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Jesper Juul

Aus Erziehung wird Beziehung

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Band 5533

Das Buch„Es geht darum, die Sprache der Kinder wahrzunehmen und sie ernst zunehmen, auch wenn das bedeutet, dass man als Erwachsener eine Praxisändern muss …“

Was Jesper Juul Eltern und Erziehenden zu vermitteln sucht, ist: Wir Er-wachsenen müssen lernen, Kinder auf eine neue, sensiblere Weise zu se-hen und ernst zu nehmen und auch störendes Verhalten in Botschaften zuübersetzen. In diesem Buch wird anhand vieler Beispiele herausgearbeitet,wie Kinder und Erwachsene in einen aufrichtigen Dialog treten können:Jesper Juul zeigt, worauf es dabei ankommt, wie konkret und unter wel-chen Bedingungen dieser zu realisieren ist, inwiefern er den gesamtgesell-schaftlichen Umgang beeinflusst und wie er sein eigenes Leben veränderthat. Der Leser sieht, wie das in den typischen alltäglichen Konfliktfeldernwie morgendliches Aufstehen, Essen, Schule, Hausaufgaben, Kleidung, An-ziehen, Taschengeld, Ausgehen, Zubettgehen Gestalt gewinnt. Ein Buch,das die Familie und das Leben in ihr gründlich verändern kann.

Der AutorJesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, Lehrer, Gruppen- und Familien-therapeut, leitete von 1979 bis 2004 das Kempler Institute of Scandinavia. Er gibtseit 1987 die Zeitschrift Familien heraus. Seit 1991 arbeitet er außerdem alsAusbilder für Familientherapie in Kroatien und als Therapeut in Flücht-lingslagern. 2004 wurde er Mitbegründer eines europäischen Projekts fürFamilien namens family lab.

Die HerausgeberinIngeborg Szöllösi, Dr. phil, geboren 1968, Studium der Philosophie, Thea-ter- und Literaturwissenschaft in München. Freie Journalistin und Buch-autorin.

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Aus Erziehung wird BeziehungAuthentische Eltern – kompetente Kinder

Hg. von Ingeborg Szöllösi

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Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2005

www.herder.deSatz: Susanne Lomer, Freiburg

Herstellung: fgb • freiburger graphische betriebe 2005www.fgb.de

Umschlaggestaltung und Konzeption:R•M•E München / Roland Eschlbeck, Liana Tuchel

Umschlagmotiv: © GettyimagesISBN 3-451-05533-3

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Erziehung als Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Der biographische Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Therapeut sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Verantwortlich leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Sich selbst Grenzen setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45Verantwortung übernehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Überverantwortlich sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Der persönliche Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Der Dialog zwischen Schule und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Der Dialog in Grenzsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Geliebt sein und sich verändern wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Negative Gefühle und Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128Nein sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Gemeinsam in die Welt von morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

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Vorwort

„Von dem freien Kind in der Familie zu sprechen, ist für michnicht möglich!“ – Dieser Satz ließ mich aufhorchen: Was ich ge-rade gehört hatte, konnte doch wohl nicht aus dem Mund desberühmten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul stam-men, dessen Buch „Das kompetente Kind“ ich regelrecht ver-schlungen hatte. Er, der behauptet, es sei ein Sakrileg, Kinder als„unsoziale, inkompetente Halbmenschen“ zu betrachten, er, derausruft, die persönliche Verantwortung sei die „kraftvollste undpotenteste“, er, der nicht müde wird, seinen Lesern und Zuhö-rern nahe zu bringen, dass die Kinder den „Schlüssel für eine ge-sündere Familiengemeinschaft“ in der Hand hielten – wie kanner nun erklären, es sei ihm nicht möglich, von dem freien Kindin der Familie zu sprechen?

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Schließlich gabes niemanden, der so konsequent wie Jesper Juul die Idee einer„freien Erziehung“ vertreten hatte. Was war geschehen? Daskurze Interview, das ich damals für eine Zeitschrift mit ihmführte, ließ viele Fragen offen.

Ich bat Jesper Juul um ein weiteres Interview, eines, das sol-che Fragen beantworten und die Grundlagen neu bestimmensollte. Zu meiner großen Freude stimmte er einem langen Inter-view zu, das sich über mehrere Tage hinziehen sollte: „Ja, wa-rum nicht?“ – Warum nicht? Vielleicht weil es zu persönlichwerden könnte, dachte ich. Aber für Jesper Juul ist nichts per-sönlich genug! Seine fünfundzwanzigjährige Arbeit als Familien-therapeut, Trainer, Vortragender, Buchautor dreht sich genau da-rum: Mensch, werde persönlich, sonst irrst du beziehungslosdurch die Welt! Und: Begleite deine Kinder auf diesem Weg –ihrem eigenen Weg, eine souveräne Person zu werden! Seinewesentliche Frage an Eltern lautet: „Möchtest du als Vater oderMutter, dass deine Kinder so aufwachsen, dass sie ihr eigenes,

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unabhängiges Wesen leben, oder möchtest du Kinder großzie-hen, die wissen, wie sie sich benehmen?“

Dieses Buch ist das Ergebnis unserer Gespräche. Die großeFrage, die sich stellt, lautet: Wie kann aus Erziehung eine leb-hafte, warme und tiefe Beziehung zwischen Eltern und Kinderwerden? Die Geschichten, die Jesper Juul aus seinem eigenenLeben erzählt, die Fallbeispiele, die er aus seiner therapeutischenPraxis zitiert, und seine philosophischen, an der Existenz ausge-richteten Überlegungen führen zu dem Schluss: Ja, es ist mög-lich, dass aus Erziehung Beziehung wird, in der sich jedes Mit-glied frei fühlt – das zu sagen, zu fragen, zu tun, was in ihm nacheinem adäquaten Ausdruck drängt. Diese Erkenntnis wird dieGesellschaft verändern: Die Familie heute ist die Avantgarde –der Hoffnungsträger für eine beziehungsfreudige Zukunft!

Ingeborg Szöllösi

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Erziehung als Thema

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Beziehungen zwi-schen Kindern und Eltern. Was sagen Sie heute: Wie können wirunsere Kinder erziehen?Eltern und Erziehende, die beruflich mit Kindern arbeiten, be-finden sich heute in einer einmaligen Situation: Sie wünschensich ein neues Erziehungsmodell. Und das wäre noch gar nichtsBesonderes. Jede Eltern-Generation hat sich seit jeher in einerähnlichen Situation befunden: „Wir wollen es nicht so wie un-sere Eltern machen, wir wollen es besser machen.“ Das Einma-lige aber ist heute, dass das seit vielen Generationen bekannte,auf Gehorsam beruhende Erziehungsmuster überhaupt nichtmehr greift. Die Eltern-Generation von heute hat sich radikalvon der Vergangenheit abgewendet und sucht etwas anderes –dieses „Andere“ hat sich noch nicht wirklich herauskristallisie-ren können und wird deshalb von jedem unterschiedlich defi-niert.

Wem ich zum Beispiel sehr häufig in Deutschland, Öster-reich und der Schweiz begegne, sind die so genannten „romanti-schen Eltern“: Sie sind von der Idee besessen, dass sie für ihreKinder das Paradies auf Erden herbeizaubern müssen – dass dieKinder ohne Schmerz, Verletzungen, Ärger aufwachsen sollten!Eine andere, auch sehr verbreitete Vorstellung von Eltern ist,dass sie immer nur nett und freundlich zu ihren Kindern seinwollen. Für sie ist das ewig lächelnde Antlitz die neue Erzie-hungsmethode. Nur kommt es dann zu folgendem jähen Um-sturz und Kulissenwechsel: Wenn die Kinder auf ihr Nett- undFreundlichsein mit „Ungehorsam“ reagieren, wenn sie ungehal-ten werden und nicht wie erwartet zurücklächeln, dann greifendiese Eltern automatisch auf die radikalen Erziehungsmethodender Vergangenheit zurück: Der Eltern „Wunsch“ ist den Kin-dern Befehl!

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Das heißt also, dass Eltern heutzutage sehr verwirrt sind …Ja, und das hat manchmal fatale Folgen: Eltern wechseln ihre er-zieherischen Grundsätze öfter, als sie ihre Unterwäsche wech-seln, sozusagen einige Male pro Tag. Ihr „nettes“ Verhalten kipptin autoritäres um, was die Kinder dann total verunsichert: Ist dasnette oder das strenge Gesicht der Mama die wahre Mama? –Theoretisch dürfte das nicht sein – wir meinen schon längst, alleÜberbleibsel der autoritären Erziehung hinter uns gelassen zuhaben, aber die Praxis in den Familien sieht noch immer andersaus.

Mein Ziel ist es nicht nur, Eltern eine Orientierungshilfe zubieten, sondern vor allem, ihnen Gründe und Motive aufzude-cken, weshalb es tatsächlich so notwendig ist, eine ganz be-stimmte neue Richtung einzuschlagen. Ich möchte Eltern einenWeg aufzeigen, der nicht mehr von den alten Beweggründeneiner auf dem Prinzip Gehorsam basierenden Erziehung ge-speist wird. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meineMöglichkeiten auch nur begrenzt sind – also versuche ich, mirund den Menschen, die zu mir kommen, nichts vorzumachen.

Welches wäre dann Ihre wichtigste Frage im Bereich Erziehung?Gewiss nicht die, wie Erziehung funktioniert oder wie Gewaltfunktioniert, denn das eine wissen wir ganz genau: Sie funk-tionieren! Und sie greifen brutal durch – keine Frage! Je mehrwir die Integrität von Menschen verletzen, desto gehorsamerwerden sie: Es dauert 20 bis 30 Jahre, bis sich jemand, der in sei-ner Kindheit geduckt, unterdrückt, misshandelt oder miss-braucht worden ist, verändert. Das beste Beispiel liefern Frau-enschicksale – wir fragen uns immer wieder: Weshalb sucht sichdenn diese Frau immer wieder Typen, die sie vergewaltigenoder schlecht behandeln? Die Antwort ist eindeutig: Die Ge-walt, die sie einst erfuhr, funktioniert weiter und pflanzt sichfort!

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Es ist also wichtig, eine andere Frage zu stellen: Wie könnenwir uns auf einzelne Menschen beziehen, mit anderen Men-schen umgehen, ohne ihre Integrität zu verletzen?

Aber es ist doch klar, dass wir uns als Individuen dauernd aneinan-der reiben, uns sogar verletzen – wir ecken zwangsläufig immermal wieder an, wenn wir zu einer Gemeinschaft dazugehörenwollen …Ja, wir wollen uns alle anpassen, denn jeder von uns will irgend-wohin gehören. Trotzdem wollen wir auch als Individuen gese-hen werden. Das ist der Konflikt zwischen Kooperation und In-dividuation.

Ich habe mal mit einer Frau gearbeitet, die nicht mehr mitihrem Mann zurechtkam. Sie befand sich genau in diesem Kon-flikt: Wie kann ich dazugehören, ohne mich selbst zu verlieren,wie kann ich mich anpassen, ohne das, was mich wirklich aus-macht, aufgeben zu müssen? – Sie hielt sich für eine äußerstmoderne, unabhängige, liberal denkende Frau, und ich erlebte siein ihrem Berufsleben auch tatsächlich als Löwin. Nur, wenn siemit ihrem Mann zusammen war, verhielt sie sich wie ein abhängi-ges, anschmiegsames Kätzchen – die Löwin war vergessen. Ichmachte sie darauf bloß aufmerksam und sie fing an zu weinen,dann lachte sie und sagt: „Mein Vater, Großvater, Urgroßvater –sie alle waren Pfarrer. Und ich habe gemeint, ich hätte meinenKampf mit dieser Familie beendet, als ich aus der Kirche ausgetre-ten bin.“ Das war für sie wohl ein notwendiger Schritt, um etwasauf Distanz zu gehen, aber als Individuum hat ihr diese Aktionnicht weitergeholfen: Sie hat zwar eine andere Uniform angelegt,aber es ist noch immer eine Uniform und keine Befreiung: IhremMann gegenüber verhielt sie sich immer noch so, als hätte sie esmit dem Vater und Großvater zu tun – nett, lieb, ehrfürchtig.

Diesen Konflikt haben auch Eltern konstant, wenn sieschwierige Entscheidungen treffen müssen – Entscheidungen

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darüber, wie man es in seiner Familie gerne hätte, dass zum Bei-spiel weniger Coca Cola und Chips gekauft werden … Dannmeinen sie, sie könnten so etwas nicht durchsetzen, weil es inanderen Familien nicht verboten ist. Wenn ich über eine längereZeitspanne mit Eltern in Gruppen arbeite, antworte ich ihnenauf ihre fatalistische Feststellung, es sei ja heute eh alles aussichts-los, in Form einer Bescheinigung, auf der Folgendes steht: „Ich,Vater von Alexander, gebe meine Verantwortung an die anderenEltern aus der Klasse ab!“ – Plötzlich horchen Eltern auf undprotestieren dann auch sogleich: „Nein, natürlich möchte ich fürmeine Familie verantwortlich sein!“ Und so gelingt es, Elternnahe zu bringen, dass es wichtig ist, dass sie sich selbst erziehenund ihre Familienkultur aktiv bestimmen. In den nächsten zehnJahren wird sich diese Aufgabe der Eltern vor allem im Umgangmit übergewichtigen Kindern als wesentlich erweisen. Sie müs-sen entscheiden, ob sie es weiterhin dulden wollen, dass sich ihreKinder mit Fastfood ernähren, und es ist davon auszugehen, dassin jedem Elternhaus die Entscheidungen unterschiedlich ausfal-len werden. Eltern müssen heute individuell entscheiden: Waswollen wir in unserer Familie einhalten? Dabei können sie sichauf keine äußere Autorität beziehen: Sie selbst müssen an sichund ihre Vorstellungen von Familie glauben und mit den Kon-flikten, die selbstverständlich daraus erwachsen, rechnen undfertig werden.

Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir machen kön-nen, was wir wollen: Wir können uns kleiden, wie wir wollen,essen, was wir wollen, und wir können uns alles leisten.

Es gibt Eltern, die es tolerieren, dass ihre Tochter mit irgend-welchen Jungs herumhängt und Joints raucht. Sie meinen: „Siemuss durch diese Phase durch, was soll’s!“ Anderen wiederumwäre das zu viel: Sie wollen ihren Kindern nicht mehr allesdurchgehen lassen, nur um mit ihnen gut Freund zu bleiben unddamit die Kinder ihren Freunden sagen können: „Unsere Eltern

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sind gute Kumpels!“ Es gibt also auch die, die den Kindern keineFreikarte mehr ausstellen wollen.

Deshalb bin ich sehr bemüht, und werde es auch in diesemBuch versuchen, den Eltern einige elementare Kriterien an dieHand zu geben, die ihnen als Navigationspunkte auf der Suchenach einer eigenen Familienkultur dienen können.

Der biographische Hintergrund

Welches waren die wichtigsten Stationen auf Ihrem persönlichenLebensweg?Es war mein großes Glück, in eine Familie hineingeboren zusein, in die ich nicht hineingehörte. Ich war der Erstgeborene,mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich. Als ich ungefähr vierJahre alt war, habe ich gespürt, dass mir meine Eltern nicht dasgeben können, was ich brauche. Ich war klein und mussteselbstverständlich bei ihnen bleiben, aber mental habe ich imExil gelebt – ich habe mir meine eigene Welt zurechtphanta-siert und habe mich dabei wohl gefühlt. Den meisten Menschenmacht Einsamkeit zu schaffen, ich aber kenne gar keinen ande-ren Zustand – und nichts erscheint mir wünschenswerter, als al-leine zu sein. Aus mir konnte also zum einen kein soziales Tierwerden – ich habe es nicht einmal aus Versehen versucht, michmit Menschen zu umgeben, nur um nicht alleine zu sein, auchspäter als Therapeut nicht. Zum anderen bin ich äußerst be-fähigt, für mich selbst zu sorgen: Ich brauche niemanden, derfür mich sorgt, was manchmal für die anderen schwierig ist,denn: Wie soll man sich auf jemanden beziehen, der so unab-hängig ist?

Meinen Eltern kann man rein äußerlich gesehen gar nichtsvorwerfen. Damals war es normal, keinen Dialog zu führen:

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