Intensivpatiententourismus und betriebswirtschaftliches Kleinkrämertum Rationierung statt...

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Der Internist 9·99 | M 255 Gesundheitswesen BDI Th. Windhorst Intensivpatiententourismus und betriebswirtschaftliches Kleinkrämertum Rationierung statt Rationalisierung Die Notfallmedizin ist in der Bundes- republik Deutschland in erstaunlich kurzer Zeit zu einem effektiven, hoch- technisierten und flächendeckenden (luft- und bodengebundenen) Ret- tungssystem aufgebaut worden. Aber auch in diesen Bereichen sind noch Ressourcen zur Förderung der Effizienz durch Vereinheitlichungen der Syste- me, durch Qualitätssicherungsmanage- ment, durch stärkere Verzahnung in der Leitstellendiskussion und durch Ein- richtung von zentralen Notaufnahmen in maximalversorgenden Krankenhäu- sern möglich [1]. Mit dieser rasanten Entwicklung der mobilen, präklini- schen Intensivmedizin vor Ort hat die Qualifikation des Rettungspersonals – Rettungssanitäterinnen sowie Ret- tungsärzte/innen – schrittgehalten. Die als Notärzte tätigen Ärzte müssen ab 1993 als obligatorische Eingangsvoraus- setzungen den Fachkundennachweis Rettungsdienst, ausgestellt durch die Landesärztekammern, vorweisen. Die medizinisch-wissenschaftlichen Fach- gesellschaften einerseits (DIVI, BAND) und die Feuerwehren und die freiwil- ligen Hilfsorganisationen andererseits haben richtungsweisend das Berufsbild des Rettungsarztes und des Rettungsas- sistenten vorangetrieben [2]. In diese Entwicklung platzte die Politik mit der Verordnung eines Spar- korsetts, in Anlehnung an das BASYS- Gutachten. Die öffentliche Debatte hat ausschließlich noch die Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven zum Thema und nicht die Förderung von Prozeß- und Strukturqualität der prä- klinischen Notversorgung und der kli- nischen Erstversorgung [3]. Für Menschen in Not ist die präklinische Versorgung vor Ort ein ebenso wich- tiges wie entscheidendes Glied in der Rettungskette wie die strukurierte und hochqualifizierte Aufnahme in einem Krankenhaus. Diese Schnittstelle ist definitorisch gleichzeitig häufig die Schwachstelle in der Rettungskette. Aus diesem Grund muß eine Definition Intensivpatienten- tourismus Erklärungshilfe leisten. Es ergeben sich eine Vielzahl von Gründen für die Verzögerung oder nicht adäqua- te Zuweisung von schwerstkranken Pati- enten. Summarisch sind drei große Be- reiche aus diesem Definitionspaket zu bündeln. 1. Das kalkulatorisch wichtige Mengen- gerüst an Personal kann nicht vorge- halten werden, so daß bei der Umset- zung des Ernstfalles Mitarbeiter nicht mobilisierbar sind. 2. Die Patientenübernahme in den Kli- niken erfolgt in einem räumlichen „Irrgarten“, die nur durch das Ein- richten einer zentralen interdiszipli- nären Notaufnahme (ZNA) organisa- torisch strukturiert die Probleme lö- sen kann. 3. Schwerstkranke Patienten belasten das Budget, so daß keine Notfallres- sourcen vorgehalten werden können. Dies führt zur Patientenselektion, wie Rosinenpickerei und aber auch zu dem sogenannten Drehtüreffekt bei zu früh verlegten Intensivpatien- ten auf die Normalstation, um Res- sourcen freizubekommen. Allen diesen Gründen liegt eine Ver- knappung von Finanzmitteln zugrun- de. Menschen in Not sind nicht zum Nulltarif menschlich und medizinisch zu versorgen. Es gilt nach wie vor der Grundsatz: Time ist brain, Time ist life. Die Politik und die Kassen, also insge- samt die Gesellschaft muß ausreichend finanzielle Ressourcen zur Stärkung der Qualität und Effizienz der Notver- sorgung eines schwerstkranken Patien- ten vorhalten und einsetzen. Seit Jahren werden von Politikern und Kassenver- tretern in der Gesundheitspolitik bun- desweit die regelmäßigen, jährlichen Steigerungsraten im Rettungsdienst (ab- gelegt unter Fahrtkosten 1998: +5,4%) gegeißelt und mit einem Sparkorsett versehen. In Tabelle 1 ist ersichtlich, wie in den letzten Jahren die Fahrtkosten, unter diese Rubrik fällt das Rettungssy- stem der Bundesrepublik Deutschland, sich entwickelt haben und wie hoch die realen Kosten in Milliarden sind. Tabelle 1 Gesetzliche Krankenversicherung in Mrd. DM 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1998% Einnahmen 222,19 232,34 235,38 243,24 246,74 249,34 Heil-Hilfsmittel 14,35 15,3 16,84 18,44 17,62 18,02 + 12,3% Apotheken 27,48 29,17 31,41 33,44 32,05 33,37 + 4,8% Krankenhaus 70,43 76,48 79,69 80,87 82,80 85,10 + 3,4% Fahrtkosten 2,88 3,48 3,83 4,02 4,09 4,23 + 5,4% Kuren 3,57 4,30 5,09 5,27 4,31 4,75 + 11,5% Verwaltungskosten 11,11 11,72 12,00 12,80 12,62 13,13 + 5,4% Überschuß 10,41 2,18 -6,78 1,08 1,11 <

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Th.Windhorst

Intensivpatiententourismus undbetriebswirtschaftliches KleinkrämertumRationierung statt Rationalisierung

Die Notfallmedizin ist in der Bundes-republik Deutschland in erstaunlichkurzer Zeit zu einem effektiven, hoch-technisierten und flächendeckenden(luft- und bodengebundenen) Ret-tungssystem aufgebaut worden. Aberauch in diesen Bereichen sind nochRessourcen zur Förderung der Effizienzdurch Vereinheitlichungen der Syste-me, durch Qualitätssicherungsmanage-ment, durch stärkere Verzahnung in derLeitstellendiskussion und durch Ein-richtung von zentralen Notaufnahmenin maximalversorgenden Krankenhäu-sern möglich [1]. Mit dieser rasantenEntwicklung der mobilen, präklini-schen Intensivmedizin vor Ort hat dieQualifikation des Rettungspersonals –Rettungssanitäterinnen sowie Ret-tungsärzte/innen – schrittgehalten. Dieals Notärzte tätigen Ärzte müssen ab1993 als obligatorische Eingangsvoraus-setzungen den FachkundennachweisRettungsdienst, ausgestellt durch dieLandesärztekammern, vorweisen. Diemedizinisch-wissenschaftlichen Fach-gesellschaften einerseits (DIVI, BAND)und die Feuerwehren und die freiwil-ligen Hilfsorganisationen andererseitshaben richtungsweisend das Berufsbilddes Rettungsarztes und des Rettungsas-sistenten vorangetrieben [2].

In diese Entwicklung platzte diePolitik mit der Verordnung eines Spar-korsetts, in Anlehnung an das BASYS-Gutachten. Die öffentliche Debatte hatausschließlich noch die Mobilisierungvon Wirtschaftlichkeitsreserven zumThema und nicht die Förderung vonProzeß- und Strukturqualität der prä-klinischen Notversorgung und der kli-nischen Erstversorgung [3].

Für Menschen in Not ist die präklinischeVersorgung vor Ort ein ebenso wich-tiges wie entscheidendes Glied in der

Rettungskette wie die strukurierte undhochqualifizierte Aufnahme in einemKrankenhaus.

Diese Schnittstelle ist definitorischgleichzeitig häufig die Schwachstelle inder Rettungskette. Aus diesem Grundmuß eine Definition Intensivpatienten-tourismus Erklärungshilfe leisten. Esergeben sich eine Vielzahl von Gründenfür die Verzögerung oder nicht adäqua-te Zuweisung von schwerstkranken Pati-enten. Summarisch sind drei große Be-reiche aus diesem Definitionspaket zubündeln.

1. Das kalkulatorisch wichtige Mengen-gerüst an Personal kann nicht vorge-halten werden, so daß bei der Umset-zung des Ernstfalles Mitarbeiter nichtmobilisierbar sind.

2. Die Patientenübernahme in den Kli-niken erfolgt in einem räumlichen„Irrgarten“, die nur durch das Ein-richten einer zentralen interdiszipli-nären Notaufnahme (ZNA) organisa-torisch strukturiert die Probleme lö-sen kann.

3. Schwerstkranke Patienten belastendas Budget, so daß keine Notfallres-sourcen vorgehalten werden können.

Dies führt zur Patientenselektion,wie Rosinenpickerei und aber auchzu dem sogenannten Drehtüreffektbei zu früh verlegten Intensivpatien-ten auf die Normalstation, um Res-sourcen freizubekommen.

Allen diesen Gründen liegt eine Ver-knappung von Finanzmitteln zugrun-de. Menschen in Not sind nicht zumNulltarif menschlich und medizinischzu versorgen. Es gilt nach wie vor derGrundsatz: Time ist brain, Time ist life.Die Politik und die Kassen, also insge-samt die Gesellschaft muß ausreichendfinanzielle Ressourcen zur Stärkungder Qualität und Effizienz der Notver-sorgung eines schwerstkranken Patien-ten vorhalten und einsetzen. Seit Jahrenwerden von Politikern und Kassenver-tretern in der Gesundheitspolitik bun-desweit die regelmäßigen, jährlichenSteigerungsraten im Rettungsdienst (ab-gelegt unter Fahrtkosten 1998: +5,4%)gegeißelt und mit einem Sparkorsettversehen. In Tabelle 1 ist ersichtlich, wiein den letzten Jahren die Fahrtkosten,unter diese Rubrik fällt das Rettungssy-stem der Bundesrepublik Deutschland,sich entwickelt haben und wie hoch dierealen Kosten in Milliarden sind.

Tabelle 1

Gesetzliche Krankenversicherung in Mrd. DM

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1998%

Einnahmen 222,19 232,34 235,38 243,24 246,74 249,34Heil-Hilfsmittel 14,35 15,3 16,84 18,44 17,62 18,02 + 12,3%Apotheken 27,48 29,17 31,41 33,44 32,05 33,37 + 4,8%Krankenhaus 70,43 76,48 79,69 80,87 82,80 85,10 + 3,4%Fahrtkosten 2,88 3,48 3,83 4,02 4,09 4,23 + 5,4%Kuren 3,57 4,30 5,09 5,27 4,31 4,75 + 11,5%Verwaltungskosten 11,11 11,72 12,00 12,80 12,62 13,13 + 5,4%Überschuß 10,41 2,18 −6,78 1,08 1,11 <

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● Die Gesellschaft läßt es zu, daß mehrGeld für Kuren ausgegeben werden,als für den Rettungsdienst,

● Die Gesellschaft läßt es zu, daß dieVerwaltungskosten der Versicherun-gen ein Dreifaches an Milliarden ko-sten dürfen, als der Rettungsdienst.

● Hinzu kommt, daß die Planwirtschaftim Gesundheitssystem 1998 den ge-setzlichen Krankenversicherungen einPlus von 1,1 Mrd. DM beschert hat.

Die aktuelle Diskussion und Forderungim Gesundheitswesen nach mehr Wirt-schaftlichkeit, Transparenz, Kostensen-kung und Rationalisierung im Kranken-haus soll dabei nicht gestoppt werden.Die Diskusion soll nur Situationen defi-nieren und richtig bewerten, nämlichwieviel wert ist der Gesellschaft, Men-schen in Not zu helfen. Um den Intensiv-patiententourismus in seiner Intensitätund Häufigkeit bemessen zu können,fehlen exakte Daten und Statistiken. Eineevaluierbare Datenbank liegt landesweitund bundesweit nicht vor. Aus eigener

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Erfahrung (10 Jahre lang im Rettungs-dienst Notarzttätigkeiten) ist Intensivpa-tiententourismus mit nicht möglicherAbgabe des Patienten an Krankenhäu-sern selten bis kaum vorgekommen. EineDokumentation über dieses Problem istin einem Buch des Instituts für Rettungs-dienst vom Deutschen Roten Kreuz ent-halten. Dort wurden in einer Studie von1994 Übergabeschwierigkeiten in 2,6%der Fälle angegeben, größere Problemesind auch dort nicht dokumentiert. Abergerade diese Übergabeschwierigkeitensind durch das Einrichten einer ZNAauszuschließen. Aus der Ursachenanaly-se entsteht die gesundheitspolitische,zielgerichtete Handlungsempfehlung füreinen effizienten und effektiven Ausbauder Notfallpatientenversorgung als einesehr wichtige menschliche Aufgabe. Be-triebswirtschaftliches Kleinkrämertumgepaart mit politischer Fehlsichtigkeit indiesen Versorgungsressourcen (Stellen-wert der Mitarbeiter, gerechte Tarifver-tragsabschlüsse, infrastrukturelle Vor-aussetzungen), wird mit volkswirtschaft-

licher, patientenverachtender Mißwirt-schaft bestraft.

Fazit

Der Intensivpatiententourismus ist einlösbares kleines Problem. Ein großesProblem ist: Das Rettungssystem mußfinanziert und nicht bürokratisiert werden.

Literatur1. Koch B (1997) Die notärztliche Versorgung

in der Bundesrepublik Deutschland.Schriftenreihe zum Rettungswesen i Bd 14,

Verlags- und Vertragsges. des DRK

2. Stratmann D (1996) Rettungsdienst undFeuerwehr – medizinische Aspekte.Städte- und Gemeinderat 6:199–202

3. Sefrin P (1996) Rettungsdienst in der finan-ziellen Zwangsjacke. Der Notarzt 12:39–42

Dr. Th. WindhorstKlinik für Allgemein- und Thoraxchirurgie,Städtische Kliniken Bielefeld Mitte,Teutoburger Straße 50, D-33604 Bielefeld

A. Fischer

Der Patient steht im MittelpunktDebatte über einen Gesetzentwurf zur Reform der gesetzlichenKrankenversicherung – „Gesundheitsreform 2000“/49. Sitzung desBundestages am 30. Juni 1999

Wir legen heute einen Gesetzent-wurf vor, der lange bevor er die heutevorliegende und vom Parlament zu de-battierende Fassung bekam, für vielAufregung gesorgt hat. Ich will ganzdeutlich sagen: Es ist meine ganz tiefeÜberzeugung, daß wir Strukturrefor-men im Gesundheitswesen vornehmenmüssen und daß mit dem jetzt vor-liegenden Gesetzentwurf diejenigenStrukturreformen angegangen wer-den, die seit langem notwendig undzum Teil überfällig sind. Gerade werunser Gesundheitssystem schätzt und

bewahren will, der muß es verändern,und zwar durch Reformen innerhalbdieses Systems.

Es gibt einen auffälligen Mangel ankonstruktiven Vorschlägen bei denjeni-gen, die gegen dieses Gesetz opponierenund die Ansicht vertreten, es führe indie falsche Richtung. Wer das Gesetznicht will, der soll uns sagen, was wirmachen sollen oder ob wir einfach soweitermachen sollen wie bisher. Dannmag es vielleicht eine kurze Zeit desAufatmens auf der Seite der Leistungs-erbringer gehen, weil es keine finanziel-

len Beschränkungen gibt, aber nacheiniger Zeit werden die Beiträge sosehr gestiegen sein, daß die Menschenkein Interesse mehr an einer solida-risch organisierten Krankenversiche-rung haben.

Ich meine, daß wir dieses Systemmit Reformen für die Zukunft fit ma-chen müssen. Zu einer modernen Ge-sundheitsreform gehört als allererstesund oberstes Ziel, daß die Patienten imMittelpunkt stehen und das Gesund-heitssystem nach ihren Bedürfnissenausgerichtet wird.