IV. Die Epoche des Merkantilismus - unifr.ch · Universität Freiburg, Lehrstuhl für...
-
Upload
trinhtuong -
Category
Documents
-
view
217 -
download
0
Transcript of IV. Die Epoche des Merkantilismus - unifr.ch · Universität Freiburg, Lehrstuhl für...
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
1
IV. Die Epoche des Merkantilismus
(Cameron/Neal 2003, Kapitel 5 und 6, mit zahlreichen Ergänzungen)
Einleitung .................................................................................................................................. 2
1. Wirtschaftliche Veränderungen der Neuzeit [1500 – 1750- (1800)] ................................ 3
1.1. Einleitung ........................................................................................................................ 3
1.1.1. Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Europas ........................................ 3
1.1.2. Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit ...................................................... 4
1.2. Die grossen Entdeckungen .............................................................................................. 5
1.3. Auswirkungen der Entdeckungen ................................................................................... 7
1.3.1. Spanische und portugiesische Domination im 16. Jahrhundert ............................... 7
1.3.2. Einfluss Europas (Spaniens) auf Südamerika .......................................................... 8
1.3.3. Einfluss der überseeischen Gebiete auf Europa ..................................................... 10
1.4. Die Preisrevolution ........................................................................................................ 11
1.4.1. Edelmetallzufluss und Inflation ............................................................................. 11
1.4.2. Mechanismus und Auswirkungen der Inflation ..................................................... 11
1.4.3. Spanien und das amerikanische Gold ..................................................................... 12
1.5. Agrartechnologie und Produktivität der Landwirtschaft ............................................... 14
1.5.1. Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität in Europa ....... 14
1.5.2. Die holländische Ausnahme ................................................................................... 15
1.6. Technologie in Handwerk und „Industrie“ ................................................................... 16
2. Die Handelswege der Neuzeit (eurozentrisch) ................................................................. 18
2.1. Handelskapitalismus ...................................................................................................... 18
2.2. Verschiebungen im innereuropäischen Handel im 16. Jahrhundert – Italien wird
zurückgedrängt ..................................................................................................................... 18
2.3. Die Rolle der Holländer ................................................................................................ 19
2.4. Engländer und Franzosen .............................................................................................. 20
2.5. Arten des Handels ......................................................................................................... 21
2.5.1. Inner-Europäischer Handel .................................................................................... 21
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
2
2.5.2. Interkontinentaler Handel ....................................................................................... 21
2.6. Einige Veränderungen in Europa in merkantilistischer Zeit ......................................... 22
3. Der Merkantilismus als ökonomischer Nationalismus und Imperialismus: Die
eurozentrische Sichtweise (aus der Dogmengeschichtsvorlesung) ..................................... 23
3.1. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen ................................. 23
3.1.1. Politische Veränderungen ...................................................................................... 23
3.1.2. Wirtschaftliche Veränderungen (stichwortartige Wiederholung) .......................... 24
3.1.3. Gesellschaftliche und politische Folgen dieser Veränderungen ............................ 25
3.2. Das Wesen des Merkantilismus .................................................................................... 26
3.2.1. Der Merkantilismus als politisches und ökonomisches System ............................. 26
3.2.2. Der KERN der merkantilistischen "Wirtschaftstheorie" ........................................ 27
4. Europa und Asien ............................................................................................................... 28
4.1. Asiatisches Übergewicht bis 1800 und asiatischer Einfluss auf Europa ....................... 29
5.2. Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’ Europa ..................... 31
Einleitung
Diese Vorlesung beschäftigt sich mit dem Zeitalter des Merkantilismus, auch
Handelskapitalismus genannt, etwa von 1500 (Ende des Mittelalters) bis um 1750. Der
Handelskapitalismus, bereits ein Weltsystem, ist gefolgt von der eher lokalen Physiokratie in
Frankreich, verbunden mit dem Namen von François Quesnay (1750-70), und dann vom
Industriekapitalismus, der in England etwa ab 1770-80 einsetzt und sich sukzessive über die
ganze Welt verbreitet. Grob gesprochen deckt sich die Epoche des Merkantilismus mit der
Neuzeit, die zwischen Mittelalter und Moderne liegt (1500 – 1800).
In einem ersten Abschnitt beschäftigen wir uns mit den wirtschaftlichen Veränderungen
der Neuzeit. Dann einige Bemerkungen zu den Handelswegen der Neuzeit (Abschnitt 2).
Abschnitt 3 ist der Wirtschaftspolitik des Merkantilismus gewidmet: Exportüberschüsse
sollen über kumulative Effekte zusätzlich Arbeitsplätze schaffen, das Sozialprodukt erhöhen
und zu höheren Steuereinnamen führen; der Profit aus dem Fernhandel soll auch zu
zusätzlichen Steuereinnahmen führen. Hohe Steuereinnahmen sollen dann die innere und
äussere Machtentfaltung der entstehenden Nationalstaaten finanzieren. Der vierte Abschnitt
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
3
bringt ganz kurz den globalen Gesichtspunkt hinein, vor allem den Einfluss der asiatisch-
nordafrikanischen Weltwirtschaft auf die europäische Wirtschaftsentwicklung.
1. Wirtschaftliche Veränderungen der Neuzeit [1500 – 1750-
(1800)]
1.1. Einleitung
1.1.1. Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Europas
Nach einem Jahrhundert der Stagnation (1350-1450), erlebt Europa ab etwa 1450 einen neuen
demographischen Aufschwung, der teilweise von einem wirtschaftlichen Aufschwung
begleitet ist, die grossen Entdeckungen und die damit verbundene Zunahme des Fernhandels
tragen auch zum Aufschwung bei. Dieser kommt gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts zum
erliegen. Die Stagnation dauert, von Ausnahmen wie Holland und England abgesehen, bis zur
industriellen Revolution in England und zur politischen Revolution in Frankreich.
Gründe für die Stagnation:
- Der Dreissigjährige Krieg in Deutschland (1618-1648). Dieser Krieg war ein
religiös-politischer deutscher Bürgerkrieg, der sich zu einem europäischen Krieg
ausgeweitet hat. Dieser Krieg ist verbunden mit Pest und Hungersnöten. Die
deutsche Bevölkerung wurde von 17 auf 11 Millionen reduziert, auf 5 Millionen
gemäss pessimistischen Schätzungen.
- Der Zufluss von Edelmetallen aus Mittel- und Südamerika nach Europa führt hier zu
Preissteigerungen. Die Einkommensverteilung wird ungleicher und die Kaufkraft
der Bevölkerung sinkt. Dies ist wahrscheinlich der wichtigste Grund für die
Stagnation.
Jedenfalls tritt die europäische Wirtschaft im 16. Jahrhundert (ab 1500) in eine neue
Phase ein. Hauptkennzeichen: Eine viel stärkere weltweite Öffnung Europas setzt ein. Mit den
grossen Entdeckungen (Seeweg nach Asien und vor allem der Entdeckung Amerikas) setzt
ein demographischer Aufschwung ein. Der Reichtum Europas nimmt zu, ist allerdings
zusehends ungleicher verteilt. Der Handel und vor allem der Fernhandel nehmen dramatisch
zu. Deshalb bezeichnet man den Zeitraum von etwa 1500 bis ungefähr 1750 als das Zeitalter
des Merkantilismus oder des Handelskapitalismus. Die Regierungen übernehmen eine neue
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
4
Rolle in der Wirtschaft: Der Merkantilismus bezeichnet auch eine Wirtschaftspolitik. Durch
den Aussenhandel soll der Reichtum, das Sozialprodukt, gesteigert werden, was mit einer
Erhöhung des Beschäftigungsvolumens einhergehen soll.
1.1.2. Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit
Bis zur Mitte des 15. Jh. hatten Pest und Hungersnöte die europäische Bevölkerung um ~50%
[einige Autoren sprechen sogar von 2/3!] reduziert (um 1450 hatte Europa 45-50 Millionen
Einwohner; um 1330 waren es über 100 Millionen). Um 1650 wurde der Bevölkerungsstand
von etwa 100 Millionen wieder erreicht, dies trotz dem Dreissigjährigen Krieg, der zwischen
6 und 11 Millionen Opfer forderte.
Drei Gründe für die Bevölkerungszunahme:
- Einmal, Fortschritte in der Medizin.
- Dann, ein wirtschaftlicher Grund: eine Verbesserung der Lebenshaltung, vor allem
aufgrund der Entdeckungen und der europäischen Expansion (z.B. hat die Kartoffel
sicher die Ernährungslage entscheidend verbessert).
- Schliesslich auch Klimaveränderungen, eventuell bewirkt durch die Zunahme von
Weideland (Viehhaltung) und Aufforstung, einer Zunahme der Wälder, die ja im
Mittelalter, die im Hochmittelalter durch Rodungen sehr stark reduziert worden
waren. Die Erosion von Ackerland wurde so eingedämmt.
Die Folgen der Bevölkerungszunahme:
- Die Verstädterung nimmt zu.
- Das Arbeitsangebot steigt. Sehr wahrscheinlich ist dies verbunden mit einer
Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die untersten Bevölkerungsschichten verarmen. Es
entsteht ein Lumpenproletariat; die Bettelei nimmt zu.
- Im Allgemeinen führt der Bevölkerungsdruck zu einem Sinken der Reallöhne: Die
Geldlöhne bleiben mehr oder weniger konstant, und die Preise steigen. Der Druck
auf die Reallöhne wird noch verstärkt durch die Preisrevolution, ausgelöst durch den
Zufluss von Gold aus Südamerika. Die ungleichere Einkommensverteilung schwächt
die Kaufkraft der Bevölkerung, die effektive Nachfrage sinkt, was die
Arbeitslosigkeit weiter erhöht.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
5
Eine aggressive Aussenhandelspolitik (möglichst hohe Exportüberschüsse) soll neue
Arbeitsplätze schaffen und die Arbeitslosigkeit verringern. Die merkantilistischen Ökonomen
waren davon überzeugt, dass Geldwirtschaften nicht selbststabilisierend sind.
1.2. Die grossen Entdeckungen
Die grossen Entdeckungen werden die wirtschaftliche Entwicklung Europas tiefgreifend
beeinflussen.
Die Entdeckungsfahrten wurden unternommen, um neue Handelsaktivitäten zu
erschliessen. Nun wurden aber die Handelswege über das östliche Mittelmeer und im
Mittleren Osten immer hindernisreicher. Nach dem Fall von Konstantinopel 1453 blockieren
die Türken das östliche Mittelmeer. Der Weg nach Osten durch das Mittelmeer wird deshalb
immer schwieriger. Die am Atlantik gelegenen Staaten, vor allem Portugal und Spanien,
beginnen deshalb den Blick nach Süden und Westen, das heisst auf den Atlantik zu richten. Es
besteht wohl auch die vage Vorstellung, dass man den Türken und Arabern in den Rücken
fallen kann, wenn man den Seeweg nach Asien, spezifisch nach Indien findet.
Die Entdeckungen wurden ermöglicht durch Fortschritte in der Schiffbau- und
Navigationstechnik.
Schiffbautechnik:
- Es werden längere und stabilere Schiffe gebaut, die drei bis fünf Masten haben.
- Ein Steuerrad wird angebracht.
- So braucht es keine Ruderer mehr.
Navigationstechnik:
- Der Kompass, wahrscheinlich von den Chinesen übernommen (Seidenstrasse!),
kommt über die Araber nach Europa.
- Fernrohre werde verbessert.
- Präzisere Karten werden angefertigt.
Die ersten grossen Seefahrer waren die Italiener (im Süden) und die Wikinger (im
Norden). Berühmte italienische Seefahrer waren z.B. Christoph Kolumbus (Genua) und
Amerigo Vespucci (Florenz). Viele der spanischen und portugiesischen Seefahrer kamen aus
Italien, vor allem aus Genua, das den Kampf um die Vorherrschaft im Orienthandel gegen
Venedig verloren hatte. Sie waren arbeitslos und stellten so ihre Dienste ausseritalienischen
Fürsten zur Verfügung, vor allem dem Königen von Spanien und Portugal. So segelte der
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
6
Genuese Christoph Kolumbus im Auftrag des Königs von Spanien nach Westen in Richtung
Amerika (Kolumbus glaubte, dass die Erde rund sei und wollte westwärts auf dem Seeweg
Indien erreichen).
Auf die Italiener folgen die Flamen, Holländer und Portugiesen. Die Überlegenheit der
Portugiesen ist bereits im 15. Jh. eindeutig.
Heinrich der Seefahrer (1393-1460), jüngster Sohn des portugiesischen Königs, ist der
Initiator der grossen europäischen Entdeckungsfahrten im 15. Jahrhundert. Im extremen
Süden Portugals errichtet er um 1430 ein maritimes Forschungsinstitut, wo Astronomen,
Geographen, Kartographen und Navigatoren aller Nationalitäten arbeiten. [Hier werden, wie
oben angedeutet, erstmals in Europa systematische Arbeiten geleistet, um die Schiffahrt auf
den Meeren effizienter zu gestalten. Es werden bessere Schiffe mit mehr Masten gebaut (3-5
Masten), genauere Karten werden gezeichnet und die Navigationstechnik wird verbessert
(Kompass, Fernrohr)]. Von 1418 bis zu seinem Tod organisiert er fast jedes Jahr eine
Forschungsreise, vor allem entlang der Nordwestküste Afrikas, baut Handelsbeziehungen mit
den einheimischen Häuptlingen auf. Die Forschungsreisen Heinrichs des Seefahrers bilden die
Grundlage für weitere portugiesische Entdeckungsfahrten immer entlang der Küste Afrikas.
So erreicht Bartolomäus Diaz die Südspitze Afrikas und umschifft als erster das Kap der
Guten Hoffnung (1488). [Die Portugiesen, die also bereits im 15. Jh. Entdeckungsreisen
unternehmen, glauben noch, dass die Erde eine Scheibe sei und dass es gefährlich sein könnte,
zu nahe an den Rand der Erdscheibe zu kommen, weil man dann ins Leere fallen könnte!
Deshalb fahren die Portugiesen vorsichtig der Küste Afrikas entlang.]
Vasco da Gama umschifft Afrika und gelangt nach Calicut an der Westküste Indiens. Er
verliert 2 von 4 Schiffen. Aber die Ladung an Gewürzen, die er zurückbringt, deckt die
Expeditionskosten um das hundertfache! 1513 erreichen die Portugiesen Kanton in China; um
1550 knüpfen sie diplomatische und Handelsbeziehungen mit Japan an! (Eine Leistung für ein
kleines Volk wie die Portugiesen!)
Christoph Kolumbus versucht westwärts den direkten Seeweg nach Asien (Indien) zu
finden. Im Dienste der spanischen Könige Isabella und Ferdinand, läuft Kolumbus am 2.
August 1492 aus Granada aus und erreicht am 12. Oktober 1492 die Antillen. 1493 kommt er
mit einem Kontingent von 1500 Mann und errichtet eine permanente Kolonie. Kolumbus fährt
vier Mal nach Amerika, wobei er immer überzeugt ist, den Seeweg nach Indien entdeckt zu
haben. [Eine andere Theorie besagt, dass Kolumbus glaubte, Hinterindien erreicht zu haben,
nicht das eigentliche Indien; jedenfalls war dies der Grund warum der neue Kontinent nicht
„Kolumbien“ genannt wurde, sondern Amerika, abgeleitet aus dem Vornamen eines anderen
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
7
italienischen Seefahrers, Amerigo Vespucci aus Florenz. Vespucci war als erster Europäer
davon überzeugt, dass Amerika ein eigener (und damit neuer) Kontinent sei.]
Sofort nach den ersten Entdeckungsfahrten entstand zwischen Spanien und Portugal ein
Konflikt um die neu entdeckten Gebiete. Es drohte sogar Krieg. Papst Alexander VI [ein
Blick auf Wikipedia lohnt sich bei diesem Papst!] rief die beiden Parteien in der spanischen
Stadt Tordesillas zusammen, wo 1494 der Vertrag von Tordesillas abgeschlossen wurde: Als
Grenze zwischen spanischem und portugiesischem Besitz wurde eine Linie vom Nordpol zum
Südpol (Längengrad) festgelegt. Diese verlief 540 Seemeilen (1000km) westlich der Azoren
(1 Seemeile = 1,6 km). Alle Gebiete westlich dieses Längengrades gehörte Spanien, alle
Gebiete östlich davon waren portugiesischer Besitz. Das portugiesische Gebiet schliesst
Brasilien ein (!), das um 1500 von Pedro de Cabral für Portugal in Besitz genommen wird.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es viele andere Entdeckungsfahrten. Eine der
berühmtesten war diejenige von Ferdinando Magellan, ein portugiesischer Seefahrer, der im
Auftrag der spanischen Krone segelte; Magellan begann 1519 die erste Weltumsegelung: von
Spanien, um Südamerika herum, durch den Pazifik in den indischen Ozean und über das Kap
der guten Hoffnung (der Südspitze Afrikas) wieder zurück nach Spanien. (Magellan beendete
die Reise allerdings nicht; er wurde 1521 auf einer philippinischen Insel ermordet.)
[Jedenfalls zwang die islamische Barriere, vor allem nach dem Fall von Konstantinopel
1453, die spanischen und portugiesischen Seefahrer, in den Atlantik (und den indischen
Ozean) zu hinauszufahren. Die geographische Lage war natürlich auch ein Grund. Bei den
Portugiesen mag die Absicht, den Arabern in den Rücken zu fallen, ebenfalls mitgespielt
haben.]
1.3. Auswirkungen der Entdeckungen
1.3.1. Spanische und portugiesische Domination im 16. Jahrhundert
Das 16. Jh. eröffnet die Ära der europäischen Expansion; es wird fast ausschliesslich von
Spanien und Portugal dominiert. Die Portugiesen beherrschen ab ~1515 den indischen Ozean.
Sie kontrollieren Celebes und die Molukkeninseln (im heutigen Indonesien), wo es die
erlesensten Gewürze gibt.
Die Portugiesen errichten im 16. Jahrhundert Handelsstützpunkte, ohne das Hinterland zu
kolonisieren; sie sind dazu zahlenmässig dazu nicht in der Lage!
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
8
Macao (China) wurde erst am 20. Dezember 1999 unabhängig und hat im Rahmen der
Chinesischen Volksrepublik einen eigenen Status bis 2049. Goa in Indien war bis 1961
portugiesisch.
Allgemein gesehen bringt der europäisch-asiatische Handel, vor allem der
Gewürzhandel, gigantische Handelsgewinne. Diese kommen aber Europa, nicht Asien zugute.
[Auch beim mittelalterlichen Handel der deutschen Hanse mit Russland profitierten vor allem
die deutschen, nicht die Russen.]
Allerdings behalten die Portugiesen das Gewürzmonopol nicht lange. Die Holländer
werden sofort ab 1588 im Gewürzhandel aktiv (bis 1588 war Holland spanisches
Untertanengebiet; in diesem Jahr, 1588, wurde die spanische Flotte, die berühmte Armada,
von den Engländern besiegt. Demzufolge waren die Spanier nicht mehr in der Lage, Holland
zu kontrollieren, das sich nun befreien konnte). Im 17. Jahrhundert dominierten die Holländer
den Gewürzhandel derart, dass dieses Jahrhundert als das holländische bezeichnet wurde;
tatsächlich war Holland bis 1688 die führende Wirtschaftsmacht in Europa, das auch die
stärkste Flotte hatte. (Im Jahre 1688 kam in England im Zuge der Glorious Revolution das
Bürgertum an die Macht; das Parlament wurde die wichtigste Institution; der König wurde in
den Hintergrund gedrängt (repräsentatives Königtum). Ab 1688 setzt der unwiderstehliche
Aufstieg England ein, das die Handelsmacht Holland zurückdrängte und dann nach der
Industriellen Revolution 1770-80 als Industrienation die Welt dominierte.)
Die Spanier betrachten den Gewürzhandel als wenig rentabel. Sie beginnen sofort, Gold
und Silber zu suchen, was sie im Aztekenreich und im Inkareich auch finden. (Das
Aztekenreich wird von Hernan Cortès in den Jahren 1519-21 erobert, das Inkareich von
Francisco Pizzarro in den 1530er Jahren. Die zahlenmässig geringen Spanier können sich
dank überlegener Waffen und dem Ausnutzen von inneren Gegensätzen durchsetzen.
Der italienische Wirtschaftshistoriker Carlo Cipolla schreibt in seinem Buch Die Odyssee
des spanischen Silbers (Lit.verz.), dass die Spanier in drei Jahrhunderten, von etwa 1500 bis
1800, insgesamt 82'000 (!) Tonnen Silber nach Spanien transportierten. Auf die
Auswirkungen dieses Edelmetallzustroms nach Europa werden wir noch zu sprechen
kommen.
1.3.2. Einfluss Europas (Spaniens) auf Südamerika
Die Spanier beginnen sofort, die eroberten Regionen zu kolonisieren. Sie bringen einmal ihre
Techniken nach Südamerika; allerdings bestand noch lange ein Verbot für die Produktion von
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
9
Handwerksprodukten; die Spanier wollten diese in Spanien produzieren und dann nach
Südamerika exportieren, dies um im Mutterland die vermutlich sehr hohe Arbeitslosigkeit zu
reduzieren.
Dann kommen aus Spanien auch Materialien (neue Produkte) und neue Institutionen (vor
allem die Religion) in die Neue Welt, und überhaupt die ganze europäische materielle
Zivilisation (Städte, weltliche und religiöse Bauten). Diese europäische Zivilisation wird den
Indianern aufgedrängt.
Konkret bringen die Spanier bringen die Spanier unbekannte Nutzpflanzen und Haustiere
nach Zentral- und Südamerika:
- Weizen, Zuckerrohr, Kaffee (der ursprünglich aus Arabien stammt!), verschiedene
Gemüse und Früchte;
- Ausser dem Hund und dem Lama kennen die südamerikanischen Indianer keine
Haustiere. Die Spanier bringen das Pferd, den Ochsen, das Schaf, die Ziege, das
Schwein und verschiedene Geflügelarten.
- Aber die europäische „Zivilisation“ bringt auch Feuerwaffen, Alkohol und vor allem
in Südamerika bisher unbekannte Krankheiten, gegen die die Indianerbevölkerung
keine Abwehrstoffe hatte, z.B. Röteln oder Typhus. Die Folgen sind verheerend:
Südamerikas Bevölkerung um 1500 wird auf 25 Mio geschätzt (einige Schätzungen
gehen auf über 40 Mio!) am Ende des 16. Jh. sind es noch einige Mio.
Grobe Schätzungen besagen, dass die Bevölkerung von Zentral- und Südamerika in
einem Jahrhundert (1500 bis 1600) von 40-60 Mio auf weniger als 10 Mio zurückging.
Dazu hat auch die brutale Behandlung der einheimischen Bevölkerung durch die Spanier
beigetragen, vor allem Arbeit in Bergwerken unter unmenschlichen Bedingungen: die neue
Schicht schafft jeweils die Toten der alten Schicht heraus, die sich ohne Essen und Trinken zu
Tode arbeiten musste. Die unmenschliche Behandlung der einheimischen Bevölkerung wird
damit begründet, dass die Indianer keine Menschen seien, nur höhere Tiere. Der Dominikaner
Bartolomeo de las Casas verurteilt dieses Verhalten; er erzieht einige Indianer, bringt sie an
den spanischen Königshof, um zu beweisen, dass die Indianer auch Menschen seien. Von da
verbessert sich die Behandlung der Indianer, auch aufgrund von Weisungen des spanischen
Königs.
Allgemein waren die Indianer harten körperlichen Arbeiten nicht gewachsen. Um dem
Mangel an Arbeitskräften entgegenzutreten, werden aus Afrika Sklaven eingeführt, dies im
Rahmen des Dreieckshandels auf den wir noch zurückkommen werden.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
10
1.3.3. Einfluss der überseeischen Gebiete auf Europa
Der gigantische Zustrom von Gold und Silber aus den spanischen Kolonien Süd- und
Zentralamerikas hat ebenso gigantische Auswirkungen in Europa. Es kam hier nämlich zur so
genannten Preisrevolution, d.h. zu Preissteigerungen oder Inflation (weiteres dazu im
Abschnitt 4 unten). Wir haben schon erwähnt, dass der italienische Wirtschaftshistoriker
Carlo Cipolla (Lit.verz.) schätzt, dass die Spanier in drei Jahrhunderten, etwa von 1500 bis
1800, 82'000 Tonnen (!) Silber nach Europa brachten; dazu kamen noch einige Tausend
Tonnen Gold. Die Bedeutung dieser wird klarer, wenn man sich vor Augen hält, dass im
mittelalterlichen Europa immer wieder beklagt wurde, der Mangel an Edelmetallen behindere
die Wirtschaftstätigkeit. Jedenfalls ohne die amerikanischen Edelmetalle wäre vielleicht die
Industrielle Revolution nicht zustande gekommen. Es hätte eventuell in Europa allgemein und
in grösserem Ausmasse Dauerarbeitslosigkeit vorgeherrscht, auch im England des 18.
Jahrhunderts, und man wäre technischem Fortschritt, vor allem verkörpert in Maschinen
feindlich gegenübergestanden. Auch hätte Europa ohne die amerikanischen Edelmetalle
niemals die Handels- und Kolonisationstätigkeit finanzieren können, die dann tatsächlich
stattgefunden hat. Jedenfalls machen bis 1594 die Gold- und Silberexporte aus Südamerika
95% der Gesamtexporte aus dieser Region aus.
Aus Südamerika gelangt auch Indigo (ein wunderschöner blauer Farbstoff) nach Europa
und veredelt die Textilien, die sich nun besser verkaufen. Aus Nordafrika und Arabien kommt
Kaffee nach Europa, aus Asien Tee, aus Amerika Kakao; diese anfänglich sehr teuren
Produkte werden allmählich billiger und verbreiten sich rasch in Europa. Dazu kommen
weiter Zucker aus Amerika, indische Luxus-Textilien, Tabak aus Amerika, der in Europa
sofort einen beträchtlichen Erfolg erzielt. Pelze, exotische Hölzer und neue Textilfasern
vervollständigen das Angebot von Kolonialwaren in Europa.
Auch Grundnahrungsmittel kommen nach Europa, an erster Stelle die KARTOFFEL aus
Südamerika (was wäre unser Leben ohne Salzkartoffeln, Gratin und Pommes-Frites!
Jedenfalls hat die Kartoffel die europäischen Ernährungsgewohnheiten grundlegend verändert
und ermöglicht, eine viel grössere Bevölkerung zu ernähren); die Tomate und die Erbse sowie
der Mais kommen alle aus Zentral- und Südamerika; der Reis kommt aus Asien und wird
heute in Südeuropa und in Amerika angebaut, vor allem in Zentral- und Südamerika.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
11
1.4. Die Preisrevolution
1.4.1. Edelmetallzufluss und Inflation
Der Zustrom von Gold und Silber aus den spanischen Kolonien Südamerikas verdreifacht den
Geldbestand in Europa im Verlaufe des 16. Jahrhunderts. Spanien versucht vorerst das Silber
und Gold im eigenen Lande zu behalten. Dies beruhte auf der Doktrin des Bullionismus, die
besagt, dass Geld Reichtum ist.
Es gelingt aber Spanien nicht, ihre Edelmetalle im Land zu behalten. Unter anderem hat
Spanien sehr viele Güter importiert, hat also ein sehr grosses Handelsbilanzdefizit, was zu
Edelmetallabflüssen führt. Der Importüberschuss zerstörte weite Teile der spanischen
Wirtschaft, weil die einheimischen Güter nicht abgesetzt werden können. Der
Edelmetallzufluss aus Südamerika führte also zur vollständigen Verarmung Spaniens, was
auch Cipolla bestätigt!
Zudem fliessen gewaltige Mengen an Gold und Silber nach Italien, den Niederlanden und
Deutschland, um Schulden zu bezahlen und um Kriege zu finanzieren. Vor allem im
Dreissigjährigen Krieg hat Spanien zu einem guten Teil die katholische Seite finanziert, was
sicher Riesensummen verschlang.
Die spanische Regierung trägt also die Hauptschuld dafür, dass die Edelmetalle
abflossen.
So verbreiten sich die südamerikanischen Edelmetalle in ganz Europa. Folge: Die Preise
in Europa verdreifachen oder vervierfachen sich im Verlaufe des 16. Jahrhunderts, wobei
natürlich regionale Unterschiede bestehen (z.B. finden in der russischen Subsistenzwirtschaft
keine Preiserhöhungen statt).
Die Nahrungsmittelpreise steigen besonders stark an; die Geldlöhne hinken den Preisen
nach: Reallöhne und Kaufkraft sinken!
1.4.2. Mechanismus und Auswirkungen der Inflation
Kurzfristig
Kurzfristige Nachfragesteigerungen bei quasi-starrem Angebot führt zu
Preissteigerungen. Wieso nimmt das Angebot nicht zu, bei vermutlich vorhandener
Arbeitslosigkeit? Anders gesagt, wieso steigen Output und Beschäftigung nicht, zumal Arbeit
im Überfluss vorhanden ist?
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
12
Langfristig
Hauptgrund: Die ungleiche Einkommensverteilung führt zu stagnierender oder sogar
rückläufiger Kaufkraft, was seinerseits einen Rückgang der effektiven Nachfrage bewirkt. Es
ist also die in Geld ausgedrückt Nachfrage, die effektive Nachfrage, die Output und
Beschäftigung bestimmt. Bei einer Inflation gibt es immer Gewinner und Verlierer, was eben
bewirkt, dass die Einkommensverteilung ungleicher wird. Von der Inflation profitieren
Kaufleute, die im Lokal- und Fernhandel tätig sind, Fabrikanten (Handwerker,
Manufakturbesitzer, Verleger); Grundbesitzer, die ihr eigenes Land bebauen sowie Pächter
mit fixer Geldpacht. Zu den Verlierern gehören Lohnarbeiter, Pensionierte
(Rentenempfänger), Grundbesitzer mit fixen Pachteinnahmen oder Bauern mit sehr hohen
Realabgaben. Diese sozialen Schichten müssen sinkende Realeinkommen in Kauf nehmen.
Der Druck auf die Reallöhne wird noch verstärkt durch das Bevölkerungswachstum.
Also: Ungleiche Einkommensverteilung drückt auf Nachfrage; wegen der vielen Kriege,
die in merkantilistischer Zeit geführt wurden bleibt jedoch vermutlich die Gesamtnachfrage in
etwa konstant, weil die Staatsausgaben (G) steigen; es werden Waffen produziert, der Sold für
die Soldaten, vielfach Söldner muss bezahlt werden (Schweizer Söldner in Frankreich;
Bereichung der schweizerischen Patrizier). Bei in etwa konstanter Gesamtnachfrage und bei
wachsender Bevölkerung vermögen Landwirtschaft und „Industrie“ das Arbeitsangebot nicht
zu absorbieren und die Arbeitslosigkeit bleibt auf hohem Stand und nimmt eventuell sogar zu!
Nur England hatte im 18. Jahrhundert ein hohes Beschäftigungsvolumen, was eine der
Grundbedingungen für das Zustandekommne der Industriellen Revolution gerade in England
darstellte.
1.4.3. Spanien und das amerikanische Gold
Der ungeheure Edelmetallreichtum führte Spanien in eine fast totale Verarmung. Carlo
Cipolla schreibt auf der Rückseite seines Buches (Lit.verz.): „Zwischen 1519 und 1533 wurde
das spanische Kolonialreich zum grössten in der Geschichte der Menschheit: Ein gewaltiger
Raubzug, der mit der vollständigen Verarmung des Räubers endete.“ [Karl V. war in dieser
Zeit römisch-deutscher Kaiser und König von Spanien und damit seines Kolonialreiches. Im
Reich Karls V. ging die Sonne nie unter!]
Warum diese totale Verarmung Spaniens?
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
13
Einmal wurde Gold und Silber exportiert für politische und militärische Zwecke
(Finanzierung von Kriegen, vor allem der katholischen Seite im Dreissigjährigen Krieg).
Aber mit Abstand am wichtigsten: Gold und Silber werden verwendet um Importe zu
finanzieren: Handwerks- und Manufakturprodukte, aber auch landwirtschaftliche Produkte.
Dadurch werden die eigenen Produktivkräfte nicht entwickelt. Wie sollen die spanischen
Handwerker, Manufakturbesitzer und Bauern ihre Produkte absetzen, wenn das Land von
ausländischen Produkten überschwemmt wird? Der Edelmetallzustrom hat also Spanien
regelrecht ruiniert, indem Handwerk und Manufakturen über weite Strecken vernichtet
werden und auch die Landwirtschaft schwer getroffen wird.
[In ihrer Verzweiflung versuchten die Spanier doch noch einige Arbeitsplätze zu
schaffen, indem sie ihren eigenen Kolonisten verboten, in den süd- und zentralamerikanischen
Kolonien Handwerks- und Manufakturprodukte herzustellen. So waren die Kolonien fast
völlig von den Importen aus dem Mutterland Spanien abhängig (siehe dazu Carlo Cipolla,
Lit.verz., pp. 46-48)!]
Die spanischen Importe bewirken aber gute wirtschaftliche Lage in Frankreich, Nord-
Italien und der Schweiz. Diese Länder können nämlich nach Spanien exportieren, vor allem
Frankreich, das einen sehr beträchtlichen Exportüberschuss mit Spanien hat. Gold und Silber
fliessen deshalb von Spanien nach Frankreich. Einen guten Teil dieser Edelmetalle brauchte
die französische Krone, um die Schweizer Söldner in französischen Diensten zu finanzieren.
In Holland, England und Skandinavien wird Reichtum durch den Überseehandel erhöht.
Der amerikanische Wirtschafts- und Kulturhistoriker John Nef (Lit.verz.) stellt fest, dass
in Europa drei unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen eingesetzt haben:
1) In Frankreich, Norditalien und die Schweiz erfreuen sich bis etwa 1650 herum einer
guten wirtschaftlichen Lage, auch dank den Exportmöglichkeiten nach Spanien. Die
wirtschaftliche Lage ist im Dreissigjährigen Krieg besonders gut, weil die Exporte
nach dem kriegsverwüsteten Deutschland zunehmen. Nach 1650 setzt in diesen
Gebieten eine Stagnation ein, vor allem in Frankreich, vermutlich bewirkt durch
verminderte Exporte nach Spanien und Deutschland und eine ungleichere
Einkommensverteilung; zum Beispiel rafft Kardinal Mazarin, „Ministerpräsident“
Ludwigs XIV von 1642-1661, das grösste Vermögen Europas zusammen und
transferiert dieses nach Italien! In Frankreich dauert die wirtschaftliche Stagnation
bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts und war sicher eine wichtige Ursache für das
zustande kommen der Französischen Revolution 1789.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
14
2) Holland, England und Skandinavien kennen eine dynamische
Wirtschaftsentwicklung. Holland dominiert das 17. Jahrhundert (1588-1688!) durch
die Kontrolle des Gewürzhandels mit Asien (Indonesien). England nimmt im 18.
Jahrhundert die Vormachtstellung in Europa ein. Vor allem nach dem
Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) beherrscht England die Weltmärkte (Frankreich
wird aus Indien und Nordamerika hinausgedrängt), was entscheidend ist für das
Zustandekommen der Industriellen Revolution gerade in England.
3) Spanien und alle von Spanien abhängigen Gebiete verarmen wegen des oben
beschriebenen Edelmetallmechanismus (Edelmetallabfluss um den Import von
Gütern zu finanzieren). Vor allem verarmt Süditalien und überhaupt der nördliche
Mittelmeerraum. Ebenso verarmt Zentraleuropa (Deutschland), vor allem wegen des
fürchterlichen Dreissigjährigen Krieges. Der Verarmungsprozess setzte aber schon
vorher ein. Karl V. war römisch-deutscher Kaiser und König von Spanien von 1519
bis 1556.
1.5. Agrartechnologie und Produktivität der Landwirtschaft
1.5.1. Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität
in Europa
Im 17. Ab 1650 Jh. kommt es zu einer Stagnation
- der Bevölkerung,
- der landwirtschaftlichen Produktion (vor allem in England wird Ackerland in
Schafweiden umgewandelt um Wolle für die Herstellung von Textilien zu
gewinnen) sowie
- der landwirtschaftlichen Produktivität (das Verhältnis von Ackerland zu Weideland
(für Viehwirtschaft; Kühe, Grossvieh) verschlechtert sich. Zuwenig natürlicher
Dünger steht zur Verfügung und die Bodenproduktivität sinkt; z.B.: Beim Weizen ist
das Verhältnis von geernteter zu ausgesäter Menge 4:1 bis 5:1 (2:1 bis 3:1 in
Osteuropa). Diese Erträge sinken im 17. Jh. sogar noch etwas. (Vergleich zu heute:
40 bis 50:1!)
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
15
1.5.2. Die holländische Ausnahme
Schon im 15. Jh. ist die niederländische Landwirtschaft die produktivste in Europa (die
Niederlande umfassten damals noch das heutige Belgien und Holland). Hauptgrund sind die
Absatzmöglichkeiten in den städtischen Textilzentren von Flandern. Stadt und Land schaffen
sich gegenseitig Absatzmärkte: das Land liefert den landwirtschaftlichen an die Städte und
kauft Handwerks- und Manufakturprodukte von den Städten. Die städtische Nachfrage nach
landwirtschaftlichen Produktion wird noch angekurbelt durch (Fern-) Exporte; diese führen zu
zusätzlichem Output und Arbeitsplätzen, was wieder die Nachfrage nach landwirtschaftlichen
Produkten erhöht.
Im 16. Und im 17. Jh. erlebt (das nun vom heutigen Belgien getrennte) Holland eine
regelrechte Landwirtschaftliche Revolution und wird zur ersten modernen
landwirtschaftlichen „Grossmacht.“ Die erste Agrarrevolution kommt also in Holland
zustande.
Die Modernisierung der Landwirtschaft erfolgt parallel zur Ausweitung des Fernhandels
(Gewürzhandel mit Indonesien; aber auch Raub von Gewürzen: siehe Panikkar, Lit.verz., pp.
93-103), der Arbeitsplätze schafft und die Exporte ankurbelt, die ihrerseits wieder
Arbeitsplätze schaffen. Dazu kommen Dienstleistungen, vor allem Finanzdienstleistungen;
Amsterdam wird das Finanzzentrum Europas. Die städtischen Einkommen nehmen also
dramatisch zu, was eine Nachfrage nach Industrieprodukten, aber auch nach
landwirtschaftlichen Produkten führt.
Die Erfolge der holländischen Landwirtschaft beruhen auf der Spezialisierung, die
aufgrund des rasch wachsenden städtischen Marktes möglich wird.
Aber die holländischen Bauern arbeiten auch für den Export; hochwertige Produkte, wie
Fleisch und Milchprodukte werden exportiert. Die Nachfrage nach Futtermitteln (Heu, Klee,
Rüben,) steigt; diese werden entweder selber angebaut oder importiert. Neben anderen
landwirtschaftlichen Produkten werden sogar Blumen angebaut und exportiert (Tulpen!).
Die hohe Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten führt zu einer zusätzlichen
Nachfrage nach Boden. Trockenlegungen erfolgen: Land wird dem Meer abgewonnen
(Polder). Dämme müssen gebaut werden. Dies führt zu höheren Staatsausgaben, damit zu
noch grösserer wirtschaftlicherer Aktivität. Dazu kommt der Schiffsbau, der zum Teil
staatlich finanziert wird; die Staatsausgaben G steigen.
So lösen die Fernhandelstätigkeit, Exporte, Dienstleistungen und höhere Ausgaben für
den Schiffsbau – alles autonome Ausgaben - einen kumulativen Prozess der Konsum– und
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
16
Investitionsgüterproduktion und der Volkseinkommenserhöhung aus, verbunden mit hohem
Beschäftigungsvolumen. Ein solcher Prozess kam in anderen Ländern Europas nicht oder
nicht so umfassend wie in Holland zustande. Deshalb hat sich das holländische
landwirtschaftliche Modell im übrigen Europa auch kaum ausgebreitet. Erst England im 18.
Jahrhundert, vor allem ab 1750, machte einen ähnlichen Prozess durch; auch hier waren
Exporte (X) entscheidend. Jedoch besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Holland und
England (Industrie) bezüglich der Sequenz: autonome Ausgaben, vor allem Exporte führen zu
einer kumulativen Erhöhung von Output und Beschäftigung. Holland war eine Handelsmacht,
England die erste Industriemacht!
1.6. Technologie in Handwerk und „Industrie“
Zwischen 1500 und 1750 finden in verschiedenen Bereichen Fortschritte statt; diese bereiten
die „Industrielle Revolution“ vor. Der technische Fortschritt wird jedoch gebremst durch die
staatlichen Autoritäten sowie durch die Zünfte, die Arbeitslosigkeit befürchten (dies zeigt die
Wichtigkeit der effektiven Nachfrage).
Zum Beispiel:
- 1551 erlässt das englische Parlament ein Gesetz, das Maschinen, die Wolle glätten
(um das Spinnen vorzubereiten), untersagt, aber die Benutzer halten sich nicht daran.
- Um 1590 erfindet der englische Pastor William Lee einen effizienteren Webstuhl
(Tretwebstuhl). Er erhält kein Brevet. Einige Webstühle, die in Nottinghamshire
einführt, werden von Handwebern zerstört.
- Der ‚Drehwebstuhl’, mit dem 12 Bänder auf einmal gewoben werden können, wird
1638 in England vom Parlament untersagt.
Oder fehlende Energie oder nicht vorhandene Materialien führen auch dazu, dass
Erfindungen nicht realisiert werden können. Aus diesen Gründen konnte z.B. Leonardo da
Vinci seine Erfindungen nicht realisieren.
[Wikipedia: Als Ingenieur war Leonardo da Vinci ein Pionier und seiner Zeit weit
voraus. Seine Intention war, Maschinen (und Waffen) zur Entlastung des Menschen bei ihrer
Arbeit und Kriegsführung zu schaffen, sozusagen: „die Produktivität zu erhöhen“. Im Laufe
der Zeit nahmen seine wissenschaftlichen Forschungen und sein durch Studium angeeignetes
Wissen über Naturkräfte, die er zum Nutzen der Menschheit einsetzen wollte, immer mehr an
Bedeutung zu. Jahrzehntelang skizzierte er beispielsweise Fluggeräte, die den heutigen
Hubschraubern gleichen. Auch soll er Flugübungen mit einem Segelfluggerät durchgeführt
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
17
haben. Er konstruierte auch Zahnräder und Getriebe. Viele seiner Geräte wurden inzwischen
nachgebaut. Beispielsweise wurde seine Skizze "Wunder der Kunst des mechanischen
Getriebes" als Kunstwerk und als Unendlichkeitsmaschine für didaktische Zwecke realisiert.]
Die fehlende Energie ist besonders wichtig. Hier sieht man die zentrale Bedeutung der
Erfindung einer effizienten (arbeitsfähigen) Dampfmaschine durch James Watt im Jahre 1769.
Anderseits werden auch produkttechnische Erfindungen gemacht, die sich zum Teil
durchsetzen können. Am Ende des 15. Jahrhunderts realisieren flämische Weber ein leichteres
und billigeres Tuch (la nouvelle draperie), die sich rasch in Zentraleuropa ausbreitet.
Die Bautechnik macht keine besonderen Fortschritte. Dagegen verbessert sich die
Schiffsbaukunst in den Niederlanden. Von etwa 1500 bis um 1650 verzehnfacht sich die
holländische Flotte; sie ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts drei Mal grösser als die englische
Flotte!
Wegen der relativ kurzen Lebensdauer der Segelschiffe, ist eine Rationalisierung der
Produktion erforderlich, um eine Serienproduktion zu ermöglichen. Es gibt bereits
mechanische Sägen und eine Art Fliessband (von Windmühlen betrieben), das zu
verarbeitende Teile heranschafft und weiterleitet. (Hier kommt wiederum die westeuropäische
Maschinenbautradition zum Tragen; auch die Eigeninitiative, die auf die Verbesserung der
Produktionsmethoden in allen möglichen Bereichen abzielt, um im innereuropäischen
Konkurrenzkampf bestehen zu können; erinnern wir uns: diese zentralen Kräfte in der
europäischen Entwicklung gehen auf die Zweiteilung des Bodens im Karolingischen Reich
(um 800) zurück!)
[Anekdote: Der russische Zar Peter I. arbeitete 1697/98 als Zimmermannsgeselle auf der
holländischen Schiffswerft in Saardam unter dem Namen Peter Michailow, um sich mit den
Techniken des Schiffbaus vertraut zu machen. Nachdem der Zugang zur Ostsee gewonnen
worden war, wollte Zar Peter der Grosse eine russische Kriegs- und Handelsflotte aufbauen.
Zu diesem Zwecke wollte der Zar sich persönlich mit der Schiffsbaukunst vertraut machen.
Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts sind dann hunderte von holländischen
Schiffsbauingenieuren von den russischen Zaren nach Russland berufen worden. Der
Aufenthalt Peters des Grossen in Holland ist in der Oper Zar und Zimmermann verewigt
worden. Albert Lortzing hat nicht nur die Musik komponiert, sondern war auch sein eigener
Librettist. Die Uraufführung fand am 22. Dezember 1837 im Stadttheater Leipzig statt.]
Die Metallindustrie ist zwar beschäftigungsmässig gering, jedoch von grosser Bedeutung
für die Waffenfabrikation. Kanonen und Gewehre, Land- und Schiffsartillerie
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
18
Auch die Eisenherstellung erfährt Verbesserungen: im 14. Und 15. Jh. nimmt die Höhe
der Hochöfen zu. Luftgebläse werden von Mühlen (Wasserkraft) betrieben. Mehr Eisen und
Eisen besserer Qualität kann so gewonnen werden, was eine wichtige Voraussetzung für die
industrielle Revolution ist.
In Europa sind Schweden, England, Belgien, Deutschland, Norditalien und Nordspanien
die wichtigsten Eisenproduzenten. So produziert England gegen Ende des 17. Jahrhunderts
etwa 25'000 Tonnen Eisen pro Jahr.
2. Die Handelswege der Neuzeit (eurozentrisch)
2.1. Handelskapitalismus
Zwischen dem 15. Bis 18. Jahrhundert ist der Handel bei weitem die wichtigste
wirtschaftliche Aktivität. Deshalb wird diese Zeitepoche auch als die Epoche des
Handelskapitalismus oder des Merkantilismus bezeichnet.
Das 16. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Handelsrevolution. Das Handelsvolumen
wächst schneller als die Bevölkerung. Jedoch macht der Handel zwischen Europa einerseits
und Asien und Amerika anderseits (Fernhandel) nur einen Bruchteil der gesamteuropäischen
Handelstätigkeit aus. Der lokale Handel zwischen Stadt und Land stellt immer noch bei
weitem den grössten Teil des Handelsvolumens dar.
Wir haben bereits erwähnt, dass das 16. Jahrhundert von Portugal und Spanien dominiert
wird. Das 17. Jahrhundert ist das Jahrhundert Hollands. England und Frankreich sind im 17.
und 18. Jahrhundert präsent, aber das 18. Jahrhundert wird das Jahrhundert Englands
(Industrielle Revolution 1770-80), mit Frankreich wirtschaftlich im Hintergrund; jedoch tritt
Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution (1789) in der
Vordergrund. Beide Ereignisse, die Englische Industrielle Revolution und die Französische
Politische Revolution, haben die Moderne entscheidend geprägt.
2.2. Verschiebungen im innereuropäischen Handel im 16.
Jahrhundert – Italien wird zurückgedrängt
Der Einbruch der Portugiesen in den indischen Ozean bedeutet einen Schock für Venedig und
Italien. Die Venezianer können zwar den Gewürzhandel mit Asien über Ägypten und Arabien
aufrechterhalten, aber nur mit stark reduziertem Gewinn).
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
19
[Im 14., 15. und 16. Jahrhundert gibt es Bürgerkriege zwischen den italienischen Städten;
es ging vor allem um Anteile am Orienthandel, Venedig geht dabei als Sieger hervor.]
1521 wollen die Venezianer das Gewürzhandels-Monopol wiedererlangen, indem sie von
den Portugiesen sämtliche (portugiesischen) Importe abkaufen wollen – jedoch vergebens!
Zudem machte die berühmte Venezianische Flandernflotte (Seekomplement zu den
Champagner-Märkten!) ihre letzte Reise im Jahre 1532. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts
beschweren sich die Venezianer auch über französische und englische Konkurrenz im Handel
mit dem nahen Osten. Schliesslich werden die Portugiesen im Asienhandel zunehmend von
den Holländern bedrängt.
2.3. Die Rolle der Holländer
Der Aufstieg Hollands beginnt bereits im 15. Jh. Holländische Fischerflotten beeinträchtigen
den Heringhandel der Hanse. Sehr rasch spezialisieren sich die Holländer in anderen
Tätigkeiten:
- In Portugal und Frankreich kaufen sie Salz und Wein und bringen diese Produkte
nach Zentraleuropa, England, Nordeuropa.
- Im Baltikum betreiben sie hauptsächlich Handel mit Weizen und Holz.
Die holländische Domination im innereuropäischen Handel wird überwältigend; z.B.
schrieben sich zwischen 1497 bis 1660 um die 40000 Schiffe in den dänischen Häfen des
Baltikums ein, davon waren etwa 2/3 holländische.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts sind die Holländer ebenfalls äusserst aktiv im
Asienhandel geworden. Nach den Befreiungskriegen gegen Spanien lancieren die Holländer
um 1580 (genau 1579) ein Schiffsbauprogramm, um am Asienhandel teilnehmen zu können.
(Nach der Niederlage der spanischen Flotte, der Armada, gegen die Engländer 1588 haben die
Holländer von den Spaniern nichts mehr zu befürchten.) Schon um 1590 verfügen sie über 50
grosse Schiffe. Der Asienhandel ist dermassen erfolgreich, dass die holländische Regierung,
die Stadt Amsterdam sowie einige private Handelsgesellschaften 1602 die Holländische
Ostindienkompanie gründen, die das Monopol für den holländischen Ostasienhandel erhält.
Diese Gesellschaft kontrolliert schliesslich den Gewürzhandel mit Indonesien, das die
gewürzreichsten Inseln Asiens besitzt. Man muss sagen, dass die Holländer mit den
einheimischen Indonesiern nicht zimperlich umgegangen sind; die Gewürze wurden durch
Zwangsarbeit produziert und faktisch eigentlich geraubt (siehe Panikkar, Lit.verz., pp. 93-
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
20
103). Tatsächlich war die holländische Kolonisierung eine härtesten, die in der Neuzeit
existierten.
Die Engländer versuchen vergebens den Holländern diese Inseln abzunehmen und
konzentrieren sich schliesslich auf die Ausbeutung Indiens, das schlussendlich [aus englischer
Sicht] „das schönste Juwel der britischen Krone“ wird (als Absatzmarkt für Textilien und
später Eisenbahnen – Schienen, Lokomotiven und Eisenbahnwagen – sowie als
Beschaffungsmarkt vor allem für Baumwolle. Zur Abwicklung des Asienhandels wird bereits
1600 die Englische Ostindienkompanie gegründet, die wie das holländische Gegenstück, das
Monopol für den Asienhandel Englands innehält. (Zu den europäischen
Ostindiengesellschaften siehe das Buch von Jürgen Nagel, Lit.verz.)
2.4. Engländer und Franzosen
Neben Indien konzentrieren sich die Engländer auf Nordamerika. Blühende Kolonien
entstehen in Neuengland (1620), Maryland (1632) und Virginia (1707). (Die Kolonisten sind
religiöse Dissidente, die als Mitglieder von protestantischen Sekten mit der englischen
Hochkirche in Konflikt geraten waren.) Alle diese Kolonien werden wichtige Absatzmärkte
für englische Manufakturprodukte und gleichzeitig wichtige Rohstofflieferanten; diese
Rohstoffe werden dann in England zu Fertigprodukten verarbeitet. (Allerdings werden die
englischen Kolonien in Nordamerika 1776 unabhängig; in diesem Jahr erfolgt die Gründung
der Vereinigten Staaten von Amerika (USA); die Unabhängigkeit der USA wurde vor allem
durch die Boston Tea Party eingeleitet, die heute wieder politische Bedeutung erlangt!).
Die Franzosen errichten 1608 die Kolonie Quebec. Sie beanspruchen auch das Gebiet der
grossen Seen und später das ganze Mississippi-Becken (la Nouvelle Orléans – New Orleans
ist eine französische Gründung!). Um 1660 befinden sich 100000 englische Kolonisten in
Nordamerika, dagegen nur 2500 französische! Zwei Gründe dafür:
Franzosen sind keine Auswanderer; sie haben ein grosses Land, mit dem sie sehr
verbunden sind, auch weil es sich darin gut leben lässt.
Die französischen Religionsflüchtlinge, die Hugenotten, wandern nach Osten und Norden
aus: Schweiz, Holland, Preussen, die englischen religiösen Flüchtlinge dagegen nach
Nordamerika (the English do not like the Continent).
Holländer, Engländer und Franzosen bereichern sich auch durch Piraterei: vor allem das
Kapern von spanischen Silberschiffen ist eine höchst rentable Tätigkeit. (Wie Cipolla
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
21
(Lit.verz.) jedoch festhält, waren die Spanier aber mit ihren Silbertransporten von Südamerika
nach Europa dank dem Konvoi-System relativ erfolgreich.)
2.5. Arten des Handels
2.5.1. Inner-Europäischer Handel
Der inner-europäische Handel verändert sich im 16. Und 17. Jh. Im Mittelalter wurden
vorwiegend Luxusprodukte gehandelt (wenig Volumen und Gewicht, aber hoher Wert; eine
Ausnahme war eventuell der Hering-Handel der Hanse); im 16. Jahrhundert auch
gewöhnliche Produkte (mehr Volumen und Gewicht, relativ weniger wertvoll): Weizen, Holz,
Fische, Wein, Salz, Metalle und Tuch. Im 17. Jahrhundert kommt Kohle hinzu. Wegen der
Verbesserung der Schiffbautechnik werden auch die Transportkosten für gewichtige Produkte
gesenkt.
2.5.2. Interkontinentaler Handel
Der interkontinentale Handel verändert sich nicht stark. Gewürze (Pfeffer u.a.). Edelsteine,
Zucker, Tabak, Pelze und Edelhölzer aus Asien und Amerika werden gegen europäische
Manufakturwaren getauscht.
Wichtig ist auch der Menschenhandel (Sklavenhandel). Zuerst von Portugiesen betrieben
(von den Spaniern indirekt, über die Engländer!), dann von den Holländern, Franzosen und
schliesslich vor allem den Engländern. Es wird ein sogenannter Dreieckshandel aufgebaut:
1) Europäische Schiffe fahren zuerst an die westafrikanische Küste; sie führen Waffen,
Werkzeuge, farbige Tuche (von den Afrikanern sehr begehrt), Glaswaren und
Alkohol mit. Diese Waren werden gegen Afrikaner eingetauscht. Afrikanische
Häuptlinge und Könige verkaufen Kriegsgefangene und sogar Mitglieder ihrer
eigenen Familie (dadurch Erbschaftsprobleme gelöst).
2) Die „Menschenware“ wird nach Nord- und Südamerika gebracht (in Südamerika ist
Salvador de Bahia der Ankunftshafen; hier gibt es ein Museum, das zeigt, dass die
Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen, wie Sardinen aufeinander geschichtet,
transportiert wurden, so dass vielfach die meisten während der Überfahrt starben;
wieso das? Vermutlich um Meutereien der physisch starken Afrikaner vorzubeugen).
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
22
3) In den Amerikas werden die Sklaven gegen Zucker, Tabak, später Baumwolle
eingetauscht. Diese Waren werden dann nach Europa zurückgebracht.
Dieser Dreieckshandel brachte eine optimale Auslastung der europäischen Schiffe! Er
wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Betreiben der Engländer aufgehoben. Dabei
wurden Menschenrechtsargumente vorgebracht, die in der Französischen Revolution
entstanden sind.
2.6. Einige Veränderungen in Europa in merkantilistischer Zeit
Die europäischen Kaufleute übernehmen allgemein italienische Handels- und
Buchhaltungstechniken (doppelte Buchhaltung). Dies und die Neuorientierung des Handels
bewirken, dass die Handelsvorherrschaft Italiens ab der Mitte des 16. Jh. sukzessive
gebrochen wird. (Max Weber sagt, dass ohne die doppelte Buchhaltung der europäische
Handels- und Industriekapitalismus nicht hätte entstehen können, weil man die komplexer
werdenden Geschäfte nicht hätte meistern können. Das vielleicht ein wenig übertrieben, hat
aber etwas an sich.
Der wirtschaftliche Aufstieg der nordeuropäischen Länder vor dem Dreissigjährigen
Krieg wird symbolisiert durch den Erfolg der Familie Fugger (Süddeutschland/Augsburg).
Die ersten Fugger sind Weber. Später betreiben sie von Venedig aus Handel mit Seide und
Gewürzen. Unter Jakob Fugger II (1459-1525) besitzt die Familie verschiedene Zweigstellen
in Deutschland, Ungarn, Polen, Italien, Spanien, Lissabon, London und Antwerpen.
Kontrollieren einen guten Teil des europäischen Gewürzhandels; die Gewürze werden mit
Silbermünzen bezahlt. Mit der Zeit übernehmen die Fugger Bankenfunktionen. Sie nehmen
Einlagen entgegen und treiben Wechselgeschäfte.
Gegen Ende des 15. Jh. werden sie die Bankiers des (Staates), des „Heiligen Römischen
Reiches Deutscher Nation.“ Dadurch erhalten sie die Kontrolle der Tiroler Silberminen. So
haben die Fugger teilweise die Kontrolle über die Geldversorgung in Zentraleuropa!
Als Staatsbankiers finanzieren sie europäische Monarchen, vor allem die Könige von
Portugal und Spanien. Letzteres treibt die Fugger in den Ruin, weil Spanien mehrmals
Staatsbankrott macht, dies trotz des Edelmetallzuflusses aus Zentral- und Südamerika!! (Das
ist auch eine hochinteressante Sache, der man nachgehen sollte.)
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
23
3. Der Merkantilismus als ökonomischer Nationalismus und
Imperialismus: Die eurozentrische Sichtweise (aus der
Dogmengeschichtsvorlesung)
Der Merkantilismus ist ein System der Wirtschaftspolitik: Der REICHTUM eines Landes –
höheres Sozialprodukt, mehr Beschäftigung – soll über den AUSSENHANDEL gesteigert
werden. Dabei wird die Wirtschaft in den DIENST des (absolutistischen) STAATES gestellt,
der einen gewaltigen Finanzbedarf hat.
Grund: Die Zeit des Merkantilismus ist das Zeitalter der europäischen Nationenbildung
(Frankreich, Spanien, England, Österreich, Preussen; im Zentrum steht Frankreich, das in
Richtung Rhein vorrückt; Frankreich strebt natürliche Grenzen). Der einzelne Staat ist
bestrebt, sein wirtschaftliches und militärisches Potential zu stärken, um seine Machtposition
zu halten oder auszubauen. Mittel für diese Machtentfaltung sind ein effiziente staatliche
ADMINSTRATION und ein reguläres HEER. Beides ist mit einem sehr hohen Finanzbedarf
(Steuern) verbunden, der durch eine starke Wirtschaft (hohes Q = AN) gedeckt werden soll.
Der landwirtschaftliche Überschuss reicht nicht mehr aus, um den Staat zu tragen. Handel und
„Industrie“ müssen als Steuerobjekt herangezogen werden.
3.1. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen
3.1.1. Politische Veränderungen
Aus dem Spätmittelalter wächst allmählich eine neue politische Struktur heraus: der
Absolutismus (deckt sich zeitlich etwa mit dem Merkantilismus: ungefähr 1550-1750): An
der Spitze eines Territorialstaates steht der Landesfürst (König, Herzog, Bischof). Der Fürst
stützt sich ab auf ein (Söldner-)Heer und die Administration. Der Adel stellt Offiziere und
Beamte. Der Klerus stellt ebenfalls Beamte (die Kardinäle Richelieu und Mazarin als engste
Berater von Ludwig XIII und Ludwig XIV). Bürgertum: Kaufleute und Manufakturbesitzer
sowie Bankiers; die Einkommen des Bürgertums werden als Steuerquelle immer wichtiger.
Daneben gibt es unabhängige Bauern und Handwerker. Auf der untersten Stufe finden sich
die Arbeiter in der Landwirtschaft und in den Manufakturen.
Die Staatsphilosophie von Hobbes bildet die konzeptionelle Grundlage dieser Ordnung: Im
staatenlosen Naturzustand herrscht ein Krieg eines Jeden gegen Jeden. Ein absoluter
Herrscher ist erforderlich, um das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben zu
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
24
ordnen und damit die Machtentfaltung des Staates zu ermöglichen. Standardbeispiel ist
Frankreich.
3.1.2. Wirtschaftliche Veränderungen (stichwortartige Wiederholung)
- rasche Entwicklung des Überseehandels ab 1500
- Gründung von Handelskompanien (Ostindienkompanien aufgrund von staatlichen
Privilegien, die zu Handelsmonopolen führen)
- Die Handelsgewinne (nach der Bezahlung von Steuern) werden zweifach verwendet:
Einmal zum Kauf von Boden*,
- dann zum Aufbau von Manufakturen**
* Verarmte Adelige verkaufen Land an Bürger; in protestantischen Gebieten nimmt
der Landbesitz der Bürger besonders rasch zu (Enteignung der Klöster; Aneignung der
Kirchengüter im allgemeinen; die Verkaufserlöse fliessen natürlich dem Fürsten zu).
Kapitalistische Bodennutzung führt zu einer höheren Rentabilität des Bodens: statt
Ackerbau wird vermehrt Viehzucht betrieben; vor allem in England werden immer mehr
Schafe gehalten: höhere Erträge, weil die Nachfrage nach Wolle sehr stark ist
(Textilmanufakturen).
Die Kapitalistische Bodennutzung ist verbunden mit der Einzäunungsbewegung;
diese führt zu massiven Freisetzungen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften. Die
Viehzucht, vor allem das Halten von Schafen ist viel weniger arbeitsintensiv als der
Ackerbau. In der Praxis findet vielfach eine gewaltsame Vertreibung von Bauern statt.
Implikation: Feudale Nutzungsrechte der Bauern an Böden (Grundherrschaften)
wurden einseitig aufgehoben:
Das alte Gemeineigentum an Boden wird immer mehr zu Privateigentum von Adel
und Bürgertum. Der Verlust oft Jahrhunderte alter feudaler Rechte ruft bei den
vertriebenen Bauern grösste Verbitterung hervor.
[In aristotelischer Terminologie fand eine progressive 'Chrematisierung' des Bodens
statt: Der Zweck des Bodens ist nun nicht mehr Versorgung der politischen
Gemeinschaft mit Nahrungsmitteln, sondern Gewinnerzielung]
** In den Manufakturen findet Güterherstellung in grösserem Umfange statt. Die
Handwerker sind in einem Raum vereinigt; einfache Arbeitsteilung setzt ein: der einzelne
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
25
Handwerker spezialisiert sich und stellt nur noch einen Teil eines Produktes her. Dadurch
wird die Arbeitsproduktivität erheblich gesteigert.
Die Arbeitskräfte in den Manufakturen sind Handwerker und freigesetzte
landwirtschaftliche Arbeitskräfte, die ein Manufakturproletariat bilden.
3.1.3. Gesellschaftliche und politische Folgen dieser Veränderungen
Die zunehmende Wirtschaftstätigkeit in Europa (Landwirtschaft, Handel, Manufakturen)
bewirkt gewaltige Einkommens- und Vermögenssteigerungen, vor allem des wirtschaftlichen
Grossbürgertums (Grosskaufleute, die vor allem Fernhandel betreiben, Manufakturbesitzer
und Verleger, Bankiers). Allgemein ergibt sich eine Verstärkung der politischen Rolle des
Bürgertums:
Der absolute Staat (und der Fürst) werden vom Bürgertum immer abhängiger. Zwei
wichtige Gründe:
1) Söldnerheere verschlingen gewaltige Geldsummen:
die Nationenbildung sowie die Vertretung weltweiter Interessen in Kolonien und
abhängigen Gebieten erfordert ein starkes stehendes Heer.
2) Der Staatsapparat (Administration), vor allem um die Steuereinnahmen
sicherzustellen, aber auch um Verteidigungs- und Angriffskriege zu organisieren,
die Justiz und die innere Sicherheit zu gewährleisten sowie die Wirtschaft zu lenken
(in Frankreich wurden zum Beispiel staatliche Manufakturen errichtet).
Deshalb sind die Fürsten auf hohe Steuereinnahmen angewiesen; auch nimmt die
Staatsverschuldung rapide zu; Darlehen von Bankiers an Fürsten: Fugger, Rothschild, (John
Law). Also: das Bürgertum wird vom Staat beansprucht. Die Bürger wollen Gegenleistungen:
Gegenleistungen der Fürsten an das Bürgertum:
1) Vereinheitlichung des Wirtschaftsgebietes (Abschaffung von Binnenzöllen)
2) Vereinheitlichung des Rechtssystems (Ausbreitung des Römischen Rechts)
3) Sicherheit für Handel und Gewerbe: Sicherung der Verkehrswege, vor allem der
Seewege für den Überseehandel (Flotte).
4) Schaffung von neuen Märkten, vor allem für Manufakturprodukte (z.T. in Kolonien
und in abhängigen Gebieten)
5) Damit einher geht die Sicherung von Beschaffungsmärkten für Rohstoffe.
6) Gewährung von Handels- und Manufakturprivilegien (die zu Monopolen führen).
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
26
Es entstehen mächtige Handelsgesellschaften, wie etwa die Englische und die
Holländische Ostindienkompanie, die Riesen-Aktiengesellschaften sind. Diese Gesellschaften
haben auch politische und militärische Macht. Die Englische Ostindienkompanie hat bis weit
ins 19. Jh. hinein Indien kontrolliert. Die Holländische Ostindienkompanie wagte es, Spanien
den Krieg zu erklären, der allerdings nie ausgetragen wurde.
3.2. Das Wesen des Merkantilismus
3.2.1. Der Merkantilismus als politisches und ökonomisches System
Nur eine starke Wirtschaft konnte die Mittel der Machtpolitik beschaffen.
Drei grosse Massnahmengruppen zur Stärkung der Wirtschaft und damit zur Erhöhung
der Steuereinnahmen standen im Vordergrund:
1) Förderung der Produktion
- Errichtung von staatlichen Manufakturen (vor allem in Frankreich)
- verbesserte Ausbildung
- Eingliederung aller verfügbaren Arbeitskräfte in den Arbeitsprozess
- Damit verbunden ist der Kampf gegen den Müssiggang, verbunden mit
zwangsweiser Beschäftigung von Bettlern und Vagabunden.
2) Förderung des Binnenhandels
- Abschaffung der Binnenzölle
- einheitliches Rechtssystem (Handelsrecht)
Diese beiden Massnahmengruppen bilden nach Eli Heckscher (Der Merkantilismus, Jena
1932) ein einheitsbildendes System, weil sie sehr stark zur Einigung der sich bildenden
Nationalstaaten beigetragen haben.
3) Aussenhandel gegeben: Reichtumssteigerung durch Erzielen eines
Aussenhandelsüberschusses verbunden mit einem Edelmetallzufluss.
Diese Doktrin wurde während etwa 200 Jahren (1550-1750) von den Merkantilisten
vertreten.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
27
3.2.2. Der KERN der merkantilistischen "Wirtschaftstheorie"
Zwei grundlegende Aspekte des Handelsbilanzüberschusses stehen im Vordergrund (Eli
Heckscher):
1) Der Warenaspekt (der reale Aspekt):
Ein Handelsbilanzüberschuss bedeutet zusätzliche Nachfrage und Produktion; die
dadurch ausgelöste Erhöhung der Konsumgüternachfrage führt zu einem multiplikativen
Effekt (zusätzliche Einkommen).
Dieser (multiplikative) kumulative Prozess kann mit Hilfe des Keynesschen
theoretischen Instrumentariums dargestellt werden. Dies ist möglich, weil Keynes die
Merkantilisten ausdrücklich als seine Vorgänger bezeichnet, weil sie im Prinzip in den
gleichen Bahnen gedacht haben.
Exportüberschuss X - M = 1000, marginale Konsumquote c = ∆C/∆Y = 0.8
(∆Q = zusätzliches Sozialprodukt, ∆Y = zusätzliches Volkseinkommen):
∆Q ∆Y
1000 (X-M) 1000
800 800 MXc
QY
1
1
640 640
-----------------------------------
5000 5000
Somit führt im Prinzip ein Exportüberschuss von 1000 (Primäreffekt) zu einer Zunahme
des Sozialproduktes von 5000, was einen Sekundäreffekt von 4000 impliziert (Zunahme der
Konsumgüterproduktion).
2) Der Geldaspekt:
Ein Handelsbilanzüberschuss impliziert auch eine Erhöhung der Geldmenge (Zustrom
von Gold und Silber); damit erhöht sich das Geldangebot
Die Geldnachfrage besteht aus dem Horten von Privaten und Fürsten (Staatsschatz) und
der Geldnachfrage zu Transaktionszwecke
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
28
Bei gegebener Nachfrage sinkt der Zins, wenn sich das Geldangebot erhöht. Von
niedrigen Zinsen wird erwartet, dass sie über höhere Investitionen (∆I) die
Wirtschaftsaktivität anregen. Dies wiederum über einen kumulativen Multiplikatorprozess.
∆Q ∆Y
1000 (∆I) 1000
800 800 I1
1
cQY
640 640
-----------------------------------
5000 5000
Der Exportüberschuss und der damit verbundene Geldzustrom führen also in
merkantilistischer Sicht zu einem doppelten kumulativen Multiplikator-Prozess. Man kann
deshalb verstehen, warum einige Merkantilisten auf einen Exportüberschuss regelrecht
versessen waren.
4. Europa und Asien
In seinem Buch The Eastern Origins of Western Civilisation (Cambridge, Cambridge
University Press 2004) präsentiert John M. Hobson eine neue Sichtweise des Verhältnisses
zwischen Europa und Asien. Er meint, dass die moderne Zivilisation Europas östliche
Ursachen (origins) habe. Das stimmt nicht: Der Titel von Hobsons Buch ist unserer Ansicht
nach problematisch, aber der Inhalt stimmt, wenn man diesen aus einem bestimmten
Blickwinkel sieht. In Europa haben nämlich bestimmte Bedingungen vorgeherrscht, die
bewirkten, dass asiatisches Wissen und Techniken sowie asiatische Ressourcen (in Hobson
(2004) ausführlich dargestellt) aufgenommen und schöpferisch weiter verarbeitet werden
konnten. Entscheidend waren die Umstände, die in Europa vorherrschten: die
Maschinenbautradition und die Eigeninitiative (beide gehen zurück auf die Zweiteilung des
Bodens im karolingischen Reich); später kam die Rivalität zwischen den europäischen
Nationen hinzu, die ebenfalls eine gewaltige Antriebskraft für den europäischen Marsch in
Richtung Moderne darstellte. Dazu kam der Protestantismus (Max Weber: Die protestantische
Ethik und der Geist des Kapitalismus!) sowie der Fortschritt der Wissenschaften (im
Hochmittelalter hatte sich der europäische Geist auf Theologie und Philosophie konzentriert;
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
29
in der Neuzeit – etwa ab dem 16. Jahrhundert konzentrierte er sich auf die Natur, den
Menschen, Gesellschaft und Wirtschaft).
4.1. Asiatisches Übergewicht bis 1800 und asiatischer Einfluss auf
Europa
(Vorläufig erwähnen wir nur gerade einige bezeichnende Kapitaltitel aus Hobsons Buch.)
- Der Osten ist dem Western weit voraus und führt die Welt zur ersten Globalisierung:
J.M. Hobson (2004), Part I: The East as an early developer: the East discovers and
leads the world through oriental globalisation, 500 – 1800
- Asiatisch-Afrikanische Globalisierung [Hobson (2004), chapter 2: Islamic and
African pioneers: building the Bridge of the World and the global economy in the
Afro-Asian age of discovery, 500 – 1500]
- Eine Chinesische Industrielle Revolution [Hobson (2004): chapter 3: Chinese
pioneers: the first industrial miracle and the myth of Chinese isolationism, c. 1000 –
1800 (Während der Song Dynastie 1200-79 hätte nach Hobson in China eventuell
eine industrielle Revolution zustande kommen können; der Einfall der Mongolen
1279 verunmöglichte dies.
- Verstärkte asiatische Dominanz [Hobson (2004): chapter 4: The East remains
dominant: the twin myths of oriental despotism and isolationism in India, South-east
Asia and Japan, 1400-1800; Indien wird Werkstatt der Welt.
- Innerhalb des asiatischen Weltsystems zirkulieren Informationen über technische
Kenntnisse; Europa profitiert von asiatischen Fortschritten auf verschiedenen
Gebieten. Die Informationen kommen über die nördliche und südliche Seidenstrasse
nach Europa (J.M Hobson erwähnt die Pax Mongolica, die die Seidenstrasse sehr
sicher macht). Siehe z.B. Shen FUWEI: Cultural Flow Between China and the
Outside World Throughout History. 2nd edition, Beijing (Foreign Languages Press)
1997 (mainly chapter 6), sowie J.M. Hobson (2004), chapters 3 and 9.
Kenntnisse und Erfindungen, die von Asien nach Europa kamen:
Aus China:
- Eisenherstellung (Schmelzen); Bergbau und Tunneltechnik
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
30
- Seidenweberei und Herstellung von Seidenwaren (Kleider, ...)
- Erste Schritte in der Chemie
- Herstellung von Porzellan
- Papierherstellung
- Buchdruck
- Kompass
- Schwarzpulver (Sprengen von Felsen für den Bergbau; Munition für Gewehre und
Kanonen)
- Feuerwaffen, inklusive Raketen
- Chinesische Medizin (Akupunktur)
[in China wurden auch Standuhren gebaut; eventuell hat sich der europäische Bau von
Standuhren unabhängig vom chinesischen entwickelt; dies wird von Hobson in Frage gestellt:
er meint, die Chinesen hätten Standuhren lange (500 Jahre vorher) vor den Europäern
hergestellt; siehe Vorlesung über das Mittelalter.]
[Es scheint, dass mit Wasserkraft (Mühle) angetriebene Maschinen in China nicht
industriell eingesetzt wurden, vermutlich aus Angst vor Arbeitslosigkeit und dem Bestreben,
die Arbeitsbedingungen nicht zu verschlechtern. Mitterauer (2003) spricht von der
massenhaften Zerstörung von Wassermühlen im China des 8. Jahrhunderts (p. 34).]
Aus Indien (über die Araber als Vermittler nach Europa):
- Dezimalzahlensystem (Entdeckung der Zahl Null)
- Algebra und Analytische Geometrie
- Schachspiel
Araber und Perser:
- Kenntnisse in Mathematik
- Naturwissenschaften
- Medizin (die Araber und Perser hatten hervorragende Ärzte)
- Architektur (Araber beeinflussen den europäischen Kathedralenbau)
- Luxustextilien und Teppiche
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
31
5.2. Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’
Europa
(Mitterauer (Lit.verz), mit Erweiterungen)
In der zweiten Hälfte des 18. Jh. sind in England eine Reihe von komplementären
Bedingungen zustande gekommen, die zur Industriellen Revolution geführt haben (Abschnitt
V.2. dieser Vorlesung). Die ganze europäische Entwicklung seit dem Karolingischen Reich
und der dauernde asiatische Einfluss sowie die schöpferische Weiterentwicklung der Europäer
haben den Zustand geschaffen, der in England die industrielle Revolution auslöste.
Die ursprüngliche eurozentrische Sicht besagt, die Grundlagen für die moderne
Entwicklung seien durch Humanismus und Renaissance um 1500 herum geschaffen worden
(das 16. Jh. als Schlüssel-Jahrhundert): die wissenschaftliche und technische Revolution
wurden eingeleitet, die grossen Entdeckungen erfolgten um diese Zeit.
Mitterauer legt nun stark modifizierte Betrachtungsweise vor; diese ist nicht mehr
eurozentrisch, sondern spricht von einem europäischen Sonderweg (siehe für das Folgende
auch die Vorlesung III über das Mittelalter:
Der Ausgangspunkt für die spezifische europäische Entwicklung, die zum Durchbruch
zur Moderne führten wurden im frühen Mittelalter gelegt, im Reich Karls des Grossen
(karolingisches Reich, um 800).
Wichtig war hier die dezentrale Organisation des Reiches durch das Lehenswesen. Die
Grundherrschaften auf den verschiedenen Stufen des ‚Lehensherr-Lehensnehmer-
Verhältnisses bilden eigenständige Selbstverwaltungseinheiten. Die Dezentralisierung beruht
(implizit) auf dem Subsidiaritätsprinzip (die obere staatliche Ebene übt nur Funktionen aus,
die von den unteren Ebenen nicht durchgeführt werden können. Zum Beispiel kommt die
Entscheidung über Krieg und Frieden dem Kaiser, dem obersten Lehensherrn zu). Dadurch
erhalten die staatlichen Funktionsträger bis hinunter auf die unterste Stufe, den Bauern,
Handlungsspielräume, die die Eigeninitiative fördert. Auf der untersten Stufe wird diese
konkretisiert durch die Zweiteilung des Bodens, die dem einzelnen Bauern auf seiner Hufe
(Hof) Nutzungsrechte an einer bestimmten Bodenfläche zukommen lässt.
Auf dem Herrengut werden Mühlen eingerichtet. Die Wasserkraft treibt einfache
Anlagen an, die Weizen, Holz und Steine zusägen. Das begründet die europäische
Maschinenbautradition, die eine entscheidende Grundlage für die industrielle Revolution
bildet.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
32
Im Hochmittelalter bildet sich allmählich ein Dualismus zwischen Adel und Geistlichkeit
einerseits und dem Fürsten (König, Kaiser, Herzog) heraus. Adel und Geistlichkeit schliessen
sich zu Ständen zusammen, die auf Ständeversammlungen über ihre Rechte und Pflichten
(auch dem Fürsten gegenüber beraten; die englische Magna Charta von 1215 regelt erstmals
klar das Verhältnis von (Hoch-)Adel und König). Später kam vereinzelt auch der bürgerliche
Stand hinzu.
Nach der französischen Revolution wurden die Stände zu Klassen, die ihre Interessen
vertraten. Dies führte schliesslich zur Bildung von politischen Parteien und zur
parlamentarischen Demokratie.
Das Christentum propagiert die prinzipielle Gleichheit aller Menschen (in den Schulen,
die von Karl dem Grossen eingerichtet wurden, befanden sich adelige und Bauernkinder.) Die
natürlichen Gemeinschaften - Sippe, Stamm und Grossfamilie - treten in den Hintergrund, die
Kleinfamilie und die Individuen rücken in den Vordergrund. Im karolingischen Reich bestand
eine gewisse Unabhängigkeit zwischen Institutionen (Funktionen) und den Personen, die in
einer bestimmten Institution tätig waren (Lehen wurden maximal auf Lebenszeit. vergeben).
Im Hochmittel traten die Personen (und ihre Abstammung) wieder verstärkt in den
Vordergrund. Allmählich wurde aber im Verlaufe der Neuzeit das persönliche Element
wieder zurückgedrängt. Adelige und Geistliche wurden zu Regierungsmitgliedern, Beratern,
Administratoren und Offizieren. Die Funktionen (Institutionen) wurden nach der
Französischen Revolutionen immer mehr von den Personen unabhängig.
In den westeuropäischen Städten ist allmählich ein Wirtschaftsbürgertum entstanden, das
sich allerdings im Zuge der Industriellen Revolution sozial gewandelt hat.
Die Rivalität zwischen europäischen Staaten ist eine sehr starke Antriebskraft für die
wissenschaftliche und technische Entwicklung in Europa.
Der europäische Imperialismus in merkantilistischer Zeit führt zur Aneignung von
aussereuropäischen Ressourcen (in Europa bisher unbekannte oder wenig verbreitete
Konsumgüter, z.B. Gewürze; Rohstoffe und landwirtschaftliche Güter wie Baumwolle, die als
Input wichtig für die Industrielle Revolution wurden und vor allem Absatzmärkte für
Manufakturprodukte, die nach der industriellen Revolution Absatzmärkte für
Industrieprodukte wurden). Das ist ein Aspekt der These von J.M. Hobson. Wir werden im
nächsten Kapitel V sehen, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts - um 1750 - England die
Weltabsatzmärkte fast vollkommen beherrschte. Dies stellte einen zentralen Faktor für das
Zustandekommen der Industriellen Revolution in England dar.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
33
Dazu kam der Protestantismus vor allem über die Prädestinationstheorie, die nach Max
Weber einen regelrechten Motor für das Reichtumsstreben und beruflichen Erfolg darstellt
(Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus – Lit.verz.).
Der Fortschritt der Wissenschaften geht aus einen Verweltlichung des mittelalterlichen
Denkens durch den Humanismus und die Renaissance hervor im 16. Jahrhundert hervor; im
Hochmittelalter hatte sich der europäische Geist auf Theologie und Philosophie konzentriert;
in der Neuzeit, etwa ab dem 16. Jahrhundert, konzentrierte er sich im Zuge von Humanismus
und Renaissance auf die Natur, den Menschen, Gesellschaft und Wirtschaft.
Wichtig ist auch, das Europa nie vom mächtigeren Asien dominiert wurde (Randlage).
Den Persern gelang um 500 v.Chr. nicht, Griechenland zu erobern. Die Hunnen unter Attila
wurden 451 n.Chr. auf den Katalaunischen Feldern (Nordostfrankreich) von den
Römern/Germanen (Aetius) geschlagen. Die Araber wurden 731 n.Chr. in Poitiers von den
Franken (Karl Martell) gestoppt. Die Mongolen kamen um 1241 herum bis nach Schlesien,
wo sie bei Liegnitz eine Schlacht gewannen, sich dann aber nach dem Tode ihres Grosskhans
Ügedei aus Deutschland und Polen zurückzogen; vielleicht hatten sie auch kein Interesse,
weiter nach Westen vorzustossen, weil hier nicht viel zu holen war oder der Weg zu lang war.
Damit um Zusammenhang steht, wie bereits angedeutet, dass Europa war nie eine
politische Einheit war. Vor allem England hat dafür gesorgt, dass auf dem europäischen
Kontinent nie dauernd eine dominierende politische Macht entstehen konnte. Die Rivalität
zwischen Staaten und Regionen erforderte, den sozialen Überschuss zu steigern, auch um
höhere Steuereinnahmen sicherzustellen. Teilweise wurde dies durch Verbesserungen der
Produktionstechnik zustande gebracht (einfache Maschinen, die von Wasserkraft angetrieben
waren; Manufakturen entstehen). Vor allem führte die Rivalität zwischen den europäischen
Mächten zu Verbesserungen in der Waffentechnik. Die Artillerie wurde weiterentwickelt, was
die Kenntnisse im Maschinenbau förderte.
Zwei Neuanfänge haben die Entwicklung in Europa entscheidend bestimmt. Ein erster
Neuanfang fand in Griechenland nach dem plötzlichen Zusammenbruch der kretisch-
mykenischen Kultur um 1200 v.Chr. statt. Im klassischen Griechenland (800 – 200 v.Chr.)
erreichte im vierten Jh. v.Chr. das philosophische Denken mit Platon und Aristoteles einen
einzigartigen Höhepunkt. Das Denken wurde nicht mehr vom Mythos sondern von der
Vernunft getragen. Unterschiedliche, sogar widersprüchliche Denksysteme entstehen, Fragen
und Zweifel tauchen auf (Sophisten und Skeptiker); wissenschaftliche Theorien entstehen,
also Denkmodelle; dieser Vorgang wurde gefördert durch die Lautschrift (Buchstabenschrift),
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IV. Merkantilismus
34
die eine allgemein verständliche Bildung von Begriffen ermöglichte – die verfeinerte
chinesische Zeichenschrift war nur einer Elite zugänglich.)
Das Reich Karls des Grossen um 800 stellte – wie oben angedeutet – einen (zweiten)
staatlichen, aber auch gesellschaftlich-wirtschaftlichen Neuanfang auf christlicher Grundlage
dar, der einen spezifisch europäischen Entwicklungsweg einleitete (Mitterauer, 2003).