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Sonderdruck

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Inhalt

Richard Shusterman (Boca Raton): Körperbewusstsein und Handeln . 831

Christoph henning (St. Gallen): Perfektionismus und liberaler Egalitarismus. Ein Versuch ihrer Vermittlung . . . . . . . . . . . 845

Byoungho Kang (Offenbach): Werte und Normen bei Habermas. Zur Eigendynamik des moralischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . 861

Schwerpunkt: Musikphilosophie(Georg Mohr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876

Philip alperson (Philadelphia): Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 879

Susanne herrmann-Sinai (Erfurt): Sounds Without the Mind? Versuch einer Bestimmung des Klangbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 885

Christian Grüny (Witten / herdecke): Figuren von Differenz. Philosophie zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907

René thun (Marburg): ‚Ton‘ bei Adorno. Ein musikhermeneutisches Programm? . . . . . . . . . . . . . . . . 933

Buchkritik

Charles larmore (Providence / RI): Einsichten und Hemmungen eines Nachmetaphysikers. Über:Jürgen Habermas: Philosophische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953

Gerhard Vollmer (Braunschweig): Darwin und die Folgen. Über:David Quammen: Charles Darwin;Sean B. Carroll: Die Darwin-DNA;Thomas Junker / Sabine Paul: Der Darwin-Code;Ulrich Kutschera: Tatsache Evolution;Darwin, Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, Bd. 4;John Dupré: Darwins Vermächtnis;Eve-Marie Engels (Hg.): Charles Darwin und seine Wirkung;Philip Kitcher: Mit Darwin leben;Christian Kummer: Der Fall Darwin;Mark Isaak: The Counter-Creationism Handbook . . . . . . . . . . . 961

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57. Jahrgang · 2009 · Heft 6

HerausgeberAndrea Esser (Marburg), Axel Honneth (Frankfurt/M.), Hans-Peter Krüger (Potsdam), Hans Julius Schneider (Potsdam)

Herausgeber der BuchkritikGeorg W. Bertram (Berlin), Stefan Gosepath (Frankfurt/M.)

Wissenschaftlicher BeiratKarl-Otto Apel (Frankfurt/M.), Hubert L. Dreyfus (Berkeley),Yehuda Elkana (Jerusalem), Jürgen Habermas (Starnberg),Dieter Henrich (München), Gerd Irrlitz (Berlin),Friedrich Kambartel (Frankfurt/M.), Jürgen Mittelstraß (Konstanz),Nelly Motrošilova (Moskau), Herta Nagl-Docekal (Wien),Hilary Putnam (Cambridge), Nicholas Rescher (Pittsburgh),Herbert Schnädelbach (Hamburg), Charles Taylor (Montreal)

ChefredakteurMischka Dammaschke

Akademie Verlag

Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

P H I L O S O P H I ED E U T S C H E Z E I T S C H R I F T F Ü R

Akademie Verlag

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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE

Herausgeber: Prof. Dr. Andrea Esser, Prof. Dr. Axel Honneth, Prof. Dr. Hans-Peter Krüger, Prof. Dr. Hans Julius SchneiderChefredakteur: Dr. Mischka DammaschkeTextredaktion: Jörg SchenuitTextredaktion der Buchkritik: Dr. Robin CelikatesRedaktion: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Akademie Verlag GmbH Anschrift: Markgrafenstraße 12–14, 10969 Berlin; Telefon: (030) 42 20 06 50; E-Mail: [email protected]: Akademie Verlag GmbHNeue Anschrift: Markgrafenstraße 12–14, 10969 Berlin; Telefon: (030) 42 20 06 20/40; Telefax: (030) 42 20 06 57.

Deutsche Zeitschrift für Philosophie im Internetdzphil.akademie-verlag.de

Geschäftsführung: Dr. Christine AutenriethVerlagsleitung: Dr. Sabine Cofalla

Anzeigenannahme: Christina Gericke, Akademie Verlag GmbH, Telefon: (030) 42 20 06 40; Telefax: (030) 42 20 06 57; E-Mail: [email protected]: Irene FischerSatz: Dr. Veit FriemertDruck und buchbinderische Weiterverarbeitung: MB Medienhaus Berlin GmbH

Erscheinungsweise: Die Zeitschrift erscheint 2009 in einem Band mit 6 Heften.

Jahresbezugspreis Print und Online 2009: In- und Ausland € 162,00.Studenten (In- und Ausland): € 69,00.Privatabonnement: € 99,00.Einzelheft (Print): € 29,90 (Preise jeweils zuzüglich Versandkosten).

Ein Abonnement kann jederzeit begonnen werden. Es gilt zum angegebenen Preis für sechs Hefte, nicht für ein Kalenderjahr. Es verlängert sich jeweils um weitere 6 Hefte, falls nicht 6 Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraumes gekündigt wird.

BezugsmöglichkeitenBitte richten Sie Ihre Bestellung an:Oldenbourg Verlagsgruppe, Zeitschriftenservice, Postfach 8013 60, D-81613 München,Telefon: (089) 45 05 12 29/399; Telefax (089) 45 05 13 33.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung. Kein Teil dieser Zeitschrift darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder irgendein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages repro-duziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.Bei unverlangt eingesandten Manuskripten ohne beiliegendes Porto keine Rücksendung. Beurteilungen werden nicht gegeben.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2009 by Akademie Verlag GmbH. Printed in the Federal Republic of Germany.

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BUCHKRITIK

Einsichten und Hemmungen eines Nachmetaphysikers

Von Charles larmore (Providence/rI)

Jürgen HAbermAs: PHilosoPHiscHe TexTe. studienausgabe in fünf bänden. suhrkamp Verlag, Frankfurt/m. 2009, 2167 s.

Die fünf, aus Anlass seines 80. geburtstages erschienenen bände der Philosophischen Texte von Jürgen Habermas sind, ihrem Untertitel zum Trotz, keine bloße Studienausgabe für stu­dierende und preisbewusste neulingsleser. Was der suhrkamp Verlag mit dieser sammlung anbietet, ist ein unentbehrliches mittel zum Verständnis des lebenswerks einer der Haupt­figuren der zeitgenössischen Philosophie. Obwohl so gut wie alle der 46 darin versammelten Texte – Aufsätze und Interviews – schon vorher veröffentlicht worden sind, hat Habermas sie in der Absicht ausgewählt, diese bände an die stelle von fünf philosophischen büchern treten zu lassen, die er hätte schreiben können, vielleicht schreiben sollen, aber nie tatsächlich geschrieben hat. „ich habe“, bemerkt er im Vorwort (7), „zu wichtigen Themen, auf die sich meine im engeren sinne philosophischen interessen richten, keine bücher verfaßt […]. Die­ser merkwürdige Umstand wird mir selbst erst aus der retrospektive bewußt.“1

gemeint sind die Themen, nach denen die fünf bände organisiert sind: die sprachtheore­tische grundlegung der soziologie, die rationalitäts­ und sprachtheorie, die Diskursethik, die politische Theorie und die Kritik der Vernunft. Diese Themen bilden die verschiedenen bereiche, in denen Habermas seine bahnbrechende, erst seit Anfang der 1970er Jahre gestalt annehmende Kommunikationstheorie entwickelt hat. in der Tat sind nur Texte der letzten vierzig Jahre aufgenommen. Daher die bedeutung der gegenwärtigen Ausgabe, die verstreute schriften zusammenbringt, in denen Habermas die Fundamente dieses neuen Ansatzes nicht nebenbei, wie in seinen monographien, sondern direkt und ausführlich behandelt. Wer sich über die kommunikationstheoretische Auffassung einiger der großen Probleme der philoso­phischen Tradition – subjektivität, Wahrheit, moral, Demokratie und Vernunft – oder über den genaueren Inhalt einiger der zu dieser Theorie gehörenden Schlüsselbegriffe – kommuni­katives Handeln, Universalpragmatik, Diskursethik, gleichursprünglichkeit von Volkssouve­ränität und individuellen rechten, nachmetaphysisches Denken – klarwerden will, der wird jetzt wissen, wohin er sich wenden muss. Außerdem enthält diese Sammlung doch auch fünf bisher unveröffentlichte Texte. Denn jedem der bände hat Habermas eine eigene einleitung von ungefähr 25 seiten vorangestellt,

1 mit Ausnahme der Hinweise auf das gemeinsame Vorwort beziehen sich die Angaben im Folgenden auf die jeweilige bandnummer, gefolgt von der seitenzahl.

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in der er nicht nur den entstehungskontext der Aufsätze, sondern auch deren wesentliche Argumentationslinien kommentiert. Die einleitungen bilden für sich eine wichtige Darstel­lung seiner leitenden Annahmen und überzeugungen. man wird darin nicht so etwas wie eine ungeschriebene lehre entdecken. Aber die ungeschriebenen bücher philosophischer Theorie, die die reinen Philosophen unter seinen Lesern sicher vermisst haben, finden in dieser Studien­ausgabe eine Art von substitut. offenkundig bietet ihr erscheinen die gelegenheit, bilanz zu ziehen und den grundcha­rakter des Habermasschen Denkens zu beurteilen. Das ist das Ziel der folgenden rezension, die sich größtenteils auf die Einleitungen bezieht, da sie die neuen Elemente im Dossier ausmachen. Als Ausgangspunkt wähle ich eine Frage, die sich unmittelbar aus den vorher­gehenden bemerkungen ergibt: Warum hat Habermas, wie er mehr oder weniger einräumt, kein im strengen sinne philosophisches buch zu den grundlagen seiner Kommunikations­theorie verfasst? ich meine natürlich nicht, dass Habermas sich geweigert hat, seine philoso­phischen Positionen darzulegen. Das gegenteil beweisen zahlreiche Texte in dieser studien­ausgabe. Aber warum haben diese Ausführungen nie buchform erreicht, gerade wenn es sein Vorhaben gewesen ist, eine revolution in der Philosophie herbeizuführen? Die scheinbaren Ausnahmen beseitigen das rätsel nicht. man nehme die Theorie des kom-munikativen Handelns (1981), deren Titel gerade eine philosophische Darstellung des neuen Paradigmas erwarten lassen dürfte. sie bemüht sich eher darum, eine Kritik der modernen soziologischen Theorie mithilfe des begriffs des kommunikativen Handelns zu entwickeln, als den begriff selber systematisch zu fundieren. Der philosophische Diskurs der Moderne (1986) ist ebenfalls eine Anwendung des neuen begriffsrahmens, diesmal eine Kritik der angeblichen Aporien, in die einige der großen Philosophen der letzten zwei Jahrhunderte wegen ihrer traditionellen subjekt­zentrierten „bewusstseinsphilosophie“ geraten sind; die basis dieser Kritik, die intersubjektive Theorie des selbst, die aus dem leitbegriff des kom­munikativen Handelns folgen soll, wird darin nur kurz erläutert. schließlich geht Faktizität und Geltung (1992) ausführlich nur auf die politischen and rechtlichen Konsequenzen des Paradigmas ein. Die anderen bestandteile des Paradigmas, etwa die „Diskursethik“ und die „nachmetaphysiche“ Auffassung der Vernunft, die den Argumenten des buches zu grunde liegen, werden darin nur beiläufig behandelt. Warum also haben wir aus Habermas’ Hand keine große Abhandlung zur philosophischen begründung der Kommunikationstheorie? Zeigt uns das etwas über die Vorstellung, die er sich von der Philosophie macht? Man könnte erwidern, das Fehlen eines solchen Buches sei reiner Zufall oder einfach der Ausdruck einer heutigen neigung der Philosophen, den essay als Publikationseinheit vor­zuziehen. besonders in der englischsprachigen Welt, deren intellektuelle sitten Habermas sich in so vielen Hinsichten zu eigen gemacht hat, gibt es Philosophen, und zwar unter den berühmtesten und systematischsten (man denke nur an Donald Davidson), die nie ein eigen­ständiges buch geschrieben, sondern ihre einzelnen Aufsätze in Aufsatzsammlungen verei­nigt haben, was eben auch für einige der in dieser studienausgabe enthaltenen Texte gilt. es ginge dann um ein relativ triviales Phänomen. Das mag so sein. ich hege aber den Verdacht, dass etwas bedeutsames dahinter steht. Erstens hat Habermas, im Gegensatz zu den angesprochenen Philosophen, nicht gezögert, andersartige Bücher in den letzten 40 Jahren zu veröffentlichen. Und zweitens weisen die ergänzungen zur studienausgabe oft darauf hin, dass das Fehlen eines selbständigen philoso­phischen buches zur Kommunikationstheorie sehr wohl von seiner Auffassung der Philoso­phie herrühren konnte. „meine Themenwahl und meine Arbeitsweise“, bemerkt Habermas im Vorwort, „haben mich zu vielfältigen Kontakten mit einzelwissenschaften angeregt. […] Die

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Lösungsbedürftigkeit hartnäckiger philosophischer Probleme hat sich oft erst im Zusammen­hang anderer, materialreicher studien aufgedrängt.“ (7) in der Tat, wie die darauffolgenden einleitungen bezeugen, ist Habermas sowohl vor als auch nach seiner kommunikationstheo­retischen Wende immer der meinung gewesen, dass die Philosophie sich als stark angewie­sen auf außerphilosophische materialien verstehen sollte. Vielleicht ist es ihm deshalb nie sinnvoll erschienen, eine große philosophische grundlegung seines Paradigmenwechsels zu versuchen. Jedenfalls ist die Hauptsache nicht so sehr das Fehlen eines buches, sondern sein Philosophiebegriff selber, dessen genauerer Erörterung ich mich jetzt zuwende. in der einleitung zum fünften band (Kritik der Vernunft) setzt Habermas mit einer allge­meinen Definition ein: Philosophie hat es mit „normativen Fragen der Selbstverständigung“ zu tun, deren bedeutung „für uns in unserem menschlichen Dasein überhaupt relevant ist“ (V: 11). Das ist keine ungewöhnliche Kennzeichnung. Seit jeher gilt Philosophie als der Versuch, uns über unsere grundbeziehungen zur Welt, zu anderen und zu uns selber aufzuklären, damit wir die Hindernisse überwinden, die es verbieten, im einklang mit unserem Wesen zu leben. Das lehrreiche an diesem Text ist eher seine erklärung der verschiedenen Weisen, auf die Habermas im Laufe der Zeit die philosophische Reflexion konkreter bestimmt hat. Als mitglied der „skeptischen generation“ empfand er in der nachkriegszeit eine gewisse Abscheu vor den elitären seiten der deutschen Philosophietradition und ihren Prätentionen, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu besitzen. sich die Aufklärungsideale von ega­litarismus und expliziter Argumentation zu eigen machend, wies er der Philosophie die Auf­gabe zu, die Selbsttäuschungen aufzulösen, die eine Verwirklichung der Vernunft im gesell­schaftlichen leben blockieren. Während der 1950er und ­60er Jahre schien ihm Philosophie deshalb in Ideologiekritik aufzugehen (V: 14). Diese Gleichsetzung von Philosophie und Ideologiekritik erwies sich aber als unhaltbar, sobald Habermas anfing, seinen Begriff des kommunikativen Handelns auszuarbeiten. Die philosophische Reflexion musste nun nicht nur Kritik, sondern auch rationale nachkonstruktion umfassen. Denn jetzt galt es, das implizite Wissen zu explizieren, mit dem sprachlich interagierende subjekte verschiedenartige gel­tungsansprüche erheben, anerkennen und eventuell in Frage stellen. beachtenswert sind nun die beweggründe, die Habermas für diese allerwichtigste Wende in seinem philosophischen Denken anführt. seiner schilderung nach handelte es sich darum, eine Krise in dem Abhängigkeitsverhältnis zu überwinden, in dem ihm die Philosophie gegenüber der gesellschaftstheorie zu stehen schien – eine Krise, die ihn zwang, nicht dieses Verhältnis selber in Frage zu stellen, sondern die grundlagen der gesellschaftstheorie zu revidieren. Die situation war die folgende. ideologiekritik muss sich auf normative maßstäbe berufen, aber die hegelmarxistische Tradition, der er damals im gefolge der früheren kritischen Theorie nahe stand, blieb in den „Denkfiguren der Bewußtseinsphilosophie“ gefangen. Sie suchte sol­che maßstäbe im bildungsprozess des geistes oder der gattungsgeschichte der menschheit, sodass „an die stelle von intersubjektiv geteilten lebenswelten subjekte im großformat tre­ten“ (V: 13). Allein, so Habermas’ schlussfolgerung, wenn man die soziale Welt neu auffasse, als durch kommunikative, das heißt symmetrisch verständigungsorientierte Handlungen kon­stituiert, könne man die normative Basis der Ideologiekritik sicherstellen. es lohnt sich, diesen gedankengang etwas weiter zu erläutern. „bewusstseinsphilosophie“ soll die neuzeitliche Tradition bezeichnen, nach der das Wesen des subjekts darin besteht, auf grund seiner beziehung zu den eigenen Vorstellungen eine ihm gegenüberstehende Welt intel­lektuell und praktisch zu meistern. solange man von diesem subjekt­objekt­modell ausgeht, kann man Habermas zufolge nicht umhin, wie Horkheimer und Adorno selber eine verkürzte instrumentelle Auffassung der Vernunft zu unterstellen, als ob diese wesentlich dazu diente, dem Individuum oder der Menschengattung die Beherrschung ihrer Umwelt zu ermöglichen.

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Damit verliere man die moralischen grundlagen der ideologiekritik aus den Augen. Der Aus­weg soll in der „intersubjektivitätstheoretischen“ einsicht liegen, dass das subjekt in keine Beziehung zur Welt treten könne, ohne an sprachlich vermittelten Interaktionsweisen teilzu­nehmen und ohne darum implizit anzunehmen, dass das, was es tut, anderen subjekten gegen­über prinzipiell vertretbar sein muss. All unser Denken und Handeln schließe einen Anspruch auf geltung ein, dessen charakter zeige, dass die Vernunft in ihrem Wesen „kommunikativ“ sei. Auf dieser basis lasse sich dann einsehen, daran erinnert Habermas in der einleitung zum dritten Band (III: 16 f.), wie die Vernunft im Stande sein könne, eine Begründung des mora­lischen gesichtspunktes zu liefern. Denn das grundprinzip der moral, das „Prinzip U“ seiner Diskursethik, besage, dass gerechtes Handeln ein allen betroffenen gegenüber gerechtfertig­tes Handeln ist. gegen ende werde ich auf dieses zentrale Thema zurückkommen. Jetzt gilt es zu betonen, dass die philosophische neuorientierung nur infolge des Abhängigkeitsverhältnisses statt­fand, das Habermas zwischen Philosophie und gesellschaftstheorie annahm. Das wird durch die ähnlich gelagerte Darstellung in der einleitung zum ersten band bestätigt. Wenn es ihm darauf ankam, der „Begrifflichkeit der Subjektphilosophie“ zu entkommen, dann hauptsäch­lich deshalb, weil „ich nun einen schlüssel zu grundfragen der gesellschaftstheorie in der Hand [hielt]“ (i: 16 f.). Kein Wunder, dass sich seine Theorie des kommunikativen Handelns mehr mit soziologischer Theorie als mit Philosophie beschäftigt. Wie Habermas in seinem Vorwort bemerkt, ist er daran gewöhnt, philosophische Probleme – und seien sie unter den tiefgreifendsten, die es gibt – aus dem blickwinkel eines interesses an „materialreichen stu­dien“, und besonders an sozialwissenschaftlichen, anzupacken. Dieser Hang genügt aber nicht, um zu klären, warum Habermas keine notwendigkeit gesehen hat, ein systematisches philosophisches Werk zur grundlegung seiner Kommuni­kationstheorie zu schreiben. Denn wo man anfängt, braucht man natürlich nicht auch zu enden. Wir müssen deshalb einige weitere Züge seines Philosophiebegriffs ins spiel bringen. Zunächst gilt es zu bemerken, dass die Philosophie seines erachtens nicht allein mit einer intimen beziehung zu den Wissenschaften zufrieden sein kann. obwohl der begriffsrahmen des kommunikativen Handelns eingeführt wurde, um die ideologiekritische Funktion der gesellschaftstheorie zu sichern, erfordert er, das intuitive Wissen von geltungsansprüchen zu explizieren, das es sprach­ und handlungsfähigen subjekten gestattet, sich miteinander zu verständigen. Daher muss die Philosophie auch in einer besonderen „nähe zum common sense“ (V: 16) oder, wie Habermas gewöhnlich sagt, zur „Lebenswelt“ stehen. Diese doppelte Abhängigkeit von Wissenschaft und lebenswelt spielt eine wichtige rolle in Habermas’ sichtweise der heutigen situation der Philosophie. Darin spiegelt sich seine Diagnose der moderne. ihm zufolge lehrt uns die gesellschaftstheorie, dass sich die moderne Welt durch die entstehung relativ autonomer und spezialisierter sozialsysteme gebildet hat. Die verschiedenen Arten von geltungsansprüchen, die wir im Alltagsleben erheben, anerken­nen und eventuell diskutieren – dass das gesagte wahr, richtig oder wahrhaftig gemeint ist –, und die entsprechenden Arten von Rationalität – dass eine Handlung effizient, angemessen oder expressiv ist – haben sich in unterschiedliche gesellschaftsbereiche ausdifferenziert und lassen sich dort reflexiv bearbeiten, nämlich in Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Kunst. Das ist Habermas’ Version der Weberschen Theorie des modernen rationalisierungsprozesses. Und wie schon Weber sieht auch er in diesem Prozess nicht nur Fortschritt, sondern auch eine gefahr. Jene sozialsysteme, die sich auf zweckrationale Aufgaben spezialisiert haben, zeigen die Tendenz, dem Alltagsleben die exklusivität ihrer eigenen maßstäbe aufzudrängen und dessen andere rationalitätsformen, besonders die moralische, durch ihre medien geld und macht zu unterdrücken. Daher obliege es der Philosophie, die übel dieser „Kolonialisierung

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der Lebenswelt“ aufzudecken, was sie allerdings nur tun könne, wenn sie, wie bereits hervor­gehoben, Kritik mit Nachkonstruktion verbinde und die kommunikativen Vermögen sprach­ und handlungsfähiger subjekte richtig analysiere. „Die Arbeit der Philosophie“, behauptet Habermas, „[besteht] heute wesentlich in der explikation allgemeiner Kompetenzen sowie in der Reflexion auf den Eigensinn der ausdifferenzierten Gestalten der Kultur“ (V: 23). Damit sind wir in der lage, ein letztes und entscheidendes element hinzuzufügen. es ist Habermas’ überzeugung, dass die Philosophie nicht berechtigt sei, weiterzugehen und, auf grund ihrer zwei lateralen beziehungen zu Wissenschaft und lebenswelt, aber sozusagen orthogonal dazu, einen eigenen Weg zum erfassen der Wirklichkeit einzuschlagen. in der Vergangenheit habe sie ein solches recht beansprucht. Jetzt sei es damit vorbei. Vernunft, erklärt er, könne heute nur „nachmetaphysich“ sein. Um zu begreifen, was das heißt, nehmen wir als beispiel Platon, dessen Vorgehen richtungsweisend für die philosophische Tradition war. Auch Platon sah sich als Philosoph auf Wissenschaft und lebenswelt angewiesen. im nachdenken über die fortgeschrittensten Wissenschaften seiner Zeit (hauptsächlich die geo­metrie) sowie über die alltägliche rede von „etwas wissen“ und „tugendhaft sein“ sah er sich jedoch dazu genötigt, seine Ideenlehre zu entwickeln. Auf diese Weise verfuhr im Allgemei­nen, was später „metaphysik“ genannt wurde: man zog den gegenwärtigen stand der Wis­senschaften zusammen mit den wesentlichen Annahmen des täglichen lebens in betracht, um eine umfassende Theorie von Geist und Welt auszuarbeiten, die deren Konflikte regelt und ihre Voraussetzungen und Konsequenzen durchdenkt. nun hat Habermas zufolge die metaphysik ihren sinn verloren. Wir haben gelernt, behauptet der Aufsatz Motive nachmetaphysischen Denkens von 1988, dass die Vernunft – fallibel, geschichtlich situiert und durch sprache bedingt – nur noch Verfahrensrationalität bedeuten dürfe. Daher könne es keinen Grund mehr geben, über die Wissenschaften und die lebenswelt hinauszugehen, um ein übergreifendes bild des ganzen zu entwerfen. stattdessen müsse sich die Philosophie darauf konzentrieren, die Verfahren des wissenschaftlichen und moralischen Denkens, und das heißt auch die ihnen zu Grunde liegenden Vermögen sprach­ und handlungsfähiger subjekte, darzulegen und deren integrität gegen missverständnisse zu sichern. Wegen dieser wesentlichen „nachträglichkeit“ (V: 16) sei sie nur dann berechtigt, den gegenwärtigen stand der Wissenschaften zu transzendieren, wenn es darauf ankommt, sich der lebenswelt zuzuwenden. Das passiere etwa, wenn angesichts des Auftretens szi­entistischer reduktionismen der sinn der Wahrheits­ und richtigkeitsansprüche, die aller menschlichen Kommunikation innewohnen, aufrechterhalten werden müsse. Der Philoso­phie, behauptet Habermas (V: 77 f., 164, 187), bleibe heute nur noch eine „Vermittlungs“­Funktion zwischen expertenwissen und Alltagspraxis. Es ist, vermute ich, diese deflationäre Auffassung, die Habermas davon abgehalten hat, ein großes systematisches Werk zur grundlegung seiner Kommunikationstheorie zu verfas­sen. Wie könnte, so vielleicht seine Überlegung, eine solche philosophische Grundlegung aussehen, wenn die alten Ambitionen der metaphysik obsolet geworden sind? Die von Haber­mas vertretene Auffassung selber ist jedenfalls ziemlich klar. Das geschäft der Philosophie soll darin bestehen, sich mit den Praktiken umgangssprachlicher Kommunikation zu befas­sen – ihre verschiedenartigen geltungsansprüche zu explizieren, ihre Kernbegriffe wie Wahr­heit und normative richtigkeit zu bestimmen und aus dieser sicht die natur und Ziele der menschlichen erkenntnis und der moral zu verdeutlichen. Das sind die Themen seiner phi­losophischen Aufsätze, wenn sie nicht damit beschäftigt sind, seinen „nachmetaphysischen“ Ansatz zu verteidigen. Dass man sich diese kommunikativen Praktiken in ihren letzten impli­kationen nicht verständlich machen kann, ohne noch tiefer als sie selber in die natur des Subjekts oder sogar der Welt einzudringen – diese Möglichkeit nimmt Habermas nicht ernst.

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seiner meinung nach kommt es nicht der Philosophie, sondern allein den Wissenschaften und unserem lebensweltlichen selbstverständnis zu, ontologische Fragen zu regeln. Wie schon deutlich geworden ist, finde ich dieses nachmetaphysische Programm höchst fragwürdig. Dass die Vernunft fallibel und von geschichte und sprache abhängig ist, ändert nichts an der Möglichkeit, ja an der Notwendigkeit, metaphysische Theorien zu entwickeln, um mit gewissen Problemen fertigzuwerden. Andere haben ähnliche bedenken geäußert. ich werde meinerseits drei solcher metaphysischen Probleme skizzieren, zu denen Habermas’ belange selber hinführen. Habermas neigt dazu, die „lebenswelt“ als ein harmonisches ganzes anzusehen, des­sen verschiedene konstitutive interessen – Wahrheiten festzustellen, sich nach normen zu verhalten, sich wahrhaftig auszudrücken – eine einheit bilden, und zwar eine einheit, die die Metaphysik dann irrigerweise in der Welt selbst widerspiegelt finden wollte. „Das Ver­hältnis zur lebenswelt“, schreibt er in der einleitung zum fünften band, „sichert noch dem nachmetaphyischen Denken einen bezug zum ganzen, wenn auch nicht mehr zum hyposta­sierten seienden im ganzen, so doch zum vortheoretisch gegebenen Kontext des ganzen unserer historischen, sozialen und kulturellen Umwelt.“ (V: 17) Aber das, was Habermas die Lebenswelt nennt, ist in Wirklichkeit die Quelle tiefgehender Konflikte, die den Anlass zu metaphysischen spekulationen gegeben haben. Hier nur ein beispiel: Wenn wir handeln und, wie Habermas sagt, implizit unterstellen, dass unsere Handlung gerechtfertigt ist, gehen wir davon aus, dass es an uns liegt, wie wir tatsächlich handeln, denn sonst hätte die Vorstellung einer Verantwortlichkeit gegenüber gründen keinen sinn. Wenn wir jedoch unsere Hand­lung als den gegenstand wahrer oder falscher behauptungen ansehen, muss sie einen Platz zusammen mit allen anderen beobachtbaren ereignissen in der kausalen ordnung der natur einnehmen. Und dadurch scheint unser Freiheitsgefühl unterminiert zu werden. Das klassische Problem von „Freiheit und Determinismus“ hat Habermas nun in einigen kürzlich erschienenen Aufsätzen aufgegriffen; einer davon – Das Sprachspiel verantwort-licher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit (2006) – ist in dieser studienaus­gabe enthalten. instruktiv aber ist die Weise, wie er das Problem angeht. seiner Ansicht nach entsteht es aus einem szientistischen missverständnis der naturwissenschaften: man habe vergessen, dass jede Wissenschaft in derselben lebenswelt umgangssprachlicher Kommu­nikation wie unsere selbstauffassung als frei entscheidende Wesen verwurzelt ist und des­halb letztere nicht in Frage stellen kann. „Die beiden Wissensperspektiven des beobachters und des Teilnehmers lassen sich auf ‚Weltperspektiven‘ zurückführen, die gleichursprünglich in unserer Form der sprachlichen Kommunikation verankert sind.“ (V: 321 f.) Das Problem lässt sich jedoch nicht auf einen angeblichen Konflikt zwischen Wissenschaft und Lebenswelt reduzieren. Es entspringt vielmehr gegenläufigen Tendenzen der Lebenswelt selber. Wenn wir handeln, kombinieren wir sicherlich beobachter­ und Teilnehmerperspektiven in dem maße, dass wir uns unsere Umstände und interessen vorstellen müssen, um dann zu bestimmen, wie wir handeln sollten. Aber wir werden dann nur bis zu diesem grad beobachter unserer selbst. Denn je mehr wir uns von außen betrachten und die mannigfachen Weisen berücksichtigen, in denen unser Denken notwendig von Faktoren abhängt, über die wir keine Kontrolle haben, desto schwächer wird das gefühl, dass wir in unseren Handlungen wirklich frei sind. Kurz, die Lebenswelt ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Weil die Wissenschaften den Konflikt nur verschärfen, haben wir in diesem Fall keine andere Alternative, als über beide instanzen hinauszugehen und auf der suche nach einer umfassenderen Auffassung von geist und Welt in die richtung der metaphysik zu steuern – sei es unseren Freiheitsbegriff zu revidieren oder sogar aufzugeben, sei es das naturalistische Weltbild selbst zu verwerfen.

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Das zweite metaphysische Problem betrifft die natur von gründen. Unser Umgang mit der Welt, sagt Habermas, orientiert sich immer an den verschiedenen geltungsansprüchen, die wir in allen unseren Äußerungen und Handlungen erheben müssen. Wir gehen davon aus, dass wir intersubjektiv teilbare gründe haben für das, was wir tun. Was aber sind eigentlich gründe? Zu dieser Frage äußert sich Habermas eher lakonisch. er sagt uns, was sie nicht sind – „nun sind gründe sowenig ein privater besitz wie die sprache selbst“ – und wie sie zu überprüfen sind – „ob gründe gut oder schlecht sind, stellt sich in kontroversen Fällen nur auf dem Forum eines geregelten Austauschs von Argumenten heraus“ (ii: 17). Was sind sie aber als solche? es ist nicht erstaunlich, dass Habermas nicht geneigt ist, dieser ontologischen Frage nachzugehen. seiner Auffassung nach soll sich die Philosophie an die ebene unserer kommunikativen Praktiken halten, und was es zusätzlich dazu in der Welt gibt, soll den erfah­rungswissenschaften überlassen werden. nun benutzt Habermas oft, wenn er von gründen spricht, etwa an der eben zitierten stelle der zweiten Einleitung, eine schöne Formel, die gerade zeigt, dass man es nicht dabei bewenden lassen kann: „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“. Wenn man die implikationen dieser Formel bis zu ende denkt, was Habermas selber nie tut, wird man auf metaphysischem Terrain stehen. Wie die Formel andeutet, können uns Gründe, wenn wir sie anerkennen, dazu zwingen, entsprechend zu denken oder zu handeln. Dieses Zwingen ist sicher kein bloß kau­sales bewirken, weil es durch unsere Vernunft, das heißt durch unsere Anerkennung der gül­tigkeit der gründe, vermittelt und daher „zwanglos“ geschieht. Das ändert nichts daran, dass gründe eine Wirklichkeit konstituieren, gegenüber der wir uns verantwortlich verhalten müs­sen, die aber offensichtlich nicht dem Bereich der Wissenschaften angehört. Denn Gründe sind normativer natur: „A hat einen grund, x zu tun“ bedeutet dasselbe wie „A sollte x tun, wenn es keine dagegen sprechenden gründe gibt“. sie sind daher weder mit physischen sach­verhalten noch mit psychologischen Zuständen gleichzusetzen, die zusammen den gegen­standsbereich der Wissenschaften ausmachen. streng genommen sind als solche weder die Kälte noch der Wunsch, warm zu bleiben, gründe, einen mantel zu tragen. sie zählen als gründe, indem sie den status haben, für eine solche Handlung zu sprechen. gründe bestehen in der normativen beziehung des „sprechens für“, in der empirische Tatsachen zu unseren Denk­ und Handlungsmöglichkeiten stehen. Wie aber ist diese normative Wirklichkeit von Gründen zu verstehen? Wir können von gründen gezwungen werden. sie sind etwas, das wir zu entdecken versuchen und über das wir wahre oder falsche Meinungen haben können. Bedeutet all das nicht, dass die Welt selber, in ihrer Beziehung zu unseren Möglichkeiten, einen normativen Aspekt besitzen muss? Das ist ohne Zweifel eine metaphysische schlussfolgerung, und noch dazu eine, die der verbrei­teten modernen Annahme zuwiderläuft, alle normativität sei menschenwerk in einem nor­mativ stummen Universum. nun scheint Habermas selber, meines erachtens zu recht, jenen pauschalen Konstruktivismus in seiner (leider nicht in die studienausgabe aufgenommenen) Kritik an robert brandom zurückzuweisen: „eine ‚vernünftige‘ normsetzung muß nach Vernunftnormen vorgenommen werden und kann darum nicht ihrerseits das modell für eine erklärung der normativität von Vernunft selbst abgeben.“2 es sieht dann so aus, dass sich Habermas, wenn er nur die eigenen stellungnahmen zu ende verfolgte, jenseits von lebens­welt und Wissenschaft und mitten in der Metaphysik wiederfinden würde.

2 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, 148. Diesem Aspekt seiner Philoso­phie bin ich in meinem beitrag zur Habermas­Festschrift weiter nachgegangen: ch. larmore, Der Zwang des besseren Arguments, in: l. Wingert u. K. günther (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/m. 2001, 106–125.

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ein drittes metaphysisches Problem, das Habermas zu Unrecht abweist, hat mit der natur der subjektivität zu tun. Wie ist das selbstbewusstsein zu begreifen, das zum Wesen der sub­jektivität gehört? Seit Fichte ist klar, dass Selbstbewusstseinstheorien zwei Formen annehmen können, die aber beide Sackgassen zu sein scheinen. Entweder wird versucht, das Phänomen als einen Akt der Reflexion zu erläutern, was in einen Zirkel führt, denn man muss schon mit sich bekannt sein, um den Gegenstand der eigenen Reflexion als sich selbst identifizieren zu können; oder es wird, um diese Paradoxie zu vermeiden, eine prä­reflexive Vertrautheit mit sich selbst postuliert, deren charakter jedoch nur rätselhaft erscheint. nun ist Habermas der meinung, dass dieses Problem bloß ein symptom der modernen „subjektphilosophie“ ist, die dem subjekt eine konstitutive beziehung zu sich selber allein zuschreibt, um darin die grundlage seines Umgangs mit allen anderen gegenständen und subjekten zu sehen. im Aufsatz Metaphysik nach Kant ver­sichert er, dass „das Fichtesche Ausgangsproblem durch einen Wechsel des Paradigmas gegen­standlos wird“ (V: 172 f.). Dem Kommunikationsparadigma zufolge muss das subjekt zuerst in einer sprachlich vermittelten beziehung zu anderen subjekten stehen, um überhaupt denk­ und handlungsfähig zu sein. Folglich bemüht sich Habermas, die beziehung des subjekts zu sich sel­ber auf der basis intersubjektiver Verhältnisse zu erklären – nämlich als die internalisierung der einstellungen anderer zur eigenen Person. sein modell ist die sozialpsychologie george Herbert meads, die das selbstbewusstsein zum gegenstand einer erfahrungswissenschaft machen will. in einem Aufsatz zu mead fasst Habermas seine Position wie folgt zusammen: „selbstbewußt­sein bildet sich über die symbolisch vermittelte beziehung zu einem interaktionspartner auf dem Wege von außen nach innen. insofern besitzt es einen intersubjektiven Kern.“ (i: 276) Die grenzen dieses Ansatzes sind jedoch offensichtlich. Wie kann ein subjekt die ein­stellungen anderer übernehmen, ohne schon eine tieferliegende beziehung zu sich selber zu haben? Denn es muss doch glauben, dass eine solche übernahme die eigenen interes­sen irgendwie fördern würde. Selbstbewusstsein erklärt sich nicht durch Intersubjektivität allein. Darauf haben prominente Habermas­Kritiker wie Dieter Henrich und manfred Frank seit langem bestanden. Das bedeutet nicht, dass Habermas’ Kommunikationstheorie nichts zur Lösung des angedeuteten Problems beitragen kann. Ihre Hauptthese muss jedoch etwas tiefer angelegt und durch eine Dimension erweitert werden, die über den bereich der Wissen­schaften hinausgeht und als „metaphysisch“ gelten muss. In den Geltungsansprüchen, die das Subjekt zwangsläufig in allem seinem Denken und Handeln erhebt, sieht Habermas den Ausdruck von dessen intersubjektiver Konstitution. Aber diese beziehung zu anderen ist von einer ebenso fundamentalen und normativ geregelten Beziehung des Subjekts zu sich selber untrennbar. Denn wenn wir nichts tun können, ohne anzunehmen, dass wir gründe dafür haben, die anderen gegenüber prinzipiell vertretbar sind, dann ist diese Art, uns festzulegen, eine selbstbeziehung, die für uns gleichermaßen konstitu­tiv ist. Was kann es heißen, etwas zu glauben oder zu wünschen, wenn nicht, dass wir dadurch uns verpflichten, so zu denken oder zu handeln, dass, solange nichts dazwischenkommt, wir der vermeintlichen Wahrheit des geglaubten oder der angeblichen Wichtigkeit des gewünsch­ten entsprechen? Das ist, jetzt ohne Zirkel­ oder rätselhaftigkeit, die natur jener selbstbe­ziehung, in der zahlreiche moderne Philosophen den Kern unseres Wesens vermutet haben.3 Hat man einmal das Metaphysikverbot fallengelassen, können Habermas’ eigene Thesen also vertieft werden, um das Problem in den griff zu bekommen. Weder lässt sich subjektivität durch intersubjektivität erklären noch umgekehrt. beide sind gleichursprünglich.

3 Diese Theorie habe ich ausführlicher entwickelt in: Ch. Larmore, Les pratiques du moi, Paris 2004; sowie in: ders., Die normative struktur des selbst, in: r. bubner u. g. Hindrichs (Hg.), Von der Logik zur Sprache, Stuttgart 2007, 498–514.

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Diese einwände besagen nicht, dass Habermas nicht sehr weit, sondern dass er nicht weit genug gegangen ist. Dass die Vernunft als das Vermögen, sich mit anderen über etwas zu verständigen, in allem, was wir tun, vorwegnehmend am Werk ist, gehört zu den großen phi­losophischen einsichten. Die Fruchtbarkeit dieses kommunikativen Ansatzes bestätigt sich ständig in einem Bereich nach dem anderen. Ich bin sicher, dass Habermas’ Einfluss seine vermeintliche überwindung der metaphysik überleben wird.

Darwin und die Folgen

Von Gerhard Vollmer (Braunschweig)

DAViD QUAmmen: cHArles DArWin. Der große Forscher und seine Theorie der evo­lution. Piper Verlag, münchen 2008, 317 s.seAn b. cArroll: Die DArWin­DnA. Wie die neueste Forschung die evolutionstheo­rie bestätigt. s. Fischer Verlag, Frankfurt/m. 2008, 331 s.THomAs JUnKer / sAbine PAUl: Der DArWin­coDe. Die evolution erklärt unser Leben. Verlag C. H. Beck, München 2009, 224 S.UlricH KUTscHerA: TATsAcHe eVolUTion. Was Darwin nicht wissen konnte. Deutscher Taschenbuch Verlag, münchen 2009, 339 s.DArWin. Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, Bd. 4. Diapha­nes Verlag, Zürich / berlin 2008, 200 s.JoHn DUPré: DArWins VermÄcHTnis. Die bedeutung der evolution für die gegen­wart des Menschen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2009, 145 S.eVe­mArie engels (Hg.): cHArles DArWin UnD seine WirKUng. suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2009, 466 S.PHiliP KiTcHer: miT DArWin leben. evolution, intelligent Design und die Zukunft des Glaubens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2009, 224 S.cHrisTiAn KUmmer: Der FAll DArWin. Evolutionstheorie contra Schöpfungsglaube. Pattloch Verlag, münchen 2009, 290 s.mArK isAAK: THe coUnTer­creATionism HAnDbooK. University of california Press, berkeley 2007, xxxii + 331 s.

Wir sind am ende eines Darwin­Jahres. Wir feiern charles Darwin (1809–1882), und zwar gleich doppelt: seinen 200. geburtstag und die 150 Jahre, die seit seinem Hauptwerk Vom Ursprung der Arten verstrichen sind. Zu Darwin gibt es viele „zwar – aber“: er hat die bio­logie revolutioniert, obwohl er kein revolutionär sein wollte. man interessiert sich für sein leben, obwohl es, abgesehen von seiner fünfjährigen Weltumsegelung mit der beagle, nichts Aufregendes bietet. (er ist auch nie wieder gereist.) man ergreift heftig Partei, obwohl er selbst sich meist sehr zurückhielt. es gibt glühende Verehrer, aber auch erbitterte gegner. Viele hal­ten sein buch für eines der wichtigsten überhaupt; manche platzieren es gleich nach der bibel (zum beispiel Kutschera, 11); aber kaum jemand hat es ganz oder auch nur halb gelesen.