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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus 1 IV. Die Epoche des Merkantilismus (Cameron/Neal 2003, Kapitel 5 und 6, mit zahlreichen Ergänzungen) Einleitung .................................................................................................................................. 2 1. Wirtschaftliche Veränderungen der Neuzeit [1500 1750- (1800)] ................................ 3 1.1. Einleitung ........................................................................................................................ 3 1.1.1. Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Europas........................................ 3 1.1.2. Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit ...................................................... 4 1.2. Die grossen Entdeckungen .............................................................................................. 5 1.3. Auswirkungen der Entdeckungen ................................................................................... 7 1.3.1. Spanische und portugiesische Domination im 16. Jahrhundert ............................... 7 1.3.2. Einfluss Europas (Spaniens) auf Südamerika .......................................................... 8 1.3.3. Einfluss der überseeischen Gebiete auf Europa ..................................................... 10 1.4. Die Preisrevolution ........................................................................................................ 11 1.4.1. Edelmetallzufluss und Inflation ............................................................................. 11 1.4.2. Mechanismus und Auswirkungen der Inflation ..................................................... 11 1.4.3. Spanien und das amerikanische Gold..................................................................... 12 1.5. Agrartechnologie und Produktivität der Landwirtschaft ............................................... 14 1.5.1. Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität in Europa ....... 14 1.5.2. Die holländische Ausnahme ................................................................................... 15 1.6. Technologie in Handwerk und „Industrie“ ................................................................... 16 2. Die Handelswege der Neuzeit (eurozentrisch) ................................................................. 18 2.1. Handelskapitalismus...................................................................................................... 18 2.2. Verschiebungen im innereuropäischen Handel im 16. Jahrhundert Italien wird zurückgedrängt ..................................................................................................................... 18 2.3. Die Rolle der Holländer ................................................................................................ 19 2.4. Engländer und Franzosen .............................................................................................. 20 2.5. Arten des Handels ......................................................................................................... 21 2.5.1. Inner-Europäischer Handel .................................................................................... 21

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Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus

1

IV. Die Epoche des Merkantilismus

(Cameron/Neal 2003, Kapitel 5 und 6, mit zahlreichen Ergänzungen)

Einleitung .................................................................................................................................. 2

1. Wirtschaftliche Veränderungen der Neuzeit [1500 – 1750- (1800)] ................................ 3

1.1. Einleitung ........................................................................................................................ 3

1.1.1. Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Europas ........................................ 3

1.1.2. Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit ...................................................... 4

1.2. Die grossen Entdeckungen .............................................................................................. 5

1.3. Auswirkungen der Entdeckungen ................................................................................... 7

1.3.1. Spanische und portugiesische Domination im 16. Jahrhundert ............................... 7

1.3.2. Einfluss Europas (Spaniens) auf Südamerika .......................................................... 8

1.3.3. Einfluss der überseeischen Gebiete auf Europa ..................................................... 10

1.4. Die Preisrevolution ........................................................................................................ 11

1.4.1. Edelmetallzufluss und Inflation ............................................................................. 11

1.4.2. Mechanismus und Auswirkungen der Inflation ..................................................... 11

1.4.3. Spanien und das amerikanische Gold ..................................................................... 12

1.5. Agrartechnologie und Produktivität der Landwirtschaft ............................................... 14

1.5.1. Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität in Europa ....... 14

1.5.2. Die holländische Ausnahme ................................................................................... 15

1.6. Technologie in Handwerk und „Industrie“ ................................................................... 16

2. Die Handelswege der Neuzeit (eurozentrisch) ................................................................. 18

2.1. Handelskapitalismus ...................................................................................................... 18

2.2. Verschiebungen im innereuropäischen Handel im 16. Jahrhundert – Italien wird

zurückgedrängt ..................................................................................................................... 18

2.3. Die Rolle der Holländer ................................................................................................ 19

2.4. Engländer und Franzosen .............................................................................................. 20

2.5. Arten des Handels ......................................................................................................... 21

2.5.1. Inner-Europäischer Handel .................................................................................... 21

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2.5.2. Interkontinentaler Handel ....................................................................................... 21

2.6. Einige Veränderungen in Europa in merkantilistischer Zeit ......................................... 22

3. Der Merkantilismus als ökonomischer Nationalismus und Imperialismus: Die

eurozentrische Sichtweise (aus der Dogmengeschichtsvorlesung) ..................................... 23

3.1. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen ................................. 23

3.1.1. Politische Veränderungen ...................................................................................... 23

3.1.2. Wirtschaftliche Veränderungen (stichwortartige Wiederholung) .......................... 24

3.1.3. Gesellschaftliche und politische Folgen dieser Veränderungen ............................ 25

3.2. Das Wesen des Merkantilismus .................................................................................... 26

3.2.1. Der Merkantilismus als politisches und ökonomisches System ............................. 26

3.2.2. Der KERN der merkantilistischen "Wirtschaftstheorie" ........................................ 27

4. Europa und Asien ............................................................................................................... 28

4.1. Asiatisches Übergewicht bis 1800 und asiatischer Einfluss auf Europa ....................... 29

5.2. Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’ Europa ..................... 31

Einleitung

Diese Vorlesung beschäftigt sich mit dem Zeitalter des Merkantilismus, auch

Handelskapitalismus genannt, etwa von 1500 (Ende des Mittelalters) bis um 1750. Der

Handelskapitalismus, bereits ein Weltsystem, ist gefolgt von der eher lokalen Physiokratie in

Frankreich, verbunden mit dem Namen von François Quesnay (1750-70), und dann vom

Industriekapitalismus, der in England etwa ab 1770-80 einsetzt und sich sukzessive über die

ganze Welt verbreitet. Grob gesprochen deckt sich die Epoche des Merkantilismus mit der

Neuzeit, die zwischen Mittelalter und Moderne liegt (1500 – 1800).

In einem ersten Abschnitt beschäftigen wir uns mit den wirtschaftlichen Veränderungen

der Neuzeit. Dann einige Bemerkungen zu den Handelswegen der Neuzeit (Abschnitt 2).

Abschnitt 3 ist der Wirtschaftspolitik des Merkantilismus gewidmet: Exportüberschüsse

sollen über kumulative Effekte zusätzlich Arbeitsplätze schaffen, das Sozialprodukt erhöhen

und zu höheren Steuereinnamen führen; der Profit aus dem Fernhandel soll auch zu

zusätzlichen Steuereinnahmen führen. Hohe Steuereinnahmen sollen dann die innere und

äussere Machtentfaltung der entstehenden Nationalstaaten finanzieren. Der vierte Abschnitt

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bringt ganz kurz den globalen Gesichtspunkt hinein, vor allem den Einfluss der asiatisch-

nordafrikanischen Weltwirtschaft auf die europäische Wirtschaftsentwicklung.

1. Wirtschaftliche Veränderungen der Neuzeit [1500 – 1750-

(1800)]

1.1. Einleitung

1.1.1. Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Europas

Nach einem Jahrhundert der Stagnation (1350-1450), erlebt Europa ab etwa 1450 einen neuen

demographischen Aufschwung, der teilweise von einem wirtschaftlichen Aufschwung

begleitet ist, die grossen Entdeckungen und die damit verbundene Zunahme des Fernhandels

tragen auch zum Aufschwung bei. Dieser kommt gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts zum

erliegen. Die Stagnation dauert, von Ausnahmen wie Holland und England abgesehen, bis zur

industriellen Revolution in England und zur politischen Revolution in Frankreich.

Gründe für die Stagnation:

- Der Dreissigjährige Krieg in Deutschland (1618-1648). Dieser Krieg war ein

religiös-politischer deutscher Bürgerkrieg, der sich zu einem europäischen Krieg

ausgeweitet hat. Dieser Krieg ist verbunden mit Pest und Hungersnöten. Die

deutsche Bevölkerung wurde von 17 auf 11 Millionen reduziert, auf 5 Millionen

gemäss pessimistischen Schätzungen.

- Der Zufluss von Edelmetallen aus Mittel- und Südamerika nach Europa führt hier zu

Preissteigerungen. Die Einkommensverteilung wird ungleicher und die Kaufkraft

der Bevölkerung sinkt. Dies ist wahrscheinlich der wichtigste Grund für die

Stagnation.

Jedenfalls tritt die europäische Wirtschaft im 16. Jahrhundert (ab 1500) in eine neue

Phase ein. Hauptkennzeichen: Eine viel stärkere weltweite Öffnung Europas setzt ein. Mit den

grossen Entdeckungen (Seeweg nach Asien und vor allem der Entdeckung Amerikas) setzt

ein demographischer Aufschwung ein. Der Reichtum Europas nimmt zu, ist allerdings

zusehends ungleicher verteilt. Der Handel und vor allem der Fernhandel nehmen dramatisch

zu. Deshalb bezeichnet man den Zeitraum von etwa 1500 bis ungefähr 1750 als das Zeitalter

des Merkantilismus oder des Handelskapitalismus. Die Regierungen übernehmen eine neue

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Rolle in der Wirtschaft: Der Merkantilismus bezeichnet auch eine Wirtschaftspolitik. Durch

den Aussenhandel soll der Reichtum, das Sozialprodukt, gesteigert werden, was mit einer

Erhöhung des Beschäftigungsvolumens einhergehen soll.

1.1.2. Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit

Bis zur Mitte des 15. Jh. hatten Pest und Hungersnöte die europäische Bevölkerung um ~50%

[einige Autoren sprechen sogar von 2/3!] reduziert (um 1450 hatte Europa 45-50 Millionen

Einwohner; um 1330 waren es über 100 Millionen). Um 1650 wurde der Bevölkerungsstand

von etwa 100 Millionen wieder erreicht, dies trotz dem Dreissigjährigen Krieg, der zwischen

6 und 11 Millionen Opfer forderte.

Drei Gründe für die Bevölkerungszunahme:

- Einmal, Fortschritte in der Medizin.

- Dann, ein wirtschaftlicher Grund: eine Verbesserung der Lebenshaltung, vor allem

aufgrund der Entdeckungen und der europäischen Expansion (z.B. hat die Kartoffel

sicher die Ernährungslage entscheidend verbessert).

- Schliesslich auch Klimaveränderungen, eventuell bewirkt durch die Zunahme von

Weideland (Viehhaltung) und Aufforstung, einer Zunahme der Wälder, die ja im

Mittelalter, die im Hochmittelalter durch Rodungen sehr stark reduziert worden

waren. Die Erosion von Ackerland wurde so eingedämmt.

Die Folgen der Bevölkerungszunahme:

- Die Verstädterung nimmt zu.

- Das Arbeitsangebot steigt. Sehr wahrscheinlich ist dies verbunden mit einer

Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die untersten Bevölkerungsschichten verarmen. Es

entsteht ein Lumpenproletariat; die Bettelei nimmt zu.

- Im Allgemeinen führt der Bevölkerungsdruck zu einem Sinken der Reallöhne: Die

Geldlöhne bleiben mehr oder weniger konstant, und die Preise steigen. Der Druck

auf die Reallöhne wird noch verstärkt durch die Preisrevolution, ausgelöst durch den

Zufluss von Gold aus Südamerika. Die ungleichere Einkommensverteilung schwächt

die Kaufkraft der Bevölkerung, die effektive Nachfrage sinkt, was die

Arbeitslosigkeit weiter erhöht.

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Eine aggressive Aussenhandelspolitik (möglichst hohe Exportüberschüsse) soll neue

Arbeitsplätze schaffen und die Arbeitslosigkeit verringern. Die merkantilistischen Ökonomen

waren davon überzeugt, dass Geldwirtschaften nicht selbststabilisierend sind.

1.2. Die grossen Entdeckungen

Die grossen Entdeckungen werden die wirtschaftliche Entwicklung Europas tiefgreifend

beeinflussen.

Die Entdeckungsfahrten wurden unternommen, um neue Handelsaktivitäten zu

erschliessen. Nun wurden aber die Handelswege über das östliche Mittelmeer und im

Mittleren Osten immer hindernisreicher. Nach dem Fall von Konstantinopel 1453 blockieren

die Türken das östliche Mittelmeer. Der Weg nach Osten durch das Mittelmeer wird deshalb

immer schwieriger. Die am Atlantik gelegenen Staaten, vor allem Portugal und Spanien,

beginnen deshalb den Blick nach Süden und Westen, das heisst auf den Atlantik zu richten. Es

besteht wohl auch die vage Vorstellung, dass man den Türken und Arabern in den Rücken

fallen kann, wenn man den Seeweg nach Asien, spezifisch nach Indien findet.

Die Entdeckungen wurden ermöglicht durch Fortschritte in der Schiffbau- und

Navigationstechnik.

Schiffbautechnik:

- Es werden längere und stabilere Schiffe gebaut, die drei bis fünf Masten haben.

- Ein Steuerrad wird angebracht.

- So braucht es keine Ruderer mehr.

Navigationstechnik:

- Der Kompass, wahrscheinlich von den Chinesen übernommen (Seidenstrasse!),

kommt über die Araber nach Europa.

- Fernrohre werde verbessert.

- Präzisere Karten werden angefertigt.

Die ersten grossen Seefahrer waren die Italiener (im Süden) und die Wikinger (im

Norden). Berühmte italienische Seefahrer waren z.B. Christoph Kolumbus (Genua) und

Amerigo Vespucci (Florenz). Viele der spanischen und portugiesischen Seefahrer kamen aus

Italien, vor allem aus Genua, das den Kampf um die Vorherrschaft im Orienthandel gegen

Venedig verloren hatte. Sie waren arbeitslos und stellten so ihre Dienste ausseritalienischen

Fürsten zur Verfügung, vor allem dem Königen von Spanien und Portugal. So segelte der

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Genuese Christoph Kolumbus im Auftrag des Königs von Spanien nach Westen in Richtung

Amerika (Kolumbus glaubte, dass die Erde rund sei und wollte westwärts auf dem Seeweg

Indien erreichen).

Auf die Italiener folgen die Flamen, Holländer und Portugiesen. Die Überlegenheit der

Portugiesen ist bereits im 15. Jh. eindeutig.

Heinrich der Seefahrer (1393-1460), jüngster Sohn des portugiesischen Königs, ist der

Initiator der grossen europäischen Entdeckungsfahrten im 15. Jahrhundert. Im extremen

Süden Portugals errichtet er um 1430 ein maritimes Forschungsinstitut, wo Astronomen,

Geographen, Kartographen und Navigatoren aller Nationalitäten arbeiten. [Hier werden, wie

oben angedeutet, erstmals in Europa systematische Arbeiten geleistet, um die Schiffahrt auf

den Meeren effizienter zu gestalten. Es werden bessere Schiffe mit mehr Masten gebaut (3-5

Masten), genauere Karten werden gezeichnet und die Navigationstechnik wird verbessert

(Kompass, Fernrohr)]. Von 1418 bis zu seinem Tod organisiert er fast jedes Jahr eine

Forschungsreise, vor allem entlang der Nordwestküste Afrikas, baut Handelsbeziehungen mit

den einheimischen Häuptlingen auf. Die Forschungsreisen Heinrichs des Seefahrers bilden die

Grundlage für weitere portugiesische Entdeckungsfahrten immer entlang der Küste Afrikas.

So erreicht Bartolomäus Diaz die Südspitze Afrikas und umschifft als erster das Kap der

Guten Hoffnung (1488). [Die Portugiesen, die also bereits im 15. Jh. Entdeckungsreisen

unternehmen, glauben noch, dass die Erde eine Scheibe sei und dass es gefährlich sein könnte,

zu nahe an den Rand der Erdscheibe zu kommen, weil man dann ins Leere fallen könnte!

Deshalb fahren die Portugiesen vorsichtig der Küste Afrikas entlang.]

Vasco da Gama umschifft Afrika und gelangt nach Calicut an der Westküste Indiens. Er

verliert 2 von 4 Schiffen. Aber die Ladung an Gewürzen, die er zurückbringt, deckt die

Expeditionskosten um das hundertfache! 1513 erreichen die Portugiesen Kanton in China; um

1550 knüpfen sie diplomatische und Handelsbeziehungen mit Japan an! (Eine Leistung für ein

kleines Volk wie die Portugiesen!)

Christoph Kolumbus versucht westwärts den direkten Seeweg nach Asien (Indien) zu

finden. Im Dienste der spanischen Könige Isabella und Ferdinand, läuft Kolumbus am 2.

August 1492 aus Granada aus und erreicht am 12. Oktober 1492 die Antillen. 1493 kommt er

mit einem Kontingent von 1500 Mann und errichtet eine permanente Kolonie. Kolumbus fährt

vier Mal nach Amerika, wobei er immer überzeugt ist, den Seeweg nach Indien entdeckt zu

haben. [Eine andere Theorie besagt, dass Kolumbus glaubte, Hinterindien erreicht zu haben,

nicht das eigentliche Indien; jedenfalls war dies der Grund warum der neue Kontinent nicht

„Kolumbien“ genannt wurde, sondern Amerika, abgeleitet aus dem Vornamen eines anderen

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italienischen Seefahrers, Amerigo Vespucci aus Florenz. Vespucci war als erster Europäer

davon überzeugt, dass Amerika ein eigener (und damit neuer) Kontinent sei.]

Sofort nach den ersten Entdeckungsfahrten entstand zwischen Spanien und Portugal ein

Konflikt um die neu entdeckten Gebiete. Es drohte sogar Krieg. Papst Alexander VI [ein

Blick auf Wikipedia lohnt sich bei diesem Papst!] rief die beiden Parteien in der spanischen

Stadt Tordesillas zusammen, wo 1494 der Vertrag von Tordesillas abgeschlossen wurde: Als

Grenze zwischen spanischem und portugiesischem Besitz wurde eine Linie vom Nordpol zum

Südpol (Längengrad) festgelegt. Diese verlief 540 Seemeilen (1000km) westlich der Azoren

(1 Seemeile = 1,6 km). Alle Gebiete westlich dieses Längengrades gehörte Spanien, alle

Gebiete östlich davon waren portugiesischer Besitz. Das portugiesische Gebiet schliesst

Brasilien ein (!), das um 1500 von Pedro de Cabral für Portugal in Besitz genommen wird.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es viele andere Entdeckungsfahrten. Eine der

berühmtesten war diejenige von Ferdinando Magellan, ein portugiesischer Seefahrer, der im

Auftrag der spanischen Krone segelte; Magellan begann 1519 die erste Weltumsegelung: von

Spanien, um Südamerika herum, durch den Pazifik in den indischen Ozean und über das Kap

der guten Hoffnung (der Südspitze Afrikas) wieder zurück nach Spanien. (Magellan beendete

die Reise allerdings nicht; er wurde 1521 auf einer philippinischen Insel ermordet.)

[Jedenfalls zwang die islamische Barriere, vor allem nach dem Fall von Konstantinopel

1453, die spanischen und portugiesischen Seefahrer, in den Atlantik (und den indischen

Ozean) zu hinauszufahren. Die geographische Lage war natürlich auch ein Grund. Bei den

Portugiesen mag die Absicht, den Arabern in den Rücken zu fallen, ebenfalls mitgespielt

haben.]

1.3. Auswirkungen der Entdeckungen

1.3.1. Spanische und portugiesische Domination im 16. Jahrhundert

Das 16. Jh. eröffnet die Ära der europäischen Expansion; es wird fast ausschliesslich von

Spanien und Portugal dominiert. Die Portugiesen beherrschen ab ~1515 den indischen Ozean.

Sie kontrollieren Celebes und die Molukkeninseln (im heutigen Indonesien), wo es die

erlesensten Gewürze gibt.

Die Portugiesen errichten im 16. Jahrhundert Handelsstützpunkte, ohne das Hinterland zu

kolonisieren; sie sind dazu zahlenmässig dazu nicht in der Lage!

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Macao (China) wurde erst am 20. Dezember 1999 unabhängig und hat im Rahmen der

Chinesischen Volksrepublik einen eigenen Status bis 2049. Goa in Indien war bis 1961

portugiesisch.

Allgemein gesehen bringt der europäisch-asiatische Handel, vor allem der

Gewürzhandel, gigantische Handelsgewinne. Diese kommen aber Europa, nicht Asien zugute.

[Auch beim mittelalterlichen Handel der deutschen Hanse mit Russland profitierten vor allem

die deutschen, nicht die Russen.]

Allerdings behalten die Portugiesen das Gewürzmonopol nicht lange. Die Holländer

werden sofort ab 1588 im Gewürzhandel aktiv (bis 1588 war Holland spanisches

Untertanengebiet; in diesem Jahr, 1588, wurde die spanische Flotte, die berühmte Armada,

von den Engländern besiegt. Demzufolge waren die Spanier nicht mehr in der Lage, Holland

zu kontrollieren, das sich nun befreien konnte). Im 17. Jahrhundert dominierten die Holländer

den Gewürzhandel derart, dass dieses Jahrhundert als das holländische bezeichnet wurde;

tatsächlich war Holland bis 1688 die führende Wirtschaftsmacht in Europa, das auch die

stärkste Flotte hatte. (Im Jahre 1688 kam in England im Zuge der Glorious Revolution das

Bürgertum an die Macht; das Parlament wurde die wichtigste Institution; der König wurde in

den Hintergrund gedrängt (repräsentatives Königtum). Ab 1688 setzt der unwiderstehliche

Aufstieg England ein, das die Handelsmacht Holland zurückdrängte und dann nach der

Industriellen Revolution 1770-80 als Industrienation die Welt dominierte.)

Die Spanier betrachten den Gewürzhandel als wenig rentabel. Sie beginnen sofort, Gold

und Silber zu suchen, was sie im Aztekenreich und im Inkareich auch finden. (Das

Aztekenreich wird von Hernan Cortès in den Jahren 1519-21 erobert, das Inkareich von

Francisco Pizzarro in den 1530er Jahren. Die zahlenmässig geringen Spanier können sich

dank überlegener Waffen und dem Ausnutzen von inneren Gegensätzen durchsetzen.

Der italienische Wirtschaftshistoriker Carlo Cipolla schreibt in seinem Buch Die Odyssee

des spanischen Silbers (Lit.verz.), dass die Spanier in drei Jahrhunderten, von etwa 1500 bis

1800, insgesamt 82'000 (!) Tonnen Silber nach Spanien transportierten. Auf die

Auswirkungen dieses Edelmetallzustroms nach Europa werden wir noch zu sprechen

kommen.

1.3.2. Einfluss Europas (Spaniens) auf Südamerika

Die Spanier beginnen sofort, die eroberten Regionen zu kolonisieren. Sie bringen einmal ihre

Techniken nach Südamerika; allerdings bestand noch lange ein Verbot für die Produktion von

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Handwerksprodukten; die Spanier wollten diese in Spanien produzieren und dann nach

Südamerika exportieren, dies um im Mutterland die vermutlich sehr hohe Arbeitslosigkeit zu

reduzieren.

Dann kommen aus Spanien auch Materialien (neue Produkte) und neue Institutionen (vor

allem die Religion) in die Neue Welt, und überhaupt die ganze europäische materielle

Zivilisation (Städte, weltliche und religiöse Bauten). Diese europäische Zivilisation wird den

Indianern aufgedrängt.

Konkret bringen die Spanier bringen die Spanier unbekannte Nutzpflanzen und Haustiere

nach Zentral- und Südamerika:

- Weizen, Zuckerrohr, Kaffee (der ursprünglich aus Arabien stammt!), verschiedene

Gemüse und Früchte;

- Ausser dem Hund und dem Lama kennen die südamerikanischen Indianer keine

Haustiere. Die Spanier bringen das Pferd, den Ochsen, das Schaf, die Ziege, das

Schwein und verschiedene Geflügelarten.

- Aber die europäische „Zivilisation“ bringt auch Feuerwaffen, Alkohol und vor allem

in Südamerika bisher unbekannte Krankheiten, gegen die die Indianerbevölkerung

keine Abwehrstoffe hatte, z.B. Röteln oder Typhus. Die Folgen sind verheerend:

Südamerikas Bevölkerung um 1500 wird auf 25 Mio geschätzt (einige Schätzungen

gehen auf über 40 Mio!) am Ende des 16. Jh. sind es noch einige Mio.

Grobe Schätzungen besagen, dass die Bevölkerung von Zentral- und Südamerika in

einem Jahrhundert (1500 bis 1600) von 40-60 Mio auf weniger als 10 Mio zurückging.

Dazu hat auch die brutale Behandlung der einheimischen Bevölkerung durch die Spanier

beigetragen, vor allem Arbeit in Bergwerken unter unmenschlichen Bedingungen: die neue

Schicht schafft jeweils die Toten der alten Schicht heraus, die sich ohne Essen und Trinken zu

Tode arbeiten musste. Die unmenschliche Behandlung der einheimischen Bevölkerung wird

damit begründet, dass die Indianer keine Menschen seien, nur höhere Tiere. Der Dominikaner

Bartolomeo de las Casas verurteilt dieses Verhalten; er erzieht einige Indianer, bringt sie an

den spanischen Königshof, um zu beweisen, dass die Indianer auch Menschen seien. Von da

verbessert sich die Behandlung der Indianer, auch aufgrund von Weisungen des spanischen

Königs.

Allgemein waren die Indianer harten körperlichen Arbeiten nicht gewachsen. Um dem

Mangel an Arbeitskräften entgegenzutreten, werden aus Afrika Sklaven eingeführt, dies im

Rahmen des Dreieckshandels auf den wir noch zurückkommen werden.

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1.3.3. Einfluss der überseeischen Gebiete auf Europa

Der gigantische Zustrom von Gold und Silber aus den spanischen Kolonien Süd- und

Zentralamerikas hat ebenso gigantische Auswirkungen in Europa. Es kam hier nämlich zur so

genannten Preisrevolution, d.h. zu Preissteigerungen oder Inflation (weiteres dazu im

Abschnitt 4 unten). Wir haben schon erwähnt, dass der italienische Wirtschaftshistoriker

Carlo Cipolla (Lit.verz.) schätzt, dass die Spanier in drei Jahrhunderten, etwa von 1500 bis

1800, 82'000 Tonnen (!) Silber nach Europa brachten; dazu kamen noch einige Tausend

Tonnen Gold. Die Bedeutung dieser wird klarer, wenn man sich vor Augen hält, dass im

mittelalterlichen Europa immer wieder beklagt wurde, der Mangel an Edelmetallen behindere

die Wirtschaftstätigkeit. Jedenfalls ohne die amerikanischen Edelmetalle wäre vielleicht die

Industrielle Revolution nicht zustande gekommen. Es hätte eventuell in Europa allgemein und

in grösserem Ausmasse Dauerarbeitslosigkeit vorgeherrscht, auch im England des 18.

Jahrhunderts, und man wäre technischem Fortschritt, vor allem verkörpert in Maschinen

feindlich gegenübergestanden. Auch hätte Europa ohne die amerikanischen Edelmetalle

niemals die Handels- und Kolonisationstätigkeit finanzieren können, die dann tatsächlich

stattgefunden hat. Jedenfalls machen bis 1594 die Gold- und Silberexporte aus Südamerika

95% der Gesamtexporte aus dieser Region aus.

Aus Südamerika gelangt auch Indigo (ein wunderschöner blauer Farbstoff) nach Europa

und veredelt die Textilien, die sich nun besser verkaufen. Aus Nordafrika und Arabien kommt

Kaffee nach Europa, aus Asien Tee, aus Amerika Kakao; diese anfänglich sehr teuren

Produkte werden allmählich billiger und verbreiten sich rasch in Europa. Dazu kommen

weiter Zucker aus Amerika, indische Luxus-Textilien, Tabak aus Amerika, der in Europa

sofort einen beträchtlichen Erfolg erzielt. Pelze, exotische Hölzer und neue Textilfasern

vervollständigen das Angebot von Kolonialwaren in Europa.

Auch Grundnahrungsmittel kommen nach Europa, an erster Stelle die KARTOFFEL aus

Südamerika (was wäre unser Leben ohne Salzkartoffeln, Gratin und Pommes-Frites!

Jedenfalls hat die Kartoffel die europäischen Ernährungsgewohnheiten grundlegend verändert

und ermöglicht, eine viel grössere Bevölkerung zu ernähren); die Tomate und die Erbse sowie

der Mais kommen alle aus Zentral- und Südamerika; der Reis kommt aus Asien und wird

heute in Südeuropa und in Amerika angebaut, vor allem in Zentral- und Südamerika.

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1.4. Die Preisrevolution

1.4.1. Edelmetallzufluss und Inflation

Der Zustrom von Gold und Silber aus den spanischen Kolonien Südamerikas verdreifacht den

Geldbestand in Europa im Verlaufe des 16. Jahrhunderts. Spanien versucht vorerst das Silber

und Gold im eigenen Lande zu behalten. Dies beruhte auf der Doktrin des Bullionismus, die

besagt, dass Geld Reichtum ist.

Es gelingt aber Spanien nicht, ihre Edelmetalle im Land zu behalten. Unter anderem hat

Spanien sehr viele Güter importiert, hat also ein sehr grosses Handelsbilanzdefizit, was zu

Edelmetallabflüssen führt. Der Importüberschuss zerstörte weite Teile der spanischen

Wirtschaft, weil die einheimischen Güter nicht abgesetzt werden können. Der

Edelmetallzufluss aus Südamerika führte also zur vollständigen Verarmung Spaniens, was

auch Cipolla bestätigt!

Zudem fliessen gewaltige Mengen an Gold und Silber nach Italien, den Niederlanden und

Deutschland, um Schulden zu bezahlen und um Kriege zu finanzieren. Vor allem im

Dreissigjährigen Krieg hat Spanien zu einem guten Teil die katholische Seite finanziert, was

sicher Riesensummen verschlang.

Die spanische Regierung trägt also die Hauptschuld dafür, dass die Edelmetalle

abflossen.

So verbreiten sich die südamerikanischen Edelmetalle in ganz Europa. Folge: Die Preise

in Europa verdreifachen oder vervierfachen sich im Verlaufe des 16. Jahrhunderts, wobei

natürlich regionale Unterschiede bestehen (z.B. finden in der russischen Subsistenzwirtschaft

keine Preiserhöhungen statt).

Die Nahrungsmittelpreise steigen besonders stark an; die Geldlöhne hinken den Preisen

nach: Reallöhne und Kaufkraft sinken!

1.4.2. Mechanismus und Auswirkungen der Inflation

Kurzfristig

Kurzfristige Nachfragesteigerungen bei quasi-starrem Angebot führt zu

Preissteigerungen. Wieso nimmt das Angebot nicht zu, bei vermutlich vorhandener

Arbeitslosigkeit? Anders gesagt, wieso steigen Output und Beschäftigung nicht, zumal Arbeit

im Überfluss vorhanden ist?

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Langfristig

Hauptgrund: Die ungleiche Einkommensverteilung führt zu stagnierender oder sogar

rückläufiger Kaufkraft, was seinerseits einen Rückgang der effektiven Nachfrage bewirkt. Es

ist also die in Geld ausgedrückt Nachfrage, die effektive Nachfrage, die Output und

Beschäftigung bestimmt. Bei einer Inflation gibt es immer Gewinner und Verlierer, was eben

bewirkt, dass die Einkommensverteilung ungleicher wird. Von der Inflation profitieren

Kaufleute, die im Lokal- und Fernhandel tätig sind, Fabrikanten (Handwerker,

Manufakturbesitzer, Verleger); Grundbesitzer, die ihr eigenes Land bebauen sowie Pächter

mit fixer Geldpacht. Zu den Verlierern gehören Lohnarbeiter, Pensionierte

(Rentenempfänger), Grundbesitzer mit fixen Pachteinnahmen oder Bauern mit sehr hohen

Realabgaben. Diese sozialen Schichten müssen sinkende Realeinkommen in Kauf nehmen.

Der Druck auf die Reallöhne wird noch verstärkt durch das Bevölkerungswachstum.

Also: Ungleiche Einkommensverteilung drückt auf Nachfrage; wegen der vielen Kriege,

die in merkantilistischer Zeit geführt wurden bleibt jedoch vermutlich die Gesamtnachfrage in

etwa konstant, weil die Staatsausgaben (G) steigen; es werden Waffen produziert, der Sold für

die Soldaten, vielfach Söldner muss bezahlt werden (Schweizer Söldner in Frankreich;

Bereichung der schweizerischen Patrizier). Bei in etwa konstanter Gesamtnachfrage und bei

wachsender Bevölkerung vermögen Landwirtschaft und „Industrie“ das Arbeitsangebot nicht

zu absorbieren und die Arbeitslosigkeit bleibt auf hohem Stand und nimmt eventuell sogar zu!

Nur England hatte im 18. Jahrhundert ein hohes Beschäftigungsvolumen, was eine der

Grundbedingungen für das Zustandekommne der Industriellen Revolution gerade in England

darstellte.

1.4.3. Spanien und das amerikanische Gold

Der ungeheure Edelmetallreichtum führte Spanien in eine fast totale Verarmung. Carlo

Cipolla schreibt auf der Rückseite seines Buches (Lit.verz.): „Zwischen 1519 und 1533 wurde

das spanische Kolonialreich zum grössten in der Geschichte der Menschheit: Ein gewaltiger

Raubzug, der mit der vollständigen Verarmung des Räubers endete.“ [Karl V. war in dieser

Zeit römisch-deutscher Kaiser und König von Spanien und damit seines Kolonialreiches. Im

Reich Karls V. ging die Sonne nie unter!]

Warum diese totale Verarmung Spaniens?

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Einmal wurde Gold und Silber exportiert für politische und militärische Zwecke

(Finanzierung von Kriegen, vor allem der katholischen Seite im Dreissigjährigen Krieg).

Aber mit Abstand am wichtigsten: Gold und Silber werden verwendet um Importe zu

finanzieren: Handwerks- und Manufakturprodukte, aber auch landwirtschaftliche Produkte.

Dadurch werden die eigenen Produktivkräfte nicht entwickelt. Wie sollen die spanischen

Handwerker, Manufakturbesitzer und Bauern ihre Produkte absetzen, wenn das Land von

ausländischen Produkten überschwemmt wird? Der Edelmetallzustrom hat also Spanien

regelrecht ruiniert, indem Handwerk und Manufakturen über weite Strecken vernichtet

werden und auch die Landwirtschaft schwer getroffen wird.

[In ihrer Verzweiflung versuchten die Spanier doch noch einige Arbeitsplätze zu

schaffen, indem sie ihren eigenen Kolonisten verboten, in den süd- und zentralamerikanischen

Kolonien Handwerks- und Manufakturprodukte herzustellen. So waren die Kolonien fast

völlig von den Importen aus dem Mutterland Spanien abhängig (siehe dazu Carlo Cipolla,

Lit.verz., pp. 46-48)!]

Die spanischen Importe bewirken aber gute wirtschaftliche Lage in Frankreich, Nord-

Italien und der Schweiz. Diese Länder können nämlich nach Spanien exportieren, vor allem

Frankreich, das einen sehr beträchtlichen Exportüberschuss mit Spanien hat. Gold und Silber

fliessen deshalb von Spanien nach Frankreich. Einen guten Teil dieser Edelmetalle brauchte

die französische Krone, um die Schweizer Söldner in französischen Diensten zu finanzieren.

In Holland, England und Skandinavien wird Reichtum durch den Überseehandel erhöht.

Der amerikanische Wirtschafts- und Kulturhistoriker John Nef (Lit.verz.) stellt fest, dass

in Europa drei unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen eingesetzt haben:

1) In Frankreich, Norditalien und die Schweiz erfreuen sich bis etwa 1650 herum einer

guten wirtschaftlichen Lage, auch dank den Exportmöglichkeiten nach Spanien. Die

wirtschaftliche Lage ist im Dreissigjährigen Krieg besonders gut, weil die Exporte

nach dem kriegsverwüsteten Deutschland zunehmen. Nach 1650 setzt in diesen

Gebieten eine Stagnation ein, vor allem in Frankreich, vermutlich bewirkt durch

verminderte Exporte nach Spanien und Deutschland und eine ungleichere

Einkommensverteilung; zum Beispiel rafft Kardinal Mazarin, „Ministerpräsident“

Ludwigs XIV von 1642-1661, das grösste Vermögen Europas zusammen und

transferiert dieses nach Italien! In Frankreich dauert die wirtschaftliche Stagnation

bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts und war sicher eine wichtige Ursache für das

zustande kommen der Französischen Revolution 1789.

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2) Holland, England und Skandinavien kennen eine dynamische

Wirtschaftsentwicklung. Holland dominiert das 17. Jahrhundert (1588-1688!) durch

die Kontrolle des Gewürzhandels mit Asien (Indonesien). England nimmt im 18.

Jahrhundert die Vormachtstellung in Europa ein. Vor allem nach dem

Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) beherrscht England die Weltmärkte (Frankreich

wird aus Indien und Nordamerika hinausgedrängt), was entscheidend ist für das

Zustandekommen der Industriellen Revolution gerade in England.

3) Spanien und alle von Spanien abhängigen Gebiete verarmen wegen des oben

beschriebenen Edelmetallmechanismus (Edelmetallabfluss um den Import von

Gütern zu finanzieren). Vor allem verarmt Süditalien und überhaupt der nördliche

Mittelmeerraum. Ebenso verarmt Zentraleuropa (Deutschland), vor allem wegen des

fürchterlichen Dreissigjährigen Krieges. Der Verarmungsprozess setzte aber schon

vorher ein. Karl V. war römisch-deutscher Kaiser und König von Spanien von 1519

bis 1556.

1.5. Agrartechnologie und Produktivität der Landwirtschaft

1.5.1. Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität

in Europa

Im 17. Ab 1650 Jh. kommt es zu einer Stagnation

- der Bevölkerung,

- der landwirtschaftlichen Produktion (vor allem in England wird Ackerland in

Schafweiden umgewandelt um Wolle für die Herstellung von Textilien zu

gewinnen) sowie

- der landwirtschaftlichen Produktivität (das Verhältnis von Ackerland zu Weideland

(für Viehwirtschaft; Kühe, Grossvieh) verschlechtert sich. Zuwenig natürlicher

Dünger steht zur Verfügung und die Bodenproduktivität sinkt; z.B.: Beim Weizen ist

das Verhältnis von geernteter zu ausgesäter Menge 4:1 bis 5:1 (2:1 bis 3:1 in

Osteuropa). Diese Erträge sinken im 17. Jh. sogar noch etwas. (Vergleich zu heute:

40 bis 50:1!)

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1.5.2. Die holländische Ausnahme

Schon im 15. Jh. ist die niederländische Landwirtschaft die produktivste in Europa (die

Niederlande umfassten damals noch das heutige Belgien und Holland). Hauptgrund sind die

Absatzmöglichkeiten in den städtischen Textilzentren von Flandern. Stadt und Land schaffen

sich gegenseitig Absatzmärkte: das Land liefert den landwirtschaftlichen an die Städte und

kauft Handwerks- und Manufakturprodukte von den Städten. Die städtische Nachfrage nach

landwirtschaftlichen Produktion wird noch angekurbelt durch (Fern-) Exporte; diese führen zu

zusätzlichem Output und Arbeitsplätzen, was wieder die Nachfrage nach landwirtschaftlichen

Produkten erhöht.

Im 16. Und im 17. Jh. erlebt (das nun vom heutigen Belgien getrennte) Holland eine

regelrechte Landwirtschaftliche Revolution und wird zur ersten modernen

landwirtschaftlichen „Grossmacht.“ Die erste Agrarrevolution kommt also in Holland

zustande.

Die Modernisierung der Landwirtschaft erfolgt parallel zur Ausweitung des Fernhandels

(Gewürzhandel mit Indonesien; aber auch Raub von Gewürzen: siehe Panikkar, Lit.verz., pp.

93-103), der Arbeitsplätze schafft und die Exporte ankurbelt, die ihrerseits wieder

Arbeitsplätze schaffen. Dazu kommen Dienstleistungen, vor allem Finanzdienstleistungen;

Amsterdam wird das Finanzzentrum Europas. Die städtischen Einkommen nehmen also

dramatisch zu, was eine Nachfrage nach Industrieprodukten, aber auch nach

landwirtschaftlichen Produkten führt.

Die Erfolge der holländischen Landwirtschaft beruhen auf der Spezialisierung, die

aufgrund des rasch wachsenden städtischen Marktes möglich wird.

Aber die holländischen Bauern arbeiten auch für den Export; hochwertige Produkte, wie

Fleisch und Milchprodukte werden exportiert. Die Nachfrage nach Futtermitteln (Heu, Klee,

Rüben,) steigt; diese werden entweder selber angebaut oder importiert. Neben anderen

landwirtschaftlichen Produkten werden sogar Blumen angebaut und exportiert (Tulpen!).

Die hohe Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten führt zu einer zusätzlichen

Nachfrage nach Boden. Trockenlegungen erfolgen: Land wird dem Meer abgewonnen

(Polder). Dämme müssen gebaut werden. Dies führt zu höheren Staatsausgaben, damit zu

noch grösserer wirtschaftlicherer Aktivität. Dazu kommt der Schiffsbau, der zum Teil

staatlich finanziert wird; die Staatsausgaben G steigen.

So lösen die Fernhandelstätigkeit, Exporte, Dienstleistungen und höhere Ausgaben für

den Schiffsbau – alles autonome Ausgaben - einen kumulativen Prozess der Konsum– und

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Investitionsgüterproduktion und der Volkseinkommenserhöhung aus, verbunden mit hohem

Beschäftigungsvolumen. Ein solcher Prozess kam in anderen Ländern Europas nicht oder

nicht so umfassend wie in Holland zustande. Deshalb hat sich das holländische

landwirtschaftliche Modell im übrigen Europa auch kaum ausgebreitet. Erst England im 18.

Jahrhundert, vor allem ab 1750, machte einen ähnlichen Prozess durch; auch hier waren

Exporte (X) entscheidend. Jedoch besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Holland und

England (Industrie) bezüglich der Sequenz: autonome Ausgaben, vor allem Exporte führen zu

einer kumulativen Erhöhung von Output und Beschäftigung. Holland war eine Handelsmacht,

England die erste Industriemacht!

1.6. Technologie in Handwerk und „Industrie“

Zwischen 1500 und 1750 finden in verschiedenen Bereichen Fortschritte statt; diese bereiten

die „Industrielle Revolution“ vor. Der technische Fortschritt wird jedoch gebremst durch die

staatlichen Autoritäten sowie durch die Zünfte, die Arbeitslosigkeit befürchten (dies zeigt die

Wichtigkeit der effektiven Nachfrage).

Zum Beispiel:

- 1551 erlässt das englische Parlament ein Gesetz, das Maschinen, die Wolle glätten

(um das Spinnen vorzubereiten), untersagt, aber die Benutzer halten sich nicht daran.

- Um 1590 erfindet der englische Pastor William Lee einen effizienteren Webstuhl

(Tretwebstuhl). Er erhält kein Brevet. Einige Webstühle, die in Nottinghamshire

einführt, werden von Handwebern zerstört.

- Der ‚Drehwebstuhl’, mit dem 12 Bänder auf einmal gewoben werden können, wird

1638 in England vom Parlament untersagt.

Oder fehlende Energie oder nicht vorhandene Materialien führen auch dazu, dass

Erfindungen nicht realisiert werden können. Aus diesen Gründen konnte z.B. Leonardo da

Vinci seine Erfindungen nicht realisieren.

[Wikipedia: Als Ingenieur war Leonardo da Vinci ein Pionier und seiner Zeit weit

voraus. Seine Intention war, Maschinen (und Waffen) zur Entlastung des Menschen bei ihrer

Arbeit und Kriegsführung zu schaffen, sozusagen: „die Produktivität zu erhöhen“. Im Laufe

der Zeit nahmen seine wissenschaftlichen Forschungen und sein durch Studium angeeignetes

Wissen über Naturkräfte, die er zum Nutzen der Menschheit einsetzen wollte, immer mehr an

Bedeutung zu. Jahrzehntelang skizzierte er beispielsweise Fluggeräte, die den heutigen

Hubschraubern gleichen. Auch soll er Flugübungen mit einem Segelfluggerät durchgeführt

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haben. Er konstruierte auch Zahnräder und Getriebe. Viele seiner Geräte wurden inzwischen

nachgebaut. Beispielsweise wurde seine Skizze "Wunder der Kunst des mechanischen

Getriebes" als Kunstwerk und als Unendlichkeitsmaschine für didaktische Zwecke realisiert.]

Die fehlende Energie ist besonders wichtig. Hier sieht man die zentrale Bedeutung der

Erfindung einer effizienten (arbeitsfähigen) Dampfmaschine durch James Watt im Jahre 1769.

Anderseits werden auch produkttechnische Erfindungen gemacht, die sich zum Teil

durchsetzen können. Am Ende des 15. Jahrhunderts realisieren flämische Weber ein leichteres

und billigeres Tuch (la nouvelle draperie), die sich rasch in Zentraleuropa ausbreitet.

Die Bautechnik macht keine besonderen Fortschritte. Dagegen verbessert sich die

Schiffsbaukunst in den Niederlanden. Von etwa 1500 bis um 1650 verzehnfacht sich die

holländische Flotte; sie ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts drei Mal grösser als die englische

Flotte!

Wegen der relativ kurzen Lebensdauer der Segelschiffe, ist eine Rationalisierung der

Produktion erforderlich, um eine Serienproduktion zu ermöglichen. Es gibt bereits

mechanische Sägen und eine Art Fliessband (von Windmühlen betrieben), das zu

verarbeitende Teile heranschafft und weiterleitet. (Hier kommt wiederum die westeuropäische

Maschinenbautradition zum Tragen; auch die Eigeninitiative, die auf die Verbesserung der

Produktionsmethoden in allen möglichen Bereichen abzielt, um im innereuropäischen

Konkurrenzkampf bestehen zu können; erinnern wir uns: diese zentralen Kräfte in der

europäischen Entwicklung gehen auf die Zweiteilung des Bodens im Karolingischen Reich

(um 800) zurück!)

[Anekdote: Der russische Zar Peter I. arbeitete 1697/98 als Zimmermannsgeselle auf der

holländischen Schiffswerft in Saardam unter dem Namen Peter Michailow, um sich mit den

Techniken des Schiffbaus vertraut zu machen. Nachdem der Zugang zur Ostsee gewonnen

worden war, wollte Zar Peter der Grosse eine russische Kriegs- und Handelsflotte aufbauen.

Zu diesem Zwecke wollte der Zar sich persönlich mit der Schiffsbaukunst vertraut machen.

Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts sind dann hunderte von holländischen

Schiffsbauingenieuren von den russischen Zaren nach Russland berufen worden. Der

Aufenthalt Peters des Grossen in Holland ist in der Oper Zar und Zimmermann verewigt

worden. Albert Lortzing hat nicht nur die Musik komponiert, sondern war auch sein eigener

Librettist. Die Uraufführung fand am 22. Dezember 1837 im Stadttheater Leipzig statt.]

Die Metallindustrie ist zwar beschäftigungsmässig gering, jedoch von grosser Bedeutung

für die Waffenfabrikation. Kanonen und Gewehre, Land- und Schiffsartillerie

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Auch die Eisenherstellung erfährt Verbesserungen: im 14. Und 15. Jh. nimmt die Höhe

der Hochöfen zu. Luftgebläse werden von Mühlen (Wasserkraft) betrieben. Mehr Eisen und

Eisen besserer Qualität kann so gewonnen werden, was eine wichtige Voraussetzung für die

industrielle Revolution ist.

In Europa sind Schweden, England, Belgien, Deutschland, Norditalien und Nordspanien

die wichtigsten Eisenproduzenten. So produziert England gegen Ende des 17. Jahrhunderts

etwa 25'000 Tonnen Eisen pro Jahr.

2. Die Handelswege der Neuzeit (eurozentrisch)

2.1. Handelskapitalismus

Zwischen dem 15. Bis 18. Jahrhundert ist der Handel bei weitem die wichtigste

wirtschaftliche Aktivität. Deshalb wird diese Zeitepoche auch als die Epoche des

Handelskapitalismus oder des Merkantilismus bezeichnet.

Das 16. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Handelsrevolution. Das Handelsvolumen

wächst schneller als die Bevölkerung. Jedoch macht der Handel zwischen Europa einerseits

und Asien und Amerika anderseits (Fernhandel) nur einen Bruchteil der gesamteuropäischen

Handelstätigkeit aus. Der lokale Handel zwischen Stadt und Land stellt immer noch bei

weitem den grössten Teil des Handelsvolumens dar.

Wir haben bereits erwähnt, dass das 16. Jahrhundert von Portugal und Spanien dominiert

wird. Das 17. Jahrhundert ist das Jahrhundert Hollands. England und Frankreich sind im 17.

und 18. Jahrhundert präsent, aber das 18. Jahrhundert wird das Jahrhundert Englands

(Industrielle Revolution 1770-80), mit Frankreich wirtschaftlich im Hintergrund; jedoch tritt

Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution (1789) in der

Vordergrund. Beide Ereignisse, die Englische Industrielle Revolution und die Französische

Politische Revolution, haben die Moderne entscheidend geprägt.

2.2. Verschiebungen im innereuropäischen Handel im 16.

Jahrhundert – Italien wird zurückgedrängt

Der Einbruch der Portugiesen in den indischen Ozean bedeutet einen Schock für Venedig und

Italien. Die Venezianer können zwar den Gewürzhandel mit Asien über Ägypten und Arabien

aufrechterhalten, aber nur mit stark reduziertem Gewinn).

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[Im 14., 15. und 16. Jahrhundert gibt es Bürgerkriege zwischen den italienischen Städten;

es ging vor allem um Anteile am Orienthandel, Venedig geht dabei als Sieger hervor.]

1521 wollen die Venezianer das Gewürzhandels-Monopol wiedererlangen, indem sie von

den Portugiesen sämtliche (portugiesischen) Importe abkaufen wollen – jedoch vergebens!

Zudem machte die berühmte Venezianische Flandernflotte (Seekomplement zu den

Champagner-Märkten!) ihre letzte Reise im Jahre 1532. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts

beschweren sich die Venezianer auch über französische und englische Konkurrenz im Handel

mit dem nahen Osten. Schliesslich werden die Portugiesen im Asienhandel zunehmend von

den Holländern bedrängt.

2.3. Die Rolle der Holländer

Der Aufstieg Hollands beginnt bereits im 15. Jh. Holländische Fischerflotten beeinträchtigen

den Heringhandel der Hanse. Sehr rasch spezialisieren sich die Holländer in anderen

Tätigkeiten:

- In Portugal und Frankreich kaufen sie Salz und Wein und bringen diese Produkte

nach Zentraleuropa, England, Nordeuropa.

- Im Baltikum betreiben sie hauptsächlich Handel mit Weizen und Holz.

Die holländische Domination im innereuropäischen Handel wird überwältigend; z.B.

schrieben sich zwischen 1497 bis 1660 um die 40000 Schiffe in den dänischen Häfen des

Baltikums ein, davon waren etwa 2/3 holländische.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts sind die Holländer ebenfalls äusserst aktiv im

Asienhandel geworden. Nach den Befreiungskriegen gegen Spanien lancieren die Holländer

um 1580 (genau 1579) ein Schiffsbauprogramm, um am Asienhandel teilnehmen zu können.

(Nach der Niederlage der spanischen Flotte, der Armada, gegen die Engländer 1588 haben die

Holländer von den Spaniern nichts mehr zu befürchten.) Schon um 1590 verfügen sie über 50

grosse Schiffe. Der Asienhandel ist dermassen erfolgreich, dass die holländische Regierung,

die Stadt Amsterdam sowie einige private Handelsgesellschaften 1602 die Holländische

Ostindienkompanie gründen, die das Monopol für den holländischen Ostasienhandel erhält.

Diese Gesellschaft kontrolliert schliesslich den Gewürzhandel mit Indonesien, das die

gewürzreichsten Inseln Asiens besitzt. Man muss sagen, dass die Holländer mit den

einheimischen Indonesiern nicht zimperlich umgegangen sind; die Gewürze wurden durch

Zwangsarbeit produziert und faktisch eigentlich geraubt (siehe Panikkar, Lit.verz., pp. 93-

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103). Tatsächlich war die holländische Kolonisierung eine härtesten, die in der Neuzeit

existierten.

Die Engländer versuchen vergebens den Holländern diese Inseln abzunehmen und

konzentrieren sich schliesslich auf die Ausbeutung Indiens, das schlussendlich [aus englischer

Sicht] „das schönste Juwel der britischen Krone“ wird (als Absatzmarkt für Textilien und

später Eisenbahnen – Schienen, Lokomotiven und Eisenbahnwagen – sowie als

Beschaffungsmarkt vor allem für Baumwolle. Zur Abwicklung des Asienhandels wird bereits

1600 die Englische Ostindienkompanie gegründet, die wie das holländische Gegenstück, das

Monopol für den Asienhandel Englands innehält. (Zu den europäischen

Ostindiengesellschaften siehe das Buch von Jürgen Nagel, Lit.verz.)

2.4. Engländer und Franzosen

Neben Indien konzentrieren sich die Engländer auf Nordamerika. Blühende Kolonien

entstehen in Neuengland (1620), Maryland (1632) und Virginia (1707). (Die Kolonisten sind

religiöse Dissidente, die als Mitglieder von protestantischen Sekten mit der englischen

Hochkirche in Konflikt geraten waren.) Alle diese Kolonien werden wichtige Absatzmärkte

für englische Manufakturprodukte und gleichzeitig wichtige Rohstofflieferanten; diese

Rohstoffe werden dann in England zu Fertigprodukten verarbeitet. (Allerdings werden die

englischen Kolonien in Nordamerika 1776 unabhängig; in diesem Jahr erfolgt die Gründung

der Vereinigten Staaten von Amerika (USA); die Unabhängigkeit der USA wurde vor allem

durch die Boston Tea Party eingeleitet, die heute wieder politische Bedeutung erlangt!).

Die Franzosen errichten 1608 die Kolonie Quebec. Sie beanspruchen auch das Gebiet der

grossen Seen und später das ganze Mississippi-Becken (la Nouvelle Orléans – New Orleans

ist eine französische Gründung!). Um 1660 befinden sich 100000 englische Kolonisten in

Nordamerika, dagegen nur 2500 französische! Zwei Gründe dafür:

Franzosen sind keine Auswanderer; sie haben ein grosses Land, mit dem sie sehr

verbunden sind, auch weil es sich darin gut leben lässt.

Die französischen Religionsflüchtlinge, die Hugenotten, wandern nach Osten und Norden

aus: Schweiz, Holland, Preussen, die englischen religiösen Flüchtlinge dagegen nach

Nordamerika (the English do not like the Continent).

Holländer, Engländer und Franzosen bereichern sich auch durch Piraterei: vor allem das

Kapern von spanischen Silberschiffen ist eine höchst rentable Tätigkeit. (Wie Cipolla

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(Lit.verz.) jedoch festhält, waren die Spanier aber mit ihren Silbertransporten von Südamerika

nach Europa dank dem Konvoi-System relativ erfolgreich.)

2.5. Arten des Handels

2.5.1. Inner-Europäischer Handel

Der inner-europäische Handel verändert sich im 16. Und 17. Jh. Im Mittelalter wurden

vorwiegend Luxusprodukte gehandelt (wenig Volumen und Gewicht, aber hoher Wert; eine

Ausnahme war eventuell der Hering-Handel der Hanse); im 16. Jahrhundert auch

gewöhnliche Produkte (mehr Volumen und Gewicht, relativ weniger wertvoll): Weizen, Holz,

Fische, Wein, Salz, Metalle und Tuch. Im 17. Jahrhundert kommt Kohle hinzu. Wegen der

Verbesserung der Schiffbautechnik werden auch die Transportkosten für gewichtige Produkte

gesenkt.

2.5.2. Interkontinentaler Handel

Der interkontinentale Handel verändert sich nicht stark. Gewürze (Pfeffer u.a.). Edelsteine,

Zucker, Tabak, Pelze und Edelhölzer aus Asien und Amerika werden gegen europäische

Manufakturwaren getauscht.

Wichtig ist auch der Menschenhandel (Sklavenhandel). Zuerst von Portugiesen betrieben

(von den Spaniern indirekt, über die Engländer!), dann von den Holländern, Franzosen und

schliesslich vor allem den Engländern. Es wird ein sogenannter Dreieckshandel aufgebaut:

1) Europäische Schiffe fahren zuerst an die westafrikanische Küste; sie führen Waffen,

Werkzeuge, farbige Tuche (von den Afrikanern sehr begehrt), Glaswaren und

Alkohol mit. Diese Waren werden gegen Afrikaner eingetauscht. Afrikanische

Häuptlinge und Könige verkaufen Kriegsgefangene und sogar Mitglieder ihrer

eigenen Familie (dadurch Erbschaftsprobleme gelöst).

2) Die „Menschenware“ wird nach Nord- und Südamerika gebracht (in Südamerika ist

Salvador de Bahia der Ankunftshafen; hier gibt es ein Museum, das zeigt, dass die

Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen, wie Sardinen aufeinander geschichtet,

transportiert wurden, so dass vielfach die meisten während der Überfahrt starben;

wieso das? Vermutlich um Meutereien der physisch starken Afrikaner vorzubeugen).

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3) In den Amerikas werden die Sklaven gegen Zucker, Tabak, später Baumwolle

eingetauscht. Diese Waren werden dann nach Europa zurückgebracht.

Dieser Dreieckshandel brachte eine optimale Auslastung der europäischen Schiffe! Er

wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Betreiben der Engländer aufgehoben. Dabei

wurden Menschenrechtsargumente vorgebracht, die in der Französischen Revolution

entstanden sind.

2.6. Einige Veränderungen in Europa in merkantilistischer Zeit

Die europäischen Kaufleute übernehmen allgemein italienische Handels- und

Buchhaltungstechniken (doppelte Buchhaltung). Dies und die Neuorientierung des Handels

bewirken, dass die Handelsvorherrschaft Italiens ab der Mitte des 16. Jh. sukzessive

gebrochen wird. (Max Weber sagt, dass ohne die doppelte Buchhaltung der europäische

Handels- und Industriekapitalismus nicht hätte entstehen können, weil man die komplexer

werdenden Geschäfte nicht hätte meistern können. Das vielleicht ein wenig übertrieben, hat

aber etwas an sich.

Der wirtschaftliche Aufstieg der nordeuropäischen Länder vor dem Dreissigjährigen

Krieg wird symbolisiert durch den Erfolg der Familie Fugger (Süddeutschland/Augsburg).

Die ersten Fugger sind Weber. Später betreiben sie von Venedig aus Handel mit Seide und

Gewürzen. Unter Jakob Fugger II (1459-1525) besitzt die Familie verschiedene Zweigstellen

in Deutschland, Ungarn, Polen, Italien, Spanien, Lissabon, London und Antwerpen.

Kontrollieren einen guten Teil des europäischen Gewürzhandels; die Gewürze werden mit

Silbermünzen bezahlt. Mit der Zeit übernehmen die Fugger Bankenfunktionen. Sie nehmen

Einlagen entgegen und treiben Wechselgeschäfte.

Gegen Ende des 15. Jh. werden sie die Bankiers des (Staates), des „Heiligen Römischen

Reiches Deutscher Nation.“ Dadurch erhalten sie die Kontrolle der Tiroler Silberminen. So

haben die Fugger teilweise die Kontrolle über die Geldversorgung in Zentraleuropa!

Als Staatsbankiers finanzieren sie europäische Monarchen, vor allem die Könige von

Portugal und Spanien. Letzteres treibt die Fugger in den Ruin, weil Spanien mehrmals

Staatsbankrott macht, dies trotz des Edelmetallzuflusses aus Zentral- und Südamerika!! (Das

ist auch eine hochinteressante Sache, der man nachgehen sollte.)

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3. Der Merkantilismus als ökonomischer Nationalismus und

Imperialismus: Die eurozentrische Sichtweise (aus der

Dogmengeschichtsvorlesung)

Der Merkantilismus ist ein System der Wirtschaftspolitik: Der REICHTUM eines Landes –

höheres Sozialprodukt, mehr Beschäftigung – soll über den AUSSENHANDEL gesteigert

werden. Dabei wird die Wirtschaft in den DIENST des (absolutistischen) STAATES gestellt,

der einen gewaltigen Finanzbedarf hat.

Grund: Die Zeit des Merkantilismus ist das Zeitalter der europäischen Nationenbildung

(Frankreich, Spanien, England, Österreich, Preussen; im Zentrum steht Frankreich, das in

Richtung Rhein vorrückt; Frankreich strebt natürliche Grenzen). Der einzelne Staat ist

bestrebt, sein wirtschaftliches und militärisches Potential zu stärken, um seine Machtposition

zu halten oder auszubauen. Mittel für diese Machtentfaltung sind ein effiziente staatliche

ADMINSTRATION und ein reguläres HEER. Beides ist mit einem sehr hohen Finanzbedarf

(Steuern) verbunden, der durch eine starke Wirtschaft (hohes Q = AN) gedeckt werden soll.

Der landwirtschaftliche Überschuss reicht nicht mehr aus, um den Staat zu tragen. Handel und

„Industrie“ müssen als Steuerobjekt herangezogen werden.

3.1. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen

3.1.1. Politische Veränderungen

Aus dem Spätmittelalter wächst allmählich eine neue politische Struktur heraus: der

Absolutismus (deckt sich zeitlich etwa mit dem Merkantilismus: ungefähr 1550-1750): An

der Spitze eines Territorialstaates steht der Landesfürst (König, Herzog, Bischof). Der Fürst

stützt sich ab auf ein (Söldner-)Heer und die Administration. Der Adel stellt Offiziere und

Beamte. Der Klerus stellt ebenfalls Beamte (die Kardinäle Richelieu und Mazarin als engste

Berater von Ludwig XIII und Ludwig XIV). Bürgertum: Kaufleute und Manufakturbesitzer

sowie Bankiers; die Einkommen des Bürgertums werden als Steuerquelle immer wichtiger.

Daneben gibt es unabhängige Bauern und Handwerker. Auf der untersten Stufe finden sich

die Arbeiter in der Landwirtschaft und in den Manufakturen.

Die Staatsphilosophie von Hobbes bildet die konzeptionelle Grundlage dieser Ordnung: Im

staatenlosen Naturzustand herrscht ein Krieg eines Jeden gegen Jeden. Ein absoluter

Herrscher ist erforderlich, um das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben zu

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ordnen und damit die Machtentfaltung des Staates zu ermöglichen. Standardbeispiel ist

Frankreich.

3.1.2. Wirtschaftliche Veränderungen (stichwortartige Wiederholung)

- rasche Entwicklung des Überseehandels ab 1500

- Gründung von Handelskompanien (Ostindienkompanien aufgrund von staatlichen

Privilegien, die zu Handelsmonopolen führen)

- Die Handelsgewinne (nach der Bezahlung von Steuern) werden zweifach verwendet:

Einmal zum Kauf von Boden*,

- dann zum Aufbau von Manufakturen**

* Verarmte Adelige verkaufen Land an Bürger; in protestantischen Gebieten nimmt

der Landbesitz der Bürger besonders rasch zu (Enteignung der Klöster; Aneignung der

Kirchengüter im allgemeinen; die Verkaufserlöse fliessen natürlich dem Fürsten zu).

Kapitalistische Bodennutzung führt zu einer höheren Rentabilität des Bodens: statt

Ackerbau wird vermehrt Viehzucht betrieben; vor allem in England werden immer mehr

Schafe gehalten: höhere Erträge, weil die Nachfrage nach Wolle sehr stark ist

(Textilmanufakturen).

Die Kapitalistische Bodennutzung ist verbunden mit der Einzäunungsbewegung;

diese führt zu massiven Freisetzungen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften. Die

Viehzucht, vor allem das Halten von Schafen ist viel weniger arbeitsintensiv als der

Ackerbau. In der Praxis findet vielfach eine gewaltsame Vertreibung von Bauern statt.

Implikation: Feudale Nutzungsrechte der Bauern an Böden (Grundherrschaften)

wurden einseitig aufgehoben:

Das alte Gemeineigentum an Boden wird immer mehr zu Privateigentum von Adel

und Bürgertum. Der Verlust oft Jahrhunderte alter feudaler Rechte ruft bei den

vertriebenen Bauern grösste Verbitterung hervor.

[In aristotelischer Terminologie fand eine progressive 'Chrematisierung' des Bodens

statt: Der Zweck des Bodens ist nun nicht mehr Versorgung der politischen

Gemeinschaft mit Nahrungsmitteln, sondern Gewinnerzielung]

** In den Manufakturen findet Güterherstellung in grösserem Umfange statt. Die

Handwerker sind in einem Raum vereinigt; einfache Arbeitsteilung setzt ein: der einzelne

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Handwerker spezialisiert sich und stellt nur noch einen Teil eines Produktes her. Dadurch

wird die Arbeitsproduktivität erheblich gesteigert.

Die Arbeitskräfte in den Manufakturen sind Handwerker und freigesetzte

landwirtschaftliche Arbeitskräfte, die ein Manufakturproletariat bilden.

3.1.3. Gesellschaftliche und politische Folgen dieser Veränderungen

Die zunehmende Wirtschaftstätigkeit in Europa (Landwirtschaft, Handel, Manufakturen)

bewirkt gewaltige Einkommens- und Vermögenssteigerungen, vor allem des wirtschaftlichen

Grossbürgertums (Grosskaufleute, die vor allem Fernhandel betreiben, Manufakturbesitzer

und Verleger, Bankiers). Allgemein ergibt sich eine Verstärkung der politischen Rolle des

Bürgertums:

Der absolute Staat (und der Fürst) werden vom Bürgertum immer abhängiger. Zwei

wichtige Gründe:

1) Söldnerheere verschlingen gewaltige Geldsummen:

die Nationenbildung sowie die Vertretung weltweiter Interessen in Kolonien und

abhängigen Gebieten erfordert ein starkes stehendes Heer.

2) Der Staatsapparat (Administration), vor allem um die Steuereinnahmen

sicherzustellen, aber auch um Verteidigungs- und Angriffskriege zu organisieren,

die Justiz und die innere Sicherheit zu gewährleisten sowie die Wirtschaft zu lenken

(in Frankreich wurden zum Beispiel staatliche Manufakturen errichtet).

Deshalb sind die Fürsten auf hohe Steuereinnahmen angewiesen; auch nimmt die

Staatsverschuldung rapide zu; Darlehen von Bankiers an Fürsten: Fugger, Rothschild, (John

Law). Also: das Bürgertum wird vom Staat beansprucht. Die Bürger wollen Gegenleistungen:

Gegenleistungen der Fürsten an das Bürgertum:

1) Vereinheitlichung des Wirtschaftsgebietes (Abschaffung von Binnenzöllen)

2) Vereinheitlichung des Rechtssystems (Ausbreitung des Römischen Rechts)

3) Sicherheit für Handel und Gewerbe: Sicherung der Verkehrswege, vor allem der

Seewege für den Überseehandel (Flotte).

4) Schaffung von neuen Märkten, vor allem für Manufakturprodukte (z.T. in Kolonien

und in abhängigen Gebieten)

5) Damit einher geht die Sicherung von Beschaffungsmärkten für Rohstoffe.

6) Gewährung von Handels- und Manufakturprivilegien (die zu Monopolen führen).

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Es entstehen mächtige Handelsgesellschaften, wie etwa die Englische und die

Holländische Ostindienkompanie, die Riesen-Aktiengesellschaften sind. Diese Gesellschaften

haben auch politische und militärische Macht. Die Englische Ostindienkompanie hat bis weit

ins 19. Jh. hinein Indien kontrolliert. Die Holländische Ostindienkompanie wagte es, Spanien

den Krieg zu erklären, der allerdings nie ausgetragen wurde.

3.2. Das Wesen des Merkantilismus

3.2.1. Der Merkantilismus als politisches und ökonomisches System

Nur eine starke Wirtschaft konnte die Mittel der Machtpolitik beschaffen.

Drei grosse Massnahmengruppen zur Stärkung der Wirtschaft und damit zur Erhöhung

der Steuereinnahmen standen im Vordergrund:

1) Förderung der Produktion

- Errichtung von staatlichen Manufakturen (vor allem in Frankreich)

- verbesserte Ausbildung

- Eingliederung aller verfügbaren Arbeitskräfte in den Arbeitsprozess

- Damit verbunden ist der Kampf gegen den Müssiggang, verbunden mit

zwangsweiser Beschäftigung von Bettlern und Vagabunden.

2) Förderung des Binnenhandels

- Abschaffung der Binnenzölle

- einheitliches Rechtssystem (Handelsrecht)

Diese beiden Massnahmengruppen bilden nach Eli Heckscher (Der Merkantilismus, Jena

1932) ein einheitsbildendes System, weil sie sehr stark zur Einigung der sich bildenden

Nationalstaaten beigetragen haben.

3) Aussenhandel gegeben: Reichtumssteigerung durch Erzielen eines

Aussenhandelsüberschusses verbunden mit einem Edelmetallzufluss.

Diese Doktrin wurde während etwa 200 Jahren (1550-1750) von den Merkantilisten

vertreten.

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3.2.2. Der KERN der merkantilistischen "Wirtschaftstheorie"

Zwei grundlegende Aspekte des Handelsbilanzüberschusses stehen im Vordergrund (Eli

Heckscher):

1) Der Warenaspekt (der reale Aspekt):

Ein Handelsbilanzüberschuss bedeutet zusätzliche Nachfrage und Produktion; die

dadurch ausgelöste Erhöhung der Konsumgüternachfrage führt zu einem multiplikativen

Effekt (zusätzliche Einkommen).

Dieser (multiplikative) kumulative Prozess kann mit Hilfe des Keynesschen

theoretischen Instrumentariums dargestellt werden. Dies ist möglich, weil Keynes die

Merkantilisten ausdrücklich als seine Vorgänger bezeichnet, weil sie im Prinzip in den

gleichen Bahnen gedacht haben.

Exportüberschuss X - M = 1000, marginale Konsumquote c = ∆C/∆Y = 0.8

(∆Q = zusätzliches Sozialprodukt, ∆Y = zusätzliches Volkseinkommen):

∆Q ∆Y

1000 (X-M) 1000

800 800 MXc

QY

1

1

640 640

-----------------------------------

5000 5000

Somit führt im Prinzip ein Exportüberschuss von 1000 (Primäreffekt) zu einer Zunahme

des Sozialproduktes von 5000, was einen Sekundäreffekt von 4000 impliziert (Zunahme der

Konsumgüterproduktion).

2) Der Geldaspekt:

Ein Handelsbilanzüberschuss impliziert auch eine Erhöhung der Geldmenge (Zustrom

von Gold und Silber); damit erhöht sich das Geldangebot

Die Geldnachfrage besteht aus dem Horten von Privaten und Fürsten (Staatsschatz) und

der Geldnachfrage zu Transaktionszwecke

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Bei gegebener Nachfrage sinkt der Zins, wenn sich das Geldangebot erhöht. Von

niedrigen Zinsen wird erwartet, dass sie über höhere Investitionen (∆I) die

Wirtschaftsaktivität anregen. Dies wiederum über einen kumulativen Multiplikatorprozess.

∆Q ∆Y

1000 (∆I) 1000

800 800 I1

1

cQY

640 640

-----------------------------------

5000 5000

Der Exportüberschuss und der damit verbundene Geldzustrom führen also in

merkantilistischer Sicht zu einem doppelten kumulativen Multiplikator-Prozess. Man kann

deshalb verstehen, warum einige Merkantilisten auf einen Exportüberschuss regelrecht

versessen waren.

4. Europa und Asien

In seinem Buch The Eastern Origins of Western Civilisation (Cambridge, Cambridge

University Press 2004) präsentiert John M. Hobson eine neue Sichtweise des Verhältnisses

zwischen Europa und Asien. Er meint, dass die moderne Zivilisation Europas östliche

Ursachen (origins) habe. Das stimmt nicht: Der Titel von Hobsons Buch ist unserer Ansicht

nach problematisch, aber der Inhalt stimmt, wenn man diesen aus einem bestimmten

Blickwinkel sieht. In Europa haben nämlich bestimmte Bedingungen vorgeherrscht, die

bewirkten, dass asiatisches Wissen und Techniken sowie asiatische Ressourcen (in Hobson

(2004) ausführlich dargestellt) aufgenommen und schöpferisch weiter verarbeitet werden

konnten. Entscheidend waren die Umstände, die in Europa vorherrschten: die

Maschinenbautradition und die Eigeninitiative (beide gehen zurück auf die Zweiteilung des

Bodens im karolingischen Reich); später kam die Rivalität zwischen den europäischen

Nationen hinzu, die ebenfalls eine gewaltige Antriebskraft für den europäischen Marsch in

Richtung Moderne darstellte. Dazu kam der Protestantismus (Max Weber: Die protestantische

Ethik und der Geist des Kapitalismus!) sowie der Fortschritt der Wissenschaften (im

Hochmittelalter hatte sich der europäische Geist auf Theologie und Philosophie konzentriert;

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in der Neuzeit – etwa ab dem 16. Jahrhundert konzentrierte er sich auf die Natur, den

Menschen, Gesellschaft und Wirtschaft).

4.1. Asiatisches Übergewicht bis 1800 und asiatischer Einfluss auf

Europa

(Vorläufig erwähnen wir nur gerade einige bezeichnende Kapitaltitel aus Hobsons Buch.)

- Der Osten ist dem Western weit voraus und führt die Welt zur ersten Globalisierung:

J.M. Hobson (2004), Part I: The East as an early developer: the East discovers and

leads the world through oriental globalisation, 500 – 1800

- Asiatisch-Afrikanische Globalisierung [Hobson (2004), chapter 2: Islamic and

African pioneers: building the Bridge of the World and the global economy in the

Afro-Asian age of discovery, 500 – 1500]

- Eine Chinesische Industrielle Revolution [Hobson (2004): chapter 3: Chinese

pioneers: the first industrial miracle and the myth of Chinese isolationism, c. 1000 –

1800 (Während der Song Dynastie 1200-79 hätte nach Hobson in China eventuell

eine industrielle Revolution zustande kommen können; der Einfall der Mongolen

1279 verunmöglichte dies.

- Verstärkte asiatische Dominanz [Hobson (2004): chapter 4: The East remains

dominant: the twin myths of oriental despotism and isolationism in India, South-east

Asia and Japan, 1400-1800; Indien wird Werkstatt der Welt.

- Innerhalb des asiatischen Weltsystems zirkulieren Informationen über technische

Kenntnisse; Europa profitiert von asiatischen Fortschritten auf verschiedenen

Gebieten. Die Informationen kommen über die nördliche und südliche Seidenstrasse

nach Europa (J.M Hobson erwähnt die Pax Mongolica, die die Seidenstrasse sehr

sicher macht). Siehe z.B. Shen FUWEI: Cultural Flow Between China and the

Outside World Throughout History. 2nd edition, Beijing (Foreign Languages Press)

1997 (mainly chapter 6), sowie J.M. Hobson (2004), chapters 3 and 9.

Kenntnisse und Erfindungen, die von Asien nach Europa kamen:

Aus China:

- Eisenherstellung (Schmelzen); Bergbau und Tunneltechnik

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- Seidenweberei und Herstellung von Seidenwaren (Kleider, ...)

- Erste Schritte in der Chemie

- Herstellung von Porzellan

- Papierherstellung

- Buchdruck

- Kompass

- Schwarzpulver (Sprengen von Felsen für den Bergbau; Munition für Gewehre und

Kanonen)

- Feuerwaffen, inklusive Raketen

- Chinesische Medizin (Akupunktur)

[in China wurden auch Standuhren gebaut; eventuell hat sich der europäische Bau von

Standuhren unabhängig vom chinesischen entwickelt; dies wird von Hobson in Frage gestellt:

er meint, die Chinesen hätten Standuhren lange (500 Jahre vorher) vor den Europäern

hergestellt; siehe Vorlesung über das Mittelalter.]

[Es scheint, dass mit Wasserkraft (Mühle) angetriebene Maschinen in China nicht

industriell eingesetzt wurden, vermutlich aus Angst vor Arbeitslosigkeit und dem Bestreben,

die Arbeitsbedingungen nicht zu verschlechtern. Mitterauer (2003) spricht von der

massenhaften Zerstörung von Wassermühlen im China des 8. Jahrhunderts (p. 34).]

Aus Indien (über die Araber als Vermittler nach Europa):

- Dezimalzahlensystem (Entdeckung der Zahl Null)

- Algebra und Analytische Geometrie

- Schachspiel

Araber und Perser:

- Kenntnisse in Mathematik

- Naturwissenschaften

- Medizin (die Araber und Perser hatten hervorragende Ärzte)

- Architektur (Araber beeinflussen den europäischen Kathedralenbau)

- Luxustextilien und Teppiche

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5.2. Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’

Europa

(Mitterauer (Lit.verz), mit Erweiterungen)

In der zweiten Hälfte des 18. Jh. sind in England eine Reihe von komplementären

Bedingungen zustande gekommen, die zur Industriellen Revolution geführt haben (Abschnitt

V.2. dieser Vorlesung). Die ganze europäische Entwicklung seit dem Karolingischen Reich

und der dauernde asiatische Einfluss sowie die schöpferische Weiterentwicklung der Europäer

haben den Zustand geschaffen, der in England die industrielle Revolution auslöste.

Die ursprüngliche eurozentrische Sicht besagt, die Grundlagen für die moderne

Entwicklung seien durch Humanismus und Renaissance um 1500 herum geschaffen worden

(das 16. Jh. als Schlüssel-Jahrhundert): die wissenschaftliche und technische Revolution

wurden eingeleitet, die grossen Entdeckungen erfolgten um diese Zeit.

Mitterauer legt nun stark modifizierte Betrachtungsweise vor; diese ist nicht mehr

eurozentrisch, sondern spricht von einem europäischen Sonderweg (siehe für das Folgende

auch die Vorlesung III über das Mittelalter:

Der Ausgangspunkt für die spezifische europäische Entwicklung, die zum Durchbruch

zur Moderne führten wurden im frühen Mittelalter gelegt, im Reich Karls des Grossen

(karolingisches Reich, um 800).

Wichtig war hier die dezentrale Organisation des Reiches durch das Lehenswesen. Die

Grundherrschaften auf den verschiedenen Stufen des ‚Lehensherr-Lehensnehmer-

Verhältnisses bilden eigenständige Selbstverwaltungseinheiten. Die Dezentralisierung beruht

(implizit) auf dem Subsidiaritätsprinzip (die obere staatliche Ebene übt nur Funktionen aus,

die von den unteren Ebenen nicht durchgeführt werden können. Zum Beispiel kommt die

Entscheidung über Krieg und Frieden dem Kaiser, dem obersten Lehensherrn zu). Dadurch

erhalten die staatlichen Funktionsträger bis hinunter auf die unterste Stufe, den Bauern,

Handlungsspielräume, die die Eigeninitiative fördert. Auf der untersten Stufe wird diese

konkretisiert durch die Zweiteilung des Bodens, die dem einzelnen Bauern auf seiner Hufe

(Hof) Nutzungsrechte an einer bestimmten Bodenfläche zukommen lässt.

Auf dem Herrengut werden Mühlen eingerichtet. Die Wasserkraft treibt einfache

Anlagen an, die Weizen, Holz und Steine zusägen. Das begründet die europäische

Maschinenbautradition, die eine entscheidende Grundlage für die industrielle Revolution

bildet.

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Im Hochmittelalter bildet sich allmählich ein Dualismus zwischen Adel und Geistlichkeit

einerseits und dem Fürsten (König, Kaiser, Herzog) heraus. Adel und Geistlichkeit schliessen

sich zu Ständen zusammen, die auf Ständeversammlungen über ihre Rechte und Pflichten

(auch dem Fürsten gegenüber beraten; die englische Magna Charta von 1215 regelt erstmals

klar das Verhältnis von (Hoch-)Adel und König). Später kam vereinzelt auch der bürgerliche

Stand hinzu.

Nach der französischen Revolution wurden die Stände zu Klassen, die ihre Interessen

vertraten. Dies führte schliesslich zur Bildung von politischen Parteien und zur

parlamentarischen Demokratie.

Das Christentum propagiert die prinzipielle Gleichheit aller Menschen (in den Schulen,

die von Karl dem Grossen eingerichtet wurden, befanden sich adelige und Bauernkinder.) Die

natürlichen Gemeinschaften - Sippe, Stamm und Grossfamilie - treten in den Hintergrund, die

Kleinfamilie und die Individuen rücken in den Vordergrund. Im karolingischen Reich bestand

eine gewisse Unabhängigkeit zwischen Institutionen (Funktionen) und den Personen, die in

einer bestimmten Institution tätig waren (Lehen wurden maximal auf Lebenszeit. vergeben).

Im Hochmittel traten die Personen (und ihre Abstammung) wieder verstärkt in den

Vordergrund. Allmählich wurde aber im Verlaufe der Neuzeit das persönliche Element

wieder zurückgedrängt. Adelige und Geistliche wurden zu Regierungsmitgliedern, Beratern,

Administratoren und Offizieren. Die Funktionen (Institutionen) wurden nach der

Französischen Revolutionen immer mehr von den Personen unabhängig.

In den westeuropäischen Städten ist allmählich ein Wirtschaftsbürgertum entstanden, das

sich allerdings im Zuge der Industriellen Revolution sozial gewandelt hat.

Die Rivalität zwischen europäischen Staaten ist eine sehr starke Antriebskraft für die

wissenschaftliche und technische Entwicklung in Europa.

Der europäische Imperialismus in merkantilistischer Zeit führt zur Aneignung von

aussereuropäischen Ressourcen (in Europa bisher unbekannte oder wenig verbreitete

Konsumgüter, z.B. Gewürze; Rohstoffe und landwirtschaftliche Güter wie Baumwolle, die als

Input wichtig für die Industrielle Revolution wurden und vor allem Absatzmärkte für

Manufakturprodukte, die nach der industriellen Revolution Absatzmärkte für

Industrieprodukte wurden). Das ist ein Aspekt der These von J.M. Hobson. Wir werden im

nächsten Kapitel V sehen, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts - um 1750 - England die

Weltabsatzmärkte fast vollkommen beherrschte. Dies stellte einen zentralen Faktor für das

Zustandekommen der Industriellen Revolution in England dar.

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Dazu kam der Protestantismus vor allem über die Prädestinationstheorie, die nach Max

Weber einen regelrechten Motor für das Reichtumsstreben und beruflichen Erfolg darstellt

(Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus – Lit.verz.).

Der Fortschritt der Wissenschaften geht aus einen Verweltlichung des mittelalterlichen

Denkens durch den Humanismus und die Renaissance hervor im 16. Jahrhundert hervor; im

Hochmittelalter hatte sich der europäische Geist auf Theologie und Philosophie konzentriert;

in der Neuzeit, etwa ab dem 16. Jahrhundert, konzentrierte er sich im Zuge von Humanismus

und Renaissance auf die Natur, den Menschen, Gesellschaft und Wirtschaft.

Wichtig ist auch, das Europa nie vom mächtigeren Asien dominiert wurde (Randlage).

Den Persern gelang um 500 v.Chr. nicht, Griechenland zu erobern. Die Hunnen unter Attila

wurden 451 n.Chr. auf den Katalaunischen Feldern (Nordostfrankreich) von den

Römern/Germanen (Aetius) geschlagen. Die Araber wurden 731 n.Chr. in Poitiers von den

Franken (Karl Martell) gestoppt. Die Mongolen kamen um 1241 herum bis nach Schlesien,

wo sie bei Liegnitz eine Schlacht gewannen, sich dann aber nach dem Tode ihres Grosskhans

Ügedei aus Deutschland und Polen zurückzogen; vielleicht hatten sie auch kein Interesse,

weiter nach Westen vorzustossen, weil hier nicht viel zu holen war oder der Weg zu lang war.

Damit um Zusammenhang steht, wie bereits angedeutet, dass Europa war nie eine

politische Einheit war. Vor allem England hat dafür gesorgt, dass auf dem europäischen

Kontinent nie dauernd eine dominierende politische Macht entstehen konnte. Die Rivalität

zwischen Staaten und Regionen erforderte, den sozialen Überschuss zu steigern, auch um

höhere Steuereinnahmen sicherzustellen. Teilweise wurde dies durch Verbesserungen der

Produktionstechnik zustande gebracht (einfache Maschinen, die von Wasserkraft angetrieben

waren; Manufakturen entstehen). Vor allem führte die Rivalität zwischen den europäischen

Mächten zu Verbesserungen in der Waffentechnik. Die Artillerie wurde weiterentwickelt, was

die Kenntnisse im Maschinenbau förderte.

Zwei Neuanfänge haben die Entwicklung in Europa entscheidend bestimmt. Ein erster

Neuanfang fand in Griechenland nach dem plötzlichen Zusammenbruch der kretisch-

mykenischen Kultur um 1200 v.Chr. statt. Im klassischen Griechenland (800 – 200 v.Chr.)

erreichte im vierten Jh. v.Chr. das philosophische Denken mit Platon und Aristoteles einen

einzigartigen Höhepunkt. Das Denken wurde nicht mehr vom Mythos sondern von der

Vernunft getragen. Unterschiedliche, sogar widersprüchliche Denksysteme entstehen, Fragen

und Zweifel tauchen auf (Sophisten und Skeptiker); wissenschaftliche Theorien entstehen,

also Denkmodelle; dieser Vorgang wurde gefördert durch die Lautschrift (Buchstabenschrift),

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die eine allgemein verständliche Bildung von Begriffen ermöglichte – die verfeinerte

chinesische Zeichenschrift war nur einer Elite zugänglich.)

Das Reich Karls des Grossen um 800 stellte – wie oben angedeutet – einen (zweiten)

staatlichen, aber auch gesellschaftlich-wirtschaftlichen Neuanfang auf christlicher Grundlage

dar, der einen spezifisch europäischen Entwicklungsweg einleitete (Mitterauer, 2003).