Matrixvom Format I ×K.Wenn (pi)i eine W-Gewichtung auf I ist

(pi ≥ 0,

∑i pi = 1

), dann liefern die Zahlen

(pi ·P ij)(i,j)∈I×J eine W-Gewichtung auf dem Produktraum I×J. Die Marginalverteilung

auf dem zweiten Faktor J ist das W-Maß mit den Gewichten qj =∑

i pi · P ij .

Notation. Bezeichnet µ das W-Maß mit den Gewichten pi auf I und ν das W-Maß mitden Gewichten qj auf J , dann schreibt man (µ)P∗ = ν.Die Abbildung P∗ : M

(I) → M

(J)

heisst die Pushforward-Abbildung zum Kern P (·, ·).Mit µ⊗ P bezeichnet man das oben konstruierte Maß auf dem Produktraum I × J .

Man bemerke: Wenn alle Zeilen von P gleich sind, P ij = qj dann ist µ ⊗ P das

Produktmaß µ⊗ ν, welches wir beim Satz von Fubini studiert haben.

Den folgenden Satz konnte man als eine Verallgemeinerung des Satzes von Fubini be-zeichnen, obwohl er nichts mit der Vertauschung der Reihenfolge schrittweiser Integrationzu tun hat.

Satz 7.1.2. Sei µ1(·) ein W-Maß auf (Ω1,B1). Zu jedem ω1 ∈ Ω1 sei ein W-MaßP (ω1, dω2) auf (Ω2,B2) gegeben, wobei die Abhangigkeit B1–meßbar ist Es existiertdann ein Wahrscheinlichkeitsmaß

ρ auf (Ω,B) = (Ω1 × Ω2, B1 ⊗σ B2)

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76 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

so, daß fur alle produktmeßbaren f(ω1, ω2) ≥ 0 gilt

∫fdρ =

∫µ1(dω1) ·

∫P (ω1, dω2)f(ω1, ω2) .

Beweis.

Der Beweis ist praktisch identisch mit dem Beweis fur die Existenz des Produktmaßes.Wie dort haben wir nachzuweisen, daß die Ingredienzen zu einem Pramaß νfAnlaß geben.(Das Suffix f erinnert daran, dass wir vorerst nur einen endlichadditiven Inhalt gewinnen.)Wir definieren

ρf (B1 ×B2) =

B1

µ1(dω1)P (ω1, B2)

tritt an die Stelle des”Produktinhalts“

ρf(B1 × B2) =

B1

µ1(dω1) · µ2(B2) = µ1(B1) · µ2(B2) .

Unser νf(·) liefert ein Pramaß auf der Mengenalgebra aller disjunkten Vereinigungen

von Rechtecken. Sei namlich B1 × B2 =∑B

(n)1 ×B(n)

2 , also

1B1×B2(ω1, ·) =∑

n: ω1∈B(n)1

1B

(n)1

(ω1) · 1B(n)1

(·) .

Diese Funktion wird jetzt nicht bzgl. eines festen Maßes µ2(·) sondern bzgl. P (ω1, ·)integriert. Wir erhalten fur jedes feste ω1

1B1(ω1) · P (ω1, B2) =∑

n

1B

(n)1

(ω1) · P(ω1, B

(n)2

).

Integration dieser B1–meßbaren Funktion bzgl. µ1(·) liefert

ρf (B1 × B2) =

B1

µ1(dω1) · P (ω1, B2) =∑

n

B(n)1

µ1(dω1) · P(ω1, B

(n)2

)

=∑

n

ρf

(B

(n)1 × B(n)

2

).

Also ist νf (·) ein Pramaß. Fortsetzung liefert das gewunschte Maß ν(·) auf dem Produktder meßbaren Raume. Wir schreiben ρ = µ1 ⊗ P.

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7.1 : Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea 77

Ausdehnung auf mehrere Faktoren Es seien (Ω0,B0), (Ω1,B1), (Ω2,B2), . . .meßbare Raume. Auf dem Raum der Folgen

Ω = Ω0 × Ω1 × . . . = ω : ω = (ω0, ω1, . . .)

definieren wir σ–Algebren An (fur n = 0, 1, 2, . . .), wie folgt:

An ist die σ–Algebra, die erzeugt ist vom System Sn der Mengen

B0 × B1 ×B2 × . . .× Bn × Ωn+1 × Ωn+2 × . . .

Die Elemente von An nennt man Zylindermengen mit einer Basis in B1⊗σB2⊗σ · · ·Bn :Die Die Elemente von Sn konnte man Zylindermengen mit einer rechteckigen Basisnennen. Eine Funktion f(ω) ist genau dann An–meßbar, wenn der Wert von f nurvon den ersten n + 1 Eintragen der Folge ω = (ω0, ω1, . . .) abhangt, und wenn sie alsFunktion dieser Eintrage produktmeßbar ist.

Sprechweise (Filtrierte messbare Raume).Sei

(Ω,A

)ein messbarer Raum und A0 ⊆ A1 ⊆ A2 ⊆ . . . eine aufsteigende Folge von

Teil-σ-Algebren. Man nennt dann diese Folge eine Filtrierung von(Ω,A

). Ein messbarer

Raum wird zu einem filtrierter messbarer Raum, indem man eine Filtrierung auszeichnet.

Wir haben hier eine recht spezielle Filtrierung von Ω Wir haben eine Folge vonAbbildungen πk : Ω −→

(Ωk,Bk

), wo An von den Abbildungen πk, k ≤ n erzeugt wird.

Bemerke: Die Vereinigung Af =∞⋃

An ist eine Mengenalgebra uber Ω; Af ist aber imallgemeinen keine σ–Algebra. (Das Suffix f steht fur finit).

Bemerke Fur jedes n ∈ N sei µn ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf An. Die Folge(µn)n sei vertraglich in dem Sinne, daß µn+1 eine Fortsetzung von µn ist. Die Folgeliefert dann einen normierten Inhalt auf Af . Dieser ist im Allgemeinen kein Pramaß.Wir prasentieren nun aber eine interessante Konstruktion, die auf ein Pramaß fuhrt. DieseKonstruktion fuhrt zu einem beruhmten Satz von C. Ionescu–Tulcea (1949).

Inhalte zu einer Folge von stochastischen Kernen

Gegeben seien stochastische Kerne

P1 : (Ω0, B0) −→ (Ω1,B1)

P2 : (Ω0 × Ω1, B0 ⊗σ B1) −→ (Ω2,B2)

. . .

Pn : (Ω0 × . . .× Ωn−1, B0 ⊗σ . . .⊗σ Bn−1) −→ (Ωn, Bn)

. . .

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78 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

Fur jedes Wahrscheinlichkeitsmaß µn−1 auf B0 ⊗σ . . .⊗σ Bn−1 gewinnen wir mit derKonstruktion von oben ein Wahrscheinlichkeitsmaß

µn = µn−1 ⊗ Pn auf B0 ⊗σ . . .⊗σ Bn .

Wir identifizieren nun alle diese Maße µn mit Maßen auf den entsprechend grobenσ–Algebren An uber Ω. Die Konstruktion

µk 7−→ µk+1 := µk ⊗ Pk+1

ist dann also als eine Fortsetzung des Maßes µk auf Ak zu einem Maß µk+1 auf derverfeinerten σ–Algebra Ak+1 zu verstehen. Zu jedem beliebigen µk erhalten wir

µk+1 = µk ⊗ Pk+1 auf Ak+1

µk+2 = µk+1 ⊗ Pk+2 = µk ⊗ Pk+1 ⊗ Pk+2 auf Ak+2

. . .

und somit einen Inhalt ρ(µk)(·) auf Af =∞⋃

An welcher auf Ak mit µk ubereinstimmt.

Satz 7.1.3 (Satz von Ionescu–Tulcea (1949)).Fur jedes µk auf Ak ist der eben mit Hilfe der Folge von Kernen (Pn)n konstruierte

Inhalt ρ(µk))(·) ein Pramaß auf der Mengenalgebra Af =∞⋃

An.

Beweis. 1. Wir mussen zeigen, daß fur jede absteigende Folge A1 ⊇ A2 ⊇ . . . mit

limnց ρ(µk)(An) > 0 der Durchschnitt

∞⋂An nicht leer ist.

2. Es genugt, dies fur µk von spezieller Art zu zeigen, fur die µk namlich, die aufAk nur die Werte 1 und 0 annehmen konnten, das sind die δ–Maße zu einem

”Anfangsstuck“

ω(k) = (ω0, ω1, . . . , ωk) .

Wir bezeichnen diese speziellen Inhalte mit ρ(ω(k))(·). Dies genugt deshalb, weil furjedes µk auf Ak gilt

ρ(µk)(·) =

∫dµk(ω

(k)) · ρ(ω(k))(·) .

Der Inhalt ρ(µk) ist eine konvexe Mischung der Inhalte ρ(ω(k)).

3. Nach Konstruktion gilt

ρ(ω(k))(·) =

∫P (ω(k), dωk+1) · ρ(ω(k), ωk+1)(·) .

Auf die Maße P (ω(k), ·) konnen wir jetzt den Satz von der monotonen Konvergenzanwenden.

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7.1 : Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea 79

4. Sei A1 ⊇ A2 ⊇ . . . mit An ∈ An (o.B.d.A.). Wenn fur ein Anfangsstuck ω(k)

gilt limnց ρ(ω(k)(An) > 0, dann existiert ωk+1 mit lim

nց ρ(ω(k), ωk+1)(An) > 0,

denn

0 < limnց ρ(ω(k))(An) = lim

nց∫P (ω(k), dωk+1) · ρ(ω(k), ωk+1)(An)

5. Es existiert also eine unendliche Fortsetzung ω von ω(k) :

ω =(ω(k), ωk+1, ωk+2, . . .

)= (ω0, ω1, . . . , ωk, ωk+1, ωk+2, . . .) ,

so daß fur jeden Abschnitt ω(m) von ω gilt

limnց ρ(ω(m), An) > 0 .

6. Fur die gerade konstruierte Fortsetzung ω gilt ω ∈∞⋂An .

Ware namlich ω /∈ An, dann ware auch das Anfangsstuck ω(n) von ω nichtin An; denn die Frage, ob ein ω in An ∈ An liegt, wird allein aufgrund desAnfangsstucks der Lange n entschieden.

7. Ist An ∈ An eine absteigende Folge von Mengen, sodass fur irgend ein ω(k) gilt

limnց ρ(ω(k))(An) > 0

dann gilt⋂An 6= ∅. Es existiert dann namlich eine Fortsetzung ω ∈ Ω =

∏Ωn des

Anfangsstucks ω(k), welche im Durchschnitt aller An liegt.

Beispiel 7.1.2 (Unendliche Produktmaße). Es seien(Ω1,A1, µ1

),(Ω2,A,µ2

), . . .

W-Raume. Auf dem unendlichen Produkt(Ω,A

)=(∏

Ωi,⊗

Ai

)existiert dann

genau ein W-Maß µ, sodass fur alle Zylindermengen mit rechteckiger Basis gilt

µ(A1 × A2 × · · · ×An × Ωn+1 × · · ·

)= µ1(A1) · µ2(A2) · · · · · µn(An).

Sei beispielsweise Ωi = 0, 1 fur alle i und µi(1) = 1/2 = µi(0). Ω ist dann dieMenge aller unendlichen 0− 1-Folgen, und fur jedes endliche ‘Wort’ δ im Alphabet 0, 1gilt

µ(ω : ω1 = δ1, . . . , ωn = δn

)= 2−n.

Die Abbildung ω 7−→ χ(ω) =∑ωn · 2−n bildet das Maß µ auf das Lebesgue-Maß uber

[0.1] ab.— Wir haben so eine Konstruktion der uniformen Verteilung, wo der Beweis derσ-Additivitat nicht explizit von der Kompaktheit des Einheitsintervalls Gebrauch macht.

Beispiel 7.1.3. Gegeben sei ein Wurzelbaum ohne Blatter, bei welchem von jedem Knotenhochstens abzahlbar viele Kanten ausgehen. Die vom Knoten i in der Tiefe n ausgehendenKanten seien mit Zahlen p

(n)ij ≥ 0 beschriftet, sodass

∑j p

(n)ij = 1. Es existiert dann genau

ein W-Maß µ auf der Menge Ω der von der Wurzel w ausgehenden unendlichen Pfade,sodass fur jeden Knoten i in der Tiefe n gilt µ

ω : ω geht durch i

= p

(0)wi1·p(1)i1i2· · · · p(n−1)

in−1i,

wo i1, . . . , in−1 die Vorgangerknoten von i sind.

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80 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

7.2 Regulare Maße

Wir bauen im Folgenden ein Argument fur die σ–Additivitat eines Inhalts auf eine Be-griffsbildung, welche an die Kompaktheit erinnert. Die Begriffsbildung unterscheidet sichvon der genuin topologischen Begriffsbildung der Kompaktheit insofern, als nur abzahlba-re Mengenoperationen ins Spiel kommen. Ausserdem spielt Punktetrennung keine Rolle.

Die Pramaßeigenschaft eines endlichen Inhalts ist sehr leicht hinzuschreiben; wir habenden

Satz Ein endlicher Inhalt ρ(·) auf einer Mengenalgebra ist genau dann ein Pramaß,wenn

A1 ⊇ A2 ⊇ . . .

∞⋂An = ∅ =⇒ lim ↓ ρ(An) = 0 .

Anders gesagt:

A1 ⊇ A2 ⊇ . . . lim ↓ ρ(An) 6= 0 =⇒∞⋂An 6= ∅ .

Um zu beweisen, daß ein Inhalt ein Pramaß ist, muß man also fur gewisse absteigendeFolgen von Mengen zeigen, daß sie einen nichtleeren Durchschnitt haben. Eine Aussagedieser Art ist aus der Theorie der Kompaktheit bekannt, namlich

Satz Wenn eine Familie abgeschlossener Teilmengen eines kompakten Raums dieendliche Durchschnittseigenschaft besitzt, dann hat sie einen nichtleeren Durchschnitt.

Wir lassen zunachst einmal alle Topologie beiseite und definieren

Definition Ein Mengensystem K uber einer abstrakten Grundmenge Ω heißt einσ–Kompaktheitssystem, wenn jedes abzahlbare Teilsystem von K, in welchem je endlichviele einen nichtleeren Durchschnitt haben, insgesamt einen nichtleeren Durchschnitt hat.Anders gesagt

K ist σ–Kompaktheitssystem ⇐⇒def∀ (Cn)n

(∞⋂Cn = ∅

)y

(∃ N :

N⋂Cn = ∅

).

Bemerke Wenn K ein σ–Kompaktheitssystem ist, dann auch die Gesamtheit allerabzahlbaren Durchschnitte von K–Mengen.

Beispiel Uber dem Rd ist das System aller beschrankten abgeschlossenen Rechteckeein σ–Kompaktheitssystem. Das Beispiel hebt hervor, daß zunachst nicht gefordert ist,daß K gegenuber (endlicher) Vereinigungsbildung abgeschlossen ist.

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7.2 : Regulare Maße 81

Lemma Wenn K ein σ–Kompaktheits–System ist, dann ist auch das System allerendlichen Vereinigungen von K–Mengen ein σ–Kompaktheitssystem.

Beweis. 1. Seien K(1), K(2), . . . Mengen der Gestalt

K(1) = C(1)1 ∪ C

(1)2 ∪ . . .∪ C

(1)m(1)

K(2) = C(2)1 ∪ C

(2)2 ∪ . . .∪ C

(2)m(2)

. . .

mit C(n)m ∈ K und K(1) ∩K(2) ∩ . . . ∩K(n) 6= ∅ fur alle n.

Wir zeigen∞⋂K(n) 6= ∅, indem wir zeigen, daß es k1, k2, . . . gibt mit

C(1)k1∩ C(2)

k2∩ . . . ∩ C(n)

kn6= ∅ fur alle n .

2. Zum Beweis ziehen wir ein Diagramm heran.

......................................................................................................................................................................................................................................................................

0 1 2 3 4 5

0

1

2

3

4

. . .

. . .

Die m(n) Punkte uber dem Abszissenpunkt n resprasentieren die Mengen C(n)1 , . . . , C

(n)m(n).

Wenn C(1)k1∩C(2)

k2∩ . . .∩C(n)

kn6= ∅, dann verbinden wir die entsprechenden aufein-

anderfolgenden Punkte und erhalten ein Pfadstuck der Lange n. Aus der AnnahmeK(1) ∩ . . . ∩K(n) 6= ∅ folgt, daß es mindestens einen Pfad der Lange n gibt. (Be-weis!). Daraus folgern wir, daß es einen unendlich langen Pfad gibt: Schauen wiruns die Pfadstucke der Lange n an, die man unendlich weit verlangern kann. Gibtes solche? Es gibt nur endlich viele Pfadstucke der Lange n. Wenn man keinesunendlich weit verlangern konnte, dann kame man uberhaupt nicht uber eine end-liche Lange hinaus. Mindestens eines dieser Pfadstucke kann man zu solch einemPfadstuck der Lange n+ 1 fortsetzen, den man beliebig weit fortsetzen kann usw.Diese Fortsetzungsprozedur fuhrt zu einem unendlich langen Pfad.

Damit ist das Lemma bewiesen.

Satz Sei ρ(·) ein endlicher Inhalt auf der Mengenalgebra Af uber Ω. ρ(·) istjedenfalls dann ein Pramaß wenn es ein σ–Kompaktheitssystem K ⊆ Af gibt, so daß

ρ(A) = supρ(C) : C ⊆ A, C ∈ K fur alle A ∈ Af .

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82 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

Beweis. Sei A1 ⊇ A2 ⊇ . . . mit lim ↓ ρ(An) > ε > 0. Wahle C1, C2, . . . ∈ K mit

Cn ⊆ An und ρ(An)− ρ(Cn) < ε2n .

Wir haben dann

ρ(A1 ∩A2)− ρ(C1 ∩ C2) <ε2

+ ε4, . . .

ρ(A1 ∩A2 ∩ . . . ∩ An)− ρ(C1 ∩ . . . ∩ Cn) < ε fur alle n .

Dies zeigt ρ(C1 ∩ . . . ∩ Cn) > 0 fur alle n, C1 ∩ . . . ∩ Cn 6= ∅ fur alle n. Da die CnElemente eines σ–Kompaktheitssystems sind, haben wir

∞⋂An ⊇

∞⋂Cn 6= ∅ .

Damit ist gezeigt

A1 ⊇ A2 ⊇ . . .∞⋂An = ∅ =⇒ lim ↓ ρ(An) = 0 .

Beispiel Sei F (·) eine rechtsstetige isotone Funktion mit

limT→∞

(F (T )− F (−T )) <∞ .

Dem halboffenen Intervall (a, b] ordnen wir zu:

ρ((a, b]) = F (b)− F (a) .

1. Jeder endlichen disjunkten Vereinigung von halboffenen Intervallen ordnen wir dieSumme der ρ(·)–Werte zu und erhalten damit bekanntlich einen endlichen Inhaltauf der von den halboffenen Intervallen erzeugten Mengenalgebra.

2. Wir erhalten einen Inhalt ρ(·) auf der von allen Intervallen erzeugten Mengenal-

gebra A, wenn wir allen Intervallen einen Inhalt zuordnen, wie folgt

ρ([a, b]) = F (b)− F (a− 0) = limn→∞

↓ ρ((a− 1

n, b])

ρ((a, b)) = F (b− 0)− F (a) = lim ↑ ρ((a, b− 1

n

])

ρ([a, b)) = F (b− 0)− F (a− 0) ,

und diese Mengenfunktion auf disjunkte Vereinigungen additiv fortsetzen.

3. Die Gesamtheit K aller Mengen, die sich als endliche Vereinigung kompakter In-tervalle darstellen lassen, ist ein σ–Kompaktheitssystem K ⊆ A. ρ(·) hat offenbardie Approximationseigenschaft bezuglich K. Also ist ρ(·) ein Pramaß.

Man kann also ρ in eindeutiger Weise zu einem Maß µ(·) auf der Borelalgebrauber R fortsetzen. Dieses Maß heißt das Borelmaß zu der Verteilungsfunktion

F (·). In derselben Weise erhalt man eine eineindeutige Beziehung zwischen den lokalend-lichen Borelmaßen auf R und den (bis auf eine additive Konstante eindeutig bestimm-ten) Verteilungsfunktionen. Die Verteilungsfunktionen sind die rechtsstetigen isotonenFunktionen.

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7.2 : Regulare Maße 83

Hinweis Das Integral f 7→∫f dµ bezeichnet man traditionellerweise mit f 7→

∫f dF ;

man nennt es das Lebesgue–Stieltjes–Integral zur Verteilungsfunktion F (·).Wenn F (·) totalstetig ist, d.h. wenn p(·) ≥ 0 existiert mit F (b)−F (a) =

∫ bap(y) dy

fur alle a < b, dann schreibt man∫f dF =

∫f(y) · p(y) dy .

Damit ist der Anschluß an die Bezeichnungsweise der Anfangervorlesung hergestellt.

Definition (Straffheit)Es sei K ein σ–Kompaktheitssystem uber der Menge E, K sei gegenuber endlicherVereinigungsbildung und abzahlbarer Durchschnittsbildung stabil.

1. Ein endliches Maß µ auf einer K umfassenen σ–Algebra A heißt straff (imEnglischen tight), wenn

µ(E) = supµ(K) : K ∈ K .

2. Eine Menge A ∈ A heißt regular fur µ, wenn

(a) µ(A) = supµ(K) : K ⊆ A, K ∈ K .

(b) µ(E − A) = supµ(K) : K ⊆ E − A, K ∈ K .

3. Das Maß µ heißt regular, wenn alle A ∈ A regular sind.

Satz Sei K ein σ–Kompaktheitssystem, welches gegen endliche Vereinigungsab-bildung und abzahlbare Durchschnittsbildung stabil ist und µ(·) ein straffes Maß aufA ⊇ K. Die Gesamtheit R aller regularen Mengen ist dann eine Teil–σ–Algebra von A.

Beweis. 1. E ∈ R wegen der Straffheit. Mit A ∈ R ist auch E − A ∈ R. Wirmussen also nur noch zeigen

A1, A2, . . . ∈ R =⇒∞⋃An ∈ R .

2. Zu A1, A2, . . . ∈ R und ε > 0 wahlen wir

Kn ⊆ An, Kn ∈ K mit µ(An −Kn) <ε

2n

Ln ⊆ E −An, Ln ∈ K mit µ((E −An)− Ln) <ε

2n.

Wir haben

µ

(∞⋃An −

∞⋃Kn

)≤

∞∑µ(An −Kn) < ε

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84 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

und fur ein geeignets N µ

(∞⋃An −

N⋃Kn

)≤ 2ε.

Auf der anderen Seite∞⋂Ln ⊆ E −

∞⋃An

µ

((E −

∞⋃An

)−

∞⋂Ln

)< ε .

DaN⋃Kn ∈ K und

∞⋂Ln ∈ K haben wir

∞⋃An ∈ R.

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7.3 : Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen Raumen 85

7.3 Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen Raumen

Ein polnischer Raum ist ein vollstandig metrisierbarer Raum mit abzahlbarer Basis.

Satz 7.3.1 (Ulam’s Theorem).Jedes endliche Borelmaß auf einem polnischen Raum ist regular (bzgl. des Systems allerkompakten Mengen).

Beweis. Sei d(·, ·) eine Metrisierung, bzgl. welcher E vollstandig ist. µ sei einendliches Borelmaß.

1. Um zu zeigen, daß µ straff ist, mussen wir zu jedem ε > 0 eine abgeschlossenetotalbeschrankte Menge Kε finden, so daß

µ(E −Kε) < ε .

Sei x1, x2, . . . eine uberall dichte Menge und

B

(xn,

1

m

)=

y : d(xn, y) ≤

1

m

(”abgeschlossene Kugel“)

Fur jedes feste m gibt es ein n(m), so daß

µ

E −n(m)⋃

i=1

B

(xi,

1

m

)

2m.

Die Menge

Kε =

∞⋂

m=1

n(m)⋃

i=1

B

(xi,

1

m

)

ist abgeschlossen und totalbeschrankt.

µ(E −Kε) <ε

2+ε

4+ . . . = ε .

2. Das System R aller regularen Mengen ist eine σ–Algebra. Aus der Straffheit folgttrivialerweise, daß zu jeder abgeschlossenen Menge F eine kompakte Teilmengeexistiert, deren Maß um hochstens ε kleiner ist. Man nehme F∩Kε. Um zu zeigen,daß R die gesamte Borelalgebra ist, mussen wir nur zeigen, daß es zu jedem offenenU eine Folge abgeschlossener Teilmengen F1, F2, . . . gibt mit µ(F1∪F2∪. . .∪Fn) ↑µ(U).

Sei F = E − U und Fn =x : d(x, F ) ≥ 1

n

. Die Folge leistet das Verlangte.

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86 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

Satz (Metrisierung der schwachen Konvergnz)Bezeichne M1(E) die Menge aller Wahrscheinlichkeitsmaße auf dem polnischen Raum(E, d(·, ·)). Fur eine Folge µn ∈M1(E) und µ ∈M1(E) sind die folgenden Eigenschaftenaquivalent

1.∫fdµn rightarrow

∫fdµ fur alle beschrankten stetigen f

2. Der Prohorov–Abstand (siehe oben) konvergiert nach 0

distPr(µn, µ) → 0

3. ∀ α, β > 0 ∃ N : ∀ n ≥ N ∀ B borelsch µ(Bα) ≥ µn(B)− β .

(ohne Beweis !)

Satz (Gleichmaßige Straffheit)Eine Familie µα : α ∈ I, µα ∈M1(E), ist genau dann bedingt kompakt, wenn

∀ ε > 0 ∃ Kε kompakt ∀α µα(E \Kε) < ε .

(ohne Beweis !)

Satz (Existenz regularer bedingter Wahrscheinlichkeiten)Gegeben seienB, eine abzahlbar erzeugte σ–Algebra uber dem Grundraum E

K, ein σ–Kompaktheitssystem, stabil gegenuber∞⋂

undN⋃

µ, ein K–regulares Wahrscheinlichkeitsmaß auf B

A, eine beliebige Teil–σ–Algebra von B.

1. Es existiert dann ein stochastischer Kern

P (x, dx) : (E, A) → (E,B) ,

so daß fur alle µ–integrablen f

E(f | A) =

∫P (·, dx)f(x) µ–fastuberall .

2. Man kann die Wahrscheinlichkeitsmaße P (x, ·) K–regular wahlen.

Beweis. 1. Sei Bf eine abzahlbare Mengenalgebra uber E, welche die σ–AlgebraB erzeugt.

Wahle fur jedes B ∈ Bf eine Folge (Kn)n = (Kn(B))n ∈ K, so daß

K1 ⊆ K2 ⊆ . . . ⊆ B und µ(Kn(B))ր µ(B) .

Die Gesamtheit aller dieser Kn(B) und auch die Gesamtheit aller endlichen Durch-schnitte dieser Kn(B) ist ein abzahlbares σ–Kompaktheitssystem Kf .

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7.3 : Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen Raumen 87

2. Fur jedes B ∈ Bf und jedes K ∈ Kf wahlen wir eine Version der bedingtenErwartung

gB(·) = E(1B | A) µ–fastsichergK(·) = E(1K | A) µ–fastsicher

Es gilt

g∅ = 0 , gE(X) = 1 fur µ–fast alle x

B1 +B2 = B =⇒ gB1(x) + gB2(x) = gB(x) fur µ–fast alle x .

Fur jedes B ∈ Bf und die dazu gewahlte Folge (Kn(B))n

gK1(B)(x) ≤ gK2(B)(x) ≤ . . . lim ↑ gKn(B)(x) = gB(x) fur µ–fast alle x .

3. Fur jedes x, welches zu keiner der abzahlbar vielen Ausnahmemengen gehort, istBf ∋ B 7−→ gB(x) ein normierter Inhalt auf Bf .

Es handelt sich sogar um ein Pramaß; denn, wenn

B1 ⊇ B2 ⊇ . . . limjց gBj

(x) > 0 ,

dann existieren K1 ⊇ K2 ⊇ . . . ∈ Kf mit

limց gKj(x) > 0 , also

j

Kj 6= ∅ .

Fur x in der Ausnahmemenge wahlen wir irgendein regulares Pramaß auf Bf , in

A–meßbarer Weise (z.B. konstant = µ ).

4. Die eindeutige Fortsetzung des so gewonnenen Pramaßes (fur jedes x) bezeichnen

wir mit P (x, ·). Fur jedes B ∈ Bf ist P (x, B) A–meßbar. Die Gesamtheit

aller B, fur welche P (x, B) A–meßbar ist, ist eine σ–Algebra. Wir haben alsotatsachlich einen stochastischen Kern P (x, ·) : x ∈ E.

5. Dies ist eine Version des gesuchten stochastischen Kerns der regularen bedingtenWahrscheinlichkeit. Jedes P (x, ·) ist regular; denn nach Konstruktion ist jedesB ∈ Bf regular fur P (x, ·) bzgl. Kf . Die Gesamtheit der B, fur welche P (x, ·)regular ist bzgl. K ist eine σ–Algebra nach dem Satz von oben.

Als Anwendung des Existenzsatzes gewinnen wir leicht den

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88 Diverse Konstruktionen von Pramaßen Integrationstheorie

Satz (Desintegration von Maßen auf einem polnischen Raum)µ sei ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem polnischen Raum (E,B). ϕ sei eine borel-

meßbare Abildung ϕ : (E,B) → (Ω, A). µ bezeichne das Bildmaß µ = (µ)ϕ∗.Es existiert dann ein Ubergangskern

P (ω, dx) : (Ω, A) → (E,B) ,

so daß fur alle A ∈ A∫

A

dµ(ω) · P (ω, dx) = 1x:ϕ(x)∈A · ν(dx) .

Beweis. Man wende den vorigen Satz an auf die von ϕ erzeugte σ–Algebra x : ϕ(x) ∈ A : A ∈ A = B.Man erhalt eine meßbare Abbildung

Ψ : (E, B) → M1(E) .

Dies kann man schreiben (”Hebungssatz“)

Ψ(x) = Φ(ϕ(x)) .

Φ(·) ordnet den Punkten ω Wahrscheinlichkeitsmaße auf (E,B) zu. Φ(·) ist diegesuchte Desintegration.

Wir benutzten das

Lemma (”Hebungssatz“)

Sei X : (Ω,A) → (F,C) meßbar mit (F, d(·, ·)) polnisch.Bezeichne A die von ϕ : (Ω,A) → (Ω′,A′) erzeugte σ–Algebra. Genau dann, wenn

X A–meßbar ist, gibt es eine meßbare Abbildung Y : (Ω′,A′) → (F,C), so daß

X(ω) = Y (ϕ(ω)) .

Beweis des Hebungssatzes Jede A–meßbare F–wertige Zufallsgroße X kannman gewinnen als Grenzwert einer Folge von Zufallsgroßen Xn, welche nur abzahlbarviele Werte annehmen. Offenbar existieren Yn mit Xn = Yn(ϕ). Diese Yn konvergierenuberall gegen das gesuchte Y . Beachte, daß der Beweis nicht auf irgendein Maß Bezugnimmt.

(Ω) (Ω′,A′)

(F,C)

X Y

ϕ-

..

.

.............................................................................................................................

............

..

.

........

...........

...........

...........

...........

......................

.

.

..

.

.

.

.

.

.

.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

7.3 : Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen Raumen 89

Beispiel Sei ν die Gleichverteilung auf der zweidimensionalen Einheitsspare, d.h.das Oberflachenmaß dividiert durch 4π. Wahle ein Paar gegenuberliegender Punkte(”Nordpol“ und

”Sudpol“). θ bezeichne den Breitenkreis θ ∈ (−π/2,+π/2), ϕ den

Meridian, gemessen von einem gewahlten Nullmeridian aus, −π < ϕ < +π. Gesucht istdie bedingte Verteilung auf dem Meridian x : ϕ(x) = ϕ0.

Die bedingten Verteilungen sind totalstetig bzgl. dθ mit der Dichte 12

cos θ · dθ. Inder Tat gilt

ν(x : ϕ(x) ∈ (ϕ0, ϕ0 + ∆ϕ), θ(x) ∈ (θ0, θ0 + ∆θ)) =1

4π·∆ϕ · cos θ0 ·∆θ0 .

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90 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

8 Die Integration von Differentialformen

Das Kurvenintegral∫C f · dg wurde schon fruher fur eine recht allgemeine Situation er-

klart. Damals war C eine rektifizierbare Kurve in einem metrischen Raum; f war stetigund g war Lipschitz-stetig. Wir wollen nun auch mehrdiminsionale ‘Bereichsintegrale’ dis-kutieren wie beispielsweise

∫B f · dg1∧ dg2. Wir behandeln den Fall, wo B ein gerichteter

2-dimensionaler Bereich auf einer glatten Mannigfaltigkeit ist, f stetig und g1, g2 stetigdifferenzierbar. Ein Beispiel ware etwa

∫Bf · dr ∧ dφ, wo r, φ die Polarkoordinaten im

geschlitzen R2 sind.Bei diesen Integralen ist der Integrationsbereich B ein orientierter Bereich — wir

deuten den Unterschied zu den bisher betrachteten Integrationsbereichen B ∈ B (Borel-algebra) durch die Notation B an. Auch das Symbol ∧ fur das sog. Dach-Produkt nimmtBezug auf die Idee der Orientierung, den wir zunachst im einfachsten Fall diskutierenwollen. Die große Bedeutung der Orientierung wird sich erst spater zeigen, wenn wir nichtnur uber gerichtete Bereiche B, sondern auch uber ihre Rander ∂B integrieren.

8.1 Orientierte affine Raume

Definition 8.1 (Orientierte Vektorraume).Ein n-dimensionaler reeller Vektorraum V wird zu einem orientierten Vektorraum

(V, or

),

indem man fur jede Basisvj : j ∈ J

festlegt, fur welche Anordnungen der Indexmenge

J die aufgezahlte Basis vj1, . . . , vjn positiv orientiert ist, und fur welche Aufzahlungensie negativ orientiert ist. Bei dieser Festlegung ist zu beachten, dass zwei aufgezahlteBasen genau dann gleichgerichtet sind, wenn die Matrix des Basiswechsels eine positiveDeterminante besitzt.

Es gibt offenbar genau zwei Orientierungen eines endlichdimensionalen reellen Vek-torraums. Es genugt, fur eine einzige aufgezahlte Basis festzulegen, ob sie positiv odernegativ orientiert ist. Eine gerade Permutation der Elemente einer positiv aufgezahltenBasis erzeugt eine positiv aufgezahlte Basis.

Zur Notation: Wenn Indexmenge J angeordnet (oder ‘aufgezahlt’) ist, dann deutenwir das dadurch an, dass wir eine kalligraphischen Buchstaben J benutzen. Fur eineangeordnete Basis

vj : j ∈ J

eines orientierten Vektorraums (V, or) schreiben wir

or(J ) = +1, falls die Anordnung der Basiselemente der Orientierung or entspricht, an-dernfalls or(J ) = −1. Zur Orientierung des Vektorraums V gehort eine Orientierungdes Dualraums V ∗. Wir legen namlich fest, dass eine Orientierung die aufgezahlte Basisvj : j ∈ J

von V genau dann als eine positiv gerichtete Basis anerkennt, wenn sie die

ebenso aufgezahlte duale Basisℓj : j ∈ J

von V ∗ als positiv gerichtet anerkennt.

Definition 8.2 (Gerichtete Wurfel).Der Einheitswurfel zur Basis

vj : j ∈ J

des Vektorraums V ist die Menge

W =v : v =

∑bj · vj mit 0 ≤ bj ≤ 1 fur alle j ∈ J

⊂ V.

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8.1 : Orientierte affine Raume 91

Hinweis: In alteren Lehrbuchern nennt man die Einheitswurfel Parallelotope; von Ein-heitswurfeln spricht man da nur, wenn die Basis eine Orthonormalbasis in einem euklidi-schen Vektorraum ist. Unsere Vektorraume hier haben keine euklidische Struktur.Man konnte unsere Beschreibung eines Einheitswurfels W als die Beschreibung als einkartesisches Produkt von Intervallen bezeichnen.

Eine bequeme Beschreibung von W ist auch die mittels der dualen Basis. Die dualeBasis

ℓj : j ∈ J

nennen wir auch die lineare Koordinatisierung zur gegebenen Basis.

Fur v ∈ V heisst ℓj(v) die j-te Koordinate des Vektors v. Es gilt

W =v : 0 ≤ ℓj(v) ≤ 1 fur alle j ∈ J

=⋂

j∈J

v : ℓj(v) ∈ [0, 1]

.

Das J-Tupel der Linearformenℓj : j ∈ J

deutet man gerne als eine lineare Bijekti-

on von V auf den Vektorraum RJSp. ℓ

j(v) ist der j-te Eintrag in der Spalte zu v. DerVektorraum RJ hat die Struktur eines Produktraums. Der Einheitswurfel ist das volleUrbild des ‘Rechtecks’ [0, 1]× [0, 1]×· · ·× [0, 1]. Ein Einheitswurfel wird zu einem gerich-teten Einheitswurfel, indem man eine Aufzahlung der Kanten vj festlegt, indem man alsodie Indexmenge J zu einer angeodneten Indexmenge J macht. Wenn der Vektorraum Vorientiert ist, dann kann ein gerichteter EinheitswurfelW entweder gleichgerichtet zur Ori-entierung des umgebenden Raums V sein, also positiv gerichtet oder aber entgegengesetztgerichtet. In einem orientierten Vektorraum kann man somit zwischen positiv gerichtetenund negativ gerichteten Wurfeln unterscheiden.

Affine Raume und affine Koordinaten

Wir werden auch den Begriff eines gerichteten Wurfels in einem reellaffinen Raum benoti-gen. Zuerst erinnern wir an einige Definitionen und Begriffsbildungen aus der Anfan-gervorlesung. Ein affiner Raum ist, salopp gesprochen, ein reeller Vektorraum ohne einenals Nullpunkt ausgezeichneten Punkt. Eine ordentliche Definition ist die folgende

Definition 8.3. Ein reellaffiner Raum ist eine Menge L, auf welcher ein reeller Vektor-raum V einfach transitiv wirkt. Die Wirkung des Vektors v ∈ V auf die Punkte P ∈ Lnennt man die Translation um v. Das Bild von P vermoge der Translation bezeichnetman mit Q = P + v.

Definition 8.4. Eine Funktion a(·) auf dem affinen Raum(L, V

)heisst eine affine Funk-

tion, wenn eine Linearform ℓ ∈ V ∗ existiert, sodass a(P+v)−a(P ) = ℓ(v). Die Linearformℓ heisst der Zuwachs von a(·). Im Hinblick auf spatere Verallgemeinerungen bezeichnenwir den Zuwachs einer affinen Funktion a(·) mit da.

Definition 8.5. Ein affines Koordinatensystem auf dem n-dimensionalen affinen Raum(L, V

)ist eine Familie affiner Funktionen

xj(·) : j ∈ J

, fur welches die Familie der

Zuwachse eine Basis von V ∗ ist.

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92 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Man kann es auch anders ausdrucken, wenn man bedenkt, dass der Raum aller affinenFunktionen ein (n+1)-dimensionaler Vektorraum ist. Das J-Tupel

xj(·) : j ∈ J

ist eine

affine Koordinatisierung von L, wenn die xj(·) zusammen mit der konstanten Funktion 1eine Basis dieses (n + 1)-dimensionalen Vektorraums ergeben. Jede affine Funktion a(·)besitzt genau eine Darstellung a(·) = a0 +

∑j∈J aj · xj(·). Fur die Zuwachse ergibt sich

da =∑

j∈J aj · dxj .

Notation. Sindyi(·) : i ∈ I

und

xj(·) : j ∈ J

affine Koordinatensystem, so existiert

eine I × J-Matrix A, welche die Zuwachse linear transformiert dyi =∑

j∈J aij · dxj . Die

I × J-Matrix A heisst die Matrix des Koordinatenwechsels. Die Eintrage bezeichnet manaij = ∂yi

∂xj .

Bemerke: Zu einem affinen Koordinatensystem gibt es genau einen Punkt P0 ∈ L,in welchen alle Koordinatenfunktionen verschwinden. Man nennt ihn den Koordinatenur-sprung fur dieses Koordinatensystem. Es seien

xj(·) : j ∈ J

und

yi(·) : i ∈ I

affine

Koordinatisierungen und P irgendein Punkt. Wenn xj(P ) = xj , yi(P ) = yi, dann gilt

yi(P )− yi =∑

j∈Jaij · (xj(P )− xj). fur alle P ∈ L

Sprechweise. Es seixj(·) : j ∈ J

eine affine Koordinatisierung des affinen Raums(

L, V), und

vj : j ∈ J

die duale Basis zum System der Zuwachse

ℓj = dxj : j ∈ J

.

Es seien bj > aj . Eine Menge der Gestalt

W =P : aj ≤ xj(P ) ≤ bj fur alle j ∈ J

⊆ L.

nennen wir einen Wurfel mit den Kanten (bj−aj) ·vj , oder auch einen x-Wurfel der Große∏j(b

j − aj). Eine Aufzahlung der Indizes liefert einen gerichteten Wurfel.

Die translationsinvariaten Maße

Ein beruhmtes Resultat von A. Haar (1885-1933) besagt: Auf jeder lokalkompakten Grup-pe existiert ein translationsinvariantes Borelmaß, welches auf kompakten Mengen endlichist. Dieses ist bis auf eine multiplikative Konstante eindeutig bestimmt.Fur den d-dimensionalen reellen Vektorraum V liefert dieser Satz eine Kennzeichnung desLebesgue-Maßes, welche keinen Bezug nimmt auf eine lineare Koordinatisierung von V .Wir werden uns mit denjenigen gerichteten lokalendlichen signierten Maßen naher befas-sen, die eine stetige Dichte bzgl. des invarianten Maßes auf dem reellaffinen Raum

(L, V

)

besitzen. Dabei interessieren uns vor allem solche, die eine stetige Dichte f besitzen, wel-che ausserhalb einer kompakten Menge verschwindet. Zunachst einmal werden wir sie inder Form f · dx1 ∧ · · · ∧ dxn = f · dxJ prasentieren, wo xj(·) : j ∈ J ein aufgezahl-tes affines Koordinatensystem ist. Spater werden wir sie auch (lokal) mit ‘krummlinigen’Koordinaten beschreiben.

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8.1 : Orientierte affine Raume 93

Ein gerichtetes signiertes Maß unterscheidet sich von einem (nichtgerichteten) signier-ten Maß dadurch, dass es nicht den Mengen sondern den gerichteten Mengen einenWert zuweist. Welche Art ‘gerichteter’ Mengen wir betrachten wollen, werden wir spatererortern; zunachst sind es vor allem die gerichteten Wurfel und die gerichteten Simplexe.

Notation. Es seixj(·) : j ∈ J

ein affines Koordinatensystem auf dem n-dimensionalen

reellaffinen Raum(L, V

). Mit dx1∧dx2∧ · · · ∧dxn bezeichnen wir dasjenige translations-

invariante Maß, welche dem gemaß der Aufzahlung gerichteten Einheitswurfel W dennWert 1 zuordnet.

Die invarianten ‘Maße’ zu verschieden aufgezahlten affinen Koordinaten unterscheidensich um den Faktor ±1. Fur eine Permutation π(·) mit dem Signum σ(π) gilt

dxπ(1) ∧ · · · ∧ dxπ(n) = σ(π) · dx1 ∧ · · · ∧ dxn

Wenn namlich σ(π) = −1, dann bedeutet das, dass der dazugehorige gerichtete Ein-heitswurfel seine Orientierung andert.

Satz 8.1.1. Es seienyi(·) : i ∈ I

und

xj(·) : j ∈ J

affine Koordinatensystem mit

dyi =∑

j∈J aij · dxj. Fur beliebige Aufzahlungen der Indexmengen I und J gilt dann

dy1 ∧ · · · ∧ dyn = detA · dx1 ∧ · · · ∧ dxn.Nach dem Satz von Haar unterscheiden sich invariante signierte Maße um einen Faktor.

Wir mussen zeigen, dass dieser Faktor die Determinante der Matrix zum Koordinaten-wechsel ist.

Wir benutzen die Gelegenheit, um an wichtige Eigenschaften der Determinantenfunk-tion (auf der Gruppe der nichtsingularen n × n-Matrizen) zu erinnern. Vor allem sollteman sich erinnern, dass det(·) multiplikativ ist.Die Determinante der Einheitsmatrix ist1, und det

(B ·A

)= detB · detA. Diese Eigenschaft charakterisiert det(·).

Ausserdem sollte man wissen, dass es sich (als Funktion des n-Tupels der Zeilen) umeine alternierende Multilinearform handelt. Diese Eigenschaft charakterisiert die Deter-minantenfunktion bis auf eine Konstante.

Wir bemerken

1. Wenn man zwei yi vertauscht, dann werden die entsprechenden Zeilen in der MatrixA des Koordinatenwechsels vertauscht. Die Determinante wechselt ihr Vorzeichen,wie es ja auch sein sollte. Wenn man zwei xj vertauscht, dann bedeutet das furA, dass man die entsprechenden Spalten vertauscht; die Determinante wechselt dasVorzeichen, wie es auch sein muss. Die behauptete Formel ist also vertraglich mitden hier erwahnten Eigenschaften der Determinantenfunktion.

2. Fur einen gerichteten x-Wurfel W der Große∏

j(bj − aj) liefert unser ‘Maß’ dx1 ∧

· · · ∧ dxn den Wert ±∏j(bj − aj), wobei das negative Vorzeichen auftrit, wenn der

Wurfel entgegengesetzt gerichtet ist zur Orientierung, die durch die Aufzahlung derxj bestimmt ist.

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94 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

3. Bei einem Koordinatenwechsel, der nur den Nullpunkt verschiebt, bleibt das Dach-produkt dx1 ∧ · · · ∧ dxn unverandert. Wir betrachten nur noch solche Koordinaten-wechsel, die allesamt denselben Nullpunkt haben. Ein solcher Koordinatenwechselentspricht (in eineindeutiger Weise!) einer linearen Transformation der Zuwachse.

4. Ist y1 = x1 + c2 · x2 + · · ·+ cn · xn, y2 = x2, . . . , yn = xn, so giltdy1∧· · ·∧dyn = dx1∧· · ·∧dxn; denn die dazugehorigen Einheitwurfel gehen ausein-ander durch eine lineare Transformation hervor, welche offensichtlich das Volumenunverandert lasst.

5. Fur jedes c ∈ R gilt(c dx1

)∧dx2 · · ·∧dxn = c·dx1∧· · ·∧dxn; denn die dazugehorigen

Einheitswurfel gehen durch eine Streckung um c bzw. 1c

auseinander hervor.

Aus diesen Eigenschaften der alternierenden Multilinearitat ergibt sich ein erster Beweis.Ein zweiter Beweis ergibt sich aus der Multiplikativitat der Determinantenfunktion:Seien

yi(·) : i ∈ I

,xj(·) : j ∈ J

,zk(·) : k ∈ K

affine Koordinatensysteme mit

dyi =∑

j∈Jaij · dxj , dxj =

∑bjk · dzk, dyi =

k∈Kcik · dzk.

Wir wissen, dass es Zahlen δ(A), δ(B), δ(C) gibt, sodass (abgekurzt geschrieben) gilt

dy = δ(A) · dx, dx = δ(B) · dz, dy = δ(C) · dz,

Wegen C = A ·B haben wir δ(A ·B) = δ(A) · δ(B). Die Multiplikativitat gilt fur alleA, B und das beweist, dass δ(·) die Determinantenfunktion ist.

Die Transfomationsformel, die wir abgeleitet haben, soll im nachsten Kapitel auf‘krummlinige’ lokale Koordinatensysteme (auf einer offenen Menge U erweitert werden:

dy1 ∧ · · · ∧ dyn = det

(∂yi

∂xj

)· dx1 ∧ · · · ∧ dxn auf U

Bevor wir das in Angriff nehmen, wollen wir wollen noch erlautern, inwiefern Ausdruckeder Form f ·dx1∧· · ·∧dxn passable Integranden sind, wenn es gilt, uber gerichtete Bereichezu integrieren.

Integration bzgl. der translationsinvaranten Maße im affinen Raum.

Es sei (L, or) ein orientierter n-dimensionaler affiner Raum und xj(·) : j ∈ J einaufgezahltes affines Koordinatensystem. Ein Integral der Form

(L,or)

f · dx1 ∧ · · · ∧ dxn =

(L,or)

f · dxJ

mit einem Lebegue-integrablen f auf L kann man als das Integral der Funktion f bezuglichdx1 ∧ · · · ∧ dxn bezeichnen oder (besser!) als das Integral der n-Form f · dxJ uber den

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8.1 : Orientierte affine Raume 95

orientierten affinen Raum. Hier interessiert man sich allerdings meistens nur fur stetigef . Die Fortsetzung des Funktionals auf allgemeinere f spielt im Folgenden keine Rolle.

Wenn die Aufzahlung der xj mit der gegebenen Orientierung ubereinstimmen, dannhandelt es sich um das Integral von f bzgl. eines wirklichen Maßes; nichtnegative f liefernein positives Funktional; wenn dagegen die Aufzahlung der xj nicht zur vorgegebeneOrientierung von L passt, dann erhalten wir negative Integralwerte fur nichtnegative f .

Zu jeder Lebegue-integrablen Funktion f auf L existiert genau eine Darstellung in denKoordinaten xj : f(P ) = F (x1(P ), . . . , xn(P )) mit einer wohlbestimmten Funktion F (·)auf dem Rn. Wenn die Orientierung des Raums L mit der Aufzahlung der xj konform ist,dann gilt ∫

(L,or)

f · dx1 ∧ · · · ∧ dxn =

∫F (x1, . . . , xn) dλn(x).

wo λn das Lebesgue- Maß auf dem Rn ist, welches in dem Sinn normiert ist, dass es demEinheitswurfel [0, 1]× [0, 1]× · · · × [0, 1] den Wert 1 zuweist. Dieses Maß ist ein Produkt-Maß: λn = λ1 ⊗ λ1 ⊗ · · · ⊗ λ1, wo λ1 das eindimensionale normierte Lebesgue-Maß ist.—Im Fall n = 2 haben wir ubrigens das Maß auf welches sich der klassische Satz von Fubinibezieht; man kann die Integration schrittweise ausfuhren

∫F (x1, x2) dλ2 =

∫dx1

∫dx2F (x1, x2).

Ausblick und Ruckblick

Wir haben gesehen, dass der Koordinatenwechsel von einem affinen Koordinatensystemzu einem anderen fur die Integrationstheorie eine einfache Sache ist, wenn man den De-terminantenkalkul verstanden hat.In den folgenden Abschnitten werden wir die Konstruktion verallgemeinern; wir werdenzuerst den Wechsel von einem krummlinigen (lokalen) Koordinatensystem zu einem an-deren studieren, und uns dann mit orientierten Integrationsbereichen befassen.

Im eindimensionalen Fall kennt man das Resultat unter dem Namen Substitutionsre-gel. Diese Regel wird ublicherweise im Anfangerunterricht folgendermaßen formuliert:

Satz 8.1.2 (Die elementare Substituionsregel).Es sei ϕ eine stetig differenzierbare Abbildung eines Intervalls auf ein Intervall

ϕ : [t′, t′′] ∋ t −→ x = ϕ(t) ∈ [x′, x′′] mit ϕ(t′) = x′, ϕ(t′′) = x′′

dann gilt fur jede stetige Funktion f(x) auf [x′, x′′]

∫ x′′

x′f(x) dx =

∫ t′′

t′f(ϕ(t)) ϕ(t) dt.

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96 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Die Sache ist relativ leicht einzusahen, wenn ϕ(·) eine monoton wachsende Abbil-dung ist. Man kann das Resultat auch leicht memorieren: x = ϕ(t) ⇒ dx = ϕ(t) dt.Etwas schwieriger wird die Sache, wenn ϕ(·) nicht monoton wachsend ist; dann mußman sich tatsachlich mit orientierten Bereichen auf der reellen Achse auseinanderset-zen. Im Schulunterricht wird gesagt, dass fur eine nichtnegative Funktion f das Inte-gral

∫[a,b]

f(x) dx die Flache unter der Kurve ist. Dabei ist a < b. Weiter definiert man∫[b,a]

f(x) dx = −∫[a,b]

f(x) dx. Aus unserem Blickwinkel, welcher schon auch die mehrdi-

mensionale Integration im Auge hat, stellt sich die Lage so dar: Man geht davon aus, dassdie reelle Achse L als ein eindimensionaler affiner Raum gemaß der ‘Abszissenfunktion’x(·) orientiert ist. Fur a < b wird [a, b] als ein positiv gerichteter Bereich verstanden, [b, a]als ein negativ gerichteter Bereich.

Fur das Integral∫ t′′t′f(ϕ(t)) ϕ(t) dt hat die Regel um die Orientierung die Konsequenz,

dass Integrationsintervalle [t1, t2] mit ϕ(t1) = ϕ(t2) keinen Beitrag zum Integral liefern.—Im mehrdimensionalen Fall ist die Situation zunachst nicht ganz so durchsichtig.

Wir haben uns schon fruher mit Kurvenintegralen beschaftigt. Es wurde f · dg ent-lang einer Kurve C integriert, die man ganz verschieden parametrisieren kann. Es zeigtesich, dass das Integral der ‘zuruckgenommen’ Form fur jede Parametrisierung denselbenWert liefert. Die Sache erwies sich als recht durchsichtig, weil es bei der Integration derzuruckgenommenen Form um eine einfache Integration uber ein Intervall handelt. DieIdee der Parametrisierung des (orientierten!) Integrationsbereichs B wird sich auch bei k-dimensionalen Bereichsintegralen bewahren. Das Bereichsintegral

∫B f ·dg1∧· · ·∧dgk wird

(lokal) auf ein Integral uber eine einfache Teilmenge eines (orientierten!) k-dimensionalenaffinen Raum zuruckgefuhrt.

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8.2 : Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel 97

8.2 Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel

In der Differentialrechung ordnet man jeder stetig differenzierbaren Funktion f auf eineroffenen Teilmenge U eines affinen Raums L ihr Differential zu: f 7→ df . Die Abbildungist linear, und es gilt die Produktregel d(f ·g) = f ·dg+g ·df. Weiter gilt die Kettenregel:

Lemma. Ist gk : k ∈ K ein m-Tupel stetig differenzierbarer Funktionen auf U , undh = H(g) mit einem stetig diffbaren H(·) auf dem Bildbereich g(U) ⊆ RK , so gilt

dh = dH(g) =∑

k∈Khk · dgk,

wo die hk die partiellen Ableitungen der Funktion H(·) sind.

Das Differential von f im Punkte P ∈ L wird mit df |P bezeichnet. Es handelt sichum eine Linearform auf dem Tangentialraum im Punkte P , den man meistens mit TPbezeichnet. df |P wird manchmal als der Anstieg von f im Punkte P bezeichnet. Die Zahl⟨df |P , v

⟩gibt an, mit welcher Geschwindigkeit sich f verandert, wenn man den Punkt P

mit der durch v gegebenen Richtung und Geschwindigkeit durchlauft; man nennt die Zahlauch die Richtungsableitung von f in der Richtung v.Hinweis: Leute, die es gewohnt sind, jeden Vektorraum (also auch den Tangentialraum TP )als einen Euklidischen Raum zu sehen, machen keinen Unterschied zwischen Vektoren undCovektoren. Fur sie ist eine Linearform (oder ein Covektor) nichts anderes als das innereProdukt mit einem Vektor. Der Vektor zu df |P heisst in dieser Denkweise der Gradientder Funktion im Punkt P ; der Anstieg in Richtung v ∈ TP ist das innere Produkt mit demGradienten in P . In dieser Sichtweise erscheint das Differential von f als ein speziellesVektorfeld, eben das ‘Gradientenfeld’.

Wir wollen hier nicht von Gradienten und Gradientenfeldern reden. Das Differential df ,(welches nach Definition) jedem Punkt P einen Covektor zuordnet, ist ein Covektorfeld.Zu seiner Definition benotigt man keine euklidische Struktur in den Raumen TP .

Definition 8.6. Einen Ausdruck der Form ω1 =∑

m cm · dgm nennt man eine glatte 1-Form (oder Pfaffsche Form), wenn die gm stetig differenzierbar und die cm stetig sind. Zweisolche Ausdrucke heissen gleich, wenn sie in jedem P dieselben Covektoren

∑cm(P )·dgm|P

liefern.

Definition 8.7. Es sei U eine offene Teilmenge des affinen Raums L undgi : i ∈ I

ein I-Tupel stetig differenzierbare Funktionen. Das I-Tupel heisst ein lokales Koordina-tensystem auf U , wenn, wenn die dgi in jedem Punkt P ∈ L linear unabhangig sind, unddie Abbildung g(·) : U ∋ P 7−→ gi(P ) : i ∈ I ∈ RI

Sp eine Bijektion ist.

Bemerkungen:

1. Es seixj : j ∈ J

ein affines Koordinatensystem. Zu jeder glatten Funktion h auf

U existiert genau eine stetig differenzierbare Funktion H(·) von n Variablen, sodassh(P ) = H(x1(P ), . . . , xn(P )) fur P ∈ U .

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98 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

2. Es seigi : i ∈ I

ein lokales Koordinatensystem und gi(P ) = Gi(x1(P ), . . . , xn(P )).

Die Gi(·) liefern dann eine bijektive Abbildung einer offenen Teilmenge des RJSp auf

eine offene Teilmenge des RISp mit einer uberall nichtsingularen Jacobi-Matrix

A =

(∂G

∂x

),

(aij)

=

(∂Gi

∂xj

)mit detA|P 6= 0 fur alle P ∈ U

3. Die Eintrage in der i−ten Zeile ergeben sich aus dem Differential dgi =∑

j aijdx

j.

Die aij verstehen wir hier nicht als Funktionen der Variablen x, sondern als stetigeFunktionen auf U .

4. A ist in jedem Punkt P eine Matrix vom Format I × j. Es sei B = A−1 die Inverse(vom Format J×I). Es gilt dxj =

∑i bjidg

i. die Matrizen A und B = A−1 heissendie Matrizen des Koordinatenwechsels.

5. Nach dem (aus der Anfangervorlesung bekannten) Satz von der glatten Umkehrbar-keit von stetig differenzierbaren Bijektionen (von offene Teilmengen eines Rn) exis-tieren stetig differenzierbare Funktionen XJ sodass xj(P ) = Xj(g1(P ), . . . , xn(P )).

Die Jacobi-Matrix ist offenbar die Matrix B mit den Eintragen bj i =(∂Xj

∂gi

).

Beispiel 8.2.1. Auf einen offenen Teilbereich der geschlitzten Ebene seien die Funktionenx, y, r, φ wie ublich definiert:

x = r · cos φ, y = r · sinφ.

Die cartesischen Koordinaten (x, y) und die Polarkoordinaten (r, φ) sind gleichgerichtetelokale Koordinatensysteme. Es gilt namlich

dx = cosφ · dr + (− sin φ) · r dφ, dr = + cosφ · dx+ sinφ · dydy = sinφ · dr + (+ cosφ) · r dφ, r dφ = − sinφ · dx+ cosφ dy

(dx

dy

)=

(cosφ − sinφsin φ cosφ

)(dr

r dφ

) (dr

r dφ

)=

(cosφ sin φ− sinφ cosφ

)(dx

dy

)

Sprechweise. Wenngi : i ∈ I

ein lokales Korrdinatensystem auf U ist, und ai < bi,

sodass W =P : ai ≤ gi(P ) ≤ bi

⊆ U, dann nennen wir W einen g-Wurfel der Große∏

i

(bi − ai

).

Aus einem g-Wurfel W gewinnt man einen gerichteten g-Wurfel W, indem man eineAufzahlung der Indexmenge spezifiziert. Aus einem lokalen Koordinatensystem auf Ugewinnt man ein gerichtetes lokales Koordinatensystem, indem man eine Aufzahlung derKoordinatenfunktionen festlegt.

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8.2 : Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel 99

Definition 8.8. Sei gi : i ∈ I ein aufgezahltes lokales Koordinatensystem auf U . Mit

dg1 ∧ · · · ∧ dgn oder kurz dgI

bezeichnet man das gerichtete Maß auf U , welches jedem entsprechend gerichteten g-Wurfel seine Große

∏i

(bi − ai

)zuordnet.

Offenbar ist durch diese Festlegung dgI eindeutig festgelegt. Wenn W entsprechendder Aufzahlung I gerichtet ist, dann ist fur jedes nichtnegative Borel-messbare f auf U∫W f · dg1 ∧ · · · ∧ dgn eine wohlbestimmte nichtnegative Zahl.

Man konnte folgendermaßen argumentieren: Die Abbildung g(·) bildet die offenenTeilmengen von U diffeomorph auf die offenen Teilmenge von g(U) ⊆ RI ab. Wenn mandas Lebesgue-Maß auf dem RI durch die Umkehrabbildung g−1 auf U abbildet, dann istdg1 ∧ · · · ∧ dgn (bis auf die Spezifikation der Ausrichtung) das Bildmaß.

Satz 8.2.1 (Satz von Jacobi).Sind

xj : j ∈ J

und

gi : i ∈ I

lokale Koordinatensysteme auf U , so gilt

dg1 ∧ · · · ∧ dgn = δ · dx1 ∧ · · · ∧ dxn auf U mit δ = det

(∂gi

∂xj

).

Beweis. Nach all unseren Vorbereitungen durfte die Formel offensichtlich sein. Wir wol-len sie aber doch noch weiter kommentieren.

1. Die Orientierung ist hier unproblematisch; wir konnen von den gerichteten Maßen zuden ‘echten’ Maßen dµ(P ) (zu dxJ ), und dν(P ) (zu dgI) ubergehen. Die Koordina-tentransformation kann auch als ein Diffeomorphismus zwischen offenen Teilmengender Raume RJ und RI verstanden werden. Das Bild eines bzgl. des Lebesgue-Maßestotalstetigen Maßes ist offenbar totalstetig bzgl. des Lebesgue-Maßes. Es existiert al-so eine Radon-Nikodym-Dichte dν

dµ. Wenn man man den affinen Koordinatenwech-

seln vergleicht, ist klar, dass diese Dichte nichts anderes sein kann als die Jacobi-Determinante.

2. Das folgende Approximationsargument untermauert nochmals diese Feststellung.Es sei

xj : j ∈ J

ein affines Koordinatensystem auf dem affinen Raum L, und

gi : i ∈ I

ein lokales Koordinatensystem auf U ⊆ L Wir bestimmen das Lebesgue-

Maß eines kleinen g-Wurfels W =P : ai ≤ gi(P ) ≤ bi

=P : |gi(P )−gi(P )| ≤

12(bi − ai)

. Es sei g(·) die affine Approximation bei P :

g(P + ∆x) = g(P ) +G′(P ) ·∆x+ o(‖∆x‖) = g(P + ∆x) + o(‖∆x‖)

Wenn die Seitenlangen (bi − ai) genugend klein sind, dann gilt W− ⊂W ⊂ W+ furdie affinen Wurfel W± =

P : |gi(P )− gi(P )| ≤ (1± η)1

2(bi − ai)

Die Volumina

der approximierenden affinen Wurfel ergeben sich aus den obigen Uberlegungen uberaffine Koordinatenwechsel.

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100 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Unsere Uberlegungen sind (nach der Tradition der elementaren Analysis) davon aus-gegangen, dass

xj : j ∈ J

ein affines Koordinatensystem sind auf einem Teil U eines

affinen Raums L, moglicherweise die ‘naturlichen’ Koordinaten auf dem Raum L = Rn.Die affine Struktur ist hier aber vollig irrelevant, moglicherweise sogar storend. Jedes lokaleKoordinatensystem auf einer offenen Menge U einer Mannigfaltigkeit M dient denselbenZwecken. Es gibt keinen Anlass, irgendein lokales Koordinatensystem ein ‘krummliniges’und ein anderes ein affines Koordinatensystem zu nennen. Alle lokale Gleichungssystemesind gleichberechtigt. Man sieht das an der folgenden Definition einer C1-Mannigfaltigkeit:

Definition 8.9. Ein Hausdorff-Raum mit abzahlbarer Basis (HRaB) M wird zu einern-dimensionalen C1-Mannigfaltigkeit, indem man ein Funktionensystem Ω0(M) als dasSystem der glatten Funktionen auszeichnet. Vom Funktionensystem Ω0(M) ist zu fordern:

1. (‘Lokalitat’) Wenn f eine Funktion ist mit der Eigenschaft, dass fur jeden Punkt Peine Umgebung U existiert, auf welcher f mit einer glatten Funktion ubereinstimmt.dann ist f selbst eine glatte Funktion. f ∈ Ω0(M).

2. ( ‘Abgeschlossenheit gegenuber glatten Operationen’) Ist H(· , . . . , ·) eine stetigdifferenzierbare Funktion von m reellen Variablen, so gilt H(g1, . . . , gm) ∈ Ω0(M)|Ufur jedes m-Tupel glatter Funktionen gi auf U mit Werten im Definitionsbereichvon H . (Hier bezeichnet Ω0(M)|U die Menge der auf U eingeschrankten glattenFunktionen.)

3. (‘Lokale Koordinatisierbarkeit’) Zu jedem Punkt P ∈ M existiert eine UmgebungU und ein n-Tupel glatter Funktionen

xj : j ∈ J

, sodass x(·) eine bijektive

Abbildung auf eine offene Teilmenge des RJSp ist und fur ein g auf U mit g(P ) =

G(x1(P ), . . . , xn(P )) gilt

g(·) ∈ Ω0(M)|U ⇐⇒ G(·) ist stetig differenzierbar.

Beispiel 8.2.2 (Kugelkoordinaten). Auf dem geeignet geschlitzten R3 identifiziert man diePunkte P durch die sog. Kugelkoordinaten r ∈ R+, −π/2 < θ < π/2, 0 ≤ φ < 2π.

x = r · cos θ · cos φ

y = r · cos θ · sin φz = r · sinφ.

Man rechnet leicht nach det(∂(r,θ,φ)∂(x,y,z)

)= −r2 · cos θ. Es gilt also

dr ∧ dθ ∧ dφ = −r2 · cos θ dx ∧ dy ∧ dz.

Beispiel 8.2.3. Auf dem geschlitzten R2 sind die cartesischen Koordinaten (x, y) unddie Polarkoordinaten (r, φ) gleichsinnig aufgezahlte lokale Koordinatensysteme. Es gilt

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8.2 : Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel 101

dx ∧ dy = r · dr ∧ φ. Um die Orientierung mussen wir uns hier nicht sorgen; positive‘Dichten’ uber positiv orientierte Bereiche integriert, ergeben nichtnegative Werte. Wirwollen mittels Koordinatenwechsel und dem Satz von Fubini einige Differentialformenexplizit integrieren.

(∫ ∞

−∞e−1/2 x2

dx

)2

=

R2

e−1/2(x2+y2)dx ∧ dy =

R2

e−1/2 r2r dr ∧ dφ

=

∫ ∞

0

e−1/2 r2r dr ·∫ 2π

0

dφ = 2π.

Wir integrieren jetzt uber die positiv gerichtete rechte Halbebene U∫

U

x√x2 + y2

· e−1/2(x2+y2)dx ∧ dy =

Ucosφ · e−1/2 r2r dr ∧ dφ

=

∫ ∞

0

e−1/2 r2r dr ·∫ 2π

0

cosφ dφ = 2.

Beispiel 8.2.4 (Erstes und zweites Euler’sches Integral).Die Gamma-Funktion kann bekanntlich fur Argumente α ∈ R+ durch einen Integralaus-druck gegeben werden, das sog. zweite Euler’sche Integral

Γ(α) =

∫ ∞

0

xα−1 · e−x dx. fur 0 < α <∞.

Das erste Euler’sche Integral liefert die sog. Betafunktion

B(α, β) =

∫ 1

0

xα−1 · (1− x)β−1 dx. fur 0 < α, β <∞.

Ein Zusammenhang dieser Funktionen ergibt sich folgendermaßen

Γ(α) · Γ(β) =

∫ ∞

0

xα−1 · e−x dx ·∫ ∞

0

yβ−1 · e−y dy

=

∫ ∫

Bxα−1 · yβ−1 · e−(x+y) dx ∧ dy

=

∫ ∫

B(x+ y)α+β−1 · e−(x+y) ·

(xx+y

)α−1

·(

yx+y

)β−1

· 1x+y

dx ∧ dy

=

∫ ∞

0

∫ 1

0

(x+ y)α+β−1 · e−z · (1− t)α−1 · tβ−1 · dz ∧ dt

= Γ(α + β) · B(α, β).

Beim Koordinatenwechsel y = z · t, x = z · (1− t) gilt namlich dx ∧ dy = z · dz ∧ dt.Und als Beschreibung des Integrationgebiets haben wir

(x, y) : 0 < x <∞, 0 < y <∞ = B = (z, t) : 0 < z <∞, 0 < t < 1

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102 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Die Beispiele zeigen die Bedeutung der Jacobi-Formel fur die Technik des Integrierens.Wir wollen jetzt noch einige begrifliche Aspekte ansprechen, die fur die Verallgemeine-rungen wichtig sind. Es ist uns gelungen, den Ausdruck dg1 ∧ · · · ∧ dgn maßtheoretischzu interpretieren als das Bild einer (auf eine Menge U ′ ⊂ RI

Sp eingeschrankte) Gleichver-teilung; das Maß der affinen Wurfel ⊂ U ′ wurde auf die entsprechenden ‘g-Wurfel’ ⊂ Ugelegt (im Sinne des Push-Forward zur Abbildung ψ : U ′ → U ⊂ M, welche die Um-kehrabbildung ist zur Koordinatenabbildung g : P 7→ (g1(P ), . . . , gn(P ))T . Die klassischeJacobi-Formel zeigt, wie man dg1 ∧ · · · ∧ dgn in einem beliebig gewahlten lokalen Koor-dinatensystem

xj : j ∈ J

beschreiben kann; man benotigt die Jacobi-Determinante

δ(P ) = det(∂g∂x

)als Faktor.

Es geht hier allerdings nicht wirklich um Bildmaße (im Sinne der Maßtheorie) sondernvielmehr um die Bilder gerichteter Maße. Fur gerichtete Wurfel W ist

Wdg1 ∧ · · · ∧ dgn =

Wδ · dx1 ∧ · · · ∧ dxn

eine wohldefinierte Zahl. Wennzk : k ∈ K

ein weiteres lokales Koordinatensystem

ist, dann liefert∫W δ · det

(∂x∂z

)· dz1 ∧ · · · ∧ dzn denselben Wert. In der Tat gilt namlich

det(∂g∂z

)= det

(∂g∂x

)· det

(∂x∂z

)

Wir bemerken: Wenn wir von einer gerichteten Koordinatenumgebung U ausgehen,dann schreibt man fur die damit gleich gerichteten Wurfel W

Wdg1 ∧ · · · ∧ dgn =

U1W · dg1 ∧ · · · ∧ dgn.

Damit wird klar, was∫U h · dg1 ∧ · · · ∧ dgn fur weitere ‘Testfunktionen’ h bedeutet. Eine

bequeme Klasse von Testfunktionen ist beispielsweise die Menge KU der stetigen h miteinem kompakten Trager ⊂ U . (Mit der Lebesgue’schen Fortsetzungstheorie konnte mannaturlich auch noch weiter gehen; doch ist das fur die Integration von Differentialformenohne Bedeutung.)

In der Theorie der Mannigfaltigkeiten arbeitet man auch mit Ausdrucken f ·dg1∧· · ·∧dgn, wo die gi glatte Funktionen sind, die nicht notwendigerweise ein lokales Koordina-tensystem bilden. Solche Ausdrucke treten naturlicherweise auf, wenn man mit Differen-tialformen nach den Regeln der multilinearen Algebra rechnet; eine direkte Interpretation(im Sinne der Maßtheorie) gibt es hier nicht. Das Integral solcher Differentialformen ubergerichtete Bereiche B wird definiert, indem man auch die verallgemeinerte Jacobi-Formelzuruckgeht:

Bf · dg1 ∧ · · · ∧ dgn =

Bf · det

(∂g

∂x

)· dx1 ∧ · · · ∧ dxn.

Im nachsten Abschnitt beschaftigen wir uns mit der Frage, uber welche gerichtetenBereiche B wir solche Differentialformen integrieren wollen. Es geht also um die Verallge-meinerung des Begriffs der glatten Kurve auf hohere Dimensionen.

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8.3 : Die Integration von k-Formen uber glatte Zellen 103

8.3 Die Integration von k-Formen uber glatte Zellen

In der Theorie der C1-Mannigfaltigkeiten arbeitet man nicht nur mit Differentialformenvom maximalen Grad n (lokal von der Form f · dg1 ∧ · · · ∧ dgn), wie wir sie oben imZusammenhang mit der Jacobi-Formel studiert und interpretiert haben. Man betrachtetauch Differentialformen vom Grad k mit 0 ≤ k ≤ n.

Die Menge der 0-Formen ist die Menge Ω0(M) der glatten Funktionen. Die Mengeder 1-Formen wird mit Ω1(M) bezeichnet. Die Einsformen gewinnt man als Summen vonAusdrucken der Form f dg mit f, g ∈ Ω0(M). 1-Formen ω1 kann man entlang von glattenKurven integrieren;

∫C ω

1 ist eine reelle Zahl.(Wenn es nur um die Integrale von f dg entlang von glatten Kurven geht, dann genugenauch schwachere Voraussetzungen an die Funktion f . Die Glattheit von f braucht man,wenn df ∧ dg uber zweidimensionale glatte orientierte Bereiche integriert werden soll.)

Die k-Formen gewinnt man als Summen von Ausdrucken der Form f dg1 ∧ · · · ∧ dgk.Die geometrische Interpretation der k-Formen ωk und die Idee der Integration einer k-Form sind nicht so einfach. Die k-Formen wollen wir daher hier zunachst einmal nur alsRechengroßen behandeln. Die algebraischen Umformungsregeln sind die aus der multili-nearen Algebra bekannten Regeln mit dem alternierenden Produkt ∧.

Die direkte Summe Ω(M) =⊕n

0 Ωk(M) hat nicht nur die Struktur eines Vektorraums.Man kann die ωk auch mit glatten Funktionen multiplizieren (Modulstruktur). (Ω0(M) istein kommutativer Ring mit Eiselement). Ausserdem kann man Differentialformen mittelsdes Dach-Produkts ∧ miteinander multiplizieren (Algebra-Struktur). Das Produkt einerk-Form ωk mit einer r-Form ηr ergibt eine (k + r)-Form ωr ∧ ηr ∈ Ωk+r(M). (Struktureiner gradierten Algebra). Fur k > n besteht Ωk(M) nur aus der Null.

Und schliesslich gibt es eine ausgezeichnete lineare Abbildung d, welche eine Produkt-regel erfullt. Sie heisst die Cartan-Ableitung oder auch die ‘aussere’ Differentiation. Furωk ∈ Ωk(M) ist dωk (im Wesentlichen, d. h. mit Abstrichen bei der Glattheit)) in Ωk+1(M)und d d(ωk) = 0. Es gilt d

(f dg1 ∧ · · · ∧ dgk

)= df ∧ dg1 ∧ · · · ∧ dgk.

Die Gesamtheit aller Differentialformen mit allen diesen Strukturen nennt man den de

Rham-Komplex der Mannigfaltigkeit M . Es ist hier nicht der Ort. um diese Struktursystematisch zu entwickeln. Wir wollen aber einige Andeutungen machen.

Beispiel 8.3.1.Die Regeln des Umrechnens von k-Formen auf einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeiterlautern wir im Beispiel k = 2, n = 3.Es sei

(x, y, z)

=xj : j ∈ (1, 2, 3)

ein lokales Koordinatensystem auf der offenen

Menge U . g1, g2 seien glatte Funktionen. Wir wollen die auf U eingeschrankte 2-Formω2 = dg1 ∧ dg2 im gegebenen Koordinatensystem darstellen. Wir werden Funktionenc1, c2, c3 finden, sodass ω2 = dg1∧dg2 = c1 dy∧dz+c2 dz∧dx+c3 dx∧dy auf U.Wir gehen von den ‘Anstiegen’ der Funktionen g1, g2 aus, d. h. von den 1-Formen

dgi =∑

aij dxj mit aij =

∂gi

∂xj

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

104 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Das Distributivgesetz fur das ∧-Produkt liefert wegen

dxj ∧ dxk =

−dxk ∧ dxj fur j 6= k

0 fur j = k

dg1 ∧ dg2 =∑

jk

a1ja

2k dx

j ∧ dxk = c1 dy ∧ dz + c2 dz ∧ dx+ c3 dx ∧ dy

mit c1 = a12a

23 − a1

3a22; c2 = a1

3a21 − a1

1a23; c3 = a1

1a22 − a1

2a21

Diese Koeffizienten sind die 2× 2-Unterdeterminanten der Jacobimatrix

A =∂gi

∂xj=

(a1

1 a12 a1

3

a21 a2

2 a23.

).

Es seien(x1, x2, x3)

und

(y1, y2, y3)

lokale Koordinatensysteme Wenn eine 2-Form

ω2, welche in der Gestalt ω2 = b1 dy2 ∧ dy3 + b2 dy

3 ∧ dy1 + b3 dy1 ∧ dy2 gegeben ist,

umgerechnet werden soll in die Form ω2 = c1 dx2 ∧ dx3 + c2 dx

3 ∧ dx1 + c3 dx1 ∧ dx2 ,

dann benotigt man die 3×3-Matrix, deren Eintrage als die 2×2-Unterdeterminanten derJacobi-Matrix gewonnen werden.

Ebenso verhalt es sich mit den k-Formen auf einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit.Wenn man die k-Form

ωk =∑

i1<···<ikbi1...ik dy

i1 ∧ · · · ∧ dyik

umrechnen will auf das lokale Koordinatensystem(x1, . . . xn)

ωk =∑

j1<···<jkcj1...jk dx

j1 ∧ · · · ∧ dxjk ,

dann benotigt man die Matrix vom Format(nk

)×(nk

), deren Eintrage als die k × k-

Unterdeterminanten der Jacobi-Matrix gewonnen werden.

Definition 8.10. Es seien(K,Ω0(K)

)und

(N,Ω0(N)

)C1-Mannigfaltigkeiten. Eine Ab-

bildung α(·) : K −→ N heisst eine glatte (oder stetig differenzierbare) Abbildung, wennfur jede glatte Funktion h auf M die zuruckgenommene Funktion α∗(h) glatt ist.

Bemerke: Es sei α(·) eine glatte Abbildung der k-dimensionalen Mannigfaltigkeit K indie n-dimensionale Mannigfaltigkeit N . Es sei

ti : i ∈ I

ein lokales Koordinatensystem

bei Q ∈ K undxj : j ∈ J

ein lokales Koordinatensystem beim Bildpunkt P =

α(Q). Die Abbildung wird dann lokal dargestellt durch ein n-Tupel stetig differenzierbarerFunktionen von k Variablen

Xj(·) : j ∈ J

α∗(xj).(Q) = xj(α(Q)

)= Xj

(t1(Q), . . . , tk(Q)

)

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8.3 : Die Integration von k-Formen uber glatte Zellen 105

Fortsetzung der Pullback-Abbildung auf den Raum der Formen Ω(M):Der Anstieg der zuruckgenommenen Funktion α∗(g) im Punkt Q hangt nur vom An-

stieg dg im Bildpunkt P = α(Q) ab. Es ist also sinnvoll, die Pullback-Abbildung auf diePfaff’schen Formen auszudehnen: α∗(f dg) = α∗(f) d

(α∗(g)

). Entsprechend wird α∗(ωk)

definiert fur alle k-Formen auf der Ziel-Mannigfaltigkeit. Die Pullback-Abbildung ist ver-traglich mit dem ∧-Produkt α∗(ω ∧ η

)= α∗(ω

)∧ α∗(η

). Wenn wir uns spater mit der

Cartan-Ableitung (auf K und auf N) befassen, dann werden wir sehen, dass sie mit derPullback-Abbildung vertraglich ist: fur jede k-Form ωk auf M gilt α∗(dωk) = d

(α∗(ωk)

).

(Man verwendet das Symbol”d“ fur die Cartan-Ableitung auf jeder Mannigfaltigkeit.)

Integrationsbereiche: Mogliche Integrationsbereiche fur eine k-Form ωk sind diegerichteten glatten k-Zellen. Das Schema der Definition ist dasselbe wie das fur glat-te Kurven mit Durchlaufungssinn. Eine glatte k-Zelle auf einer Mannigfaltigkeit ist ei-ne Aquivalenzklasse parametrisierter glatter k-Zellen. Gerichtete parametrisierte k-Zellenliefern dieselbe gerichtete k-Zelle, wenn eine Umparametrisierung mit positiver Jacobi-Determinante existiert. Bevor wir die Definitionen prazise machen konnen, mussen wiruns mit gerichteten affinen k-Zellen befassen.

Definition 8.11 (Affine Zellen). Ein kompaktes konvexes Polyeder der Dimension k inirgendeinem affinen Raum L heisst eine affine k-Zelle.

Besonders wichtige (gerichtete) affine k-Zellen sind einerseits die (gerichteten) affinenWurfel und andererseits die gerichteten affinen Simplexe. Der Rand einer affinen k-Zelleist (mengentheoretisch) die Vereinigung von affinen (k − 1)-Zellen. Algebraisch gesehen,sind diese affinen (k−1)-Randzellen noch mit einer Orientierung zu versehen. Anschaulichgesprochen geschieht das so: Die Basis auf einem Randstuck ist so zu orientieren, dasssie durch einen nach aussen zeigenden Vektor an erster Stelle zu einer die k-Zelle richtigorientierenden Basis wird.

Wir benutzen bevorzugt den BuchstabenW fur gerichteten affine k-Zellen. Den Rand-operator ∂(·) :W 7−→ ∂W werden wir im nachsten Unterabschnitt genauer studieren.

Definition 8.12 (Parametrisierte glatte Zellen). Eine parametrisierte glatte k-Zelle ineiner n-dimensionalen Mannigfaltigkeit N ist gegeben durch eine Abbildung β(·) eineraffinen k-Zelle W nach N , welche in eine Umgebung von W stetig differenzierbar fortsetz-bar ist. Wenn W ein gerichteter Zelle ist, dann liefert β(·) eine gerichtete parametrisierteglatte Zelle.Zur sprachlichen Verschlankung unterdrucken wir im Folgenden den Zusatz

’glatt‘.

Bemerkungen

1. Fur jede k-Form ωk kann die zuruckgenommene Form β∗(ωk)

uber jede orientierteaffine k-Zelle W integriert werden:

∫W β∗(ωk

)ist eine wohldefinierte reelle Zahl.

2. Wenn W in affine Zellen zerlegt ist W =∑Wk (alle mit derselben Ausrichtung),

dann addieren sich die Integrale.

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106 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

3. Jede glatte Abbildung liefert eine Pushforward-Abbildung fur parametrisierte Zel-len. Ist namlich β(·) eine parametrisierte k-Zelle auf der Mannigfaltigkeit N undϕ(·) : N → M eine glatte Abbildung, dann liefert ϕ β(·) eine parametrisiertek-Zelle.

Definition 8.13 (Glatte orientierte Zellen auf einer Mannigfaltigkeit).Zwei parametrisierte gerichtete k-Zellen in der Mannigfaltigkeit N

β ′(·) :W ′ → N, und β ′′(·) :W ′′ → N

nennen wir aquivalent, wenn ein die Orientierung respektierender Diffeomorphismus

α :W ′ →W ′′ existiert, sodass auf W ′ gilt β ′(·) = β ′′(α(·)).

Sprechweise. Wir sagen in diesem Falle auch, dass die Abbildungen β ′ und β ′′ dieselbegerichtete k-Zelle Bk bestimmen. Die Reprasentanten der Aquivalenzklasse nennen wirdie Parametrisierungen der gerichteten Zelle Bk. Den Ubergang von von einem Reprasen-tanten zu einem weiteren nennen wir eine Umparametrisierung.

(Genauer gesagt geht es hier immer darum, dass ein Diffeomorphismus einer Umge-bung von W ′ (im aufgespannten k-dimensionalen affinen Raum) auf eine Umgebung vonW ′′ (. . . ) existiert, sodass . . . .)

Satz 8.3.1. Gegeben seien aquivalente parametrisierte gerichtete k-Zellen

β ′(·) :W ′ → N, und β ′′(·) :W ′′ → N.

Fur jede k-Form ωk gilt dann

W ′

β ′∗(ωk)

=

W ′′

β ′′∗(ωk).

Fur jede gerichtete k-Zelle in N und jede k-Form ist also∫Bkωk eine wohlbestimmte Zahl,

Bemerke: Der Satz verallgemeinert die Aussage uber Kurvenintegrale, die wir fruher(sogar unter schwacheren Regularitatsannahmen) bewiesen haben: Fur jede orientierteKurve C in der Mannigfaltigkeit und jede Pfaff’sche Form ω1 ist das Kurvenintegral

∫C ω

1

eine wohldefinierte Zahl. Das gilt insbesondere fur die ‘elementaren’ 1-Formen ω1 = f dg;fur jede Parametrisierung der gerichteten Kurve

γ(t) : a ≤ t ≤ b

liefert das Stieltjes-

Integral∫ baf(γ(t)

)dG(t) mit G(t) = g

(γ(t)

)denselben Wert

∫C f dg.

Beweis. Es sei ωk eine k-Form auf der Mannigfaltigkeit und ηk = β ′′∗(ωk) die auf einek-dimensionale Umgebung U ′′ des Wurfels W ′′ zuruckgenommene k-Form. Wegen β ′(·) =β ′′(α(·)) (und daher α∗ β ′′∗(·) = β ′∗(·)) ergibt sich β ′∗(ωk) = α∗(ηk) auf einer k-dimensionalen Umgebung U ′ des Wurfels W ′ =

Q : Q ∈W ′.

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8.3 : Die Integration von k-Formen uber glatte Zellen 107

Es genugt somit, zu zeigen: Wenn α(·) eine Umgebung U ′ ⊂ W ′ diffeomorph auf U ′′ ⊆W ′′ = α(W ′) abbildet und dabei die Richtung respektiert, dann gilt

W ′

α∗(ηk) =

W ′′

ηk.

Die Aussage des Satzs ist hiermit auf einen Spezialfall zuruckgefuhrt:Es sei z1, . . . , zk ein affines Koordinatensystem auf W ′′ in einer Aufzahlung, die zurOrientierung von W ′′ passt, Mit einer wohlbestimmten Funktion f auf W ′′, f(P ) =F(z1(P ), . . . , zk(P )

), gilt

ηk = f dz1 ∧ · · · ∧ dzk und

W ′′

ηk =

∫1W ′′ · F (z1, . . . , zk) dz1 ∧ · · · ∧ dzk,

Die zuruckgenommenen Funktionen hl = α∗(zl) bilden ein krummliniges Koordinatensys-tem auf U ′′. Die Aufzahlung passt (nach Annahme) zur Orientierung von W ′.

Wir stellen die zuruckgenommene Form α∗(ηk) in den h-Koordinaten dar.

α∗(dz1 ∧ · · · ∧ dzk)

= d(α∗z1) ∧ · · · ∧ d(α∗zk) = dh1 ∧ · · · ∧ dhk,Wenn f(P ) = F

(z1(P ), . . . , zk(P )

), dann gilt α∗(f) = F

(h1, . . . , hk

),

α∗(1W ′′) = 1W ′

Wir haben daher∫W ′ α

∗(ηk) =∫

1W ′ ·F (h1, . . . , hk) dh1∧· · ·∧dhk und damit ist allesbewiesen.

Ruckschau und Vorausschau

Als wir am Anfang dieser Veranstaltung von Umlaufsintegralen sprachen, wurde klar,dass die Integrationsbereiche fur 1-Formen die ‘Summen’ von gerichteten (einigermaßenglatten) Kurven sind. Im gleichen Sinn kann man sagen, dass die Integrationsbereiche furk-Formen die Summen von gerichteten k-Zellen sind. Solche Summen, die sog. k-Kettenwerden im nachsten Unterabschnitt diskutiert. Summen von Zellen kommen beispielsweiseda ins Spiel, wo wir eine k-Form uber den Rand einer (k + 1)-dimensionalen gerichtetenZelle integrieren. Von solchen Randintegralen handelt ein zentraler Satz der Integrationauf Mannigfaltigkeiten, der Satz von Stokes

Bdωk =

∂Bωk.

In Worten: Wenn es gilt, eine (k+1)-Form der Gestalt ωk+1 = dωk uber einen gerichtetenBereich B zu integrieren, dann kann man das Ergebnis auch so gewinnen, dass man dieForm ωk uber den Rand integriert.

Diese Formel wollen wir nach und nach begreifen. Eben haben wir gelernt, was es heisst,eine k-Form uber eine gerichtete Zelle zu integrieren. Es ging so, dass man die Form ωk

zuruckzieht auf eine gerichtete affine Zelle und das Resultat β∗(ωk) = f dz1 ∧ · · · ∧ dzkim Sinne von Lebesgue integriert. Zum Verstandnis des Satzes von Stokes fehlt noch derBegriff des Rands.

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108 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Beispiel 8.3.2. Im Falle k = 1 konnte man (etwas laienhaft) sagen, dass der Rand einergerichteten Kurve C auf einer Mannigfaltigkeit aus zwei Punkten ‘besteht’, wo der End-punkt positiv und der Anfangspunkt negativ zu zahlen ist, ∂C = Pe−Pa.Wenn die 1-Formω1 der ‘Anstieg’ einer Funktion h ist, ω1 = dh, dann gilt

∫C ω

1 =∫C dh = h(Pe)− h(Pa).

Die Situation ist moglicherweise aus der Elektrostatik bekannt. Das elektrische Feld ent-steht aus einem Potential; die Arbeit, die man leisten muss, um eine Probeladung entlangeiner Kurve C gegen das Kraftfeld von Pa nach Pe zu transportieren, ergibt sich aus derPotentialdifferenz U(Pe)− U(Pa); sie ist unabhangig von der Kurve.

Beispiel 8.3.3. Fur ein Beispiel im Fall k = 2 betrachten wir einen besonders einfachenBereich im R2, (der durch die Aufzahlung der Koordinaten (x, y) orientiert wird,) namlichB =

P : a ≤ x(P ) ≤ b, h(x) ≤ y(P ) ≤ k(x)

, wo h, k Funktionen auf [a, b] sind mit

h(x) ≤ k(x) fur alle x ∈ [a, b]. Der Rand ist die Summe von 4 Kurven ∂B = Cl+Cu+Cr+Co,wo die linke Randkurve parallel zur y-Achse von k(a) nach h(a) zu durchlaufen ist, dieuntere Kurve Cu entlang des Graphen der Funktion h(·) von h(a) nach h(b), usw. DasRandintegral der Form ω1 = f dx ist

R =

∫ b

a

[f(x, h(x))− f(x, k(x))

]dx =

∫ b

a

∫ k(x)

h(x)

(−∂f∂y

)dy dx =

∂Bdω1.

Wir haben oben den Spezialfall behandelt, wo k(·) = 0 und ω1 = −y dx. Es ergibt sich

R =∫∂B ω

1 =∫ bah(x) dx, also (wie man im Schulunterricht sagt) die ‘Flache unter der

Kurve h(·)’. Wegen dω1 = dx ∧ dy sagt das auch der Satz von Stokes: R =∫B dx ∧ dy.

Beispiel 8.3.4. Wir betrachten nun den Fall ω1 = g(x, y) dy, also dω1 = p(x, y) dx ∧ dymit p = ∂g

∂x. Das Randintegral liefert auf den ‘senkrechten’ Kurvenstucken

∫ k(b)

h(b)

g(b, y) dy −∫ k(a)

h(a)

g(a, y) dy

und entlang der beiden anderen Kurvenstucken wegen dy = h′(x) dx bzw. dy = k′(x) dx

∫ b

a

g(x, h(x))h′(x) dx−∫ b

a

g(x, k(x))k′(x) dx

Auf der anderen Seite berechnen wir das Bereichsintegral

∂Bp(x, y)) dx ∧ dy =

∫ b

a

∫ k(x)

h(x)

p(x, y) dy dx.

Die behauptete Gleichheit ergibt sich aus

d

dx

∫ k(x)

h(x)

g(x, y) dy =

∫ k(x)

h(x)

p(x, y) dy + g(x, k(x))k′(x)− g(x, h(x))h′(x).

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8.3 : Die Integration von k-Formen uber glatte Zellen 109

Beispiel 8.3.5. Besonders einfach ist die Rechnung, wenn der Integrationsbereich wirklichein affiner Wurfel im Rk ist, B =

P : aj ≤ xj(P ) ≤ bj

. Fur die (k − 1)-Form

ωk−1 = g · dx1 ∧ · · · ∧ dxj ∧ · · · ∧ dxk,

liefern nur die Randwurfel Rj+ = B ∩

P : xj(P ) = bj

und Rj

− = B ∩P : xj(P ) = aj

einen Beitrag zum Randintegral. Wie im obigen zweidimensionalen Beispiel schreiben wir

g(· · · bj · · · )− g(· · ·aj · · · ) =

∫ bj

aj

∂gj

dxjdxj .

So wird aus der Differenz der (k − 1)-dimensionalen Integralen von ωk−1 uber die ge-genuberliegenden Wurfel das k-dimensionale Integral von dωk−1 uber den Wurfel. DerSatz von Stokes kann so fur Wurfel bewiesen werden, da man jede k−1-Form als SummeFormen der betrachteten Art darstellen kann: ωk−1 =

∑gj · dx1 ∧ · · · ∧ dxj ∧ · · · ∧ dxk.

Hinweis: Die Fragen der Orientierung des Randes sollen im anschliessenden Unterab-schnitt etwas genauer in Augenschein genommen werden. Von den glatten Wurfeln kannman schliesslich zu Summen von glatten Zellen, den sog. glatten Ketten weitergehen. Wiedas geht, werden wir ebenfalls andeuten.

Didaktischer Hinweis: Die Integrationsbereiche fur Formen sind in Anwendungennicht immer von vorneherein durch Parametrisierungen gegeben; man muss geeigneteParametrisierungen finden. Nicht in allen Fallen ist es leicht, sich von den als Integra-tionbereiche in Frage kommenden Kurven, Flachen, Raumbereichen . . . eine deutlicheVorstellung zu machen ohne auf irgendwelche Parametrisierungen zuruckzugreifen.

Manchmal sind Integrationsbereiche als Losungsmengen von Gleichungssystemen ge-geben. Denken wir zuerst an ‘Fachenstucke’ im R3. Wenn man zunachst von der Aus-richtung absieht, dann sieht eine solche Menge moglicherweise aus wie das gemeinsameNullstellengebilde eines Paars von Funktionen P : f 1(P ) = 0, f 2(P ) = 0, wo df 1 unddf 2 linear unabhangig sind. Die Grundlage fur solche Vorstellungen ist der Satz von derimplizit gegebenen Funktion. Die Sache ist aber mit Vorsicht zu betrachten. Der Weg vonden sog. Untermannigfaltigkeiten zu den gerichteten Bereichen Bk ist einigermaßen diffizil.Wenn man die Zusammenhange prazise knupfen will, benotigt man einen Begriffsapparat,der die Moglichkeiten einer Veranstaltung uber Integration bei weitem ubersteigt.

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110 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

8.4 Der Randoperator

Ein affines Simplex der Dimension m ist die konvexe Hulle von m+ 1 Punkten in allge-meiner Lage. Je l+ 1 Extremalpunkte bestimmen eine l-dimensionale Seite. Das Simplexselbst ist die einzige m-dimensionale Seite. Es gibt genau m + 1 Randsimplizes der Di-mension m− 1. Die Extremalpunkte sind die 0-dimensionalen Seiten.

Durch eine Aufzahlung seiner Extremalpunkte P0, P1, . . . , Pm erhalt ein m-dimensio-nales Simplex eine Ausrichtung. Zwei Aufzahlungen, die durch eine gerade Permutationauseinander hervorgehen, definieren dieselbe Ausrichtung. Die entgegengesetzte Ausrich-tung erhalt man, wenn man das Tupel der Extremalpunkte einer ungeraden Permutationunterwirft. Wir erlautern die Beziehungen zu den gerichteten affinen Wurfeln W:

Eine simpliziale Zerlegung eines Wurfels.

Es sei [P0, P1, . . . , Pm] ein affines Simplex mit aufgezahlten Ecken.

P1 = P0 + v1, P2 = P0 + v1 + v2, . . . , Pm = P0 + v1 + · · ·+ vm.

Jeder Punkt P im Simplex hat genau eine Darstellung

P = λ0P0 + λ1P1 + · · ·+ λmPm = P0 +∑m

1cj · vj mit

λj ≥ 0, 1 =

m∑

0

λj , c1 =

m∑

1

λj , . . . ck =

m∑

k

λj . . . .

Der Wurfel W =P : P = P0 +

∑cj · vj , ∀j 0 ≤ λj ≤ 1

ist die Vereinigung

der m! Simplexe Sπ, wenn wir fur jede Aufzahlung der Indizes π = (j1, . . . , jm) definierenSπ =

P : P = P0 +

∑cj · vj, 1 ≥ cj1 ≥ cj2 ≥ · · · ≥ cjm ≥ 0

. Die Schnittmengen

Sπ′ ∩ Sπ′′ sind (m − 1)-Simplexe. Der Rand des Wurfels besteht aus 2m Randwurfelnder Dimension m− 1; seine Punkte sind die Punkte mit cj = ±1. Er ist die Vereinigungder aussen gelegenen Rand-Simplexe der Sπ. Die innen gelegenen (m− 1)-dimensionalenRandsimplexe der Sπ treten jeweils zweimal auf.

Ausrichtung der Randsimplexe bzw. Randwurfel

Eine Ausrichtung eines m-dimensionalen Simplex (m ≥ 1) induziert eine Ausrichtung aufjedem (m− 1)-dimensionalen Randsimplex.Wie das funktioniert, erlautern wir zuerst furdie Dimension m = 2.

[P0, P1, P2] ;

[P1, P2]

[P2, P0]

[P0, P1]

.

Man notiert ∂[P0, P1, P2] = [P1, P2] + [P2, P0] + [P0, P1] = [P1, P2]− [P0, P1] + [P0, P1].Fur ein m-Simplex definiert man ∂[P0, P1, . . . , Pm] =

∑m0 (−1)k · [P0, . . . , Pk, . . . , Pm].

Die Uberstreichung bedeutet, dass der uberstrichene Punkt wegzulassen ist. Das Minus-Zeichen zeigt an, dass die nachfolgende Punktfolge einer ungeraden Permutation zu unter-ziehen ist. In Worten beschreibt man die Ausrichtung der Randsimplexe folgendermaßen:

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8.4 : Der Randoperator 111

Es sei [P0, P1, . . . , Pm] ein gerichtetes Simplex mit positiv aufgezahlten Eckpunkten. DasRandsimplex, welches man erhalt, indem man den k-ten Eckpunkt weglasst, ist positivauszurichten, wenn das m-Simplex, welches man erhalt, indem man den weggelassenenEckpunkt an der Stelle 0 wieder einfugt, das gegebene m-Simplex mit der richtigen Aus-richtung ergibt. Das ist offenbar genau dann der Fall, wenn k gerade ist.

Man uberzeugt sich, dass der Randoperator ∂ fur ein ausgerichtetes Simplex S wohl-definiert ist; d. h. wenn man die Folge [P0, P1, . . . , Pm] einer ungeraden Permutation un-terzieht, dann andern alle Summanden das Vorzeichen. Einem ausgerichteten Simplexordnen wir das algebraische Symbol

∣∣S⟩

zu, dem entgegengesetzt ausgerichteten Simplex

das algebraische Symbol −∣∣S⟩. Offenbar gilt ∂

(−∣∣S⟩)

= −∂(∣∣S

⟩).

Simpliziale Ketten

Es sei nun Sα : α ∈ I eine Familie von ausgerichteten Simplizes mit der Eigenschaft,dass auch alle Randsimplizes der Sα (in der einen oder anderen Ausrichtung) zur Familiegehoren. Der Randoperator wird auf formale Summen ausgedehnt. Die formalen ganzzah-ligen Summen bezeichnen wir

∑cα ·

∣∣Sα⟩, wo cα : α ∈ I eine Familie ganzer Zahlen ist

mit nur endlich vielen 6= 0. Diese algebraischen Objekte heissen die ganzzahligen Kettten,Man definiert den Randoperator auf dieser abelschen Gruppe C

∂(∑

cα ·∣∣Sα⟩)

=∑

cα · ∂(Sα).

Der Rand eines 0-dimensionalen Simplex ist = 0.Mit den formalen Summen der Simplizes Sα wird wie ublich gerechnet:

∑cα ·

∣∣Sα⟩

+∑dα ·

∣∣Sα⟩

=∑

(cα + dα) ·∣∣Sα⟩.

Definition 8.14. Wenn in einer Kette nur Simplizes mit der Dimension ≤ q nichtver-schwindende Koeffizienten haben, dann sagen wir, es handle sich um eine Kette von derDimension ≤ q. Die Gruppe dieser Ketten heisst die Kettengruppe zum q-dimensionalenGerust und wird mit C≤q bezeichnet. Eine Kette, in welcher nur Simplizes der Dimensionq mit einem Koeffizienten 6= 0 vorkommen, heisst eine Kette der Dimension q. (Man be-achte, dass die Null eine Kette von jeder Dimension ist.) Die Gruppe der Ketten von derDimension q wird mit Cq bezeichnet. C ist die direkte Summe dieser Untergruppen:

C = C0 ⊕ C1 ⊕ C2 ⊕ · · · =⊕

q=0

Cq.

Der Randoperator bildet Cq in Cq−1 ab; ∂q bezeichnet seine Einschrankung auf Cq.

0←− C0∂1←− C1

∂2←− C2∂3←− · · ·

Satz 8.4.1. Der Rand eines Rands verschwindet; ∂ ∂ = 0

Beweis. Es genugt, das fur Simplizes der Dimension m ≥ 2 nachzuweisen. Sei S =[P0, P1, . . . , Pm] ein Simplex mit aufgezahlten Ecken. In ∂S tauchen nur solche Tupel auf,

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112 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

die einen Extremalpunkt weniger haben; in ∂ ∂(S) kommen diejenigen mit zwei Ex-tremalpunkten weniger vor, jedoch mit dem Koeffizienten = 0, weil die Reihenfolge desWeglassens verschiedene Vorzeichen ergibt.

Die Ketten der Dimension q, deren Rand verschwindet, heissen die q-dimensionalenZyklen. Zq bezeichnet die Gruppe der q-dimensionalen Zyklen: Zq = c : ∂qc = 0.Die Untergruppe der q-dimensionalen Rander wird mit Bq bezeichnet: Bq = ∂q+1Cq+1.Die Faktorgruppe

Hq = Zq/Bq = ker ∂q/im ∂q+1.

heisst die q-te ganzzahlige Homologiegruppe der Familie Sα : α ∈ I.Gedachtnishilfe: Die Buchstaben C, Z, B erklaren sich durch die englischen Worter:

Kette = chain, Rand = boundary, Jeder Rand ist ein Zyklus.

Hinweis auf die Orientierungen einer Mannigfaltigkeit: Wenn P0, P1, . . . , Pm ein affinesSimplex mit aufgezahlten Ecken ist, dessen Ausrichtung als positiv festgelegt wurde, danninduziert das eine Orientierung des aufgespannten affinen Raums.

Eine Mannigfaltigkeit wird zu einer orientierten Mannigfaltigkeit, indem man fur jedeAufzahlung der Elemente einer lokalen Basis festlegt, ob sie als positiv und als negativgelten soll. Dabei ist Vertraglichkeit gefordert: Wenn zwei Kartengebiete einen nichtleerenDurchschnitt haben, dann haben die Aufzahlungen der lokalen Koordinatensysteme ge-nau dann dasselbe Vorzeichen, wenn die Jacobimatrix uberall im Durchschnitt positivesVorzeichen hat. Man uberlegt sich leicht: Wenn eine zusammenhangende Mannigfaltig-keit uberhaupt eine Orientierung besitzt, dann besitzt sie genau zwei Orientierungen, Dieeinfachste Mannigfaltigkeit, die keine Orientierung besitzt ist das beruhmte Mobiusband.

Affine Kettenkomplexe

Der Rand wurde oben rein kombinatorisch konstruiert. Wir denken nun aber auch kurz(zur Unterstutzung der Anschaulichkeit) an Simplizes (oder Zellen), die als kompaktekonvexe Mengen in einem hochdimensionalen affinen Raum liegen.

Definition. Es sei S eine Menge von affinen Simplizes (in irgendeinem affinen Raum)mit den Eigenschaften

(i) Gehort das Simplex S zu S, so gehort auch jede Seite zu S(ii) Fur je zwei Simplizes in S ist der Durchschnitt entweder leer oder eine gemeinsame

Seite.

Die Vereinigung dieser Simplizes heisst dann ein simplizialer Komplex oder auch ein sim-plizial zerlegter affiner Komplex. Die Topologen definieren: Ist ein topologischer RaumX zu einem simplizialen Komplex homoomorph, so heisst er triangulierbar oder auch eintopologisches Polyeder. Eine Triangulation oder simpliziale Zerlegung des topologischenRaums X liegt vor, wenn eine topologische Abbildung eines simplizialen Komplexes aufX fixiert ist.

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8.4 : Der Randoperator 113

Wichtig ist die Verallgemeinerung, die man einen affinen Zellenkomplex nennt. Stattder Simplizes hat man kompakte konvexe Polyeder mit den obigen Eigenschaften. Je-de m-dimensionale gerichtete Zelle K induziert eine Ausrichtung fur jede der (m − 1)-dimensionalen Randzellen, wie oben beschrieben : Es sei [P1, . . . , Pm] ein Simplex mitaufgezahlten Ecken in einer Randflache und [P0, P1, . . . , Pm] ein Simplex in K; der Ran-doperator ubertragt dann die Orientierung der Eckenaufzahlung.

Die weiteren Begrifflichkeiten um die ‘topologischen Polyeder’ mussen wir hier nochnicht entwickeln; wir interessieren uns vorerst nur fur die kombinatorischen Gegebenhei-ten. Wir diskutieren zunachst einmal das eindimensionale Gerust eines simplizialen Kom-plexes; denn hier konnen wir an die Vorstellungsweisen der Graphentheorie anknupfen.

Der Kettenkomplex zu einem Graphen

Gegeben sei ein ungerichteter Graph ohne Schleifen und Doppelkanten uber der Scheitel-menge S0. Die Kantenmenge sei mit S1 bezeichnet. Wir spezifizieren eine Orientierungder Kanten, d. h. wir spezifizieren fur jede Kante k ∈ S1, welchen ihrer Randpunktewir als den Anfangspunkt α(k) ansehen wollen (und welchen als den Endpunkt β(k)).Die Kante k mit α(k) = P, β(k) = Q notieren wir auch k = [P,Q]. Eine formale Summe∑ck ·k =

∑ck ·[α(k), β(k)

]mit ganzzahligen ‘Gewichtungen’ ck nennen wir eine 1-Kette.

Die Gruppe der 1-Ketten bezeichnen wir mit C1. Die Menge der ganzzahligen Gewich-tungen der Scheitel des Graphen bezeichnen wir mit C0. Der Randoperator ∂ bildet C1 inadditiver Weise in C0 ab mit ∂k = β(k)− α(k). Bemerke: Wenn k die Kante von P nachQ ist, dann entspricht −k einer Kante von Q nach P . Wir notieren auch −k = [Q,P ].

Was man sich naturlicherweise als einen Weg von P = P0 nach Q = Pn vorstel-len mochte (ohne scharfe mathematische Definition!) liefert eine 1- Kette c = [P0, P1] +[P1, P2] + · · ·+ [Pn−1, Pn] mit ∂c = Pn − P0 = Q− P . Man spricht bekanntlich von einemdoppelpunktfreien Weg, wenn die Pk paarweise verschieden sind. Einen doppelpunktfreiengeschlossenen Weg nennt man eine Masche. Zu den geschlossenen Wegen und speziell zuden Maschen gewinnt man 1-dimensionale Zyklen. Die Zyklen sind diejenigen formalenLinearkombinationen c =

∑n[Pn, Qn], in welchen jeder Scheitel (wenn uberhaupt) genau

so oft an erster wie an zweiter Stelle vorkommt.Mit dem Begriff des aufspannenden Baums kann man sich ein sehr einfaches Bild von

der Gruppe der 1-Zyklen Z1 machen. Man beweist namlich leicht den

Satz. In einem ungerichteten Graphen ohne Schleifen und Doppelkanten existiert eineMenge von Maschen, sodass jeder Zyklus in eindeutiger Weise als ganzzahlige Linearkom-bination der Maschen darstellbar ist.

Der Satz impliziert offenbar, dass Z1 isomorph ist zur Gruppe Zn fur eine gewisses n.Wir bemerken: Das zweidimensionale Gerust eines kombinatorischen Komplexes ent-

steht aus dem eindimensionalen dadurch, dass man erklart, welche Tripel von Ecken dieEcken eines Dreiecks im Komplex sind und welche nicht. Besonders ubersichtlich ist dieLage bei den sog. planaren Graphen. Das sind diejenigen Graphen, deren Scheitel manso in die Ebene legen kann, dass sich die durch Kurvenstucke realisierten Kanten desGraphen nur in Scheiteln treffen.

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114 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

Warnung

Wir haben das alles recht ausfuhrlich geschildert, um Verstandnisschwierigkeiten vorzu-beugen, die beim Anfanger manchmal entstehen, wenn spater den Gruppen Cq,Zq,Bq diereellen Vektorraume der Coketten, Cozyklen und Corander Cq,Zq,Bq gegenubergestelltwerden. Die Coketten sind ganz andere Objekte als die Ketten.

Man darf sich vorstellen, dass der Vektorraum der q-Coketten Cq der Dualraum desRaums der q-Ketten Cq ist. Streng genommen gilt das aber nur, wenn man zuerst von denganzzahligen Gewichtungen auf der Menge der q-Simplizes zu den reellen Gewichtungenauf der Menge der q-Simplizes ubergegangen ist. — Das werden wir auch tun, wenn wirim Beispiel unten elektrische Netzwerke diskutieren.

Die 0-Coketten kann man in jedem Fall als die reellwertige Funktionen auf der Schei-telmenge S0 verstehen; die 1-Coketten sind die ‘Funktionen’ auf der Kantenmenge; in derTheorie der Mannigfaltigkeiten erscheinen sie als die 1-Formen. Der Corand-Operator dist der zum Randoperator ∂ duale Operator.

0 −→ C0 d−→ C1 d−→ C2 d−→ · · ·

In der Dimension 0 haben wir eine lineare Abbildung C0 −→ C1. Sie macht aus derFunktion f auf der Scheitelmenge die 1-Cokette df , welche der Kante den Anstieg derFunktion entlang dieser Kante zuordnet: Wir notieren

⟨df, k

⟩= f(β(k))− f(α(k)) =

⟨f, ∂k

⟩fur f ∈ C0, k ∈ C1.

In der Dimension 1 haben wir eine lineare Abbildung der Kantenfunktionen ω1 7→ ω2 =dω1. Eine 1-Form ω1 ∈ C1 liefert fur jedes 2-Simplex [P0, P1, P2] eine Zahl, namlich

⟨dω1, [P0, P1, P2]

⟩=⟨ω1, [P1, P2]

⟩+⟨ω1, [P2, P0]

⟩+⟨ω1, [P0, P1]

⟩.

Diese Zahl nennt man manchmal die Rotation von ω1 uber dem Simplex.Es kann empfohlen werden, dass man sich die Elemente aus Cq immer als ’Gewichtun-

gen’ oder Vielfachheiten vorstellt (es ist ublich, nur ganzzahlige Gewichtungen zuzulassen)und die Elemente Cq (mit hochgestelltem q) als ‘Funktionen’. Die Operatoren ∂ (‘Rand’)und d (‘Corand’) sind zueinander dual. Der Rand erniedrigt die Dimension, der Coranderhoht sie.

Beispiel 8.4.1 (Elektrische Netzwerke). S0 sei eine Menge von Lotstellen und S1 eineMenge von leitenden Verbindungen. Wenn wir die Lotstellen auf ein Potential f bringen,dann bringt das auf die leitenden Verbindungen einen Potentialabfall (‘Spannung‘) df .Wenn wir Strome in den Leitungen haben, dann beschreiben wir diese durch 1-Ketten.Ein beliebiger Strom kann durch Abfusse nach und Zuflusse von draussen in Gang ge-halten werden; im Knoten P muss der Uberschuss der von den Nachbarknoten zu- undabfliessenden Stromstarken ab- oder zugeleitet werden. Der Rand ∂c beschreibt den vonden Lotstellen nach aussen fließenden Strom. Fur c = [P0, P1] + [P1, P2] + · · ·+ [Pn−1, Pn]haben wir ∂c = [Pn]− [P0]. Beispiel: Wenn fur einen Strom c gilt ∂c = g · [Q]−g · [P , dann

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8.4 : Der Randoperator 115

interpretieren wir das so, dass ein Strom von g Ampere fliesst von Q nach P fliesst. DieZyklen sind die stationaren Strome ohne Ein- und Abfluss. Zweidimensionale Simplizesgibt es hier nicht.

Hinweis: Die Theorie der elektrischen Schaltkreise ist eine Approximation an dieTheorie des Elektromagnetismus. In dieser Approximation wird angenommen, dass diePhanomene dadurch beschrieben werden konnen, dass man sagt, was in endlich vielenSchaltelementen vorgeht, dass also der umgebende Raum mit seinen Feldern keine Rollespielt. (Siehe z. B. Feynman’s Lecture Notes, Bd. II, Kap. 22 ff.)

Ein Schaltkreis setzt sich aus passiven und aktiven Komponenten k zusammen, wel-che irgendwie in Knoten P verbunden sind. Es geht um den Spannungsabfall V k und denStrom Ik in allen Komponenten k, wenn in gewissen ‘aktiven ’ Komponenten elektromo-torische Krafte Ek bzw. Strome eingespeist werden. Die elementaren Schaltelemente sindInduktoren (‘Spulen’), Kondensatoren und Ohm’sche Widerstande. (In Wirklichkeit kannnaturlich die Trennung des Gesamtsystems in elementare Komponenten nicht vollkom-men sein.) Der einfachste Schaltkreis, in welchem alle drei Typen sowie ein Generatorvorkommen, ist durch den harmonischen Oszillator gegeben; dort sind alle Elemente ‘inReihe’ geschaltet. Die Schaltelemente kann man auch ‘parallel’ schalten. Die Theorie derSchaltkreise befasst sich mit komplizierteren ‘Verlotungen’.

Das Beispiel wird uns noch weiter beschaftigen. Bei schwachen Stromen kann manmit linearen Zusammenhangen zwischen den Stromen und den Spannungen rechnen. Dieelektrische Energie auf den Kondensatoren und die in der Zeiteinheit dissipierte Energiein den Widerstanden sind durch quadratische Formen beschrieben.

Eine fur Mathematiker gut lesbare Beschreibung der Theorie findet sich in dem hervor-ragenden Lehrbuch von Paul Bamberg und Shlomo Sternberg: A course of mathematicsfor students of physics in the second year, Chap. 12 -14, p. 407-526.

Auch in den Szenarien der nachsten ‘Beispiele’ werden wir keine substantiellen Satzebeweisen. Es kann nur darum gehen, erste Ideen vom algebraischen Umgang mit demRandoperator ∂ zu vermitteln.

Beispiel 8.4.2 (Nullhomologe Wege in Gebieten G ⊆ C).Bei der Diskussion holomorpher Differentiale f(z) dz uber Gebieten G in der komplexenEbene haben wir polygonale Kurvenzuge homotop deformiert. Ein zentrales Ergebnis warder Cauchy’sche Integralsatz in der Homotopieversion: Das Integral einer holomorphenForm uber eine geschlossene Kurve ergibt jedenfalls dann den Wert 0, wenn man dieKurve in G auf einen Punkt zusammenziehen kann. (Die Kurven dieser Art heissen dienullhomotopen Kurven.) Eine Verallgemeinerung dieses Satzes ist die Homologieversiondes Cauchy’schen Integralsatzes; sie besagt, dass auch das Integral uber nullhomologeKurven verschwindet. Die nullhomogen Polygonzuge sind die Rander der zweidimensio-nalen affinen Komplexe im Gebiet G. In den Lehrbuchern der Funktionentheorie findetman einfache Beispiele von geschlossenen Kurven in der zweifach punktierten komplexenEbene G = C \ +1,−1, die nullhomolog sind, aber nicht auf einen Punkt zusammenge-zogen werden konnen. Man kann zeigen, dass eine geschlossene Kurve im Gebiet G genau

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116 Die Integration von Differentialformen Integrationstheorie

dann nullhomolog ist, wenn fur jeden Punkt z ausserhalb G die Umlaufszahl der Kurvein Bezug auf z verschwindet, wenn also, salopp gesprochen, jedes z /∈ G von der Kurvegenauso oft im positiven wie im negativen Sinn umlaufen wird.

Wir haben fruher definiert: Ein parametrisiertes glattes Kurvenstuck auf einer Mannig-faltigkeit ist eine stetig differenzierbare Abbildung eines Intervalls in die Mannigfaltigkeitγ(t) : t′ ≤ t ≤ t′′

. Solche parametrisierten Kurvenstucke liefern dieselbe Kurve, wenn

sie durch eine stetig differenzierbare richtungserhaltende Umparametrisierung aus einan-der hervorgehen. Verabredung: Stetige Differenzierbarkeit einer Abbildung β der MengeS soll bei uns hier immer heissen, dass β die Einschrankung einer auf einer Umgebungvon S stetig differenzierbatren Abbildung ist.

Definition (Glatte gerichtete Simplizes in einer Mannigfaltigkeit).Ein parametrisiertes glattes gerichtetes m-Simplex auf einer Mannigfaltigkeit ist eine ste-tig differenzierbare Abbildung eines affinenm-Simplexes mit aufgezahlten Ecken. Zwei sol-che Abbildungen

γ′(t) : t ∈ [P0, P1, . . . , Pm]

und

γ′′(s) : s ∈ [Q0, Q1, . . . , Qm]

beschreiben (definitionsgemaß!) dasselbe gerichtete glatte Simplex γ(·) auf der Mannig-faltigkeit, wenn stetig differenzierbare (mit den Ausrichtungen vertragliche) Umparame-trisierungen T (·), S(·) existieren, wenn also γ′(T (s)) = γ′′(s), γ′′(S(t)) = γ(t) mit Dif-feomorphismen S(·), T (·)

T (S(t)) = t fur t ∈ [P0, . . . , Pm], und S(T (s)) = s fur s ∈ [Q0, . . . , Qm]

Man beachte: Es ist nicht gefordert, dass γ(·) eine Immersion ist. Es ist eine sehrspezielle Situation, wenn das Bild des offenen affinen Simplexes eine Untermannigfaltigkeitist; in diesem Fall nennt man das Bild eine glatt parametrisierbare Untermannigfaltigkeit.

Das Bezeichnung ‘singular’ hat keine gute Begrundung; es dient traditionell der Un-terscheidung von anderen Typen von Simplizes.

Die formalen Summen von gerichteten Simplizes heissen die ganzzahligen singularenKetten. Der Rand eines m-dimensionalen gerichteten singularen Simplexes γ(·) ist eine(m− 1)-dimensionale singulare Kette, die in offensichtlicher Weise als Summe von m+ 1gerichteten Simplizes geschrieben werden kann. Man betrachtet einfach die Einschrankun-gen von γ(·) auf die Randsimplizes (mit ihren Orientierungen): γk(·) : k = 0, 1, . . . , mund summiert

∂γ =

m∑

k=0

(−1)k ·∣∣∣γk⟩.

Der Rand eines Rands ist 0. Eine singulare Kette mit verschwindendem Rand heisst einsingularer Zyklus. Die Menge der q-dimensionalen Zyklen ist eine kommutative Gruppe,die Menge der q-dimensionalen Rander ist eine Untergruppe; die Faktorgruppe heisst dieq-te singulare Homologiegruppe der Mannigfaltigkeit.— Die singularen Homologiegruppensind ein reichlich kompliziertes Thema der algebraischen Topologie. Es zeigt sich, dass dieTheorie der Cohomologie-Gruppen weniger kompliziert ist. Es gibt also gute Grunde, sichmit den Coketten, Cozyklen und Corandern anzufreunden, auch wenn diese auf den ersten

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8.4 : Der Randoperator 117

Blick weniger anschaulich sein mogen. In diesem Sinne sollte man grundlich mit den k-Formen befassen. Dazu braucht man aber Kenntnisse aus der Linearen Algebra; zentralist der Begriff der alternierenden Multilinearform.

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