Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2 · Prädiktor, während EI in keiner der Analysen...

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1.1 Einleitung Dem Vorgehen des politischen Kabarettisten Volker Pispers nicht unähnlich, der seit mehreren Jahren mit einer ständig aktualisierten Fassung des anläss- lich seines 20-jährigen Bühnenjubiläums zusammengestellten Programms „… bis neulich“ auftritt, stellt der vorliegende Beitrag einen subjektiven Streifzug durch die psychologische Intelligenzforschung dar. Der Untertitel „Fluch und Fortschritt 2.0“ unterstreicht dabei den ambivalenten Charak- ter, der diese Betrachtungen mitunter kennzeichnet. Zweifelsohne gehört die psychologische Intelligenzforschung zu den Erfolgsthemen der Psycho- logie. Gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Forschungstradition, die im Rahmen der Strukturforschung ins beginnende 20. Jahrhundert zurückreicht, hochreliablen Testverfahren, einer breitgefächerten Validität und einer ho- hen Alltagsrelevanz, stellt die Intelligenz einen allgemein akzeptierten Er- folgsfaktor dar, der mit zahlreichen gesellschaftlich relevanten Kriterien in Beziehung steht. Dem ungeachtet haben die gesellschaftspolitische Brisanz des Themas, die bisweilen ideologische Färbung von Diskussionsbeiträgen sowie falsche Annahmen zur Ätiologie und Beeinussbarkeit der Intelligenz zu Missverständnissen und interdisziplinären Irritationen geführt, die einen fruchtbaren Diskurs über Einussgrößen auf die Intelligenzentwicklung und die Effekte interindividueller Unterschiede in der Ausprägung kognitiver Fähigkeiten erschwert, wenn nicht verhindert haben. In Kombination mit verhaltensgenetischen Methoden wird aus dem Forschungsthema Intelligenz schnell ein „heißes Eisen“, dessen Aussagen sowohl in der wissenschaft- lichen als auch jenseits der akademischen Fachöffentlichkeit schnell miss- verstanden werden. Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2.0 Frank M. Spinath 1

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1.1Einleitung

Dem Vorgehen des politischen Kabarettisten Volker Pispers nicht unähnlich, der seit mehreren Jahren mit einer ständig aktualisierten Fassung des anläss-lich seines 20-jährigen Bühnenjubiläums zusammengestellten Programms „… bis neulich“ auftritt, stellt der vorliegende Beitrag einen subjektiven Streifzug durch die psychologische Intelligenzforschung dar. Der Untertitel „Fluch und Fortschritt 2.0“ unterstreicht dabei den ambivalenten Charak-ter, der diese Betrachtungen mitunter kennzeichnet. Zweifelsohne gehört die psychologische Intelligenzforschung zu den Erfolgsthemen der Psycho-logie. Gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Forschungstradition, die im Rahmen der Strukturforschung ins beginnende 20. Jahrhundert zurückreicht, hochreliablen Testverfahren, einer breitgefächerten Validität und einer ho-hen Alltagsrelevanz, stellt die Intelligenz einen allgemein akzeptierten Er-folgsfaktor dar, der mit zahlreichen gesellschaftlich relevanten Kriterien in Beziehung steht. Dem ungeachtet haben die gesellschaftspolitische Brisanz des Themas, die bisweilen ideologische Färbung von Diskussionsbeiträgen sowie falsche Annahmen zur Ätiologie und Beeinfl ussbarkeit der Intelligenz zu Missverständnissen und interdisziplinären Irritationen geführt, die einen fruchtbaren Diskurs über Einfl ussgrößen auf die Intelligenzentwicklung und die Effekte interindividueller Unterschiede in der Ausprägung kognitiver Fähigkeiten erschwert, wenn nicht verhindert haben. In Kombination mit verhaltensgenetischen Methoden wird aus dem Forschungsthema Intelligenz schnell ein „heißes Eisen“, dessen Aussagen sowohl in der wissenschaft-lichen als auch jenseits der akademischen Fachöffentlichkeit schnell miss-verstanden werden.

Intelligenzforschung:Fluch und Fortschritt 2.0Frank M. Spinath

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In gewisser Hinsicht ist dieses Problem hausgemacht: Die Verwendung eines innerhalb der Verhaltensgenetik eindeutig defi nierten Begriffs wie der „Erblichkeit“ führt in einem populärwissenschaftlichen Kontext leicht zu der Annahme, dass Verhaltens- und Interventionsspielräume gering ausfallen werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die (wissenschaftssprach-lich völlig korrekte) Aussage lautet: „Die Erblichkeit der Intelligenz beträgt etwa 70%.“ Hier ist es nicht verwunderlich, wenn Nichtexperten dies in der oben genannten Weise (miss-)verstehen. Gleichwohl bedeutet diese Aussage eigentlich, dass 70% der interindividuellen Unterschiede in der Intelligenz durch genetische Faktoren erklärbar sind. Es ist jedoch offenkundig, dass diese korrekte Lesart kompliziert anmutet. Selbst psychologisch vorgebildete Personen wie etwa Studierende des Faches tun sich oftmals schwer, korrekte und nicht korrekte Implikationen dieser Aussage zu unterscheiden. Doch was wird im vorliegenden Beitrag eigentlich unter Intelligenz verstanden?

1.2Begriffsbestimmung

Die mit Spearman (1904) begonnene und nahezu ein Jahrhundert andauernde Tradition der Intelligenzstrukturforschung hat sich vornehmlich mit der Fra-ge beschäftigt, wie viele und welche Fähigkeitsbereiche zum Gegenstands-bereich der Intelligenz gehören und wie deren struktureller Aufbau zu sehen ist. Einige Strukturmodelle der Intelligenz, darunter das Primärfaktorenmo-dell (Thurstone, 1938) oder die Theorie Fluider und Kristalliner Intelligenz (Horn & Cattell, 1966), haben neben den Pionierarbeiten von Binet und Simon (1905) bis heute einen nachhaltigen Einfl uss auf die Operationalisie-rung der Intelligenz und die Art und Weise, in der Intelligenz getestet wird. Kritik, dass auch eine über 100 Jahre andauernde Intelligenzforschung nicht in der Lage war, eine einheitliche Defi nition des Konstrukts hervorzubrin-gen, ist zwar insofern angebracht, als zahlreiche verbale Defi nitionsange bote existieren. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass auf der Grundlage zahlreicher empirischer Arbeiten ein breites, konsensuelles Verständnis dafür gewachsen ist, dass zur Intelligenz ein hierarchisch organisiertes Set spezi-fi scher verbaler und kognitiver Fähigkeiten gezählt werden kann. Dieses Set umfasst beispielsweise die Bereiche Wortschatz, verbale Produktion, nume-rische Fähigkeiten, räumliche Fähigkeiten, Gedächtnisleistung, Wahrneh-mungsgeschwindigkeit und schlussfolgerndes Denken.

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Ein Modell, welches von vielen Intelligenzforschern als adäquater Inte-grationsversuch betrachtet wird, ist das 3-Ebenen-Modell der Intelligenz von Carroll (1993).

An der Spitze der Intelligenzhierarchie steht gemäß dieses Modells, das auf einer Reanalyse einer großen Zahl empirischer Datensätze beruht, ein Faktor allgemeiner (general) Intelligenz oder „g“. Auf der nächsten Ebene fi nden sich eine Reihe unterschiedlicher Fähigkeitsbereiche, die von links nach rechts abnehmend stark mit dem „g“-Faktor zusammenhängen. Auf der dritten Ebene sind insgesamt 69 enger gefasste, spezifi sche Fähigkeiten an-gesiedelt.

gAllgemeine I t lliIntelligenz

GfFluide

Intelligenz

GcKristallineIntelligenz

GyGedächtnis& Lernen

GvVisuelle

Perzeption

GuAuditive

Perzeption

GrAbruf-

Kapazität

GsMentalSpeed

GzEinfache

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Abbildung 1: 3-Ebenen-Modell der Intelligenz nach Carroll (1993)

Gegenüber empirisch fundierten integrativen Strukturmodellen wie dem Carroll-Modell erweisen sich alternative Strukturmodelle wie etwa Gardners (1983, 1999) Modell Multipler Intelligenzen (MI), das sich insbesondere im pädagogischen Bereich großer Beliebtheit erfreut, als weitgehend unhaltbar (vgl. Rost, 2008). Ebenso wenig konnte die Forschung zur Emotionalen In-telligenz (EI) bislang die hoch gesteckten Erwartungen erfüllen, die Mitte der 1990er Jahre im Zuge der Veröffentlichung von Golemans (1995) Best-seller „Emotional intelligence: Why it can matter more than IQ“ formuliert wurden. So titelte beispielsweise das TIME-Magazin in seiner Ausgabe vom 2. Oktober 1995: „What’s your EQ? It’s not your IQ. It’s not even a number.

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But emotional intelligence may be the best predictor of success in life, rede-fi ning what it means to be smart.“

Ursprünglich war das Konstrukt der Emotionalen Intelligenz (EI) von Sa-lovey und Mayer im Jahre 1990 eingeführt worden. In der Folge revidier-ten die Autoren ihr Modell (Mayer & Salovey, 1997) und entwickelten den ersten EI-Leistungstest, der 2003 in überarbeiteter Fassung vorgestellt wur-de (MSCEIT 2.0; Mayer, Salovey, Caruso & Sitarenios, 2003). Allerdings gibt es zahlreiche kritische Stimmen bezüglich der psychometrischen Qua-lität und insbesondere der Validität dieser Messinstrumente (z.B. Zeidner, Matthews & Roberts, 2001). Der Konzeptualisierung von EI als Fähigkeit stellten andere Autoren (z.B. Bar-On, 2000) Modelle gegenüber, in denen EI nicht allein auf Emotionen oder Intelligenz bezogen, sondern als Bezeich-nung für eine mannigfaltige Gruppe von Persönlichkeitsmerkmalen verwen-det wird, die Erfolg sowohl in berufl ichen als auch privaten Lebensbereichen vorhersagen sollen (vgl. dazu auch Petrides & Furnham, 2001).

Festzuhalten bleibt derweil, dass EI, anders als mancher Werbetext für ent sprechende populärwissenschaftliche Literatur glauben machen will, bis-lang weit hinter dem Erklärungswert klassischer Intelligenzmaße zurück-bleibt. In ihrer vergleichenden Betrachtung existierender EI-Modelle re-sümieren Neubauer und Freudenthaler (2006, S. 56): „In Anbetracht der enormen Vielfalt an existierenden psychologischen Konstrukten und ihren grundlegenden Theorien bleibt die Frage offen, ob Emotionale Intelligenz tatsächlich ein neues bedeutungsvolles psychologisches menschliches Merk-mal beschreibt oder ob es nur eine neue Bezeichnung für bereits existierende Konstrukte darstellt.“

1.3Korrelate der Intelligenz

Kaum ein anderes Konstrukt der Psychologie hat sich als derart mächtig hin-sichtlich der Kriteriumsvalidität erwiesen wie die Intelligenz. Mit anderen Worten: Kaum ein anderes Merkmal kann es in der Vielfältigkeit, mit der relevante Außenkriterien vorhergesagt werden können, mit der Intelligenz aufnehmen (vgl. Brand, 1996; Gottfredson, 1997; Rost, 2009, Kap. 6). Em-pirisch bestätigte Zusammenhänge der Intelligenz reichen von Berufserfolgs-kriterien (z.B. berufl icher Status) über soziale Fähigkeiten (z.B. Einfühlsam-keit), Werte und Einstellungen (z.B. geringere Ausprägungen von Dogmatis-mus), Kreativität, schulische Variablen (z.B. Schulleistung), nichtdeviantes Verhalten (z.B. geringere Kriminalitätsrate) bis hin zu Gesundheitsverhalten

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(z.B. gesundheitsförderliche Ernährungspräferenzen) und einer geringeren Unfallwahrscheinlichkeit. Darüber hinaus korrelieren Intelligenz und so-zioökonomischer Status in substantieller Größenordnung (r = .50; Jencks, 1979). Die Korrelate der Intelligenz sind derart vielfältig und ausgeprägt, dass Brand (1987, S. 257) die Bedeutung der Intelligenz für die Psychologie mit der Bedeutung des Kohlenstoffs für die Chemie verglich („g is to psy-chology what carbon is to chemistry“). Tabelle 1 enthält eine Zusammenstel-lung von Korrelaten der Intelligenz.

Kognitive FähigkeitenReaktionszeiten (–)WahrnehmungsfähigkeitenSprachliche FähigkeitenLogische FähigkeitenPraktisches WissenMerkfähigkeit

BerufserfolgBerufl icher StatusEinkommenLeistungsmotivationBildungsabschlussWohnortwechselMilitärischer RangFührungsfähigkeit

Soziale FähigkeitenAltruismusMoralisches VerständnisMoralische EntwicklungEinfühlsamkeitSinn für Humor

Werte und EinstellungenDogmatismus (–)Unterwürfi gkeit (–)Konservativität (–)Autoritarismus (–)Rassismus (–)

KreativitätKünstlerische FähigkeitenMusikalische FähigkeitenMedienpräferenzBreite und Tiefe von Inte-

ressen

Schulische VariablenSchulleistungTeilnahme schulische

AktivitätenAußerschulische Aktivi-

tätenSchulschwänzenLesegeschwindigkeit

Deviantes VerhaltenKriminalität (–)Delinquenz (–)

GesundheitsverhaltenFitnessLebensdauerRauchverhalten (–)Body–Mass–Index (–)Sportliche BetätigungAltern (–)ErnährungspräferenzenAlkoholismus (–)Erfolg von Psychothe-

rapie

VerschiedenesUnfallneigung (–)Impulsivität (–)Motorische FähigkeitenWahl des EhepartnersKindersterblichkeit (–)Verfälschendes Ant-

wortverhalten (–)KörpergrößeSozioökonomischer

StatusNerven leit geschwindig-

keitGlukosemetabolismusMyopie

Tabelle 1: Korrelate der Intelligenz (nach Brand, 1987)

Als anschauliches Beispiel mag eine aktuelle Studie von Deary, Strand, Smith und Fernandes (2007) gelten. Diese Autoren nahmen eine längs-schnittliche Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Intelligenz und Schulleistung vor. Untersucht wurden insgesamt 74 403 englische Schul-kinder aus 937 Sekundarschulen, die mit elf Jahren den Cognitive Abili-ties Test (CAT), der aus verbalen, nonverbalen und quantitativen Aufgaben zum schlussfolgernden Denken besteht, bearbeitet hatten. Fünf Jahre später

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wurden Schulleistungen im Rahmen des General Certifi cate of Secondary Education (GCSE) erfasst. Das GCSE entspricht in etwa dem deutschen Re-alschulabschluss und gilt im britischen Schulsystem als die wichtigste Ab-schlussprüfung für die Sekundarstufe I (High School). Schüler absolvieren in der Regel in fünf bis zehn Fächern GCSE-Prüfungen. Das Notenspektrum erstreckt sich von A* für die beste Note bis G bzw. U für eine unbewertbare Leistung. Die prädiktive Validität des „g“-Faktors für den GCSE-Gesamtwert betrug r = .69. In den verschiedenen Bereichen der Schulleistung, die in vier Kategorien unterteilt waren (Arts and Humanities, Science, Social Sciences sowie Practical), reichten die Korrelationen zwischen „g“-Faktor und den Leistungen in den einzelnen Fächern von r = .43 (Kunst und Design) bis r = .77 (Mathematik). Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse einer konfi rmatori-schen Faktorenanalyse aus dieser Studie, in die neben den Intelligenzdaten auch die Leistungsergebnisse in der beliebtesten Fächerkombination engli-scher Schülerinnen und Schüler einging (N = 13 248).

Der in Abbildung 2 dargestellte Zusammenhang zwischen allgemeiner Intelligenz und einem generellen Schulleistungsfaktor ist mit r = .81 aus-gesprochen hoch und belegt den maßgeblichen Zusammenhang zwischen den beiden Konstruktbereichen. Zudem unterstreichen die Faktorladungen eindrucksvoll die Angemessenheit unidimensionaler Strukturen höherer Ord-nung sowohl im Schulleistungs- wie auch im Intelligenzbereich.

English

English Lit.

.86

.82CATVerbal.83

.81

Maths

Science

F2 F1.84

.87

88

CATNon-verbal

.81

.73

Geography

French

.88

.80CATQuantitative

Schulleistung

French

Intelligenz

Abbildung 2: Modellierung der latenten Merkmale Intelligenz und Schulleistung F1=Faktor 1 (Intelligenz), F2=Faktor 2 (Schulleistung), CAT=Cognitive

Abilities Test

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In einer Studie zur prädiktiven Validität von EI (Rode et al., 2008) wur-den in zwei Stichproben mit insgesamt 1067 Studierenden der Wirtschafts-wissenschaften neben EI auch allgemeine Intelligenz, Persönlichkeit sowie positiver und negativer Affekt erhoben, um akademische Leistung (GPA; grade point average) und Lebenszufriedenheit vorherzusagen. Obgleich In-telligenz lediglich mit einem 12-minütigen Kurztest, dem Wonderlic Person-nel Test (WPT, 2000), erfasst wurde, ergaben hierarchische Regressionsana-lysen, dass der weitaus größte Teil der aufgeklärten Varianz in akademischen Leistungen auf Intelligenz zurückging, während ein nur geringfügiger zu-sätzlicher Varianzanteil auf Gewissenhaftigkeit entfi el. Selbst bei der Vorher-sage der selbstberichteten Lebenszufriedenheit erwies sich Intelligenz neben einem günstigen Affektmuster und Gewissenhaftigkeit noch als bedeutsamer Prädiktor, während EI in keiner der Analysen inkrementelle Validität besaß (siehe zur Kritik der EI auch den Beitrag von Rost in diesem Band).

1.4Zündstoff in Glockenkurvenform

Im Jahr 1994 erschien mit The bell curve (Herrnstein & Murray, 1994) ein Bestseller und gleichzeitig eines der meistdiskutierten Bücher des ausgehen-den 20. Jahrhunderts, vornehmlich aufgrund der darin formulierten sozial-politischen „Empfehlungen“. In der bell curve beschwören die Autoren den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft in eine wohlhabende „kognitive Eli-te“ und eine zahlenmäßig überlegene „Unterschicht“. Stark betont wird zu-dem die Bedeutung eines verringerten IQ als Prädiktor für soziale Probleme (Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, Kriminalität). Ferner wird die Erblichkeit der Intelligenz fälschlicherweise als Ursache für Gruppendifferenzen und eine stark eingeschränkte Möglichkeit zur Förderung kognitiver Fähigkeiten interpretiert. In Reaktion auf die bell curve erschienen zahlreiche „Gegen-darstellungen“ in Buchform mit teils vergleichsweise martialischen Titeln wie The bell curve wars (Fraser, 1995). Im Februar 1996 veröffentlichte eine elfköpfi ge Task Force, bestehend aus einer Gruppe von Intelligenzforschern mit sehr unterschiedlichen Forschungshintergründen, einen bemerkenswerten wissenschaftlichen Artikel im American Psychologist, in dem die empirische Befundlage der Intelligenzforschung und daraus ableitbare Schlussfolgerun-gen sachlich thematisiert wurden (Neisser et al., 1996). Wie das folgende Zitat klar zum Ausdruck bringt, hatte sich das Fach in großer Geschlossen-heit gegen eine politische Instrumentalisierung von Befunden aus der Intelli-genzforschung ausgesprochen: „The study of intelligence does not need po-

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liticized assertions and recriminations; it needs self-restraint, refl ection, and a great deal more research. The questions that remain are socially as well as scientifi cally important“ (Neisser et al., 1996; S. 97). Zwei Jahre zuvor war im Wall Street Journal vom 13. Dezember 1994 ein ähnliches – von Gott-fredson initiiertes – umfassendes Manifest zur Intelligenzforschung erschie-nen (Mainstream Science on Intelligence; eine deutsche Übersetzung fi ndet sich im Anhang von Eysenck, 2004), um jenseits von Ideologien die wich-tigsten einschlägigen Befunde zusammenzufassen. Es war von vielen in der Intelligenzforschung ausgewiesenen Experten – insgesamt 52 – unterzeichnet worden.

Die Diskussion um die bell curve und die damit verbundene Diskussi-on um ethnische Gruppendifferenzen in kognitiven Fähigkeiten und deren gesellschaftliche Implikationen schien in allererster Linie ein US-amerika-nisches Thema zu sein. Umso bemerkenswerter war eine deutsche Publika-tion, in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte im Jahre 2003 mit dem Titel „Ver-lust von Humankapital in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit“ (Ebenrett, Hansen & Puzicha, 2003). Die Autoren des Beitrags berichten hier regio-nal gemittelte Intelligenztestleistungen 248 727 junger Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren, die bundesweit im Rahmen der Eignungsuntersuchung der Bundeswehr getestet worden waren. Es fand sich ein deutliches West-Ost-und Süd-Nord-Gefälle zu Ungunsten des Ostens und des Nordens. Außerdem wurden Korrelationen der durchschnittlichen IQ-Werte mit Indikatoren wie etwa der Wirtschaftskraft (r = .31), Arbeitslosigkeit (r = –.62) und Binnen-wanderung (r = .45) berichtet. Aus dieser Ergebnislage schließen die Auto-ren, dass hohe Arbeitslosigkeit in wirtschaftsschwachen Regionen systemati-sche Abwanderung und ein niedriges Niveau regionaler Intelligenzleistungen bedingen. Wenngleich die Resonanz auf diese Veröffentlichung in keinem Verhältnis zur bell curve steht, ist doch festzuhalten, dass derart weitreichen-de Ursache-Wirkungs-Interpretationen auf der Grundlage der vorliegenden Daten als abenteuerlich bezeichnet werden müssen. Eine umfassende Dis-kussion der Befunde blieb jedoch aus, obwohl es die „Deutschland-Karte der Intelligenz“ unter der Überschrift „Die Schlauen wandern ab, die Dummen bleiben“ bis auf die Internetseiten von Spiegel Online schaffte (20.10.2003; http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,270530,00.html).

19Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2.0

1.5Intelligenz und Schulleistungsstudien

Die Diskussion um Ursache und Konsequenzen interindividueller Differen-zen in der Intelligenz wurde im Jahre 2006 mit dem Artikel „Was messen internationale Schulleistungsstudien“ in der Psychologischen Rundschau (Rindermann, 2006) neu entfacht. Der Autor kommt nach einer aufwändi-gen aufgabenanalytischen Betrachtung von Tests aus internationalen Schul-leistungsstudien wie beispielsweise PISA, IGLU oder TIMMS, sowie nach der Untersuchung empirischer Beziehungen zwischen Schulleistungs- und Intelligenztestergebnissen zu dem Schluss, dass alles für die Messung ei-nes „g“-Faktors kognitiver Fähigkeiten spreche. Dieser Auffassung wurde von Seiten der für die fraglichen Studien Verantwortlichen vehement wi-dersprochen (Baumert, Brunner, Lüdtke & Trautwein, 2007; Prenzel, Wal-ter & Frey, 2007; siehe dazu auch die Antwort von Rindermann, 2007a). Abseits der titelstiftenden Debatte enthielt der Beitrag von Rindermann allerdings weiteren Zündstoff in Form einer Abbildung von Korrelaten ko-gnitiver Fähigkeiten auf Staatenebene. Hier waren beispielsweise Zusam-menhänge zwischen der durchschnittlichen Intelligenz in verschiedenen Staaten und dem Bildungsniveau Erwachsener (r = .78), Bruttosozialprodukt (r = .65), Rechtsstaatlichkeit (r = .65), Christen-Anteil (r = .31), Muslime-Anteil (r = –.29), HIV-Infektionsrate (r = –.42) und Kinderzahl (r = –.75) nachzulesen. Kognitive Fähigkeiten, so der Autor, stellten einen sensiblen Indikator für gesellschaftliche Zustände und Entwicklung dar. Gleichzeitig entsteht beim Lesen des Artikels der Eindruck, dass Intelligenz nicht nur als Indikator, sondern auch als vermittelnder Kausalfaktor gesehen wird. Dies ist vor allem in Verbindung mit impliziten oder expliziten Annahmen über die Bedeutung genetischer Faktoren bei der Erklärung individueller Differenzen in der Intelligenz, im Sinne einer genetischen Vorbestimmung gesellschaftli-cher und sozialer Ungleichheiten, problematisch und lädt zu zweifelhaftem ideologisch-gefärbtem Gebrauch ein. Uneingeschränkten Zuspruch fanden die Beiträge des Autors zu diesem Thema (z.B. Rindermann, 2007b) demzu-folge insbesondere von Seiten solcher Forscher, die in ihren eigenen Publi-kationen Rassendifferenzen bezüglich Intelligenz und sozialer Stellung pro-pagieren (z.B. Lynn, 2008; Lynn & Vanhanen, 2006; Rushton, 2008).

Wie aktuell die Diskussion um evolutionäre Theorien zur Erklärung von Intelligenzdifferenzen zwischen Rassen ist, zeigt ein Positionspapier von Wicherts, Borsboom und Dolan in der Januarausgabe 2010 des Journals Personality and Individual Differences mit dem Titel Why national IQs do not support evolutionary theories of intelligence. In dieser Arbeit setzen sich

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die Autoren kritisch mit dem Erkenntnisgewinn aus Korrelationen zwischen Schätzungen durchschnittlicher Länder-IQs einerseits und Indikatoren für reproduktive Strategien (Geburtenrate, Säuglings-Sterberate und HIV/AIDS-Prävalenz), klimatischen Bedingungen und Migration bzw. geographische Distanz (zu Afrika) andererseits auseinander. Die Titel der Repliken im sel-ben Heft durch Befürworter evolutionärer Erklärungsansätze für Rassendiffe-renzen in der Intelligenz sprechen für sich: Brain size as an explanation of national differences in IQ, longevity, and other life-history variables (Rush-ton, 2010), Consistency of race differences in intelligence over millenia (Lynn, 2010) und Can’t see the forest because of the trees (Templer, 2010).

1.6Integrative Perspektive

Der in gesellschaftlicher Hinsicht brisanten Lesart von Intelligenzunterschie-den zwischen Gruppen steht eine integrative Perspektive entgegen, welche die Bedeutung von Bildung in den Mittelpunkt der Argumentation rückt. Da-rin wird berücksichtigt, dass Schulfähigkeiten das Ergebnis investierter In-telligenz sind und Schulunterricht, ebenso wie Erziehung und Bildungsnähe, ihrerseits Intelligenz und Schulfähigkeiten fördern kann (vgl. Merz, Remer & Ehlers, 1985; Rost & Wild, 1995). Auf den Punkt bringt diese Auffassung ein Zitat von Rindermann (2006, S. 84): „Wenn Intelligenz wie Schulerfolg von Bildung abhängig ist, dann muss Intelligenz als eine plastische Eigen-schaft aufgefasst werden.“ Eine solche Perspektive ist in der Lage, interin-dividuelle Differenzen in der Intelligenz, die u.a. genetisch beeinfl usst sein können, als eine Wirkgröße im Verbund mit Angeboten durch unmittelbare (Eltern und Familie) und mittelbare (gesellschaftliche) Agenten zu betrach-ten und Wissen wie Denkfähigkeit als Ergebnis einer vorangegangenen Pra-xis von Denken und Bildung zu verstehen. Laut Asendorpf (2004, S. 191) ist Intelligenz somit „Fähigkeit zu hoher Bildung“.

Im Rahmen interdisziplinärer Forschungsbemühungen, etwa im Bereich der Schulleistung, sind folglich neben den individuellen Leistungsvoraus-setzungen auch der Kontext von Familie, Schule und Peers (Freunden) be-deutsam. Neben Merkmalen wie Intelligenz und (Vor-)Wissen spielen bei der Vorhersage von Schulleistungen u.a. Motivations- und Persönlichkeitsmerk-male eine gewichtige Rolle (vgl. z.B. Spinath, Spinath, Harlaar & Plomin, 2006). Insbesondere Einschätzungen hinsichtlich eigener fachspezifi scher Fähigkeiten (akademische Selbstkonzepte) haben sich auch im Längsschnitt als inkrementell valide für die Vorhersage von Schulerfolg erwiesen. Unter

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Fähigkeitsselbstkonzept (FSK) wird allgemein die Gesamtheit der kogniti-ven Repräsentationen eigener Fähigkeiten verstanden (Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008). Dies schließt Vorstellungen über Höhe, Struktur und Stabili-tät ein. Mögliche affektiv-evaluative Bewertungen der eigenen Fähigkeiten werden dagegen von manchen Forschern unter „Selbstwert“ subsumiert.

Motivationstheorien erklären Lernverhalten und Leistung in der Regel im Rahmen sogenannter Erwartungs- × Wertansätze (z.B. Eccles & Wig-fi eld, 2002). Ob, wie intensiv oder wie ausdauernd sich Individuen mit leis-tungsbezogenen Aufgaben beschäftigen, hängt diesen Theorien folgend zum einen von den mit den Aufgaben verbundenen Anreizen und zum anderen von Erfolgserwartungen ab. Hohe fachspezifi sche FSK-Ausprägungen ge-hen in der Regel mit hohen Erfolgserwartungen einher. In einer Studie mit insgesamt 1 678 neunjährigen englischen Grundschulkindern (Spinath et al., 2006), in deren Rahmen Intelligenztestwerte und fachspezifi sche Fähigkeits-Selbsteinschätzungen zur Vorhersage standardisierter Lehrereinschätzungen herangezogen wurden, zeigte sich, dass für das Fach Mathematik 53% der aufgeklärten Varianz spezifi sch auf Intelligenz, 25% spezifi sch auf das FSK Mathematik und 22% gemeinsam auf Intelligenz und FSK Mathematik zu-rückgingen. Für das Fach Englisch gingen 45% der aufgeklärten Varianz spezifi sch auf Intelligenz, 31% auf das FSK Englisch und 24% auf gemein-same Varianzanteile von Intelligenz und FSK Englisch zurück. Der Anteil gemeinsamer Prädiktorvarianz von Intelligenz und FSK erklärt sich aus dem Umstand, dass intelligentere Kinder tendenziell höhere FSK-Ausprägungen aufweisen. Allerdings lagen die Korrelationen in der erwähnten Studie bei moderaten Werten von r = .25 für Mathematik und r = .22 für Englisch.

1.7„Die schönste psychologische Forschervariable“

Zu den Gründen, warum die wissenschaftliche Beschäftigung mit Intel-ligenz ein erfreuliches und ausgesprochen interessantes Unterfangen ist, zählen ihre zuverlässige Erfassbarkeit mittels standardisierter Testverfahren und ausgezeichnete Verteilungseigenschaften in Stichproben, die nicht va-rianzeingeschränkt sind. Hinsichtlich der Stabilität der Intelligenz besitzt eine Arbeit der Forschergruppe um Ian Deary (Edinburgh, UK) Meilenstein-charakter. Unter Aufsicht des Scottish Council for Research on Education waren am 1. Juni 1932 insgesamt 87 498 elfjährige Schulkinder mittels des Moray House Intelligenztests untersucht worden. Forscher der Universität Edinburgh konnten eine große Zahl der im Kindesalter getesteten Personen

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ausfi ndig machen und hinsichtlich psychologisch relevanter Variablen (ein-schließlich des Moray House Intelligenztests) im hohen Erwachsenenalter erneut untersuchen. Sie fanden einen Zusammenhang zwischen Intelligenz im Kindesalter und Intelligenz im hohen Erwachsenenalter in Höhe von r = .66 (Deary, Whiteman, Starr, Whalley & Fox, 2004). Auch zur Lebens-dauer fanden sich Zusammenhänge. So zeigte sich eine mittlere IQ-Differenz von 101.5 vs. 95.9 (Frauen) und von 102.5 vs. 98.9 (Männer) zwischen der Gruppe der Studienteilnehmer, die im Jahre 1997 noch lebten vs. bereits ver-storben waren. Der auf den ersten Blick gering erscheinende Mittelwertsun-terschied von 5.6 Punkten in der Gruppe der Frauen hat dabei weitreichen-de Konsequenzen. Anders ausgedrückt bedeutet er nämlich, dass sieben von zehn Frauen aus dem oberen Intelligenzquartil (die oberen 25% zum Zeit-punkt der Testung im Jahre 1932) ein Lebensalter von 75 Jahren erreichten, aber nur fünf von zehn Frauen aus dem unteren Quartil (die unteren 25% zum Zeitpunkt der Testung im Jahre 1932). Im Jahr 2009 erschien eine wei-tere beeindruckende Arbeit aus dem aufstrebenden Bereich der kognitiven Epidemiologie zum Zusammenhang zwischen Intelligenz und Lebensdauer (Batty et al., 2009). Hier wurde eine Stichprobe von nahezu einer Million schwedischer junger Männer (M = 18,3 Jahre, Range = 16 bis 26 Jahre) un-tersucht, die zwischen 1950 und 1976 geboren worden waren. Von diesen Männern lagen aus Eignungsuntersuchungen des schwedischen Militärs In-telligenztestleistungen aus den Bereichen logischer, räumlicher, verbaler und technischer Fähigkeiten vor. Unter Verwendung von Registerdaten konnte 20 Jahre später ermittelt werden, dass von den insgesamt 994 262 Personen be-reits 14 498 Personen verstorben waren (ca. 1.5%). Zusätzlich wurden vier Todesursachen unterschieden (coronary heart disease, unintentional acci-dents, cancer, suicide). Es zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwi-schen geringerer Intelligenz und einem erhöhten Gesamt-Mortalitätsrisiko. Das Risiko blieb auch dann erhöht, wenn medizinische Faktoren zum Zeit-punkt der IQ-Messung (z.B. Blutdruck, body mass index, Rauchverhalten) kontrolliert wurden. Lediglich die statistische Kontrolle des erreichten Bil-dungsstatus verringerte den Zusammenhang maßgeblich. Hierzu ist jedoch kritisch anzumerken, dass IQ und Bildung substantielle Zusammenhänge aufweisen (r = .49 in der vorliegenden Arbeit), was dazu führt, dass eine Bereinigung um den Einfl uss der Variable Bildung auch IQ-bedingte Effekte eliminiert.

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1.8Verhaltensgenetik und Intelligenz

Es existieren zahlreiche verhaltensgenetische Arbeiten, die sich mit der Ätio-logie der Intelligenz beschäftigen und der Frage nachgegangen sind, welche Bedeutung Umwelteinfl üssen und genetischen Einfl üssen in der Intelligenz-entwicklung zukommt. Für ein besseres Verständnis der Möglichkeiten und der Grenzen solcher Untersuchungen sollen zunächst ausgewählte Grundbe-griffe der Verhaltensgenetik eingeführt werden.

1.8.1Grundbegriffe

Die quantitative Verhaltensgenetik beschäftigt sich mit den Ursachen interin-dividueller Differenzen in psychologischen Merkmalen. Zu den klassischen methodischen Zugängen dieser Disziplin gehören Zwillings- und Adoptions-studien. Dabei nutzen Verhaltensgenetiker die Möglichkeit, Daten von Per-sonen zu erheben, deren genetische Ähnlichkeiten und Umweltähnlichkeiten bekannt sind. Beispielsweise sind Adoptiveltern und ihre adoptierten Kin-der genetisch nicht verwandt, sie teilen jedoch Umwelteinfl üsse, die zu ihrer Ähnlichkeit beitragen können. Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge teilen hingegen keine Umwelteinfl üsse, so dass beobachtbare Ähnlichkeiten nur auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können.

Zu den Grundbegriffen der Verhaltensgenetik zählen Erblichkeit (herita-bility oder h2), Effekte geteilter Umwelt (common environment oder c2) und nichtgeteilter Umwelt (nonshared environment oder e2). Unter Erblichkeit wird das Ausmaß verstanden, in dem genetische Unterschiede zwischen In-dividuen die beobachtbaren interindividuellen Differenzen im untersuchten Merkmal erklären. Zu Effekten geteilter Umwelt zählen solche Umwelt-einfl üsse, die zur Ähnlichkeit von Personen beitragen, die gemeinsam auf-wachsen (z.B. sozioökonomischer Status, Erziehungsstil der Eltern). Effek-te nichtgeteilter Umwelt umfassen Umwelteinfl üsse, die zur Unähnlichkeit von Personen beitragen, die gemeinsam aufwachsen (z.B. unterschiedliche Freunde, unterschiedliche berufl iche Situationen, zufällige Ereignisse).

Werden beispielsweise gemeinsam aufgewachsene ein- und zweieiige Zwillinge untersucht, machen sich verhaltensgenetische Analysen den Um-stand zu Nutze, dass eineiige Zwillinge (EZ) 100% der genetischen Effekte zwischen ihnen teilen, während zweieiige Zwillinge (ZZ) im Durchschnitt eine genetische Ähnlichkeit von 50% aufweisen. Gilt zudem die Annahme

Frank M. Spinath24

gleicher Umwelteinfl üsse (equal environments assumption), welche besagt, dass die Umwelt im gleichen Ausmaß zur Ähnlichkeit von EZ und ZZ bei-trägt, und sind Anlage- und Umwelteffekte unkorreliert, so können aus der vergleichenden Betrachtung von EZ- und ZZ-Ähnlichkeiten in einem Merk-mal (z.B. in der Intelligenz) Rückschlüsse auf die relative Bedeutung von Genen und Umwelt gezogen werden.

Abbildung 3 veranschaulicht mögliche Ähnlichkeitsmuster von EZ und ZZ und wie sie im Rahmen verhaltensgenetischer Auswertungen interpretiert werden würden. Sind EZ etwa doppelt so ähnlich wie ZZ (Beispiel 1), so spricht dies für einen bedeutsamen Einfl uss additiv genetischer Effekte (h2). Weisen EZ und ZZ substantielle, aber vergleichbare Ähnlichkeiten auf (Bei-spiel 2), so spricht dies für einen bedeutsamen Einfl uss der geteilten Um-welt (c2). Sehr geringe Ähnlichkeiten in beiden Zwillingsgruppen (Beispiel 3) sprechen für bedeutsame Effekte der nichtgeteilten Umwelt (e2). Diese vereinfachte Darstellung soll einen groben Einblick in die grundlegende He-rangehensweise verhaltensgenetischer Studien geben. Eine weitergehende Einführung in Methoden und Befunde der Verhaltensgenetik fi ndet sich bei Plomin, DeFries, McClearn und McGuffi n (2008).

80

EZZZ

80

EZZZ

80

EZZZ

.80

.60

.40

.80

.60

.40

.80

.60

.40

.20 .20 .20

=> h2 bedeutsam => c2 bedeutsam => e2 bedeutsam

Abbildung 3: Interpretation von Zwillingsähnlichkeiten EZ=eineiige Zwillinge, ZZ=zweieiige Zwillinge, h2=Erblichkeit, c2=Effekte

geteilter Umwelt, e2=Effekte nichtgeteilter Umwelt

25Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2.0

1.8.2Quantitative verhaltensgenetische Befunde zur Intelligenz

Hinsichtlich der Intelligenz wurden bereits 1981 Überblicksarbeiten auf der Grundlage von Zwillingsdaten sowie weiterer Verwandtschaftsgruppen ver-öffentlicht (Bouchard & McGue, 1981). Diese Daten legten nahe, dass gene-tische Einfl üsse zwischen 50 und 60% der interindividuellen Unterschiede in der Intelligenz erklärten. Jüngere Überblicksartikel (z.B. Plomin & Spinath, 2004) zeigen zudem einen Zuwachs der Bedeutung genetischer Einfl üsse über die Lebensspanne, wie Abbildung 4 verdeutlicht.

Während im frühen Kindesalter vor allem Effekte der geteilten Umwelt (c2) für die Erklärung der Varianz in Intelligenzwerten verantwortlich sind, spielen diese im Erwachsenenalter keine bedeutsame Rolle mehr. Der Ab-nahme der Bedeutung geteilter Umwelteinfl üsse steht die Zunahme der Be-deutung genetischer Einfl üsse gegenüber, die von etwas mehr als 20% der Intelligenzvarianz im frühen Kindesalter über ca. 40–50% zum Schulanfang bis hin zu 60% und mehr im höheren Erwachsenenalter erklären. Dies be-deutet, dass für die Antwort auf die Frage, warum Menschen unterschiedli-che Intelligenzausprägungen aufweisen, Gene mit dem Alter an Bedeutung gewinnen. Wie ist dies erklärbar? Zum einen kommt hier vermutlich ein wachsendes Zusammenspiel von Anlage- und Umwelt-Wechselwirkung zum Tragen. Während Individuen im frühen Kindesalter noch stark den Vorgaben des Elternhauses unterliegen, nehmen mit zunehmendem Alter die Freiheits-

Abbildung 4: Ätiologie der Intelligenz über die Lebensspanne h2=Erblichkeit, c2=Effekte geteilter Umwelt

Frank M. Spinath26

grade bezüglich der Tagesgestaltung zu. Dies schließt die Beschäftigung mit lern- und leistungsrelevanten Aktivitäten (z.B. die aufgewendete Zeit für die Hausaufgabenbearbeitung) ein. Es ist anzunehmen, dass Personen, deren Ge-notyp sich im Kontext von Lern- und Leistungsverhalten vorteilhaft auswirkt und zu Erfolgserlebnissen beiträgt, zu einer verstärkter Zuwendung zu lern- und leistungsförderlichen Umwelten neigen. Der Umstand, dass bestimmte Genotypen aktiv Umwelten aufsuchen und gestalten, wird auch als aktive Anlage-Umwelt-Korrelation bezeichnet. Zudem ist zu sagen, dass der Verlauf der Ähnlichkeitsmuster von EZ und ZZ für die Intelligenz über die Lebens-spanne von einem charakteristischen Unterschied geprägt ist: Während die Ähnlichkeit von EZ trotz zunehmender Lebenserfahrung im Laufe des Le-bens auf einem hohen Niveau liegt und sich kaum verändert, sinkt die Ähn-lichkeit von ZZ mit zunehmender Lebensdauer kontinuierlich. Da die Erb-lichkeit auf der Grundlage der Unterschiede zwischen den Ähnlichkeiten von EZ und ZZ berechnet wird, führt diese Entwicklung zu einem Anstieg der Erblichkeit. Aus Umweltsicht ließe sich dieser Befund auch so interpretieren, dass zunehmend unterschiedliche Umwelten bei Personen, die genetisch nur zu 50% verwandt sind, im Laufe des Lebens bessere „Angriffspunkte“ für Veränderung haben, während die ausgeprägtere genetische Ähnlichkeit der EZ diese Paarlinge viel stärker gegen solche Tendenzen abschirmt.

Die relative Bedeutung von genetischen und Umweltfaktoren ändert sich jedoch nicht nur über die Lebensspanne. Auch bei querschnittlicher Betrach-tung fi nden sich differentielle Erblichkeiten, beispielsweise entlang des Kon-tinuums sozioökonomischer Faktoren wie dem familiären Einkommen. So fanden Harden, Turkheimer und Loehlin (2007) in einer Stichprobe von 839 Zwillingspaaren (17 Jahre alt, 509 EZ, 330 ZZ), dass mit zunehmendem el-terlichen Einkommen die Erblichkeit für das Merkmal Intelligenz zunahm, während der Einfl uss der geteilten Umwelt kontinuierlich abnahm. Während in der Gruppe der Familien mit dem niedrigsten Jahreseinkommen geneti-sche Faktoren etwa 40% und geteilte Umwelteffekte etwa 45% der Varianz in der Intelligenz erklärten, wurden die genetischen Effekte in der Gruppe der Bestverdiener auf ca. 55% geschätzt, während geteilte Umweltfaktoren ca. 35% der Varianz aufklärten. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeu-tung des komplexen Zusammenwirkens von Anlage und Umweltfaktoren und wenden sich gegen simplifi zierende Deutungen genetischer Daten im Sinne einer schicksalhaften Determination komplexer psychologischer Merk-male durch genetische Faktoren.

27Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2.0

1.8.3Genetische Einflüsse vs. Unveränderbarkeit

Derartigen Deutungsversuchen von Erblichkeiten eine Absage zu erteilen ist schon allein deswegen erforderlich, weil verhaltensgenetische Daten aus Zwillings- und Adoptionsstudien lediglich Aussagen über Gruppen von Per-sonen erlauben. Die Übertragung auf die Merkmalsausprägung einzelner Personen ist ebenso unzulässig wie die Deutung der Erblichkeit im Sinne ei-ner genetischen Festlegung von Merkmalsniveaus. Abbildung 5 veranschau-licht diesen Gedanken.

In Abbildung 5 sind zu einem Zeitpunkt t1 die IQ-Werte vier fi ktiver Per-sonen (A–D) abgetragen. Der Gruppenmittelwert beträgt bei dieser Messung Mt1 = 93. Nach einer erfolgreichen Intervention zur Förderung der kognitiven Fähigkeiten wird der IQ erneut gemessen. Es zeigt sich ein Gruppenmittel-wert von Mt2 = 104. Da die vier Personen zwar allesamt ihr Leistungsniveau gesteigert haben, jedoch die Rangreihe unverändert ist, ergäbe sich eine per-fekte Rangkorrelation (Stabilität). Dies verdeutlicht bereits, dass hohe Stabi-litätswerte ähnlich denen aus der zuvor beschriebenen schottischen Längs-schnittstudie zur Intelligenz über 65 Jahre nicht gleichzusetzen sind mit der Unveränderbarkeit von individuellen Werten oder Gruppenmittelwerten. Die

IQ

120

110

120

A

A‘

B‘h2

100

A

B

B

C‘h2

100%

Mt2=104c2

90 CD‘

c2

e2

100%Mt1=93 e2

80 D

t1 t2Intervention

Abbildung 5: Rangreihenstabilität, Niveauveränderungen und Erblichkeit h2=Erblichkeit, c2=Effekte geteilter Umwelt, e2=Effekte nichtgeteilter Um-

welt, Mt1=Mittelwert zum Zeitpunkt t1, Mt2=Mittelwert zum Zeitpunkt t2, A–D=Intelligenz-Testwerte der fi ktiven Individuen A–D, A‘–D‘=Intelligenz-Testwerte der fi ktiven Individuen A–D nach Intervention

Frank M. Spinath28

verhaltensgenetische Perspektive setzt zudem an einem völlig anderen Punkt an, nämlich an der Varianz zwischen den Individuen A bis D. Wie die Ab-bildung andeutet, drückt die Erblichkeit (h2) zu t1 aus, wie viel Prozent der Varianz zwischen den Individuen beim ersten Messzeitpunkt auf genetische Unterschiede zwischen den Personen zurückgeht. Analog bildet h2 zu t2 ab, wie viel Prozent der Varianz zwischen den Individuen beim zweiten Mess-zeitpunkt auf genetische Unterschiede zwischen den Personen zurückgeht. Die Erblichkeit erlaubt hingegen keine Schätzung des möglichen Zugewinns durch die Intervention bzw. von Mt1 zu Mt2. Es ist sogar möglich, dass die Erblichkeit zu t2 (wie in der Abbildung angedeutet) zunimmt, ohne dass da-von die Veränderbarkeit betroffen sein muss. Änderungen in der relativen Bedeutung von Anlage und Umweltfaktoren hängen von einer Vielzahl von Einfl ussgrößen ab, beispielsweise vom Ausmaß der Variation in relevanten Umweltvariablen wie etwa Bildungsangeboten.

Zusammen genommen kann aus verhaltensgenetischer Sicht festgehalten werden, dass interindividuelle Differenzen in der Intelligenz maßgeblich von genetischen Faktoren beeinfl usst werden, die im Laufe des Lebens an Be-deutung gewinnen, während Effekte geteilter Umwelteinfl üsse in ihrer Be-deutung abnehmen. Nichtgeteilte Umwelteinfl üsse (z.B. peer-Gruppen) wer-den ab der frühen Kindheit wichtiger und behalten diese Wichtigkeit bei. Sozioökonomische Faktoren moderieren die Bedeutung von Anlage und Um-welt. Ethnische Gruppenunterschiede lassen sich mit diesen Befunden jedoch ebenso wenig erklären wie ein Mangel an Veränderbarkeit bzw. Förderbar-keit.

1.8.4Molekulargenetische Befunde zur Intelligenz

Im Gegensatz zur quantitativen Verhaltensgenetik beschäftigt sich die Mo-lekulargenetik mit der Suche nach spezifi schen Genen und genetischen Me-chanismen, die mit komplexen Verhaltensweisen assoziiert sind. Im Jahre 2006 erschien ein Überblicksartikel im European Journal of Human Gene-tics (Deary, Spinath & Bates, 2006), der zu dem Ergebnis kommt, dass die vorausgegangene, etwa 10 Jahre umspannende, molekulargenetische For-schung bis zu diesem Zeitpunkt keine robusten und replizierbaren Befunde bezüglich einzelner Kandidatengene für Intelligenz erbracht habe. Zudem sei anzunehmen, dass die Varianzaufklärung der im Zuge genomweiter Assozia-tionsstudien untersuchten Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNP, engl. sing-le nucleotide polymorphism; sprich: Snip) unterhalb von 1% liegt. Als SNPs

29Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2.0

werden Variationen von einzelnen Basenpaaren in einem DNA-Strang be-zeichnet. Sie stellen etwa 90% aller genetischen Varianten im menschlichen Genom dar. Ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt im häufi gen Auftreten und der hohen Variabilität; außerdem sind sie sehr schnell und einfach zu bestimmen. Deswegen werden sie zum Beispiel bei der Suche nach Quanti-tative Trait Loci (QTL), also Chromosomenabschnitten mit Einfl uss auf die Ausprägung eines quantitativen Merkmals, genutzt.

In einer aufwändigen Studie aus dem Jahre 2008 wurden DNA-Chips verwendet, die eine genomweite autosomale (d.h. unter Ausschluss der Ge-schlechtschromosomen) Analyse von 500 000 SNPs erlaubten (Butcher, Davis, Craig & Plomin, 2008). Im Rahmen dieser Studie wurde zunächst die DNA von 7 000 Kindern, die aufgrund ihrer Intelligenztestleistung als hoch- bzw. niedrig intelligent eingestuft wurden, mittels DNA-Pooling gruppen-weise untersucht. Insgesamt 47 von den untersuchten 500 000 SNPs kamen zwischen den Gruppen in unterschiedlicher Häufi gkeit vor. In einem zweiten Schritt wurden individuelle Genotypisierungen von 3 195 Kindern über das gesamte Fähigkeitsspektrum durchgeführt. Von den vormals 47 SNPs wie-sen nunmehr nur noch sechs eine Assoziation mit der Intelligenz auf. Zu-dem reduzierte die Anwendung einer Korrektur für zufallsbasierte Funde die Zahl der überzufälligen Ergebnisse auf lediglich ein (!) einziges bedeutsa-mes SNP. Keines der ursprünglich gefundenen sechs SNPs erklärte mehr als 0.4% der Varianz in g.

In einer jüngst veröffentlichten Multi-Center-Studie (Need et al., 2009) wurden genomweit SNPs und CNVs (common copy number variants) auf mögliche Assoziationen mit Leistungen in 10 unterschiedlichen Bereichen kognitiver Performanz untersucht. Bei N = 1 000 Personen wurde die voll-ständige Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB; Cambridge Cognition, Cambridge, UK) durchgeführt; bei N = 630 weiteren Personen wurden lediglich räumliche und verbale Wiedererkennungsleistung erhoben. Die CANTAB ist eine computergestützte Testbatterie zur Erfassung verschiedener Lern- und Gedächtnisleistungen, Arbeitsgedächtnis und exeku-tiver Funktionen sowie Aufmerksamkeit und Reaktionszeit. Es fanden sich keine signifi kanten Assoziationen mit allgemeinen SNPs oder CNVs. Auch der Versuch, in früheren Studien mit kognitiver Leistung assoziierte Poly-morphismen zu replizieren, schlug fehl. Lediglich eine seltene Gen-Variante (NRXN1) zeigte einen Zusammenhang mit kognitiver Leistung. Dieser Be-fund könnte – neben der Möglichkeit, dass Gene in nicht-additiver Weise zusammenwirken und es auf die Konstellation relevanter DNA-Abschnitte ankommt – darauf hindeuten, dass in größerem Ausmaß als bisher angenom-men seltene Genvarianten für individuelle Differenzen in der Intelligenz ver-

Frank M. Spinath30

antwortlich sind. Beide Möglichkeiten – das machen die Autoren der Arbeit in einer nüchternen Bestandsaufnahme deutlich – bedeuten maßgebliche Er-schwernisse bei zukünftigen Versuchen, Gene für die Intelligenz zu fi nden. Inwieweit sich die von einigen Forschern geäußerte Hoffnung bestätigt, mit Hilfe leistungsfähigerer DNA-Chips (derzeit sind Varianten erhältlich, die bis zu 1000000 SNPs analysieren können) zum Ziel zu kommen, bleibt ab-zuwarten.

1.9Der Wunsch nach Förderung

Dass Intelligenz ein positiv bewertetes und wünschenswertes Merkmal ist, wird nach der vorherigen Darstellung ausgewählter Kriteriumskorrelationen niemanden verwundern. Groß ist somit auch das Interesse an Fördermög-lichkeiten. In diesem Kontext ließ eine großangelegte Längsschnittsstudie aufhorchen, deren Ergebnis nahelegte, dass anhaltendes und ausschließliches Stillen die Intelligenz fördert (Kramer et al., 2008). Die Forscher untersuch-ten 13 889 Kinder, die zwischen 1996 und 1997 in weißrussischen Kranken-häusern geboren wurden. Die Hälfte der Mütter war dazu ermutigt worden, ihren Nachwuchs ausschließlich zu stillen, die andere Hälfte nicht. Die Müt-ter der Experimentalgruppe (n = 7 108) unterschieden sich hinsichtlich Alter und Bildungshintergrund nicht von Müttern der Kontrollgruppe (n = 6 781). Sechseinhalb Jahre später wurde die Intelligenz der Kinder getestet, und es wurden Schulleistungen verglichen. Es zeigte sich, dass die Kinder der Ex-perimentalgruppe, in der nach Angaben der Mütter tatsächlich länger und exklusiver gestillt worden war, höhere Werte in verbaler (+ 7.5 IQ-Punkte) und nonverbaler Intelligenz (+ 2.9 IQ-Punkte) aufwiesen. Insgesamt fi el der IQ der Kinder in der Experimentalgruppe um 5.9 Punkte höher aus als in der Kontrollgruppe. Zudem konnten die Kinder der Experimentalgruppe laut dem Urteil ihrer Lehrer sowohl besser lesen als auch schreiben.

Das fehlende – aber entscheidende – Datum in dieser Studie ist jedoch vermutlich die Intelligenz der Mütter. Diese hatte sich in einer zwei Jahre zuvor veröffentlichten Metaanalyse als maßgeblicher Faktor erwiesen (Der, Batty & Deary, 2006). Wurde der mütterliche IQ gemeinsam mit weiteren sozioökonomischen Variablen kontrolliert, sank der einstmalig 4.7 IQ-Punkte betragende Vorsprung gestillter Kinder auf 0.5 IQ-Punkte ab. Es ist denk-bar, dass ein selektiver Bias dahingehend existiert, dass intelligentere Mütter in der Experimentalgruppe einerseits die berichteten Vorteile des Stillens in stärkerem Maße zum Anlass nahmen, ihre Kinder ausschließlich und länger

31Intelligenzforschung: Fluch und Fortschritt 2.0

zu stillen und andererseits eine höhere Bereitschaft aufwiesen, zum zweiten Messzeitpunkt erneut an der Studie teilzunehmen. Ein weiterer methodischer Schwachpunkt ist darin zu sehen, dass die Testleiter für die Intelligenzmes-sung Kenntnis davon hatten, ob Kinder aus der Experimental- oder Kontroll-gruppe stammten.

1.10Kein Fazit

Der vorliegende Beitrag erhebt keinerlei Anspruch, eine vollständige oder ausgewogene Darstellung des aktuellen Standes der Intelligenzforschung zu leisten. Aus Sicht des Autors stellt die nahezu ein Jahrhundert lang die In-telligenzforschung beherrschende Strukturdebatte jedoch nicht länger eine zentrale Forschungsfrage dar. Vielmehr rücken die prädiktive Validität des Konstrukts sowie Diskussionen um Zusammenhänge makrosozialer Indikato-ren und Intelligenz im Sinne von „Humankapital“ (Ebenrett et al., 2003) auf gesellschaftlicher Ebene zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Die Verknüpfung der Intelligenzforschung mit der Bildungsdebatte birgt dabei zugleich Chancen und Risiken. Insofern politische Empfehlungen formuliert werden, ist Wachsamkeit und eine kritische Auseinandersetzung gefordert, insbesondere dort, wo Befunde, beispielsweise aus dem Bereich der (Verhal-tens-)Genetik herangezogen werden, um ideologisch gefärbte Anschauungen zu stützen. Die Verhaltensgenetik bietet einen einzigartigen methodischen Zugang zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der relativen Bedeutung von Anlage und Umwelt. Moderne verhaltensgenetische Designs (z.B. das extended twin family design), in deren Rahmen neben Zwillingen auch deren Eltern und Geschwister untersucht werden (Keller et al., 2009; Medland & Keller, 2009) erlauben es, methodische Nachteile früherer Zwillingsstudien aufzufangen und komplexere Wirkmechanismen aufzudecken. Mit Hilfe der-artiger Studien wird es möglich sein, ein besseres Verständnis dafür zu ent-wickeln, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise sich genetische Faktoren und Umwelteinfl üsse im dynamischen Wechselspiel auf komplexes Verhalten wie Intelligenz auswirken.

Frank M. Spinath32

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