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Jean-Claude Wolf

Pantheismus nach der Aufklärung

VERLAG KARL ALBER A

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Ist Pantheismus eine verwerfliche Häresie, die zu Atheismus undMaterialismus führt? Oder die universelle Religion der Zukunft?Beide Fragen lassen sich deshalb nicht bündig beantworten, weil es»den« Pantheismus nicht gibt. Es gibt zahlreiche Spielarten des Pan-theismus. Eine Spurensuche findet sie in den Religionen nach der Auf-klärung, insbesondere bei einer Reihe von europäischen und außer-europäischen Philosophen (Tagore), die den Übergang von KantsKritizismus zu einer neuen Vision auf das Eine und Ganze wagen. Eindynamischer Neospinozismus (Lessing, Herder) inspiriert mehr alseine Generation von Denkern und Dichtern. Um kontroverstheologi-sche Abgrenzungen und weltanschauliche, insbesondere naturalisti-sche Vereinnahmungen zu verhindern, wird ein weiter und offenerBegriff von »Pantheismen« untersucht (Herder, Schleiermacher). AmBeispiel von Hegels Ausführungen zum unglücklichen Bewusstseinwird eine spekulative Variante von Pantheismus dargestellt. DerÜbergang vom Pantheismus zum Atheismus (Feuerbach, Bruno Bauer)ist möglich, aber nicht zwingend. Einige Pantheisten verknüpfen dieautonome (oder »reine« Ethik) mit heteronomen Elementen derAbhängigkeit der Menschen vom Einen und Ganzen. Für eine monis-tische Deutung der Ethik (Schopenhauer) wird die Verschiedenheitunter den Individuen unwichtig. Auch das Interesse von Hegel undSchopenhauer für den Mesmerismus bezeugt eine Annäherung der»Aufklärung über die Aufklärung« an Elemente einer liberalen Welt-frömmigkeit. Der Mesmerismus wird von Emerson erweitert zumGleichnis des Einen und Allen.

Der Autor:

Jean-Claude Wolf ist Ordinarius für Ethik und politische Philosophiein Fribourg in der Schweiz. Bereits bei Alber erschienen: Verhütungoder Vergeltung? Einführung in ethische Straftheorien (1992); JohnStuart Mills »Utilitarismus«. Ein kritischer Kommentar (2. Auflage2012); gemeinsam mit Peter Schaber: Analytische Moralphilosophie(1998).

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Jean-Claude Wolf

Pantheismusnach derAufklärung

Religion zwischenHäresie und Poesie

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Umschlagmotiv: Samuel Buri, Aus Kosmos: Galaxie 1989© VG Bild-Kunst, Bonn 2012Photographie des Umschlagmotivs: Christian BaurSatz: SatzWeise, FöhrenHerstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48584-2

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Vorwort

Meine ersten Entwürfe zum Thema Pantheismus verdanken sich vie-len Einflüssen, die – halb bewusst, halb unbewusst – in meine Problem-skizze eingeflossen sind. Erste Anregungen gehen auf Walter RobertCorti und Guido Schmidlin in Winterthur zurück. Ihrem Andenkensind die folgenden Kapitel gewidmet.

Der vorliegende Text wurde in den Jahren 2011 und 2012 verfasst.Verschiedene Personen haben sich zu ersten Entwürfen geäußert: Mar-tin Bondeli, Andreas Graeser, Anita Gröli, Barbara Hallensleben,Florian Häubi, Hans Peter Lichtenberger, Thomas Regehly, MarietteSchaeren, Adrian Schenker, Thomas Schindler und Helmut Zander.Catherine Buchmüller-Codoni hat überdies das ganze Manuskriptsorgfältig lektoriert. Wohlwollendes Entgegenkommen, verbundenmit wertvollen redaktionellen Hinweisen habe ich von Lukas Trabertvom Alber Verlag erfahren. Zahlreiche Kommentare von Genanntenund Ungenannten haben mich zu Änderungen und Zusätzen angeregt;allen Ansprüchen konnte ich nicht genügen. Für eventuelle Irrtümerund Fehler der Darstellung bin ich selber verantwortlich. Bei den hiererwähnten und bei allen Personen, die an meinen Vorlesungen undSeminaren teilgenommen haben, möchte ich mich bedanken.

Ich vermeide im Text die Rede von »dem« Pantheismus und lasseden bestimmten Artikel meist weg. »Der« Pantheismus als homogeneDoktrin wird entsprechend immer in Anführungszeichen gesetzt, umzu signalisieren, dass es sich dabei meist um einen Kampfbegriff han-delt, nicht um eine neutrale Bezeichnung. Auf die Formulierung »Pan-theistinnen« wurde aus stilistischen Gründen verzichtet, aber ich habenicht die Absicht, Frauen auszuschließen.

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Zitate

»Wohin ich mich auch wende,Da ist kein Ort, wo du nicht bist,Du wohnst in allen Wesen,und strahlst doch über alle hinaus.«(Hinduistisches Gebet)

»Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch be-griffen werden.« (Spinoza, Ethica I, prop. XV)

»Für mich ist die Gewissheit eines ethischen Weltwillens absolut undsicher darin gegeben, dass er sich in mir gestaltet und erlebt. Ich sehemeine Philosophie als ethisch gewordenen Pantheismus, als die not-wendige Synthese von Theismus und Pantheismus.« (Albert Schweit-zer, aus einem Brief vom 30. Januar 1927 an Oskar Kraus)

»Jene heilige Einheit nun, worin Gott ungetrennt mit der Natur ist,und die im Leben zwar als Schicksal erprobt wird, in unmittelbarer,übersinnlicher Anschauung zu erkennen, ist die Weihe zur höchstenSeligkeit, die allein in der Betrachtung des Allervollkommensten ge-funden wird.« (Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürli-che Prinzip der Dinge, 101)

»Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlichMonotheisten.« (J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, 807)

»[…] nur im Pantheismus ist Gott ganz, überall in jedem Einzelnen.«(Novalis, Blüthenstaub)

»Und man erkenne, dass in der Demuth und Niedrigkeit die grössesteKraft und Tugend samt den Wundern liegen; und wie Gott allen Din-gen so nahe sey, und Ihn doch kein Ding begreiffet, es stehe Ihm dannstill, und ergebe den eigenen Willen, so wircket Er durch alles, gleich-wie die Sonne durch die gantze Welt.« (Jacob Böhme, MysteriumMagnum, XVII, 43)

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Erster TeilPantheismus – eine sanft vereinnahmende Visionvon Gottes Allgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.1 Pantheismus, Einsfühlung, Teil und Ganzes . . . . . . . 15

1.2 Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.3 Endlich, unendlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

1.4 Allgegenwart und Allmacht . . . . . . . . . . . . . . . 26

1.5 Pantheismus als Vision und praktische Orientierung . . . 30

1.6 Alter Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

1.7 Konkreter Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1.8 Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

1.9 Erkennbarkeit Gottes im Bild der guten Eltern . . . . . . 48

1.10 Toleranz und Trost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Literatur zur Einleitung und zum ersten Teil . . . . . . . . . . 74

Zweiter TeilHegels Diagnose des unglücklichen Bewusstseinsals unbewusster Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

2.2 Das unglückliche Bewusstsein als unbewussterPantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

2.3 Weitere Stellen bei Hegel und neuere Kommentare . . . 97

2.4 Pantheismus und Selbsterlösung . . . . . . . . . . . . . 102

2.5 Das Umschlagen des unglücklichen Bewusstseins inAtheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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2.6 Der Kommentar von Jean Wahl . . . . . . . . . . . . . . 111

Literatur zum zweiten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Dritter TeilAusblicke auf eine heteronome Alltagsmoral . . . . . . . . . . . 117

3.1 Autonome Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

3.2 Heteronome Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

3.3 Die Rechtsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

3.4 Schopenhauers Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

3.5 Heteronome Alltagsmoral . . . . . . . . . . . . . . . . 151

3.6 Heteronomie und Hedonismus der Alltagsmoral . . . . . 158

3.7 Pantheismus und Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . 163

Literatur zum dritten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

Vierter TeilHegel und der animalische Magnetismus . . . . . . . . . . . . . 171

Literatur zum vierten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Nachgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Inhalt

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Einleitung

Pantheismus ist – im Unterschied zu Mystik – gegenwärtig kein aka-demisches Modethema. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat Eduard vonHartmann einen Pantheismus als neue und universelle Kunstreligionausformuliert; doch hinter der scheinbar sachlichen Formulierung ver-bergen sich der Eifer des Kulturkampfes und die Vorgeschichte einerhitzigen Verfolgungskampagne, mit der die Orthodoxie nach HegelsTod und seit dem Vormärz in Deutschland und in der Schweiz1 gegendie »Drachensaat des Hegelschen Pantheismus« mobilisierte. Die Zei-ten, in denen Enzyklopädisten wie Saint-Simon, Comte und von Hart-mann fast zu postchristlichen Religionsstiftern wurden, sind vorbei.Gleichwohl sind pantheistische »Visionen« in vielen Religionen anzu-treffen. Moden können sich übrigens schnell ändern. Varianten oderMomente von (nicht-affektiver) Mystik und Pantheismus finden sichzuweilen bei ihren heftigsten Kritikern wie z. B. Karl Barth und EmilBrunner. Vielleicht wird es bald »in« sein, pantheistische Visionen wis-senschaftlich und philosophisch zu erforschen. Pantheisten haben sichauf dem Internet bereits global vernetzt und organisiert. Es scheint, alsseien pantheistische Elemente im Zeitgeist und in der zeitgenössischenKunst anzutreffen. Diese Indizien regen zu einer Spurensuche an, diemit einer Vielfalt von Ausprägungen, Praktiken und Formulierungenrechnet.

Anregungsquelle eines Pantheismus ist mystische Erfahrung.

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1 Der sog. »Zeller-Handel«, ein Streit um die Berufung von Eduard Zeller von 1847 andie Universität Bern, treibt seltsame Blüten wie z.B. die Streitschrift von Romang 1848.Die 277 Seiten lange Schrift wiederholt genüsslich das Votum des LandammannsBlösch: »das Leugnen Gottes ist seinem innersten Wesen nach anarchisch; das Leugnender Unsterblichkeit nothwendig communistisch« (168, 172), auch wenn der Autormeint, ein »Kommunismus der Entsagung« sei mit dem christlichen Glauben vereinbar,aber nicht ein Kommunismus der Überheblichkeit und Begierde. (Vgl. 175) Ordnungs-politische Zuordnung dieser Art werden heute kaum mehr vorgenommen.

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Neuere Philosophen von Schopenhauer bis Bergson, die sich mit derMystik beschäftigten, haben betont, dass der Philosoph (oder die Phi-losophin) selber nicht Mystiker ist. Ein Mystiker gibt sich Gott hin undversucht, den Weg der Hingabe (oder der Verneinung des Egoismus) biszum Ende zu gehen. Der Philosoph achtet auf die Reden der Mystiker.Er geht ein bisschen über die bloße Gelehrsamkeit im Umgang mit Tex-ten hinaus, aber er geht, jedenfalls in seiner Rolle und Aufgabe als Phi-losoph, nicht so weit wie der praktizierende Mystiker. Er ist jemand, der,wie es Ralph Waldo Emerson ausdrückt, (Mystiker und Dichter) zitiertund in Zitaten denkt. Zitieren schließt Originalität nicht aus. SogarGenies wie Shakespeare und Proust sind Virtuosen des Zitats.

Der Philosoph lebt so, als ob er sich auf den Weg des Mystikersbegeben wollte, aber er schreitet diesen Weg nicht ab. Er trifft alleReisevorbereitungen, ohne sich selber auf die Reise zu begeben. Daniemand in einer einzige Rolle aufgeht, kann ich auch über Mystiknachdenken und Mystik praktizieren, so wie ich über Verliebtheitnachdenken und mich selber verlieben kann. Aber es ist nicht zwin-gend, beide Rollen (gleichzeitig) zu spielen. Philosophie ist ein Lebenfür die Erkenntnis, womit mehr gemeint ist als nur wissenschaftlicheErfahrung oder banale Alltagserfahrung. Mitgemeint ist jene Erkennt-nis, der alles zum Sinnbild werden kann. Damit ist aber nicht gesagt,dass sich Religion bloß in fiktionalen Welten bewegt. Religionsphiloso-phie bezieht sich auch auf jene Erfahrungen, die Kontaktnahme oderBegegnungen mit dem Göttlichen oder Heiligen bedeuten. Ob es sichdabei um eine »theoretische« Erkenntnis handelt, bleibt umstritten.

Mit Henri Bergson können wir mystische Erfahrung als eine Formder sympathetischen Teilnahme am göttlichen Einen und Ganzen cha-rakterisieren.

»Jeden Augenblick eratmen wir etwas von diesem Ozean von Leben, dem wireingesenkt sind, fühlen wir, wie sich unser Wesen, oder doch der Verstand,der es lenkt, nur durch eine Art örtlicher Erstarrung aus ihm gebildet hat. DiePhilosophie kann nur die Anstrengung sein, sich diesem Ganzen neu zu ver-schmelzen. Und der in sein Prinzip aufgelöste Intellekt wird zum Entgelt seineigenes Entstehen erleben. Nicht aber auf einen Wurf wird sich ein solchesUnternehmen verbinden können. Mit Notwendigkeit wird es kollektiv undprogressiv, wird zu einem Austausch von Eindrücken, die sich so lange be-richtigen und überbauen, bis endlich die Menschheit sich weitet, bis erreichtwird, dass sie sich selbst überwächst.«2

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Einleitung

2 Bergson 1969/1927, 207f.

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Erkenntnis als Teilnahme geht über ein teilnahmsloses Betrachten hi-naus und nimmt Teil am göttlichen Ganzen. Beim Mystiker findet dasGöttliche vollen Anklang. Gibt es so etwas wie teilnehmende Intuition,so finden lebhafte Berichte darüber selbst bei nüchternen Zeitgenosseneinen gewissen Anklang.

Im Folgenden geht es um Mitteilung dieses Klangs. Der mystischeKlang erscheint den Areligiösen als bloßes Geräusch und als gedanken-lose Weitergabe von Zitaten; umgekehrt vermag ein religiös »musika-lischer« Mensch sogar in Geräuschen eine Art von Musik zu hören; dasZitat wird zur generationenübergreifenden Quelle von Originalität. Sobetrachtet kann neuere und zeitgenössische Musik, welche Geräuscheinkorporiert, als »pantheistische« Kunst gelten. Solche Vergleiche undAnspielungen sind alles andere als frei erfunden. Sie sind Zitate. Wersich in »den Abgrund aller Seligkeit« versenkt, ist »[…] ein Mitklangin der Wesen Harmonie« (Herder). Und dass es genuin religiös »Un-musikalische« wie Sigmund Freud gibt, wird weder verschwiegen nochangeprangert. Überzeugte Agnostiker und Atheisten haben kein Be-dürfnis nach »Heilung«. Doch so, wie wir manchmal finden, was wirnicht gesucht haben, sind »Ungläubige« a fortiori nicht vom Heil aus-geschlossen.

Pantheismus mit und nach der Aufklärung fügt sich in Bestrebun-gen ein, Religion ihren aufgeklärten Gegnern neu schmackhaft zu ma-chen. Neben Judentum, Islam und den diversen christlichen Konfessio-nen bilden Deismus, religiöser Agnostizismus (»Fideismus«) undPantheismus eine Bereicherung im Spektrum religiöser Optionen, dieauf postchristliche Fortbildungen der Religionsphilosophie verweisen.Auf religionssoziologische Stellungnahmen zu Begriff und These derSäkularisierung und der Moderne wird in dieser Arbeit verzichtet.

Im ersten Teil geht es nicht so sehr um ein historisches Porträt,sondern eher um eine Umkreisung »des« Pantheismus in einschlägigenBildern und Begrifflichkeiten. Pantheismus vereinigt Anregungen derReligionen, der Kunst und der Philosophie. Er hat die Aufklärung über-lebt, ohne in Magie, Esoterik oder Obskurantismus zu verfallen. Erwidersetzt sich der Entzauberung, aber er inszeniert keine Wiederver-zauberung der Welt. Er bleibt eine lebendige religiöse Option in einemZeitalter, das von Wissenschaft und Technik geprägt ist.

Stimmungen einer All-Einheit und All-Verbundenheit findensich in vielen, auch voneinander unabhängigen Kulturkreisen. Es liegtim Charakter dieser nebulösen Vision, dass sie sich nicht als Waffe zu

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kontroverstheologischen Abgrenzungen eignet. Eine ultimative Be-trachtungsweise lässt sich einnehmen oder nicht – aber sie lässt sichnicht beweisen oder widerlegen. Dass de facto um Visionen gestrittenwird, »beweist« nur die Neigungen mancher Menschen zum (religiö-sen) Fanatismus. Einige werden sich daran stoßen, dass Pantheismus(relativ) profillos bleibt, selten völlig widerspruchsfrei formuliert wirdoder sich bis zu einem gewissen Grad den Spielregeln einer rationalenDiskussion entzieht. Andere werden ihn dafür preisen, dass er ihreSichtweise zum Ausdruck bringt und dem intensiven Gefühl ent-spricht, »mitten drin« in der Natur und der Geschichte und damit »inder Wahrheit« zu stehen – eine »Wahrheit«, die vielleicht nicht mehr(aber auch nicht weniger!) als eine subjektive Ansicht der Welt ist. EinPantheismus, der das Böse leugnete, wäre kein Beitrag zur Lösung desTheodizeeproblems, doch ist dieses Problem überhaupt lösbar? Kannein Pantheismus, der die Nähe Gottes hervorhebt, eine Quelle desTrostes sein?

Im zweiten Teil wende ich mich Hegel zu, genauer gesagt einemAbschnitt seiner Phänomenologie des Geistes. Hegel erhebt bekannt-lich einen strengen Anspruch auf systematisches Denken. Er hätte am»Stimmungspantheismus« des ersten Teils keine Freude gehabt. Aller-dings muss man hinzufügen, dass Hegel an Gotteserkenntnis und so-gar Gottesbeweisen nur deshalb festhalten kann, weil er versucht, denVerstand mit seinen starren Unterscheidungen (wie z.B. Natur undGeist, Leib und Seele, Jenseits und Diesseits usw.) zur Vernunft zubringen. In diesem Sinne wird auch die strenge Unterscheidung vonTheismus und Pantheismus problematisiert.

Hegel als Pantheist zu lesen, ist keine neue Idee. Leider wurde esschon zu Hegels Lebzeiten und in den polarisierenden Stellungnahmennach seinem Tod oft getan, um ihn politisch oder theologisch zu dis-kreditieren oder zu vereinnahmen. Die pantheistische Lesart, die u. a.Heinrich Heine populär gemacht hat, kann jedoch ein Licht auf Hegelseigentümlich schroffe Behandlung von Religion als »unglücklichemBewusstsein« werfen. Hegel hat wie kein anderer die Frage provoziert,ob Pantheismus eine Vorstufe zum Atheismus sei oder ob er, in Ver-bindung mit seiner dialektischen Auffassung des Begriffs, dazu ge-eignet sei, die »Abgründe Gottes« angemessener zur Darstellung zubringen. Hegel hat – vielleicht in einer gewissen kritischen Nachfolgevon Herder und Schleiermacher – ein Denken entwickelt, das es er-laubt, scheinbar Unvereinbares, etwa den christlichen Theismus und

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den »heidnischen« Pantheismus, auf eine anregende Weise zusammen-zufassen. Insbesondere Herder hat den Übergang von Natur- zu Kraft-und Geistpantheismus vorgezeichnet.

Im dritten Teil werden autonome und heteronome Elemente derEthik unterschieden und aufeinander bezogen. Wäre Pantheismus Fa-talismus, dann wäre es schlecht um die Möglichkeit von Ethik bestellt.Führt Pantheismus zu einer Retheologisierung der Ethik? Theologi-sche oder religiöse Hintergrundannahmen der Ethik werden oft als Ele-mente der Fremdbestimmung verdächtigt. Doch was ist eigentlich soschlimm an einem gewissen Grad an Fremdbestimmung? Stehen wirnicht von der Geburt bis zum Prozess des Sterbens in radikal abhängi-gen und asymmetrischen Beziehungen, in denen wir abhängig von und– im besten Fall – im Vertrauen auf andere Kräfte leben? Ist nicht derMensch das Wesen, das zuerst nicht einmal aufrecht gehen kann undöfter als die meisten anderen Lebewesen fällt? Ist es legitim, denMensch nur nach dem Maßstab seines aufrechten und selbständigenGangs zu beurteilen?3 Autonome oder »reine« Ethik gilt zwar ge-wöhnlich als die einzige und beste Theorie, doch ist sie das auch?Heteronomie und »unreine Ethik« finden sich auch bei Kant, Schopen-hauer und in der Alltagsmoral. Die Konzeption einer »reinen« Moralist irreführend und problematisch; Moral kann nicht auf heteronomeElemente verzichten.

Der Pantheismus Spinozas und Herders vereinigt das autonomeElement, dass die Tugend ihr eigener Lohn ist, mit der heteronomenAuffassung einer »schlechthinnigen Abhängigkeit« endlicher Wesenvon Gott. Die Stärke des Individuums liegt »nur« in der erkennendenPartizipation am Unendlichen. Das Endliche ist »nur« ein Lichtstrahldes Unendlichen. Damit wird das Individuum zwar nicht isoliert, aberauch nicht geschwächt, sondern gestärkt. In diesem Sinne kann Novalisschreiben: »[…] nur im Pantheismus ist Gott ganz, überall in jedemEinzelnen.«4

Teilnahme am Unendlichen vermag überdies ein Muster von To-leranz zu entwerfen, das – als Kunst zur Selbst- und Rollendistanz –

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Einleitung

3 Vgl. MacIntyre 1999, dtsch. 2001. Zu den Risiken des aufrechten Gangs vgl. Bayertz2012, 249f. Der aufrechte Gang prädisponiert zur Arroganz des »Humanchauvinis-mus«, deshalb schreibt der Apostel Paulus: »Darum, wer meint, er stehe, sehe zu, dasser nicht falle.« 1 Kor. 10, 12.4 Novalis, zitiert nach Zeller 1875, 566.

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über das sture Beharren auf Halbwahrheiten und Vorurteilen hinweg-hilft. Allerdings sollte man diese zutreffenden Beobachtungen nicht zuden falschen Behauptungen zuspitzen, Toleranz und gegenseitiger Res-pekt ließen sich nicht ohne (pantheistische) Religion begründen und/oder realisieren, oder jede Religion (auch die pantheistische) machemoralisch blind, heuchlerisch, korrupt und gewaltbereit. Es empfiehltsich, Pantheismus und sein Verhältnis zur Ethik ohne apologetischeoder polemische Absichten in Betracht zu ziehen. Ich hoffe, dass dasim Folgenden gelungen ist.

Im vierten Teil wird der Gang durch Denkfiguren des Pantheis-mus mit einer Darstellung einiger Aspekte der Wirkungsgeschichtedes Mesmerismus abgerundet. Dazu gehört Hegels »Aufklärung überdie Aufklärung« und sein Versuch, im Übergang von der Natur- zurGeistphilosophie den Mesmerismus als – zumindest therapeutisch re-levantes – Phänomen zu begreifen. Die Erweiterung des Mesmerismusund der Theorie des Fluidums zur Vision eines poetischen Pantheismusist naheliegend und wird u.a. von Emerson vollzogen. Hegel dagegenversucht, die mesmerischen Effekte in seine Enzyklopädie der Wissen-schaften als Übergangsphänomen, das zurück (ins Unbewusste der Na-tur) und voraus (in die Welt geistiger Beziehungen) verweist, zu inte-grieren. Ähnlich wie bei Schopenhauer wird der Mesmerismus undSomnambulismus aber nicht als Eingangstor zu einer okkulten Welt-anschauung verwendet, sondern an die therapeutische Nutzung derHeilwirkung der Natur zurückgebunden. Mehr noch als im zweitenTeil wird deutlich, wie sich bei Hegel pantheistische Tendenzen mitMotiven der Zurückweisung eines weltanschaulichen Pantheismusverbinden. Die Frage, ob ein Pantheismus der Weltseele als eigenstän-dige Option und Vision auch künftig einen festen Platz behalten wird,bleibt aus der Sicht Hegels offen. Nochmals wird bestätigt, dass seinePhilosophie zentrale Elemente eines Pantheismus integriert hat, ohnesich auf einen dogmatisch umrissenen oder weltanschaulich fixiertenPantheismus festzulegen. Pantheismus – in Hegel und anderswo – wirdoft erst dann wahrnehmbar, wenn nicht mehr nach einer wohldefinier-ten Position gesucht wird, sondern nach einem »Duft«, »Klang« oder»Strahl« im Zwischenbereich von Kunst und Religion.

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Erster Teil

Pantheismus – eine sanft vereinnahmende Visionvon Gottes Allgegenwart

1.1 Pantheismus, Einsf�hlung, Teil und Ganzes

Ich bin Teil des Universums, Eins im All. Ich beziehe mich auf dasGanze, stehe in Verbindung, fühle mich eins, aber gelegentlich aucheinsam, separat, abgetrennt, »entfremdet« vom Rest der Welt. DasFaktum, Teil des Ganzen zu sein, ist stabil. Das Gefühl, eins mit allemzu sein, ist instabil. Das Gefühlsleben ist wechselhaft: Manchmal fühleich mich eins, »solidarisch«, gleichsam »Kind Gottes«, manchmal fühleich mich isoliert, verloren, »vergessen«. Die Erinnerung an das Faktumkann mich vielleicht trösten, oder jedenfalls beruhigen. Die Einsfüh-lung mit dem Ganzen hat etwas Beruhigendes, eine Tendenz von derVerlorenheit zur Geborgenheit, von der Fremde zur Heimkehr.

Diese oder ähnliche Beschreibungen sind in ihrer Bildlichkeit undBegrifflichkeit zwar abhängig von einer spezifischen religiösen Erzie-hung, von kirchlichen Einflüssen oder kulturellen Prägungen, aber siesind vielleicht auch nachvollziehbar als »letzte Beschreibungen«, dieetwas über die »Einbettung des Individuums ins Ganze« sagen. Siebetreffen den Menschen, der Sinn sucht, verfehlt oder findet. Die fol-gende Skizze soll nur zeigen, dass Pantheismus keine absurde oder in-feriore Auffassung ist, kein »non-starter«, sondern eine Sichtweise, diees verdient, eigens erwähnt und untersucht zu werden. Dabei geht esnicht um eine historische Lexikondefinition, sondern um das Recht aufein persönliches Aperçu, eine eigene Vision1 und Darstellung, die sich

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1 Von Vision im Sinne einer lebendigen und poetisch gestalteten Einsfühlung mit demEins und Alles ist in den Schriften von Ralph Waldo Emerson die Rede. So können etwadessen essayistische Porträts von Platon und Swedenborg sowie sein berühmter Essay»Nature« als Dokumente eines freien, nicht-konformistischen Pantheismus gelten, derElemente des Transzendentalismus und der Romantik miteinander verknüpft und durchdie Wahl des Aperçus eine dogmatische Fixierung bewusst verhindert. Zu EmersonsAuffassung von Vision vgl. White 1972, 97–119. Zu Emersons »Nature« vgl. Richard-

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nicht von den impliziten Abwertungen und Verleumdungen »des«Pantheismus als eines naiven Optimismus, einer Vorstufe zum Atheis-mus oder einer gefährlichen Häresie abschrecken lässt.

Ob das Spannungsverhältnis zwischen poetischer Vision, persön-lichem Aperçu und begrifflicher Darstellung restlos auflösbar ist, lässtsich bezweifeln. Seine sprachliche Verdichtung findet das Aperçu imAphorismus und Fragment. So wird das Größte (Gott) im Kleinsten(Aphorismus) eingerahmt.

Einsfühlung mit dem Ganzen evoziert die Überzeugung, dass Gottin uns ist, doch Einsfühlung mit jedem Einzelnen im Ganzen legt auchnahe, dass Gott um uns oder über uns und auch unter uns ist. Dass Gottin allen Dingen ist, heißt nicht, dass seine Einheit in Einzelteile zer-trümmert oder das Unendliche mit dem Endlichen verwechselt wird.Gott in allen Dingen meint vielmehr: Gott nicht nur im Seelenfunken,sondern auch auf allen Seiten, an allen Enden und in allen Beziehun-gen. Es sind nicht primär narzisstische Gefühle, die auf Gott verweisen,sondern Gefühle der Offenheit. Mystische Intuition ist eine Form derÖffnung, der Weisheit des Hörens und aller Sinne.2 Pantheismus un-terstreicht die Einheit, auch die Einheit von Körper und Geist. Dasgeistliche Hören beginnt mit dem Hören auf den eigenen Körper.3

Die Vorstellung eines Gottes über uns, die strikt hierarchischeAuffassung trifft im Pantheismus auf weniger Entsprechung als in derBilderwelt der orientalischen und mittelalterlichen Theismen, die dasVerhältnis von Gott und Mensch als steile Hierarchie denken, verkör-pert in der gotischen Architektur.4 Die bevorzugten Gebets- und Fröm-

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1 Pantheismus – eine sanft vereinnahmende Vision von Gottes Allgegenwart

son 1999, 76–105. Emersons »Nature« und sein Platon-Porträt ist enthalten in Emerson1992. Vgl. Emerson 1987.2 Zur Phänomenologie des mystischen Vernehmens vgl. Glück 2012. Vgl. du Prel 1885;Steiner 1995/1902. In der Vorrede zu dieser ersten Auflage (auf S. V) findet sich derbezeichnende Satz: »Wer die ›Wahrheit‹ nicht nur versteht, sondern in ihr, mit ihrlebt […].« [Meine Hervorhebung]. Obwohl Steiner einem Pantheismus der Sache nachnahe steht, verteidigt er doch zunehmend die Eigenständigkeit des Individuums und dermateriellen Welt. Vgl. Zander 2011, 181f. Dieser Weg wurde zuvor von Eduard vonHartmann beschritten, in der Gestalt eines »transzendentalen Realismus« und einerumfassenden Kritik des Akosmismus.3 Vgl. Rowe: Listening through the body, in Rowe 2003, 157–166.4 »Der gotische Dom ist eine Kultstätte und eine Wohnung des Gottes, wenn die Men-schen dabei sind […]. So sehen wir im Geiste, wie durch die Taten der Menschen immermehr gearbeitet werden kann zum Herunterführen höherer Wesenheiten. Wieder trittvor unsere Seele der Pfingstgedanke. Der Pfingstgedanke drückt in einem Symbolum

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migkeitsmetaphern sind jene der Unterwerfung und des Gehorsams.Für einen Pantheismus und seine Verankerung in der mystischen Eins-fühlung ist es dagegen die Metaphorik des Hörens und Vernehmens,der »open mindedness«. Gott bleibt erhaben über alles, aber nicht imSinne des »ganz Anderen« oder »Abgehobenen«. Pantheismus über-höht Gott nicht notwendigerweise zu einem thronenden, richtendenund zürnenden Gottvater, sondern er bevorzugt das Bild von Allvateroder Allmutter, die ihre reuigen Kinder stets mit offenen Armen erwar-ten. Der Gott »des« Pantheismus kann sich nicht von den Menschenabwenden oder sich vor ihnen verbergen – es gibt keinen »verborge-nen« oder »fernen« Gott, aber es gibt den verstockten oder »tauben«Menschen. Wir sind nicht Untertanen, sondern eher Kinder oderFreunde Gottes. Die Nähe Gottes macht uns zu seinen Nachbarn.

Einsfühlung hat nichts mit privater Intimität zu tun, sozusagenmit jener Nähe, mit der sich jeder selber der Nächste ist. Pantheismusdegradiert Gott nicht zu einem privaten Kuschelgott, einem Gott mei-ner subjektiven Erlebnisse, sondern zeugt von Gott in allen Menschenund in der Natur, Gott in der Geschichte und Gott in der Gemeinschaft.Gottes Fußspuren sind überall, nicht nur in den Herzen einer exquisi-ten Elite. Auch wenn der Ausgangspunkt ein Gefühl oder Erleben ist,so ist der Bereich der Vision doch allumfassend.

Die Bezeichnung des Menschen als Teil der Natur klingt nüchternund hat unmittelbar keine Beziehung zum (intensiven) Erleben oderzur Stimmung. Das Vokabular von Teil und Ganzem ist etwas spröde– schließlich ist auch ein Stein Teil eines Steinhaufens, aber er »nimmtnicht teil« am Steinhaufen, es sagt nichts über eine erlebbare, fühlbare,einsehbare Qualität des Verhältnisses aus.

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Pantheismus, Einsf�hlung, Teil und Ganzes

aus, was wir durch solche Betrachtung erkennen können: dass die Menschen durch ihreArbeit Stätten schaffen für das Herabsteigen geistiger Wesenheiten, dass sie arbeiten ander Vergeistigung der Welt.« Steiner 1998, 32 (aus einem 1908 gehaltenen Vortrag).Steiners Darstellung der christlichen Gedanken- und Bilderwelt hat vielleicht mehr Af-finitäten zum Panpsychismus als zum Pantheismus, hält er doch an der vertikalen Me-taphorik höherer Welten fest. Der Panpsychismus setzt keine monistische Auffassungdes Bewusstseins voraus, sondern ist auch mit der Annahme einer Vielzahl separaterBewusstseinszentren vereinbar; für monistische und pantheistische Visionen ist jedesindividuelle Bewusstseinszentrum eine Begrenzung des einen göttlichen Bewusstseins.Pantheismus scheint das vertikale Verhältnis von Gott und Welt in den Hintergrund zudrängen, zugunsten der horizontalen Verhältnisse von Nachbarschaft und Verbunden-heit. Damit werden Bilder von Oben und Unten nicht vollständig eliminiert.

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Die Rede von Teil und Ganzem ist eine erste, nüchterne Annähe-rung. Als Teil des Ganzen bin ich klein, sehr klein. Aber als Teil desGanzen (und nicht nur Teil eines größeren Teiles) bin ich in direkterBeziehung zum Ganzen, in erlebter oder erlebbarer Nähe zum Ganzen.Ich bin zwar klein, aber nicht unwichtig, nicht »verloren«, keine»quantité négligeable«. Die erlebbare, Herz und Geist erweiternde Be-ziehung zum Ganzen gibt meinem Leben Sinn und Bedeutung, machtmich zum »Teilhaber des Ganzen«. An der Grenze der Begrifflichkeitöffnen sich die Schleusen für eine Flut von Bildern. Diese »Sympathiemit dem Ganzen« ist schwer zu vermitteln oder gar sprachlich zu arti-kulieren und hat vielleicht ihr Pendant im Urvertrauen des Kindes oderin den Resonanzphänomenen, mit denen die natürliche Sympathie oftverglichen wird. Es ist, als würde ich mit dem Ganzen »mitschwingen«oder in das Seufzen der gesamten Kreatur einstimmen. (Vgl. Röm. 8,22) Das Ganze scheint sich wie eine Schutzhülle um mich zu wickeln,die »Schöpfung« ist nicht nur »Kleid Gottes«, sondern auch Kleid undSchutzhülle der Menschen. Wir sind nicht nur »Ausgewickelte« (Evo-lution), sondern auch »Eingewickelte« der Natur, Teilhaber, Mitspieler,Akteure, die eine bestimmte Rolle in einem größeren Zusammenhang,einem »Weltdrama« spielen.5

Die Rede von Teil und Ganzem macht die Bezugnahme auf dasreligiöse oder gar theologische Vokabular nicht zwingend. Jemandkann Naturalist sein und sich gleichwohl als Teil des Ganzen bezeich-nen oder sogar fühlen. Die religiöse oder theologische Ausdruckweiseist nur ein mögliches, kein unvermeidbares Vokabular. Pantheismusmuss nicht dogmatisch oder realistisch gedeutet werden; eine pantheis-tische Vision kann auch mit den Mitteln einer Poetik der Imaginationgedeutet werden. Nach der Auffassung von Gaston Bachelard gibt eseine Rückkehr und ein Heimischwerden im Universum durch den poe-tischen Tagtraum. Durch die Funktion des Imaginären und Irrealengelangen wir in eine Welt des Vertrauens. Bachelard hat dies an zahl-reichen Beispielen der Poesie erläutert.6

Die Verbindung von Religion und Poesie muss die Religion nicht»verfälschen« oder »abschwächen«. Sie kann sogar mit der Annahme

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1 Pantheismus – eine sanft vereinnahmende Vision von Gottes Allgegenwart

5 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Auffassung von Henri Bergson, dermystische Intuition als »participation« charakterisiert. Vgl. Bergson 2008/1932, ch. 4;ders: 2011; Waterlot 2012.6 Vgl. Bachelard 1960.

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einer ursprünglichen Einheit von Dichter und Priester begründet wer-den. So schreibt Novalis:

»Dichter und Priester waren im Anfang Eins – und nur spätere Zeiten habensie getrennt.«

Im gleichen Zusammenhang können wir lesen:

»Ich bediene mich hier einer Licenz [sc.: der dichterischen?] – indem ich Pan-theismus nicht im gewöhnlichen Sinne nehme – sondern darunter die Ideeverstehe – dass alles Organ der Gottheit – Mittler seyn könne, indem ich esdazu erhebe […].«

Novalis deutet an, dass sich Pantheismus mit Entheismus (bzw. derAnnahme, dass es nur einen göttlichen Mittler gebe) vielleicht verein-baren lasse, indem man diesen einzigartigen Mittler »zum Mittler derMittelwelt des Pantheisten macht«.7 Damit ist eine Synthese vonChristologie und Pantheismus (mit poetischer Lizenz) skizziert.

1.2 Einw�nde

Seit je gibt es theologische Vorbehalte gegen »den« Pantheismus (oderdie Pantheismen), vielleicht auch und gerade deshalb, weil platonischeund stoische Einflüsse die Theologie in die Nähe eines Pantheismusbrachten. Die Vorbehalte richten sich gegen Deutungen, welche ent-weder Gott in der Natur (Atheismus) oder die Natur in Gott ver-schwinden lassen (Akosmismus). »Dem« Pantheismus wird entwederGottlosigkeit oder Weltlosigkeit unterstellt; letztere gleicht der »Got-tesvergiftung«8 , für die alles Gott ist und nichts anderes neben GottPlatz hat. »Dem« Pantheismus – so wird in streitbarer Laune unter-stellt – gehen entweder Gott selber oder die Individuen verloren. »Der«Pantheismus sei nicht unterscheidend, sondern absorbierend. Er glei-che einem schwarzen Loch, das alles zu verschlucken droht.

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Einw�nde

7 Die Zitate von Novalis stammen aus »Blüthenstaub«. Vgl. Novalis 1981, 456 und 458.8 Gemeint ist eine religiöse Obsession, die im Verhältnis zu Gott jede Möglichkeit einerkritischen Distanz ausschließt und u.a. die Rechtlosigkeit und Verworfenheit (TilmannMoser) des Menschen festschreibt. Umgekehrt kann man sich fragen, was die Einforde-rung demokratischer Rechte der Menschen gegenüber Gott bedeuten könnte. Ist derMensch Eigentum seines Schöpfers, so kann er ihm gegenüber keine Rechte haben!

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Die Option einer Auflösung des Individuums im Ganzen ist nichtnur ein Problem für »den« Pantheismus, sondern auch für »den«Theismus, der die Größe und Macht Gottes akzentuiert.

»Was ist der Mensch und wozu taugt er? Was ist sein Glück und was seinUnglück? Die Zahl der Tage eines Menschen – wenn’s viel ist, sind es hundertJahre. Wie ein Wassertropfen im Meer oder ein Sandkorn, so verhalten sichseine wenigen Jahre zur Ewigkeit.«9

Die beliebten Metaphern vom Tropfen bzw. vom Sandkorn und vomMeer (das wie der Horizont zu den eindrücklichsten Naturmetaphernfür das Ewige gehört) können sogar einen Wunsch oder eine Sehnsuchtzum Ausdruck bringen, sich (das vermeintlich substantielle Indivi-duum) in Gott zu verlieren oder überhaupt keine Spuren als Indivi-duum zu hinterlassen: Die Seligkeit, als Tropfen im Meer zu versinken.Allerdings scheinen auch andere religiöse Bewegungen oder Denkwei-sen in dieser Hinsicht durchaus ambivalent zu sein: Das Verschwindendes Individuums kann als Verlust oder als illusorische Flucht vor demStrafgericht, aber auch als höchste Geborgenheit in Gott bewertet wer-den.10 Inwiefern Selbstauslöschung als Ziel religiöser Askese oder alsVorbereitung auf die »Eingießung Gottes« Sinn macht, soll hier nichtdiskutiert werden. Es ist zumindest unfair, ein solches Schwanken aus-schließlich »dem« Pantheismus zuzuschreiben. Es entspricht sowohleiner biblischen Auffassung als auch ihrer dialektischen Ausdeutung,dass es Bewahrung durch Hingabe gibt.11

Um diese Gefahren der Nicht-Unterscheidung und Vermischungvon Gott und Welt bzw. Individuen entgegenzuwirken, wurde der Aus-druck ›Panentheismus‹12 eingeführt, der beide Pole – das Eine und dasAlle – gleichermaßen betont und voneinander unterscheidet. Was derPanentheismus für sich beansprucht, kann Pantheismus auch leisten.Die polemischen Thesen, die besagen, »der« Pantheismus nivelliere

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9 Sir. 18, 8 ff. In: Die Heilige Schrift. Zürich: Verlag der Zürcher Bibel 1993.10 Ein solches Schwanken zwischen einem Wunsch nach Auslöschung und einemWunsch nach Verewigung des Individuums dokumentiert z.B. Tagore in Bezug auf diereligiösen Baoul-Sänger von Bengalen – vgl. Tagore 2004, Appendix I [OA 1931]. DieseBewegung ist auch symptomatisch für die Weigerung, pantheistische Visionen dogma-tisch oder definitorisch zu fixieren.11 Vgl. Matth. 16, 25; Joh. 12, 25. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), WerkeBand 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, 375; zur Kritik der Askese vgl. Hegel, a. a. O.,421f.12 Vgl. Benedikt Göcke 2012.

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den Unterschied zwischen Gott und Welt, er verwirke den sicherenethischen Standard des jüdisch-christlichen Monotheismus bzw. leug-ne das Böse und verliere sich in unkontrollierten Anthropomorphis-men, beruhen auf der kontroverstheologischen Konstruktion einesscharfen Gegensatzes zwischen Theismus und Pantheismus.13 DieseKonstruktion hat, ähnlich wie die heftigen Debatten um die natürlicheReligion14 , an Schärfe verloren. Sie beruht wie so manche Polemik aufprojizierender Kritik. Bekanntlich gibt es auch für einen christlichenTheismus schwerwiegende, logisch kaum aufzulösende Probleme: wieein inkarnierter Gott ein »ganz anderer Gott« bleibe, wie viel mora-lische Orientierung ein »allzu« transzendenter Gott bieten könne, wieviel Anthropomorphismus die Anrede Gottes als Vater enthalte undwarum Gott gegen exzessive Übel nichts unternehme. SystematischeTheologie versucht, mit besonders dicken, umständlich formuliertenund gelehrten Büchern zu vertuschen, dass diese Probleme nicht »wis-senschaftlich«, sondern nur im Glauben und Vertrauen auf Gott zu»lösen« sind. Pantheismus wird zum stellvertretenden Sündenbockfür Brüche und Inkohärenzen im eigenen theologischen Denken.

Niemand kann das Individuum bzw. die Summe der Individuenvom Ganzen trennen. Pantheismus nach der Aufklärung muss alleinschon aus ethischen Gründen die Individuen untereinander und vomGanzen unterscheiden. Gott ist in der Welt; aber er ist mehr als dieSumme der endlichen Wesen. Die Frage ist damit nicht mehr so sehr,ob Pantheismus per se moralisch ist; vielmehr gilt die Forderung, seineAnhänger an Standards der Moral und der Zivilisation zu messen.

Dass Gott nicht mit den Dingen in der Welt zusammenfällt, lässtsich mit dem Sachverhalt erläutern, dass das Ganze nicht nur die Sum-me seiner Teile, sondern auch das Geflecht der Beziehungen der Teilezueinander und der Teile zum Ganzen ist. Die Unterscheidung von Teilund Ganzem soll nicht die Beachtung der vielfachen Beziehungen derTeile untereinander und der Teile zum Ganzen ausschließen. Pantheis-mus konstruiert keine Welt von Atomen, die zufällig aufeinanderpral-len oder aneinander vorbei gehen, keine Welt von Nomaden, sonderneine Welt von Monaden. In jedem Individuum als Monade spiegelt sichdas Ganze, und das Ganze spiegelt sich in jedem Individuum. So be-trachtet lässt sich eine stärkere Akzentuierung des ontologischen und

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Einw�nde

13 Vgl. Sparn 2012.14 Vgl. Leese 1954.

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normativen Status der Individuen bzw. deren relativer Selbständig-keit15 im Rahmen eines Pantheismus vornehmen, ohne die zwischenSpinoza und seinen Kritikern hängige Frage zu entscheiden, ob denIndividuen der Status von Substanzen zukomme. Individuen sind realund damit in einer Weise schützens- und beachtenswert, wie es bloßfiktive Entitäten nicht sind.

Wollte man »den« Pantheismus präziser definieren, so wäre manrasch an einem Punkt angelangt, wo sich die Abgründe der endlosentheologischen Kontroversen auftun. Alle Formulierungen haben ihreGrenzen. Formulierungen sind Fallen; Ausdrücke wie ›Welt‹ und ›in‹bzw. ›außer‹ sind wahre Fallgruben. »Gott ist in der Welt. Ja, wo ist erdenn? Überall – oder nirgends?« »Es gibt nichts außer Gott. Doch, esgibt doch endliche Wesen.« »Die Welt ist in Gott. Ist etwa in Gott eineWelt, die noch größer ist als Gott selber?« »Gott ist in der Welt – aberist er auch von der Welt?« Solche Vexierfragen sollen nicht weiter un-tersucht und beantwortet werden. Wer pantheistisch gestimmt ist,wird dafür viele Formulierungen finden – und mit keiner ganz zufrie-den sein.

Es ist möglich, dass Pantheismus nicht für eine stabile Positionsteht, sondern für eine Stimmung oder ein Moment der Gottesbezie-hung. Georg Simmel hat das in einem kurzen Essay angedeutet, undzwar mit Blick auf die Begriffe der Macht und der Liebe. Allmacht istein problematischer Begriff, weil Macht sich nur in der Überwindungvon Widerstand realisiert – es braucht also sowohl eine Gegenmachtzur Macht Gottes, welche diese einschränkt, als auch einen Prozess derÜberwindung dieser Gegenmacht. Allmacht ist so betrachtet ein dyna-mischer, wenn nicht sogar oszillierender Begriff. Ähnliches gilt für Lie-be: Sie setzt sich aus der Sehnsucht nach einem anderen und dem Dia-log mit einem Gegenüber auf der einen Seite, und dem Wunsch nachvollständiger Vereinigung auf der anderen Seite zusammen. Was fürmenschliche Liebe gilt, dass sie die beiden gegenstrebigen Richtungennach Gegenüber und Verschmelzung »in liebendem Widerstreit« ver-einigt, wird auf die Erfahrung der Liebe Gottes übertragen. Diese Lie-be, die von Gott ausgeht, besteht nicht nur aus Harmonie und Nähe,sondern auch aus Zorn und Gericht. Simmel verweist hier auf die all-

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15 Ontologisch kann nur von einer relativen Selbständigkeit der Individuen die Redesein – das gilt für Theismus und Pantheismus gleichermaßen, im Unterschied zur Ver-absolutierung des Egos in der Philosophie von Max Stirner. Vgl. Hellenbach 1887.

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gemeine Struktur von Idealen, deren restlose Aufhebung selbstauf-hebend wäre. Und er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass das Got-tesverhältnis zwischen Gegenüber und pantheistischer Vereinigung os-zillieren muss. Im Gegensatz zu Hegel wird der Weg vom demGott-Gegenüberstehen und dem Verschmelzen mit Gott als Hin undHer, als Oszillieren ohne Versöhnung beschrieben.16 Es ist vielleichtkein Zufall, dass diese Diagnose von einem jüdischen Intellektuellenstammt, der sich zur religiösen Praxis des Judentums und des Christen-tums in einer Art schwebender Äquidistanz befindet. Diese scharfsin-nige Diagnose kann als Kritik an einem konsequenten Pantheismus,aber auch als Außenbetrachtung eines Intellektuellen beurteilt werden,der sich auf keine religiöse Praxis oder Übung einlassen will. Warumschließt Simmel das Moment der Versöhnung aus? Ist es nicht wahr-scheinlich, dass Menschen (jedenfalls so lange sie leben) die Beziehungzu Gott als periodische Abwechslung von Nähe und Distanz erfahren?Widerspricht das der pantheistischen Vision, dass Gott stets nah ist?

1.3 Endlich, unendlich

Pantheismus lässt sich auch mit dem Verhältnis von Unendlichem undEndlichem formulieren. Gott ist das Unendliche, die Welt dagegen dasEndliche. Der Begriff des ›Unendlichen‹ scheint lediglich negativ zusein, doch die bloße Verneinung des Endlichen führt nicht zum Unend-lichen. Die formale Verneinung jedes einzelnen Dinges ist endlos underzeugt das bloße Und-so-weiter. Unendlich kann das Unendliche nursein, wenn es sowohl sich selber als auch alles Endliche umfasst. DasUnendliche kann das Endliche nicht ausschließen oder immer wiedervon sich wegstoßen, sondern es muss dieses gleichsam »umarmen«.Das echte Unendliche hat das Endliche und damit die Negation seinerselbst integriert. Hegel sagt vom Geist, dass er »die Form der Gegen-ständlichkeit in ihm ganz auflösen« müsse, »in ihm, der ebenso diessein Gegenteil in sich schließt«.17 So betrachtet ist Gott kein besondersgroßes »Ding« in der Welt, kein innerweltlich Seiendes unter anderen,keine res infinita. Was (wo und wie) Gott sei, lässt sich in einem Satz

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Endlich, unendlich

16 Vgl. Georg Simmel: Vom Pantheismus (1902), in: Simmel, GA Band 7, 1995, 84–91.17 Hegel 1970/1807, 502.