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MASTERARBEIT
Johan Galtungs Theorie der
kulturellen Gewalt.
Potenzial und Defizite eines
friedenstheoretischen Konzepts im Lichte der
pragmatistischen Philosophie John Deweys
vorgelegt von
Dipl.-Pol. Michael Reš
am Institut Frieden und Demokratie
der FernUniversität in Hagen
zur Erlangung des akademischen Grades „Master of Peace Studies“
Erstgutachter: Dr. Lutz Schrader
Zweitgutachter: Dr. Helmut Elbers
Nürnberg 2012
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung (2-5)
2. Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt (5-35)
2.1 Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundannahmen
2.2 Der multi-dimensionale Gewaltbegriff
2.3 Der doppelte Kulturbegriff
2.4 Galtungs Vorschlag zur Reduzierung kultureller Gewalt
3. Potenzial und Defizite der Theorie der kulturellen Gewalt
(36-52)
4. Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt im Lichte der
pragmatistischen Philosophie John Deweys (52-65)
4.1 Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundannahmen
4.2 Die dynamische Kulturtheorie
4.3 Das Demokratieverständnis
5. Schlussbetrachtung (65-68)
6. Literatur (69-79)
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1. Einleitung
Die wissenschaftliche Bearbeitung politisch-kultureller Fragen ist auf dem besten Wege in
den Humanwissenschaften paradigmatischen Charakter zu erlangen. Seit Längerem ist
deshalb vom „cultural turn“1 die Rede. Die aktuelle Bedeutung politisch-kultureller
Fragestellungen erklärt sich in mehrfacher Hinsicht. Vor dem Hintergrund von Globalisierung
einerseits und (Re-)Partikularisierung andererseits stellt die Aufgabe, komplexe Prozesse
kulturellen Wandels wahrnehmbar und beschreibbar zu machen bzw. im hermeneutischen
Sinne zu verstehen eine unmittelbare Herausforderung für die Wissenschaft dar. Das
steigende Interesse an der Beziehung zwischen „Politik“ und „Kultur“ wird durch die
aktuellen inhaltlichen Akzentsetzungen innerhalb des geisteswissenschaftlichen Diskurses
bestätigt. Einflussreich sind hier beispielsweise die Multikulturalismus-Debatte2, die Frage
nach den „vorpolitischen“ kulturellen Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten3, die
von Samuel Huntington angestoßene Debatte um einen vermeintlichen „Kampf der
Kulturen“4 und insbesondere die jüngst zunehmend in den Fokus rückende dezidiert kultur-
und zivilisationsvergleichende Forschung.5 Auch in der Friedens- und Konfliktforschung
gewinnen kulturtheoretische Fragestellungen zunehmend an Bedeutung. „Obwohl die
Friedensforschung diese Momente immer mit berücksichtigt hat, werden sie erst seit dem
‚cultural turn‘ systematischer erforscht.“6 Entsprechend hebt Kinkelbur hervor, dass „das
Stichwort Kultur eine neuerdings deutlicher erkannte Bezugsgröße für die Systematisierung
des Kerns einer anwendungsbezogenen Friedensforschung“7 darstellt.
„Eine Öffnung gegenüber kulturtheoretischen […] Fragestellungen stellt dabei nicht die Verankerung
der Friedensforschung in den Sozialwissenschaften zur Disposition, beinhaltet jedoch einen Verzicht
auf rein ideologiekritische, verneinende Vorgehensweisen in der wissenschaftlichen Arbeit zugunsten
von Studien, die eine Debatte über die Eingriffs- und Handlungsfähigkeiten von Subjekten und
Kollektiven in die Prozesse der sozialen Produktion von Unfrieden und der Etablierung von
gesellschaftlichen Friedensstrukturen beinhaltet.“8
In der Friedens- und Konfliktforschung nimmt Galtungs Idee des „Primats der Kultur“9 bei
der Suche nach Erklärungen für das Gewaltpotenzial von Gesellschaften eine prominente
1 Vgl. Bachmann-Medick (2007); Schwelling (2001). Zur Theorie des Paradigmenwechsels siehe Kuhn (1989). 2 Bespielsweise die Kontroverse um Seyla Benhabibs „The Claims of Culture“. 3 Die von Ernst Böckenförde aufgeworfene Frage nach den politisch-kulturellen bzw. zivilreligiösen
Bedingungen von Demokratie, die sie selbst nicht „garantieren“ könne, hat in der Debatte zwischen Jürgen
Habermas und Joseph Kardinal Ratzinger neue Aktualität erhalten. Vgl. Habermas/ Ratzinger (2006). 4 Vgl. Huntington (1996). 5 Vgl. Sigwart (2012), S. 42f. 6 Wintersteiner (2001), S. 18. 7 Kinkelbur (1995), S. 126. 8 Kinkelbur (1995), S. 126. 9 Vgl. Schmidt (1999).
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Stellung ein. „Kaum ein zweiter zeitgenössischer Friedensforscher dürfte die Bedeutung von
Kultur – in einem umfassenden Sinne – für Krieg, Frieden und alle Formen sozialer und
personaler Gewalt so betont und gleich anspruchsvoll begründet haben wie Johan Galtung.“10
Um die kulturelle Dimension von Gewaltphänomenen zu beleuchten und hervorzuheben
entwickelt Galtung in Anschluss an die Kategorien direkter und struktureller Gewalt die
Theorie der kulturellen Gewalt. Diese steht im Mittelpunkt meiner theoretischen Studie. Im
Fokus des Interesses steht hierbei die Frage inwieweit Galtungs Theorie der „kulturellen
Gewalt“ seinem friedensförderlichen Anspruch gerecht wird. Weitere Grundfragen meiner
Arbeit sind: Was versteht Galtung unter kultureller Gewalt? Ist es ein produktives Konzept?
Wo liegen die Schwächen? Wie kann die Idee theoretisch konkretisiert bzw. weiterentwickelt
werden?
Da Kritik nicht einsetzen kann ohne den Gegenstand der Kritik ausreichend ausgeleuchtet zu
haben, gilt es zunächst eine Ausgangsbasis zu schaffen und Galtungs theoretische Entwürfe
zu rekonstruieren.11
Durch die systematische und textnahe12
Rekapitulation Galtungs zentraler
Grundgedanken soll das Konzept der kulturellen Gewalt insoweit einer theoretischen Klärung
zugeführt werden, dass die Potenziale des Begriffs sowie seine Schwächen und theoretischen
Unschärfen deutlich werden. Da die Theorie der kulturellen Gewalt in einen umfassenden
wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Kontext eingebaut ist, soll dieser
mitberücksichtigt werden. Eine längere Passage meiner Arbeit widmet sich explizit der
Erläuterung der theoretischen Grundlegung von Kultur und Gewalt. Da Galtungs
Kulturtheorie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinen zivilisationstheoretischen
Vorstellungen steht, sollen diese ebenso betrachtet werden. Mit der Fokussierung „weicher
Faktoren“ des Politischen stellt sich die Frage nach der Überwindung kulturell-bedingter
Gewaltphänomene. In diesem Zusammenhang werden Galtungs Therapieansätze zur Heilung
von kultureller Gewalt zusammengefasst.
Anhand der Theorie des „demokratischen Friedens“ sollen als nächstes das Potenzial sowie
die Schwächen von Galtungs kulturtheoretischem Ansatz diskutiert werden, wobei der Fokus
auf den Defiziten liegt. Es wird dabei die These vertreten, dass die Theorie der kulturellen
Gewalt richtungsweisende Perspektiven eröffnet, um demokratische Gewaltaffinitäten zu
verstehen. Galtungs kulturorientierter Forschungsansatz hat das Potenzial, der „genetischen
10 Schmidt (1998), S. 36. 11 Dass dies aufgrund des umfangreichen Werkes Galtungs kein leichtes Unterfangen ist, darauf verweist Holm:
„Excuses are necessary: any attempt to present elements of Johan Galtungs’s intellectual Odyssey must be a
dangerous one.” Holm (1980), S. 27. 12 Die textnahe Analyse soll verhindern, dass in Galtungs Arbeit etwas „hineininterpretiert“ wird, was gar nicht
drin steht.
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Blindheit“ liberaler Sozialwissenschaft entgegenzutreten (These 1). Allerdings wird dieses
Potenzial aufgrund Galtungs problematischen Kulturbegriffs nur unzureichend ausgeschöpft
(These 2). Galtung ist beispielsweise nicht in der Lage auf Basis seiner tiefenkulturellen
Erörterungen die uneinheitliche demokratische Gewaltneigung schlüssig zu erklären. Im
Weiteren will ich der Frage nachgehen, inwieweit es sich bei der Unterbetonung kultureller
Varianz um ein theorieinduziertes Problem in Galtungs Denken handelt.
Eine weitere These (These 3) meiner Arbeit ist nun, dass eine Reflexion Galtungs
kulturtheoretischen Denkens im Lichte der pragmatistischen Philosophie John Deweys, aus
den Aporien herausführen könnte, die für Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt
diagnostiziert wurden.
John Dewey (1859-1952) zählt neben Charles Sanders Peirce, William James und George
Herbert Mead zu einem der zentralen Begründer des Pragmatismus, einer philosophischen
Denkrichtung, die in den letzten Jahren eine starke Renaissance erlebte.13
Kulturtheoretische
Fragestellungen nehmen in der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen „großen
philosophischen Strömung Amerikas“14
einen prominenten Platz ein. „Klassische
Pragmatisten wie John Dewey und George Herbert Mead verstanden ihre Philosophie als
einen Beitrag zur Theorie und Kritik der Kultur.“15
Vor allem bei John Dewey bilden
kulturtheoretische Überlegungen die Grundlage seiner gesamten Philosophie.
Die Bedeutung des pragmatistischen Kulturverständnisses betont Reckwitz. Er bezeichnet das
pragmatistische Kulturverständnis als „dritte Wurzel des bedeutungs- und wissensorientierten
Kulturverständnisses“.
„Eine dritte Wurzel des bedeutungs- und wissensorientierten Kulturverständnisses findet man in der
Philosophie des ‚Pragmatismus‘, jenes spezifisch US-amerikanischen Beitrags zu den philosophischen
Innovationen des 20. Jahrhunderts. Der Pragmatismus von Peirce bis James, Dewey, Thomas und Mead
lässt sich als eine Theorie symbolvermittelten Handelns verstehen. […] Entscheidend für die
pragmatistische Perspektive ist, dass der Handelnde in Auseinandersetzung mit den Gegenständen und
Personen in der Handlungssituation übersituativ geltende Symbol- und Zeichensysteme heranzieht, um
– wie es bei Thomas heißt – ‚die Situation zu definieren‘ und somit selbstkontrolliert handeln zu
können. Auch wenn diese Situationsinterpretationen meist zu routinisierten ‚habits‘ gerinnen, ist aus
pragmatistischer Sicht in überkomplexen Handlungskontexten ein kreativer Umgang mit den vertrauten
Symbolsystemen möglich und notwendig – die Interpretationsprozesse sind prinzipiell, wie Peirce es in seinem Konzept der ‚Semiosis‘ annimmt, unendlich.“16
Da „[d]ie Stärke eines pragmatistischen Ansatzes […] sich besonders in der Fähigkeit [zeigt],
sowohl Wandel als auch Kontinuität erklären zu können […]“17
kann Deweys kritische
Kulturphilosophie zahlreiche positive Impulse geben, um Galtungs Idee der kulturellen
13 Vgl. Sandbothe (2000). 14 Joas (1992), S. 13. 15 Neubert (2004), S. 114. 16 Reckwitz (2006), S. 88f. 17 Roos (2003), S. 121.
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Gewalt neu zu denken. Zwar war Dewey kein expliziter Friedensforscher, dennoch lassen sich
Deweys kulturtheoretische und demokratietheoretische Ausführungen mit seiner im Vergleich
zu Galtung stärkeren akteurstheoretischen Nuancierung gewinnbringend aus
friedenswissenschaftlicher Perspektive18
lesen. Vor dem Hintergrund des äußerst facettenreichen, vielschichtigen und umfangreichen philosophischen Werks muss es aber klar
sein, dass auch in dieser Arbeit Deweys kulturtheoretische Überlegungen nur punktuell
herausgearbeitet werden können. Ziel ist es nicht, Deweys komplexe und vielschichtige
kulturtheoretische Überlegungen im Detail darzustellen. Vielmehr konzentriert sich die
Arbeit darauf, aus dem argumentativen Gesamtspektrum diejenigen Aspekte
herauszuarbeiten, die für die zentrale Fragestellung dieser Arbeit von besonderem Interesse
sind. Nichtsdestotrotz versuche ich zu zeigen, dass Deweys kulturtheoretische Ansätze
wichtige Denkanstöße für den friedentheoretischen Diskurs geben können.
2. Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt
2.1 Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundannahmen
Das wissenschaftstheoretische Grundverständnis Galtungs ist nicht einfach zu fassen, da es
nicht statisch ist, sondern sich in einem Prozess der ständigen Neujustierung befindet. Vor
dem Hintergrund der Erforschung der Grundbedingungen des Friedens sucht Galtung
kontinuierlich nach Antworten auf die Fragen nach der Bedeutung von Wahrheit und
Erkenntnis, nach den Potenzialen des menschlichen Geistes sowie nach dem Verhältnis von
Mensch und Welt. Diese Suchbewegung durchläuft verschiedene Phasen, in der die
Erweiterung des Friedensbegriffs und die Veränderung der erkenntnis- und
wissenschaftstheoretischen Akzentsetzung parallel verlaufen.19
„Parallel with the changes in
the definition of the central concept of peace there has been a change in Galtung’s
epistemology.”20
In diesem Zusammenhang sei auf einen wichtigen Sachverhalt hingewiesen:
„Wenn er [Galtung] eine Theorie oder Methode für geeignet und leistungsfähig für sich entdeckt hat,
gibt er diese nicht einfach wieder auf […]. […] Sein Anliegen [ist] […], durch produktive
Überbrückung vermeintlicher (meta-)theoretischer und methodologischer Gegensätze neue
Möglichkeiten und Kreativitätspotenziale für die Anwendung wissenschaftlicher Konzepte und
18 Eine explizite Rezeption der Denktradition des amerikanischen Pragmatismus findet in der deutschsprachigen
Friedensforschung allerdings nicht statt. 19 Posern verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Kombination „sehr differenzierten
Theorieströmungen […] zu dem Ursachenbündel [gehört], das es so erschwert, Galtungs eigenen
wissenschaftlichen Standort auszumachen […].“ Poser (1992), S. 46. 20 Holm (1980), S. 33.
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Methode und die Erhöhung ihrer Erklärungskraft und gesellschaftsverändernden Produktivität zu
erschließen.“21
Die kontinuierliche Expansion seines wissenschaftstheoretischen Fundaments durch
Integration neuer Forschungsperspektiven kann als Grundcharakteristikum seiner Arbeit
angesehen werden. „[...] [T]he general tendency in Galtung's work is expansion: in terms of
the central concept of peace, in terms of epistemology, in terms of substance.”22
Ziel dieses
Expansionsprozesses ist die Ausdehnung der Reichweite seiner Theorien.
Ausgangspunkt seiner (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit philosophischen,
epistemologischen und ontologischen Fragen bildet dabei die Reflexion positivistischer
Wissenschaftsideale.23
Grundidee dieses Wissenschaftsverständnisses ist es, den logischen
Aufbau und die methodischen Verfahrensweisen der Naturwissenschaft auf die
Humanwissenschaften, namentlich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, zu
übertragen.24
Maßgebliches Ziel szientistischer Methode ist dabei die Realisierung eines
möglichst idealen Versuchsaufbaus, welcher es dem Forscher ermöglicht gemäß dem Ideal
des unbeteiligten, neutralen Beobachters den Untersuchungsgegenstand von Außen und aus
sicherer Distanz zu analysieren. Durch die Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand
soll ein verzerrender und manipulativer Eingriff durch den Wissenschaftler auf die Ergebnisse
vermieden werden. Ebenso bleibt der Forscher gegenüber den möglichen politischen Folgen
seiner Forschung neutral; angestrebt ist eine klare Trennung zwischen Wissenschaft und
Politik. Ziel der positivistisch geprägten Wissenschaftsphilosophie ist eine Etablierung einer
wertfreien und objektiven Wissenschaft.25
Ontologische Grundprämisse dieses
positivistischen Wissenschaftsverständnisses stellt die Annahme dar, dass eine objektive, d.h.
letztlich eine nicht willentlich vom Menschen konstruierte und damit nicht veränderbare
(soziale) Wirklichkeit existiert. In dieser sozialen Wirklichkeit existieren Regeln und Gesetze
des menschlichen Zusammenlebens, welche prinzipiell wissenschaftlich erschlossen werden
können.26
„Deren Regeln und Gesetzmäßigkeiten glaubt eine positivistische Wissenschaft idealtypisch abbilden
und erklären zu können, indem sie den Standpunkt einer vermeintlich alles durchdringenden und
21 Schrader (2009), S. 31. Dass ihm dieses Unterfangen in kulturtheoretischer Hinsicht in meinen Augen nicht
wirklich gelingt, werde ich später hervorheben. 22 Holm (1980), S. 36. 23 Das Buch „Theories and Methods of Social Research” aus dem Jahre 1967 repräsentiert Galtungs anfängliche
Bevorzugung positivistischer Wissenschaftsideale. Vgl. Holm (1980), S. 47, Anm. 30. Ebenfalls heben
Strzelecki (1980) und Schrader (2009) die stark positivistisch, systemtheoretisch orientierte Ausgangsposition
Galtungs hervor. 24 Vgl. Menzel/ Varga (1999), S. 26. 25 Erkenntnistheoretische Zugänge, die sich auf verstehende, interpretative oder hermeneutische
Argumentationslogiken stützen, werden aus der Warte szientistischer Forschung als spekulativ und daher als
„unwissenschaftlich“ eingestuft. 26 Vgl. Schrader (2009), S. 35.
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überblickenden Instanz einnimmt und sich daher bemächtigt fühlt, über die ‚Wahrhaftigkeit‘ von
Aussagen und Gedanken zu urteilen.“27
Grundproblem der szientistischen Wissenschaftsphilosophie ist die Tatsache, dass die
Selektivität und die normative Konnotation der vermeintlich objektivierten Daten meist nicht
hinterfragt werden. Empirische Wissenschaften setzen ebenfalls Werte voraus, thematisieren
diese aber nicht.28
„Zur Wissenschaftskultur des Positivismus gehört außerdem, dass die Beschränkung auf wenige, als
relevant erachtete Variablen als erstrebenswert und ‚elegant‘ gilt. Der Preis für diesen Gewinn an
Wissenschaftlichkeit besteht meist in der Ausblendung anderer kritischer Variablen, ja mitunter ganzer
Bereiche des historischen, sozialen und kulturellen Kontextes des untersuchten Zusammenhangs.“29
Anfangs favorisiert Galtung als studierter Mathematiker grundsätzlich einen stark
empiristisch orientierten Positivismus.
„Damals war ich […] sehr naturwissenschaftlich beeinflusst, […] die Naturwissenschaft war noch das Modell und das Ideal noch der Positivismus. […] [I]m Ideal des Positivismus sind die Muster auch
ewig, sie bewegen sich nicht. Also muss man nur lernen, diese Muster wieder zu erkennen. Daher kam
auch mein ursprünglicher Anspruch, die Bedingungen des Friedens genauso zu erfordern wie man es in
der Naturwissenschaft tut. Das war damals noch mein Ideal, aber das ist mittlerweile verschwunden.“30
Im Mittelpunkt seines Denkens stand in dieser Phase die positivistische Suche nach „der
Wahrheit“ des Unfriedens oder nach den letzten unveränderlichen Fundamenten und Gründen
gewalttätigen Handelns. „I believed that such archimedean fixed points existed and that these
were the points from which objective social science should be pursued.“31
Friedensforschung
war für den jungen Galtung eine Frage eines szientistischen Wissenschaftsverständnisses und
nicht eine Frage philosophischer Spekulation.32
„[I]n der ersten Phase [hatte] Galtung noch in der Empirie die quasi richterliche Instanz für die
Gültigkeit wissenschaftlicher Theorien gesehen und ganz selbstverständlich versucht, diesen
Gradmesser in die neu aufzubauende Friedens- und Konfliktforschung zu übernehmen […].“33
In dieser Zeit orientierten sich Galtungs Ansätze an der positivistischen Objektivität der
Naturwissenschaften, was am häufigen Gebrauch naturwissenschaftlicher Analogien aus
Mathematik, Biologie und Physik abzulesen ist. Vor diesem Hintergrund entwickelte Galtung
seine bis heute überaus wichtige strukturalistische Methode der Isomorphie.34
Das Konzept
27 Roos (2003), S. 9. 28 Vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil eine ihrer Voraussetzungen die Vorstellung ist, dass ihre Werte
universell gültig seien, und man deshalb annimmt, dass ihre Thematisierung gar nicht von Nöten wäre. 29 Schrader (2009), S. 61. 30 Graf/ Macho (2010), S. 11f. 31 Galtung (1971b), S. 161f. 32 „Some people seem to think that such problems (definition, method etc.) can be clarified by speculation a
priori, others prefer a more pragmatic, empirical approach. I belong to the latter.” Galtung (1975c), S. 228. 33 Schrader (1999), S. 30. 34 Hierzu Holm: „The use of analogies, either to provide the arguments or to extend the explanatory value of a
theory, is a dominant factor in most of Galtung’s work.” Holm (1980), S. 38.
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der Isomorphie versucht „across-levels-analog[ies]“35
herzustellen und ist angelehnt an den
mathematischen Strukturbegriff 36
, welchen Galtung definiert als „a set of elements with a set
of relations defined on the elements“37
. In der Übertragung des Isomorphie-Konzepts auf die
Sozialwissenschaft sieht Galtung das Potenzial, soziologische und kulturelle Parallelen und
Muster zwischen Mikro- und Makroebene ausfindig und logisch greifbar zu machen.38
„Isomorphie bedeutet, dasselbe Muster wieder zu erkennen, auch wenn es an einem anderen
Ort ist.“39
Das Ausblenden vieler Details gehört hierbei zur beabsichtigten Forschungsagenda:
„Das menschliche Individuum ist unendlich komplex, und das gilt erst recht für die
menschliche Gesellschaft; um sie aber zu verstehen und zu verändern, brauchen wir eine
vereinfachte Art des Denkens über Gesellschaft.“40
„Eine weitere Möglichkeit, die diese Methode bietet, ist die Überbrückung der Polarisierung zwischen
der Kulturtheorie und der Strukturtheorie ebenso wie die Überbrückung zwischen dem empirisch-quantitativen Ansatzes und der Mathematik auf der einen Seite und dem interpretativen Ansatz und der
Phänomenologie auf der anderen Seite.“41
Unter Rückgriff auf die Konzeption der Isomorphie kommt Galtung zu der Einsicht, dass
zwischen der Sozialstruktur und der Wissenschaftsstruktur eine enge Beziehung besteht. „Die
Anwendung einer Methodologie“, so erkennt er, „sei eine politische Handlung“42
, weil sie die
Struktur der Gesellschaft in der sie entsteht, bestätigt oder verwirft. Isomorphie ist jedoch
nicht nur zwischen Sozial- und Wissenschaftsstruktur zu beobachten, sondern überträgt sich
ebenso auf die Struktur des Wissenschaftsprodukts.43
„[D]ie Theoriekonstruktion ist auch
isomorph mit einer bestimmten vertikalen Sozialstruktur in der Gesamtgesellschaft und in der
Wissenschaft im Besonderen.“44
Wissenschaft ist für Galtung deshalb
„wirklichkeitsverändernde“ und „wirklichkeitsschaffende Praxis“45
. Auf der Basis der
Reflexion der nicht zuletzt politischen Tragweite wissenschaftlicher Methodenwahl versucht
Galtung ein Verständnis von Wissenschaft zu entwickeln, welches den Zusammenhang von
Daten, Theorien und Werten neu bewertet. Vor dem Hintergrund des passiven
35 Holm (1980), S. 38. 36 Laut Stzelecki sind Galtungs wissenschaftliche Zugänge zur sozialen Wirklichkeit „[...] mostly structure-
oriented, elaborated with deep concern that they be used for description of various deprivations of ‚those most in need’. This, I would say, is a positivist element colored by basic categories of Marxist analysis, reshaped and
rethought.” Strzelecki (1980), S. 55f. 37 Galtung (1970), S. 171. 38 Boulding ordnet vor diesem Hintergrund Galtung dem systemtheoretischen Denken Talcott Parsons‘ zu: „[...]
[F]or in many ways I think Galtung’s thought is Parsonian.” Boulding (1977), S. 76. 39 Graf/ Macho (2010), S. 36. 40 Galtung (1979a), S. 164. 41 Galtung (2010), S. 38. 42 Galtung (1978), S. 50. 43 Vgl. Galtung (1978), S. 13. 44 Galtung (1978), S. 72. 45 Galtung (1978), S. 84.
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Selbstverständnisses der auf Beobachtung beschränkten Wissenschaft und der damit
einhergehenden Nichtthematisierung „unwissenschaftlicher“ normativer Fragen, nimmt
Galtung zunehmend Abstand vom nomothetischen, auf empirisch-analytische Fragen
limitierten Wissenschaftsbild. Galtung erkennt, dass Datenerhebung einen
rückwärtsorientierten Fokus besitzt und Empirie als Gefängnis der Vergangenheit nur wenig
geeignet ist zukünftige Wirklichkeitsveränderung zu denken und hervorzubringen.46
Aus
diesem Grund will Galtung nun „Wertaussagen hinzufügen“ um sich der „Zwangsjacke für
die Vorstellungen von der Wirklichkeit“47
zu entledigen.
Wichtigstes Resultat in dieser Phase ist die Abkehr vom Ideal der Wertefreiheit. Die
Prioritätssetzung für wissenschaftliches Arbeiten erfolgt nun konsequent nach normativen
(sprich: friedensorientierten) Maßstäben.48
Unmittelbar in Verbindung mit dieser normativen
Ausrichtung steht das Ziel, gesellschaftliche Veränderungsprozesse durch wissenschaftliche
Praxis voranzutreiben. „Die normative Orientierung […] drückt den Anspruch auf
Veränderung und den Ausblick auf Zukünftiges, Wünschenswertes aus, d. h. sie ist in
gewisser Weise auch als Grundlage für den postulierten Praxisbezug zu sehen.“49
Wissenschaft versucht sich hier nicht mehr über den sozialen Realitäten zu positionieren,
sondern wird von Galtung bewusst als Teil sozio-politischer Praxis definiert.
In der dritten Phase erhält Galtungs Wissenschaftsbild durch die Ergänzung mit
ideographischen Elementen eine neue Qualität. In der 1972 veröffentlichten Schrift
„Empiricism, Criticism, Constructivism“ entwickelt er die Idee des „Konstruktivismus“,
welche durch die Verbindung von Datenanalyse, Theoriebildung und Wertbestimmtheit
ausgezeichnet ist. Von nun an werden Werte bewusst in den wissenschaftlichen Prozess
integriert. Die Validität theoretischer Aussagen hängt hierbei nicht allein vom erhobenen
empirischen Material ab.50
Vielmehr ist ihre Gültigkeit von einer Wertereflexion abhängig,
welche Vereinbarkeit theoretischer Konstrukte mit ethisch-moralischen Grundpositionen
überprüft.
46 Hierzu Lawler: „For Galtung, to read the future from the past, to bow before history, is to restrict the creative potentiality of theory.” Lawler (1995), S. 104. 47 Galtung (1978), S. 72f. 48 Vgl. Schrader (1999), S. 29. 49 Alfs (1995), S. 29. Ebenso Galtung: „Wissenschaftliche Tätigkeit endet also nicht mit etwas Geschriebenem,
bei dem sprachliche Übereinstimmung – eine ‚Lösung auf dem Papier‘ – erzielt wird. Sie endet erst, wenn die
Wirklichkeit verändert und empirische Übereinstimmung erzielt ist. Eine gute Theorie erklärt nicht die
empirische Wirklichkeit, sondern führt zur Verwirklichung einer vorgezogenen möglichen Wirklichkeit.“
Galtung (1978), S. 85. 50 Hierzu Holm: „Data no longer occupy a prominent position; instead, reasoning is done through concepts and
analogies. Epistemologically this phase represents a period of searching for a more adequate basis for a new
paradigm of peace research. As a result, the concept of science is expanded to include values, data, theory, and
action in the same process.” Holm (1980), S. 34.
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„Damit werden nicht nur Aussagen über gesellschaftliche Zustände ermöglicht, wie im empirisch-
analytischen Ansatz, sondern durch wertorientierte Analysen Konzepte für gesellschaftliche
Veränderungen entworfen. Es geht bei diesem Ansatz darum, beobachtbare Daten, theoretische
Konstrukte und Prognosen sowie wertorientierte Zukunftsentwürfe zusammengefasst in einen
‚Weltpunktraum‘ zu legen und unmittelbar zu vergleichen.“51
In folgenden Jahren wird die Grundidee zum „wissenschaftstheoretischen Dreiecks“
ausgebaut,
„das an den Ecken die drei elementaren Dimensionen jedes Forschungsprozesses – Daten, Theorien,
Werte – und an den Seiten die drei grundlegenden metatheoretischen Schulen – Empirismus,
Kritizismus, Konstruktivismus – zusammenführt“52.
Auf Grundlage seines „wissenschaftstheoretischen Dreiecks“ favorisiert Galtung nun eine
Dreiteilung der Friedenswissenschaft.
„Peace studies can be conveniently and usefully divided into past-oriented, empirical, what worked and
what did not; present-oriented, critical, evaluating present policies; future-oriented, constructive,
elaborating future policies. [...] All three approaches are part of peace studies, riding on all three criteria
of being scientific. Any limitation to only one of these approaches is as meaningless in peace studies as
it would be in, say, health studies. And – when the future has become the past empirical approach will
of course be used to find out whether any new and constructive approaches worked.”53
Bemerkenswerterweise distanziert sich Galtung allerdings nicht von seinen bisherigen
strukturalistisch-funktionalistischen Methoden, sondern versucht die aus seiner Sicht
positiven Aspekte einer „positivistischen“ Vorgehensweise in einen erweiterten
wissenschaftstheoretischen Rahmen zu integrieren.54
In der vierten Phase werden die strukturalistische Methode der Isomorphien, das
wissenschaftstheoretische Dreieck und die soziale Responsibilität des Wissenschaftlers durch
kulturtheoretische Überlegungen nochmals in neuer Qualität in Verbindung gebracht.
In diesem Zusammenhang versucht Galtung sich vom westlichen Wissenschaftsverständnis
zu distanzieren. Die Grundmotivation Galtungs entspringt einer kritischen Haltung gegenüber
gewalt(re-)produzierenden Potenzials in der westlichen Welt. Hierbei unterstellt er der
westlichen philosophischen und wissenschaftlichen Tradition ein fehlendes Instrumentarium,
diese Gewaltverhältnisse überhaupt wahrzunehmen. Zu dieser fehlenden Sensibilität
gegenüber eigenem gewaltgenerierenden Potenzials gesellt sich seiner Meinung nach ein in
der westlichen Gesellschaft tief verwurzeltes Verständnis von Konflikt und
Konfliktbearbeitung, welches nur suboptimale Ergebnisse hervorbringt. „[…] [I]n
grundlegenden Mustern des westlichen Denkens und der westlichen Lebensweise sieht er
[Galtung] folgenreiche Ursachen und Rechtfertigungsgründe für gesellschaftliche Gewalt-
51 Schwerdtfeger (2001), S. 120. 52 Schrader (1999), S. 30. 53 Galtung (2002a), S. 11f. Zitiert nach Schrader (2009), S. 63. 54 Am Beispiel seiner kulturtheoretischen Ausführungen werden wir sehen, dass Galtungs Strukturalismus sogar
die Grundlage seiner Überlegungen darstellt.
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und Ausbeutungsverhältnisse.“55
Deshalb versucht sich Galtung aus dem westlichen
(„okzidentalen“) wissenschaftlich-kulturellen Kontext zu lösen und neue Einflüsse zu
integrieren. Besonders wertvolle Ansätze findet er dabei in asiatischen („orientalen“)
Weisheitslehren. Sie bilden „the postulation of an idealized alternative to mainstream Western
epistemology”56
. Als wichtigen orientalisch inspirierten Aspekt benennt Galtung
beispielsweise das Denken in „sowohl-als-auch-Kategorien“ („ying-yang“).
Insgesamt sind
[b]eide Wege – der westliche und der östliche – […] bei Galtung eng miteinander verwoben. […] Die
westliche Philosophie steht für seine Herkunft und für sein Bemühen, an westliche Wissenschaft und
Diskurse weiterhin anschlussfähig zu bleiben. Die östlichen Weisheitslehren, und vor allem der
Buddhismus, bilden dagegen […] einen intellektuellen und spirituellen Fluchtpunkt, der es ihm erlaubt,
Alternativen zur westlichen Denk- und Lebensweise zu erkunden und zu entwerfen“57.
2.2 Der multi-dimensionale Gewaltbegriff
Galtungs argumentative Vorgehensweise basiert auf der Entscheidung, nicht im Kriegs-,
sondern im Gewaltbegriff das Antonym zum Friedensbegriff zu sehen. Mit dieser
richtungsweisenden Entscheidung versucht Galtung all jene Aspekte physischer und
psychischer Gewaltverhältnisse sichtbar zu machen, die in der begrifflichen Frieden/ Krieg
Dichotomie unbeachtet blieben.
„Indem Frieden (in Analogie zur Definition von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit) als
Abwesenheit von Krieg oder organisierter Gewaltanwendung definiert wird, ist die Friedensforschung
in Gefahr, die jeweils bestehende Ordnung samt aller nichtkriegerischer Ausübung von Unterdrückung,
Freiheitsbeschränkung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit als ‚friedlich’ zu sanktionieren. Um dem zu
entgehen, müssen Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung der Menschen
mit dem Friedensbegriff verbunden werden.“58
Mit dem Gewaltbegriff verfolgt er einen „cleary victim-oriented approach“59
, welcher
versucht, menschliche Lebensbeeinträchtigungen aus der Perspektive des Opfers zu
konzeptualisieren. Indem Gewalt von ihren Konsequenzen her beurteilt wird, geraten all jene
Phänomene die für die Verletzung grundlegender menschlicher Bedürfnisse verantwortlich
sind, ins Blickfeld. Auf Basis eines umfassenden Gewalt-Verständnisses spricht Galtung von
Gewalt,
„wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung. […] Gewalt wird hier definiert als die Ursache für den
Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und
55 Schrader (1999), S. 33. 56 Lawler (1995), S. 209. 57 Schrader (2009), S. 33. 58 Link (1972), S. 11. 59 Galtung (1975d), S. 12.
12
dem, was ist.“60
Eine weitere Gewalt-Definition lautet:
„Ich begreife Gewalt als vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder,
allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das
herabsetzt, was potentiell möglich ist. Die Androhung von Gewalt ist ebenfalls Gewalt.“61
Aufgrund heuristischer Logik unterscheidet er dabei verschiedene Dimensionen der Gewalt:
direkte/ personale Gewalt, strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt. Galtung kommt es
darauf an, „theoretisch signifikante Dimensionen von Gewalt aufzuzeigen, die das Denken,
die Forschung und möglicherweise auch das Handeln auf die wichtigsten Probleme
hinlenken“62
. Das Ziel ist „to make our social reality transparent in significant directions,
making us capture a certain set of important phenomena”63
.
Da der im Zentrum dieser Arbeit stehenden Begriff der kulturellen Gewalt nicht ohne
Berücksichtigung der anderen Formen der Gewalt fassbar ist, scheint es zunächst sinnvoll
diese zu rekapitulieren.
Direkte Gewalt umfasst dabei all jene konventionellen Vorstellungen, die gemeinhin mit
Gewalthandlungen in Verbindung gebracht werden. Gewalt bedeutet in diesem
Zusammenhang „eine bloße physische Beschädigung oder ein Angriff auf Leib und Leben
[...] (mit dem Töten als extremster Form) – ein subjektiver Akt, der eben dies als Konsequenz
intendiert“64
. Wichtiges Kriterium „direkter Gewalt“ ist die Möglichkeit, Subjekte und
Objekte von Gewalt klar zu identifizieren.65
Direkte Gewalt liegt vor, „wenn es einen Sender
gibt, einen Akteur, der die Folgen der Gewalt beabsichtigt“66
. Direkte Gewalt ist demnach
gekennzeichnet durch das Vorhandensein und die Identifizierung eines oder mehrerer
Akteure. Die Spannbreite der mit der Begrifflichkeit „direkte Gewalt“ klassifizierbaren Taten
erstreckt sich von der individuellen Körperverletzung bis zur kollektiven Gewaltausübung in
Form von Krieg. Für Galtung gilt ein solches limitiertes, auf unmittelbare Gewaltanwendung abzielendes
Gewaltverständnis allerdings als nicht geeignet, um die vielfältigen weltweit beobachtbaren
Leidens- und Abhängigkeitsverhältnisse zu charakterisieren. Im Kontext des Diskurses der
kritischen Friedensforschung entwickelt er deshalb den Begriff der strukturellen Gewalt,
welchem er das Potenzial zuschreibt jene Ausprägungen der Gewalt zu identifizieren, die bei
60 Galtung (1975b), S. 9. 61 Galtung (1993), S. 106. 62 Galtung (1975b), S. 8. 63 Galtung (1975d), S. 3. 64 Galtung (1975b), S. 9 65 Vgl. Alfs (1995), S. 31. 66 Galtung (2001), S. 16.
13
der Fokussierung direkter Gewaltverhältnisse unbeachtet bleiben.67
Galtung „entscheidet“
sich deshalb, „die Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Gewalt zur
grundlegenden zu machen“68
. Allerdings macht er darauf aufmerksam, dass beide Arten von
Gewalt, „[...] vollkommen symmetrisch sind: keiner von beiden wird zeitlich, logisch oder
wertmäßig der Vorrang gegeben“69
.
Ziel dieser perspektivischen Öffnung ist es, auf die mannigfaltigen Formen anonymer
Massenverelendung und globalen Massensterbens aufmerksam zu machen.70
Strukturelle
Gewalt liegt überall dort vor, wo Lebenschancen von Menschen durch Mangelsituationen
beeinträchtigt werden, die nicht durch objektive Knappheit von Ressourcen begründet sind
und die mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln eigentlich behoben werden könnten.
Gewalt wird somit zu einem umfassenden Begriff,
„der alles einschließt, was die Selbstverwirklichung des Menschen hemmt und verhindert, alles, was
den Menschen zu weniger macht als er sein könnte. Gewalt findet sich auf dem Schlachtfeld und in den
Elendsvierteln, in der Ausbeutung wie in der Arbeitsteilung, die den Menschen spaltet und ihm eine
Position im Leben zuweist, in der er nur einen sehr kleinen Teil seiner potentiellen Kräfte entfalten
kann.“71
Strukturelle Gewalt ist in diesem Verständnis auch ein Synonym für soziale
Ungerechtigkeit.72
Im Vergleich zu personaler Gewalt tritt strukturelle Gewalt unauffällig, geräuschlos, sehr
stabil, teilweise schwer feststellbar und nachweisbar auf. Sie kann intendiert oder
unbeabsichtigt, manifestiert oder latent auftreten. Strukturelle Gewalt sieht Galtung immer
dann gegeben, wenn es keinen konkret identifizierbaren Täter, aber doch einen Dauerzustand
von Gewalt gibt, welcher sich in ungleichen Machtverhältnissen73
und Lebenschancen
äußert.74
Erscheinungsformen sind beispielsweise Repression im Bereich der Politik und
Ausbeutung im Bereich Wirtschaft.
67 Wie Galtung betont, werden Opfer struktureller Gewalt in der Öffentlichkeit häufig nicht wahrgenommen:
„Die Opfer der direkten Gewalt gehen in die Nachrichten ein, die Opfer der strukturellen Gewalt dagegen in die
Statistiken.“ Galtung (1975b), S. 46. 68 Galtung (1971a), S. 66. 69 Galtung (1975b), S. 34. 70 Vgl. Bonacker/ Imbusch (2006), S. 88. Maßgeblich beeinflusst wurde Galtung hierbei durch seine
Lateinamerikaerfahrung. Hier ist er zur Überzeugung gelangt, dass extreme gesellschaftliche Ungleichheiten
„[…] were in and by themselves violence, that they were unnecessary evils in their own right“. Galtung (1975e),
S. 24. 71 Galtung (1973a), S. 92. An anderer Stelle heißt es strukturelle Gewalt sei alles was „human self-realization“,
„personal growth“ oder „satisfaction of human needs“ behindert. Galtung (1975d), S. 8. 72 „Um das Wort Gewalt nicht zu sehr zu strapazieren, werden wir die Bedingungen der strukturellen Gewalt
zuweilen als soziale Ungerechtigkeit bezeichnen.“ Galtung (1979b), S. 63. 73 „Die der strukturellen Gewalt zugrunde liegende allgemeine Formel [ist] Ungleichheit [...], vor allem
Ungleichheit in der Verteilung der Macht [...].“ Galtung (1975b), S. 19. 74 Strukturelle Gewalt „ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen […] in […]
ungleichen Lebenschancen.“ Galtung (1975b), S. 12.
14
„Von struktureller Gewalt kann also immer dann gesprochen werden, wenn Gesellschaftsordnungen
derart organisiert sind, dass in ihnen ungleiche Lebenschancen und krasse Unterschiede in
Machtpositionen und die damit verbundenen Einflusschancen zum gesellschaftlichen Existenzprinzip
werden.“75
Wichtig ist es in diesem Zusammenhang zu betonen, dass die Existenz von struktureller
Gewalt für Galtung unabhängig von absichtlich handelnden Subjekten vorstellbar ist. Der
Gewaltbegriff ist nicht mehr an die Intention eines Handelnden geknüpft. Strukturelle Gewalt
zeichnet sich daher durch „Akteurslosigkeit“ aus, d.h. es „tritt niemand in Erscheinung, der
einem anderen direkt Schaden“76
zufügt. Im Gegensatz zur klassischen institutionellen Gewalt
existiert auch kein konkreter Träger der Gewalt in Form einer konkreten Organisation
(Polizei, Militär). Die Gewalt ist vielmehr in gesellschaftliche, politische oder ökonomische
Strukturen eingebaut. „Structural violence is violence built into the basic social structure itself
[…].”77
Weder die Existenz einer Struktur noch deren Auswirkungen sind für die Mitglieder
einer Gesellschaft offenkundig. Ebenso reproduziert sich eine Struktur aufgrund ihrer
„internal logic“ nahezu von selbst.
„[S]tructural in the sense [means] that no specific actors are indicated, and in the sense that for the
concrete actors that happen to be performing roles in that structure no specific motivation is necessary.
The basic assumption is that the structure […] is extremely strong and has its own internal logic so that
once it has started operating it is not necessary for those who are acting within it to will all the
consequences.”78
Ein so erweitertes Gewaltverständnis hat Konsequenzen für die Definition des
Friedensbegriffs.
„Durch die grundlegende Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Gewalt bekommt
Gewalt einen Doppelaspekt, und genauso ist es mit dem Frieden, der als Abwesenheit von Gewalt
begriffen wird. Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden:
Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit von struktureller Gewalt.
Wir bezeichnen diese beiden Formen als negativen Frieden bzw. positiven Frieden.“79
Indem Galtung positive und negative Aspekte des Friedens ausfindig macht kommt er zu dem
Schluss,
„dass Frieden nicht nur absentia belli, sondern auch Abwesenheit von Ausbeutung – ökonomischer,
politischer, militärischer, kultureller – eines jeden einzelnen durch den anderen ist [...]. Frieden ist mehr
als Überleben: er beinhaltet die autonome und gerechte Entfaltung aller Teile eines Ganzen nach deren
Neigung, bis hinunter zur autonomen Entfaltung des Individuums, welches stets die Grundeinheit und
der alleinige Adressat politischen Strebens ist.“80
Nun gibt sich Galtung nicht damit zufrieden, den Reproduktionscharakter struktureller
Gewaltverhältnisse einer unbekannten „internal logic“ zuzuschreiben, sondern versucht
75 Ferdowski (1981), S. 114. 76 Galtung (1975b), S. 12. 77 Galtung (1975e), S. 24. 78 Galtung (1980), S. 183. 79 Galtung (1975b), S. 32. 80 Galtung (1973b), S. 9.
15
gerade diese Logik aufzuschlüsseln.81 Durch die anschließende Integration des Faktors Kultur
in sein Gewaltkonzept glaubt Galtung eine geeignete theoretische Basis gefunden zu haben.82
Mit dem Begriff der kulturellen Gewalt vervollständigt Galtung – nach der Etablierung der
strukturellen Gewalt – sein Gewaltkonzept83
und denkt direkte, strukturelle und kulturelle
Gewalt konsequent als Einheit, deren einzelne Aspekte sich wechselseitig bedingen. Galtung
entwirft das Bild eines „Dreiecks der Gewalt“, wobei sein besonderes Interesse dem
Verhältnis zwischen struktureller und kultureller Gewalt gilt. Hierbei betont Galtung das
komplementäre Verhältnis zwischen Struktur und Kultur:
„There will be a coordination between the structural and the cultural phases. If one stands still and the
other changes there will be a rupture. The structure demands a legitimizing culture, the culture a
structural enactment of itself.”84
„So überschreitet schon der Ansatz ‚strukturelle Gewalt‘ Strukturelles und nimmt Gewalt als
in Kultur eingebettet wahr.“85
Die Einführung der kulturellen Gewalt hat den Friedensbegriff
nochmals erweitert. Frieden umfasst nun die Abwesenheit von personaler, struktureller und
kultureller Gewalt: „Friede = direkter Friede + struktureller Friede + kultureller Friede.“86
Durch ihre legitimierende Funktion erhält der Begriff der kulturellen Gewalt allerdings eine
herausragende Stellung (These vom „Primat der Kultur“87
) innerhalb der Gewalt- und
Friedenstypologie.
„Es war immer die Idee, den Struktur-Kultur-Hiatus ein wenig zu überbrücken. Inzwischen bewerte ich
81 Vgl. hierzu Majer: „Die Notwendigkeit für diesen Begriff [der kulturelle Gewalt] ergab sich durch die
Unmöglichkeit bestehender Typologien die Frage zu klären, wie es zur Ausbildung verschiedener Strukturen
(struktureller Gewaltformen) kommen konnte und wie es zur Konservierung dieser Strukturen kommt.“ Majer
(2003), S. 60. 82 „Das Konzept der ‚kulturellen Gewalt‘ tritt in die Fußstapfen des Konzepts der ‚strukturellen Gewalt‘.“ Galtung (1998a), S. 340. 83 Nicht unerwähnt darf an dieser Stelle Hans Saner bleiben. Schon im Jahre 1982 entwickelte er Galtungs
Konzept von personaler und struktureller Gewalt weiter und präsentierte in seinem Aufsatz „Personale,
strukturelle und symbolische Gewalt“ seine Idee von „symbolischer Gewalt“. Den Begriff der „symbolischen
Gewalt“ übernimmt Saner hierbei von Bourdieu und bringt ihn in einen analogischen Zusammenhang
„strukturellen Gewalt“. „So wie Interaktions-Systeme als geltende Ordnungen zum Subjekt von Gewalt werden
können, so können Zeichen und Zeichensysteme durch ihre das Denken, das Fühlen und Handeln prägende Kraft
die Subjekte von Gewalt sein.“ Saner (1982), S. 77. Auch für Saner ist das Zusammenwirken der drei analytisch
differenzierten Gewaltdimensionen entscheidend. Er hebt hervor, dass strukturelle Gewalt durch die symbolische
„hinterbaut“ ist: „[D]urch religiöse, wissenschaftliche, philosophische und ideologische Symbolsysteme, die sie
nicht nur rechtfertigen, sondern die zugleich, durch eigene Gewaltformen, zu Gewalt konditionieren.“ Saner 1982, S. 84. Er illustriert diese Überlegungen anhand von Beispielen der ästhetischen, wissenschaftlichen,
ideologischen und religiösen Gewalt. Saners Überlegungen liegen auch dem Aufsatz Johan Galtungs zugrunde,
der statt von symbolischer von kultureller Gewalt spricht. Galtungs Ansatz prägte allerdings den
friedenswissenschaftlichen Diskurs ungleich größer als Saners. 84 Galtung (2008), S. 159. Ebenso betont Schrader, dass „[b]eide Begriffe – strukturelle und kulturelle Gewalt –
[…] selbst analytisch-konzeptuell kaum voneinander zu trennen“ sind. Schrader (2009), S. 109. 85 Galtung (1997), S. 476. 86 Galtung (1998a), S. 458. 87 An anderer Stelle heißt es: „Mit anderen Worten wird hier die allgemeine These vom Primat der Kultur oder
der Zivilisation vertreten und nicht die marxistische These vom Primat der Ökonomie, die ‚realistische‘ These
des militärischen Primats oder die liberale These vom These vom Primat politischer Institutionen (wie sie z.B. in
der Dichotomie von Demokratie und Diktatur konzeptualisiert ist.“ Galtung (2005), S. 198.
16
die Kultur als fundamentaler. Die Kultur drückt sich in der Struktur aus. Ich glaube, bei mir hat jetzt die
Kulturthese das Primat. Das ist jetzt ja auch große Mode, aber ich sehe das nicht zu dogmatisch. Also
wir sind geprägt durch die Kultur und uns werden die Kulturen durch die Strukturen vermittelt, zum
Beispiel die Familie [...]. Dann kriegen wir diese abstrakten Formen, die sind quasi in uns eingebaut.
Wir merken das immer, wenn wir versuchen, neue Strukturen zu bilden. Es ist eigentlich ein [...]. Hin-
und-Zurück zwischen Kultur und Struktur – die Struktur als materialisierte Kultur und die Kultur als
symbolisierte Struktur.“88
Grundsätzlich subsumiert Galtung kulturelle Gewalt als jene Komponenten einer Kultur, die
zur Rechtfertigung oder Legitimierung direkter oder struktureller Gewalt beiträgt.
Kulturelle Gewalt ist ein Faktor, der andere Formen der Gewaltausübung begleitet,
rechtfertigt, legitimiert und damit ermöglicht. Sie ist „a substratum from which the other two
can derive their nutrients”89
.
„Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer
Welt, – man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale
Wissenschaften (Logik, Mathematik) – die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren.“90
Das Konzept der kulturellen Gewalt untersucht demnach diejenigen Mechanismen, welche
direkte oder strukturelle Gewalt als rechtmäßig oder zumindest nicht als Unrecht erscheinen
lassen. Durch kulturelle Gewalt werden Gewaltphänomene für eine Gesellschaft erst
akzeptabel gemacht oder vor allem im Falle von strukturelle Gewalt gar nicht erst von der
Allgemeinheit als solche wahrgenommenen.
„Thus, the notion of cultural violence already goes beyond the structural and sees violence as embedded
in culture, but with a legitimizing rather than physical function, working on the mind rather than on the
body, doing violence to the mind in the sense of preparing that mind to do violence unto others.”91
Kulturelle Gewalt funktioniert Galtung zufolge zum einen dadurch, dass sie die „moralische
Färbung“ einer problematischen Handlung auf richtig/ akzeptabel „schaltet“.
„Kulturelle Gewalt funktioniert und wirkt in dem Maße, wie es ihr gelingt, die moralische Färbung
einer Handlung von falsch auf richtig bzw. akzeptabel oder bedenkenlos umzuschalten und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Handlungen oder Tatsachen als Gewalt zu verschleiern.“92
Ein Beispiel hierfür wäre, Töten im Namen eines Landes als gerechtfertigt zu empfinden, im
eigenen Namen allerdings als illegitim anzusehen. 93
„Die Kultur predigt, lehrt, ermahnt,
stachelt auf und stumpft ab, bis hin zu dem Punkt, an dem wir Ausbeutung und/ oder
Repression als etwas Normales und Natürliches betrachten oder sie sogar überhaupt nicht
mehr wahrnehmen (insbesondere nicht die Ausbeutung).“94
Ins kollektive Bewusstsein
gelangt kulturelle Gewalt in erster Linie über die Vehikel Religion, Ideologie, Sprache,
88 Graf/ Macho (2010), S. 38. 89 Galtung (1990), S. 294. 90 Galtung (1998a), S. 341. 91 Galtung (2008), S. 109. 92 Imbusch (2002), S. 40. 93 Galtung (1993), S. 53. 94 Galtung (1998a), S. 349.
17
Philosophie sowie Kunst und Wissenschaft. Über diese Medien wird kulturelle Gewalt
langfristig reproduziert und auf diesem Wege gesellschaftlich verankert. Nationalismus ist
nach Galtung beispielsweise das Paradebeispiel für eine Ideologie: „Es wird dann ein steiles
Gefälle aufgebaut, wobei der Selbst aufgeblasen, ja sogar verherrlicht und der Wert des
Anderen vermindert oder sogar völlig herabgesetzt wird. Dies ist der Ausgangspunkt für
kulturelle Gewalt.“95
Ins kulturelle Gedächtnis wird Nationalismus hierbei über die
identitätsstiftende Kraft von Symbolen transportiert. „Sternenbanner, Kreuze und Sicheln,
Flaggen, Hymnen und Militärparaden, das allgegenwärtige Porträt des Führers, Hetzreden und
Plakate – all dies fällt einem dazu ein.“96
Galtung unterstreicht die These vom „Primat der Kultur“ durch Hinweise auf grundlegende
Differenzen in der zeitlichen Dimension von direkter, struktureller und kultureller Gewalt.
Galtung spricht von einer „grundlegende[n] Differenz in der Zeitrelation der drei
Gewaltkonzepte“97
, die er folgendermaßen erläutert:
„Direkte Gewalt ist ein Ereignis, strukturelle Gewalt ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen, kulturelle
Gewalt ist eine Invariante, eine ‚Permanenz‘, die aufgrund der nur langsamen Transformationen
grundlegender Aspekte der Kultur über lange Zeiträume hinweg im Wesentlichen unverändert bleibt.“98
Galtung vergleicht Gewalt in diesem Kontext mit Erdbeben, wobei er „zwischen dem
Erdbeben als Ereignis, der Bewegung der tektonischen Platten als einem Prozess und der
Bruchlinie als einem eher permanenten Zustand“99
unterscheidet.
Galtungs besonderes Interesse gilt nun wieder dem Permanenzcharakter der kulturellen
Gewalt. Warum stellt kulturelle Gewalt eine konstante Bedingung dar? Gibt es eine „internal
logic“?
Um diese Frage zu beantworten, erweitert Galtung sein Blick auf das Kulturelle, indem er
nach den Wurzeln der Kultur sucht. In diesem Zusammenhang kommt Galtungs älterer
Begriff der Kosmologie bzw. der Tiefenkultur100
ins Spiel, welchen er in die Theorie der
kulturellen Gewalt zu integrieren versucht. Mit der Berücksichtigung kulturspezifischer
Kosmologien zielt Galtung darauf ab, tiefer liegende Aspekte gewaltgenerierender
Legitimationsmechanismen freizulegen. Ganz allgemein versteht Galtung unter der
Kosmologie einer Kultur
„die kollektiven unterbewussten Vorstellungen davon, was die normale und natürliche Wirklichkeit
ausmacht. Da sie gemeinsam und selbstverständlich sind, sind sie nicht notwendig bewusst. Andere
95 Galtung (1998a), S. 355. 96 Galtung (1998a), S. 341. 97 Galtung (1998a), S. 348. 98 Galtung (1998a), S. 348. 99 Galtung (1998a), S. 349. 100 Der Begriff Kosmologie wurde nach meinen Recherchen erstmals in einem auf französisch erschienen Artikel
aus dem Jahre 1976 verwendet.
18
Begriffe wären „Tiefenideologie“, „Tiefenkultur, Weltanschauung […], Kosmovision und
entsprechende Äquivalente in anderen Sprachen.“101
Entscheidend ist hier, dass Tiefenkulturen keine ausbuchstabierten Legitimationsfiguren im
Sinne ideologischer Gebäude zur Verfügung stellen, sondern eine unbewusste
Fundierungsfunktion einnehmen und somit einen konstanten Reproduktionsprozess
garantierten. „Hiermit ergibt sich ein Zirkel einer sich selbst reproduzierenden kulturellen
Gewalt.“102
Die Kosmologie einer Kultur erforschen bedeute also, eine Kultur auf eine
„Tiefenkultur“ hin zu untersuchen, die letztlich entscheidend sei für deren (potentiell)
kriegerische oder friedfertige Rolle.
2.3 Der doppelte Kulturbegriff
Bevor es gilt das Potenzial und die Defizite der Theorie der kulturellen Gewalt auszuloten, ist
es an dieser Stelle angebracht, sich näher mit Galtungs Kulturverständnis zu beschäftigen. Die
intensive Untersuchung Galtungs kulturtheoretischer Überlegungen schafft die Grundlage für
weitere Argumentationen.
Im Grunde genommen basiert Galtungs Kulturtheorie auf einem doppelten Kulturbegriff.
Zum einen definiert Galtung Kultur als Ergebnis subjektiv-interpretativer Leistungen, zum
anderen als Konfiguration von übersubjektiven symbolischen Strukturen.103
Um diese
zweifache kulturtheoretische Ausrichtung zu verdeutlichen, differenziert Galtung zwischen
Oberflächen- und Tiefenkultur.
„Wir malen hier mit einem wirklich breiten Pinsel, charakterisieren Makro-Kulturen auf der
umfassendsten Ebene, der der Tiefen-Kultur. Es gibt jedoch auch die Ebene der Oberflächen-Kultur,
und die kulturelle Gewalt findet sich auch auf dieser Ebene. Beides zusammen sollte uns eine breite
Grundlage liefern, um jene Implikationen aufzuzeigen, nach denen wir in Begriffen von Krieg und
Frieden, Konflikt und Entwicklung suchen.“104
Den kulturellen Bereichen werden unterschiedliche Qualitäten zugeschrieben und sie werden
von Galtung unterschiedlich theoretisiert. Um diese theoretischen Stränge aus Galtungs
kulturtheoretischen Überlegungen herauszuarbeiten, erscheint es mir sinnvoll die folgende
Untersuchung auf eine von Reckwitz geprägte begriffliche Differenzierung aufzubauen.
Dieser unterscheidet zwischen „textualistischen“ und „mentalistischen“ Kulturtheorien. Der
Hauptunterschied zwischen diesen beiden theoretischen Grundpositionen besteht laut
101 Galtung (1998a), S. 367f. 102 Majer (2003), S. 76. 103 Hierzu Reckwitz: „Die strukturalistisch-semiotische und die ‚interpretative‘ phänomenologisch-
hermeneutische Theorietradition bilden die beiden einflussreichsten Stränge kulturalistischer Theoriebildung im
20. Jahrhundert.“ Reckwitz (2004), S. 21. 104 Galtung (2005), S. 136.
19
Reckwitz darin, dass „textualistische“ Ansätze symbolische Ordnungen als Ergebnis
diskursiver Praktiken begreifen und „mentalistische“ Ansätze kollektive geistig-kognitive
Strukturen eines Kollektivs thematisieren. „Im Gegensatz zu mentalistischen Ansätzen
verorten textualistische Ansätze Wissensordnungen nicht im Innern des menschlichen
Geistes, sondern im ‚Außen’: in Symbolen, Diskursen, Kommunikation, oder in ‚Text’.“105
Hieraus ergibt sich eine differenzierte Verortung des Kulturellen.
Zur ersteren Theorieperspektive zählen all jene Ansätze, welche Kultur und soziales Handeln
im Anschluss an Clifford Geertz106
als textanalog („culture as text“107
) begreifen. Geertz‘
Fokus liegt auf der Analyse von Symbolen „in sozialen Prozessen als Verkörperungen der
Weltsicht“, und das zentrale Erkenntnisinteresse liegt in der Frage, „wie Symbole das
Wahrnehmen, Fühlen und Denken formen und dem sozialen Leben Bedeutung verleihen“108
.
Hierbei versteht Geertz unter Kultur ein Netzwerk aus „sozial festgelegten
Bedeutungsstrukturen“109
, welches Menschen einerseits produzieren und in das sie
andererseits verwickelt sind. Dabei werden Geertz‘ kulturtheoretische Überlegungen von der
Grundüberzeugung geleitet, dass die Bedeutungen kultureller Symbole prinzipiell zugänglich
und reflektierbar sind. Kultur ist keine vom gesellschaftlichen Leben abgehobene Sphäre:
„Culture is public, because meaning is.“110
Das Ensemble kultureller Symbolformationen
geben Orientierungshilfen, auf die Menschen in Ihrem täglichen Handeln zurückgreifen. Die
symbolische Konstruktion der Wirklichkeit ist auf kontinuierliche Aktualisierung in
Symbolsystemen und Diskursformationen angewiesen. Da das Kulturelle auf Artikulation und
Kommunikation angewiesen ist kann „Kultur […] wie ein Text gelesen werden.“111
Einen
wichtigen methodischen Stellenwert nehmen deshalb die Diskursanalyse und die interpretativ-
hermeneutische Erschließung des Symbolmaterials ein.
Die Betonung des öffentlichen Charakters des Kulturellen geht dabei einher mit einer
Ablehnung kollektiv-mentaler Wissensordnungen, welche unabhängig von sozialen
Attributionen existent wären. Für Geertz existieren keine kulturellen Phänomene, die jenseits
symbolischer Formen das menschliche Verhalten bestimmen. Es gibt keine tieferliegenden
105 Büger/ Gadinger (2008), S. 278. 106 Geertz‘ Grundintention ist die Befreiung der Kulturwissenschaft von szientistischer Forschungsperspektiven.
Für ihn steht methodisch nicht das objektive Beschreiben, sondern das Verstehen im Mittelpunkt.
Kulturwissenschaft ist „[...] not an experimental science in search of law, but an interpretative one in search of
meaning.” Geertz (1973), S. 5. Geertz gilt deshalb als Begründer der interpretativen Kulturphilosophie. Vgl.
Leifeld (2002), S. 85. 107 „The culture of a people is an ensemble of texts [...].” Geertz (1973), S. 452. 108 Kohl (1995), S. 165. 109 Geertz (1983), S. 19. 110 Geertz (1973), S. 12. 111 Leifeld (2002), S. 88.
20
extra-symbolischen Ebenen des Kulturellen.
Insgesamt verzichtet die „textualistische“ Kulturtheorie
„in ihrer Rekonstruktion von Verhaltensregelmäßigkeiten ausdrücklich auf einen Rekurs auf mentale
Kollektivphänomene und rechnet statt dessen übersubjektive Wissensordnungen den diskursiven
Praktiken (Foucault) bzw. den öffentlichen Symbolen und sozialen Praktiken allgemein (Geertz) selbst zu.“112
Dem „textualistischen“ Kulturverständnis folgt Galtung, wenn er von Oberflächenkultur oder
„surface culture“113
spricht. Kultur ist für Galtung hier „der symbolische Aspekt menschlicher
Existenz. Kultur ist Repräsentation durch Symbole, üblicherweise optische oder akustische,
die diachron oder synchron organisiert sind.“114
Was unter der Repräsentation durch Symbole
zu verstehen ist, erklärt Galtung an anderer Stelle: „All artifacts in a museum belong to the
surface culture. So do all texts. Hidden texts (sub-, super-, contexts) are also artifacts, only
hidden. Monuments are artifacts.“115
Dittrich und Hölscher betonen, dass für Galtung
„Kultur über Repräsentationen durch Symbole beobachtbar wird. Das heißt, der Kulturbegriff bezieht
sich hier auf die mit sozialen Bedeutungen und Bewertungen belegte Zeichen- und Symbolebene in der
alltäglichen Interaktion, worunter vor allem die Sprache, aber auch nonverbales Verhalten und
symbolisches Handeln fallen“116.
Innerhalb der Oberflächenkultur sind die kulturellen Eigenschaften stärkeren Veränderungen
unterworfen. Sie ist der menschlichen Kreativität zugänglicher und es existiert prinzipiell die
Möglichkeit, zur Transformation und Neuschöpfung. Auf der Ebene der Oberflächenkultur
sind die Kulturelemente stärker gesellschaftlichen Konflikten ausgesetzt. Hier kämpfen
verschiedene (wissenschaftliche) Sinnsysteme um Vorherrschaft. In deutungskulturellen
Diskursen geht es in diesem Sinne um die Vorherrschaft bestimmter genuiner Wert- und
Ordnungsvorstellungen. Sie ist formungsfähiger und wird intensiver von konkreten
Erfahrungen beeinflusst, als dies für die kosmologische Kulturprägungen festzustellen ist.
Im Rahmen Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt spielt die Oberflächenkultur bzw. der
„textualistische“ Ansatz allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Er hebt zwar hervor, dass
„[t]he social sciences have been greatly aided by textual analysis as developed in the literary
sciences, teaching how to bring in unspoken sub-texts, super-texts and contexts in the effort to
understand any text.”117
Die Bedeutung einer Analyse der in der Kosmologie kollektiv
geteilten und im individuellen Unterbewusstsein präsenten Vorstellungen erschließt sich
112 Reckwitz (2000), S. 173. 113 Galtung (2008), S. 12. 114 Galtung (1998b), S. 187. An anderer Stelle heißt es: „Eine Kultur lässt sich begreifen als der symbolische
Aspekt der conditio humana. Sie sagt uns, um einige Schlüsseldimensionen zu erwähnen, was wahr und falsch,
gut und schlecht, recht und unrecht, schön und hässlich, heilig und profan ist.“ Galtung (2005), S. 130. 115 Galtung (2002b), S. 14. 116 Dittrich/ Hölscher (2001), S. 16. 117 Galtung (2002b), S. 12. An anderer Stelle heißt es: „The purified text is knowledge, surrounded by subtexts
and supertexts, deep texts and contexts.” Galtung (2008), S. 28.
21
daraus, dass sie „das Handeln von Mitgliedern und ‚Eliten‘ einer Zivilisation (als einer
Makro-Kultur) oder Nation nicht zuletzt in den Fragen von Friede, Konflikt und Entwicklung
[…] konditionieren“118
. Aus diesem Grund hat Galtung „viel über Makrogeschichte
gearbeitet. […] Die Einzelgeschichten sind Elemente einer breiteren Weltauffassung.“119
Um
die Bedingungen der Permanenz kultureller Gewalt sichtbar zu machen gilt es deshalb die
„Wurzeln der Wurzeln [zu] betrachten: den kulturellen genetischen Code, der kulturelle
Elemente hervorbringt und sich selbst durch sie reproduziert“120
. Eine oberflächliche
Untersuchung der Diskurse oder Symbole ist zwar wichtig, jedoch bei Weitem nicht
ausreichend. Man greife zu kurz
„ließe man das Konzept kultureller Gewalt sich erschöpfen in der Freilegung der […] bezeichneten
Legitimierungsfunktion personaler und sozialer Gewalt. In einer von ihm selbst als spekulativ, wiewohl
als grundsätzlich überprüfbar gekennzeichneten Wendung verlangt Galtung, auf das Substrat der den
manifesten Kulturerscheinungen zugrunde liegenden fundamentalen Unterstellungen und
Überzeugungen einer Zivilisation bzw. Gesellschaft zu reflektieren“121
.
An anderer Stelle macht er aber unmissverständlich klar, was sein eigentliches Grundinteresse
ist.
„We are more interested in the subconscious aspects, deep texts, driving the actors without their
conscious awareness – because the ideas have become unreflected habits, repressed or so trivial, natural/
normal that the deeper texts are not worth articulating. Too obvious.“122
Der Umstand, dass „[…] collective subconscious, harbors ideas […] so obvious and trivial
that they are not even articulated”123
, kulturelle Inhalte also in keinster Weise artikuliert
werden müssen, um gesellschaftlich wirksam zu sein, verweist auf die besondere Qualität der
nun von Galtung eingeführten Kategorie der Tiefenkultur gegenüber der an sprachlich-
diskursive oder symbolische Kommunikationsvehikel gebundene Oberflächenkultur. Um die
gewaltgenerierenden Potenziale einer Kultur freizulegen, schlägt Galtung deshalb einen
alternativen kulturtheoretischen Ansatz vor. „Es gibt jedoch noch einen anderen Ansatz:
nämlich den, das Substrat der Kultur auf seine ‚Tiefenkulturen‘ hin zu erforschen, von denen
es mehrere geben mag.“124
Indem Galtung die Erforschung des „kulturellen genetischen Codes“ zum zentralen Element
seiner friedenstheoretischen Überlegungen erklärt, rücken mentalistisch-strukturalistische125
118 Schmidt (2005), S. 34. 119 Graf/ Macho (2010), S. 38. 120 Galtung (1998a), S. 362. 121 Schmidt (2002), S. 24. 122 Galtung (2002b), S. 13. 123 Galtung (2008), S. 95. 124 Galtung (1998a), S. 362. 125 Zur Charakterisierung dieses Stranges der Kulturtheorie werden die Begriffe„mentalistisch“ und
„strukturalistisch“ synonym verwendet.
22
kulturtheoretische Perspektiven126
in seiner Arbeit in den Vordergrund. „In den
mentalistischen Kulturtheorien stellen sich die symbolischen Ordnungen der Kultur
gewissermaßen nicht als etwas dar, ‚was der Fall ist‘, sondern als etwas, ‚was dahinter steckt‘:
hinter den sichtbaren Ereignissen des Verhaltens, in der ‚geistigen Welt‘.“127
Weitere
Eigenschaften mentalistisch-strukturalistischer Kulturtheorien bringt Reckwitz auf den Punkt:
„Im Rahmen des strukturalistisch-semiotischen Vokabulars […] werden symbolische Ordnungen als
unüberschreitbare Voraussetzungen, als Bedingungen verstanden, die vorgeben, welche Ereignisse,
welche Formen des Subjekts, welche Handlungs- und Diskurspraktiken möglich sind: sie erscheinen als
Sinnmuster, die den Möglichkeitsspielraum aktualer Sinnzuschreibungen in einzelnen Situationen durch
die einzelnen Subjekte bestimmen. Als Strukturen können die symbolischen Ordnungen eine historisch-
spezifisch distinkte Form besitzen, aber im Zeitraum ihrer historischen Wirksamkeit stellen sie
bestimmte Unterscheidungsmuster ‚auf Dauer‘ – ein Konzept, das […] der Konzeption von
Mentalitäten in der ‚long durée‘ im Rahmen der Annales-Historiographie zugrundeliegt. Leitend für
[…] ist die Position, dass die klassisch-modernen Konzeptualisierungen des ‚Subjekts‘ dessen
Wirkungsmöglichkeiten – in Form eines autonomen Akteurs, eines Stifters von Bedeutungen etc. –
regelmäßig überschätzt haben. Dem stellt das strukturalistische Kulturkonzept eine ‚Minimierung des Subjekts‘ entgegen, welches nun im Wesentlichen als Produkt oder Exekutor kultureller Strukturen
erscheint. […] [D]urch symbolische[..] Codes wird eingeschränkt, was überhaupt denkbar, sagbar,
wünschbar ist. Gleichzeitig entfaltet die Macht der symbolischen Codes eine produktive Qualität: sie
limitiert nicht nur, sondern bringt auch bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen
hervor.“128
Bei mentalistisch-strukturalistischen Kulturtheorien ist kultureller Wandel die Ausnahme und
die Reproduktion bestehender kultureller Gehalte die Regel. Sie haben
„eine Neigung zu dem, was man mit Margaret Archer als einen ‚Mythos kultureller Integration‘
umschreiben kann. […] [Sie] sind regelmäßig so aufgebaut, dass kulturelle Reproduktion, das heißt die
Wiederholung der gleichen Handlungsmuster und die Tradierung der gleichen Wissensordnungen, als
problemlos nachvollziehbarer Normalfall, kulturelle Dynamik und Wandel dann jedoch als ein nur
schwer begreifbarer Ausnahmefall erscheinen“129.
Aufgrund der Konzentration auf invariante Muster haben „mentalistische“ Ansätze die
generelle Tendenz ihr Interesse auf kulturelle Universalien statt auf kulturelle Differenzen zu
richten. „Mentalistische“ Kulturtheorien beinhalten außerdem eine kulturtheoretische
Methodik, welche sich vom hermeneutischen und diskursanalytischen Zugang
„texualistischer“ Ansätze grundsätzlich unterscheidet. Der Forscher versucht nicht einzelne
symbolische Ordnungen zu verstehen, sondern er zielt in der Rolle eines unbeteiligten
Beobachters darauf ab, objektive Denkstrukturen von Gesellschaften aufzudecken.
„Grundlegend für die strukturalistische Kulturtheorie ist die strikte Gegenüberstellung zwischen der
‚objektiven/ strukturalen Perspektive‘ und der ‚subjektiven Perspektive‘ sowie die eindeutige, gegen Phänomenologie und Hermeneutik gerichtete Festlegung, dass allein die objektive Perspektive, das
heißt die strukturale Analyse symbolischer Ordnungen, die das Verstehen der Teilnehmer transzendiert,
die Sinngrundlagen des Handelns und seiner Produkte zu erfassen vermag.“130
126 Als (Mit-)Begründer und Hauptvertreter dieser kulturtheoretischen Denkrichtung gilt der Franzose Claude
Levi-Strauss. 127 Reckwitz (2005), S. 97. 128 Reckwitz (2004), S. 15. 129 Reckwitz (2006), S. 617. 130 Reckwitz (2006), S. 234.
23
Durch die Analyse kultureller Phänomene als kognitiven Strukturen menschlichen Denkens
sollen universale Denkprinzipien erschlossen werden. Die strukturelle Prägung des
menschlichen Geistes, welche nach Levi-Strauss auch als „Inventarium geister Zwänge“131
umschrieben wird, ist den Individuen selbst nicht offensichtlich. Die immanente Logik der
„geistigen Zwänge“ ist den Teilnehmern in der Regel nicht zugänglich. Einblicke in die
verborgene Sphäre des kognitiv Unbewussten, in die „unbewussten Bedingungen des sozialen
Lebens“132
gewährt erst die „strukturale Analyse“ eines professionellen
kulturwissenschaftlichen Beobachters.133
„Diese immanente Verstehbarkeit der Codes ist radikal distinkt von den subjektiven
Verstehensleistungen der Teilnehmer zu denken und existiert allein für den kulturwissenschaftlichen
Beobachter, der in seiner logisch-gedankenexperimentellen Analyse durch Zergliederung und
Neuarrangements des ‚Materials‘ (etwa der Texte von Mythen) ein taxonomisches Tableau von binären
Codes erarbeitet. Wenn es sich bei diesen taxonomischen Codes um ‚symbolische Ordnungen‘, um
Sinnsysteme handelt, dann erhalten die Begriffe des Symbolischen und des Sinns in diesem
Zusammenhang eine spezifische Bedeutung: Die symbolischen Codes besitzen keinen Sinn für die
Teilnehmer, sie transformieren die Welt nicht in deren ‚subjektiver Perspektive‘ in ein ‚symbolisches Universum‘; der ‚Sinn‘ besteht vielmehr in der immanenten Logik und Verständlichkeit der
symbolischen Codes als Differenzensysteme.“134
Im Folgenden möchte ich anhand einiger wichtiger Textstellen nachweisen, dass sich viele
Charakteristika mentalistisch-strukturalistischer Kulturtheorien bei Galtung wiederfinden
lassen. Zwar versucht sich Galtung an einer Stelle von der strukturalistischen
Grundvorstellung des „Mentalen“ oder des „Geistes“ zu distanzieren.135
Seine theoretischen
Ausführungen sprechen aber eine andere Sprache.136
Grundsätzlich ist Galtungs Theorie der Tiefenkultur vom psychoanalytischen Denken
Sigmund Freuds und von sozialpsychologischen Ansätzen Carl Gustav Jungs inspiriert.
Galtungs Herangehensweise versucht, „die Jungsche Akzentuierung der Archetypen – den
Zivilisationscode für privaten und öffentlichen Raum – mit der Freudschen Betonung der
frühen Einpflanzung des Über-Ich zu kombinieren […].“137
Was Galtung besonders
interessiert ist die Idee des individuellen (Freud) bzw. des kollektiven Unterbewusstseins
(Jung), welche er in sein kulturtheoretisches Konzept einbaut. Entsprechend definiert Galtung
den Begriff der Tiefenkultur als „die kollektiven unterbewussten Vorstellungen davon, was
131 Lévi-Strauss (1980), S. 216. Zitiert nach Reckwitz (2006), S. 221. 132 Lévi-Strauss (1951), S. 74. Zitiert nach Reckwitz (2006), S. 221. 133 Vgl. Rechwitz (2006), S. 221. 134 Reckwitz (2006), S. 223. 135 „There is nothing mysterious in the ‚collective’; it refers to deep attitudes shared by many members of a
group. They share impressions, imprints, not any collective ‚soul’.” Galtung (2002b), S. 15. 136 Galtung verweist auf seine Einflüsse: „Much better would have been systematic efforts, in the tradition of
deep social science investigations, of the deeper-lying assumptions behind peoples’ attitudes and behavior.”
Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 16. In Fußnote 28 erklärt er, dass für eine systematische Analyse von der
„French idea of mentalités collectives as a field of historical study” geleitet werden sollte. Galtung/ Heiestad/
Rudeng (1979), S. 50. 137 Galtung (1997), S. 130.
24
die normale und natürliche Wirklichkeit ausmacht. Da sie gemeinsam und selbstverständlich
sind, sind sie nicht notwendig bewusst.“138
Dieses „kollektive Programm“, bestehend aus
„kollektiv geteilten und im Unterbewusstsein bereitgehaltenen Unterstellungen”139
beinhaltet
„a web of notions about what is true, good, right, beautiful, sacred“140
. Der Begriff der
Tiefenkultur beschreibt demnach die tieferliegenden Komponenten der Kultur einer
Gesellschaft, die auf der sozialen Ebene institutionalisiert und von den einzelnen Individuen
internalisiert werden. Die Verankerung kultureller Elemente im individuellen und kollektiven
Unterbewusstsein bezeichnet Galtung dabei als (sozial-)anthropologische Grundkonstante:
„Der Ausgangspunkt besteht [...] in der Armut an Instinkten im menschlichen Organismus, bei
fortwährendem Bedürfnis zu handeln und angesichts der Unmöglichkeit, bei jedem Handeln zu
entscheiden, als wäre es das erste Mal. Es muss so etwas wie eine Programmierung geben, einen
Automatismus, der das individuelle Bewusstsein umgeht [...].“141
Im Zuge des Sozialisationsprozesses internalisieren die Gesellschaftsmitglieder die
tiefenkulturellen Grundkomponenten und übernehmen auf diesem Wege die der Tiefenkultur
zugrunde liegenden Regeln und Strukturen.
„Wir wurden geboren als eine tabula rasa, aber mit der Fähigkeit ausgestattet, Strukturen der
Metaphoren in uns aufzunehmen. […] Wir bewegen uns in einem Kontext, einer Umgebung, die
gleichsam durchtränkt ist von symbolischen und materialisierten Strukturen. Oder sagen wir von
Mustern. Das beginnt schon im ersten Moment nach der Geburt.“142
Unter Rückgriff auf psychologische Thesen argumentiert Galtung nun, dass sich die
psychische und die sozial-kollektive Ebene gegenseitig beeinflussen. Die Beschaffenheit einer
Tiefenkultur übt einen wesentlichen Einfluss auf die Formung des menschlichen Geistes aus
und umgekehrt.
„Gesellschaften werden im Wirkungsbereich dieser Codes eingerichtet, ebenso die Welt, die sich aus
diesen Gesellschaften zusammensetzt, und desgleichen unser Verhältnis zur Natur und zum
Transpersonalen, ganz zu schweigen von unserer kognitiven Wahrnehmung, die in unsere Gedanken,
unsere Sprache und in unser Handeln projiziert wird, das in Relation zu all diesen Instanzen steht.
Warum sollten die Codes nicht auch die Organisation des Selbst beeinflussen? […] Der Code ist im
kollektiven Unbewussten verankert, also ist das Selbst in Reichweite. Gerade weil diese inneren Prozesse unbewusst und automatisch ablaufen, muss das Selbst notwendigerweise ein wenig nach der
Art der Gesellschaft organisiert sein. […] Wir vertreten die These, dass die Tiefenkultur und die
Struktur der äußeren Welt im allgemeinen in der Struktur der inneren Welt gespiegelt, dass sie von dort
– dieselbe Struktur verstärkend – in die äußere Welt projiziert und schließlich an andere Menschen
einschließlich der eigenen Nachkommenschaft weitergegeben werden. Und wir meinen, dass sie
selbstverständlich auch die Komponenten des Selbst strukturieren.“143
138 Galtung (1998a), S. 367. 139 Galtung (1998a), S. 367. 140 Galtung (2000), S. 47. 141 Galtung (1998a), S. 12f. Ähnlich folgendes Zitat: „Kultur liefert dem mit schlechten Instinkten ausgestatteten
homo sapiens eine Landkarte der virtuellen Welt, die als Leitfaden für die reale Welt dient. Tiefenkultur – diese
rohen, schmucklosen Aspekte des individuellen oder kollektiven Unterbewusstseins – dient menschlichen Wesen
als Orientierung – möglicherweise in Richtung auf die griechische Ideale des Wahren, des Guten und des
Schönen, wie ein (Computer-)Programm oder ein (genetischer) Code.“ Galtung (1998b), S. 189. 142 Graf/ Macho (2010), S. 44. 143 Galtung (1997), S. 141f.
25
Die tiefenkulturellen Elemente steuern unbewusst die Handlungen der Menschen und prägen
ihre Persönlichkeit.
„Für das einzelne Individuum ist dieses Programm bekannt als ‚Persönlichkeit‘, verankert im
individuellen Unterbewussten. […] Als unterbewusste werden die Grundvorstellungen nicht diskutiert,
sondern gelebt und umgesetzt. Und da sie zugleich kollektiv geteilt werden, verstärken sie sich wechselseitig, da jede(r) die anderen dasselbe tun sieht. Handlungssteuerung erfolgt hier nicht durch die
Zugkraft, die von Ideen ausgeübt wird, sondern durch eine der Kosmologie, dem Code, dem kollektiven
Programm eigene Schubkraft.“144
Der Begriff der Tiefenkultur steht in enger Beziehung zur Konzeption der „sozialen
Kosmologie“. Die „soziale Kosmologie“ bestimmt die inhaltliche Ausgestaltung der
Tiefenkultur, sie programmiert den tiefenkulturellen genetischen Code. Der
sozialkosmologische Code bestimmt die Tiefenvorstellungen und Grundannahmen in Bezug
auf Raum, Zeit, Wissen, auf die Beziehung von Person-Natur, Person-Person, Person-Gott,
sowie in Hinblick auf das Selbst.
„By a cosmology […] we mean the collectively held subconscious ideal about what constitutes normal and natural reality. Being shared and obvious, they are may not be conscious, being so trivial, obvious.
Other terms are deep ‚culture’, ‚deep ideology’, Weltanschauung, cosmovision, and equivalents in other
language.”145
Die Kosmologie stellt dem Einzelnen als letzte Ebene der Reflexion grundlegende
Orientierungshilfen bereit. Gleichzeitig sind die tiefenkulturellen Elemente aufgrund ihrer
Verankerung im menschlichen Unterbewusstsein nicht selbst Objekt der Reflexion. „Sie
stellen sozusagen den kulturell bedingten blinden Fleck unserer Wahrnehmung dar […].“146
Galtung verdeutlicht diesen Sachverhalt unter Rückgriff auf linguistische Metaphorik. Hierbei
vergleicht er die Kosmologie mit der grammatikalischen Struktur einer Sprache. Kosmologie
ist die der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit zugrundliegende
kulturübergreifende Grammatik.
„The metaphor of social grammar may be useful here: the idea that there are some basic rules defining
elements, their relations and transformation. […] A social cosmology properly constructed would define a complete social grammar, a set of rules for how man should relate to man, man to nature, how man
should conceive of how nature relates to nature, and so on; much like the grammar for a language has a
certain job to do, including that of defining deficiencies in the language.”147
Da sich Kosmologien nicht auf einzelne Kulturen, sondern größere kulturelle Einheiten wie
Kulturkreise und Zivilisationen beziehen, weitet sich Galtungs Theorie der Tiefenkultur zu
einer umfassenden Zivilisationstheorie148
aus. „[…] [Unsere] eigene Persönlichkeit [wird] von
144 Galtung (1998a), S. 13. 145 Galtung (2008), S. 95. 146 Brousek (2008), S. 64. 147 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 13. 148 Galtung definiert den Begriff Zivilisation als „the culture shared by a large part of humanity, across countries
and nations, even across continents, and throughout vast spans of time”. Galtung (1981), S. 146.
26
den Kosmologien der jeweils eigenen Zivilisation geformt.“149
„Die Kosmologie einer Zivilisation ist auch der sozio-kulturelle Code dieser Zivilisation, der die
wesentlichen Botschaften transportiert, wie die Wirklichkeit zu konstruieren ist. Die biogenetische
Parallele zum genetischen Code ist offensichtlich und beabsichtigt. […] Für eine Zivilisation bedeutet
die Kosmologie dasselbe wie die Persönlichkeit für einen Menschen, meint jene grundlegenden,
tendenziell gegenüber den Schwankungen der Tages-, Monats-, Jahres- und Lebensrhythmen
unveränderlichen Merkmale […].“150
Für die Mitglieder einer Zivilisation stellt die betreffende Kosmologie ein kollektives
Programm dar:
„Für die Mitglieder einer bestimmten Zivilisation wird das kollektive Programm hier beschrieben als
ihre ‚Kosmologie‘, ihre kollektiv geteilten und im Unterbewusstsein bereitgehaltenen
Unterstellungen.“151
Galtungs Tiefenkultur-Ansatz unterstellt somit, dass den diskursiven und symbolischen
Ordnungen eine Dimension zugrunde liegt, welche die vom Menschen erschaffene
kontingente Kultur nach unbewussten Mustern vorstrukturiert. Zwischen der subjektiven
Ebene der Oberflächenkultur und der objektiven Ebene der Tiefenkultur besteht eine quasi-
hierarchische Ordnung152
in dem Sinne, dass Letztere die strukturellen
Möglichkeitsbedingungen für die zeitlich wie räumlich variablen symbolischen
Konstruktionen einer Zivilisation vorgibt. Der sozio-kulturelle Code gibt dem Menschen vor,
wie „die Wirklichkeit zu konstruieren ist“153
.
Oberflächenkultur wird so zur öffentlich-symbolischen Sphäre des verborgenen Unbewussten.
Sie ist „symbolized cosmology“.
„Cosmology has been defined as the code of a civilization, and a civilization has been defined as a
macro-culture, as a culture spanning vast areas of space and large intervals in time. However,
civilization is not only seen in terms of culture. Civilization also covers structure, and the factors
singled out for attention as cosmology, or code, would be those that the culture and the structure of the
civilization have in common. Structure, then, becomes materialized cosmology and culture becomes
symbolized cosmology. There are countless materializations and symbolizations of cosmology, all of
them manifestations, or implementations, or unfoldings to use a more illustrative term of the same basic
theme: the code in the cosmology. What this means is that an important stand has been taken from the
very beginning: cosmology is in the structure, and the culture, of a given civilization.”154
149 Galtung (2005), S. 149. 150 Galtung (2005), S. 136. 151 Galtung (1998a), S. 13. 152 Galtungs hierarchischer Subjekt-Objekt-Dualismus wird in folgender biologistischer Analogie
hervorgehoben: „Nutzen wird die Metapher von der Blume, soweit sie taugt. Die Entfaltung ist bereits in den
Samen vorprogrammiert, als ein genetischer Code in der Blume, als kultureller Code oder Kosmologie in der
Zivilisation. Es gibt ein Programm, das verwirklicht werden soll; weder die Blume noch die Zivilisation haben
hier eine echte Wahlfreiheit. Ist das Programm realisiert, hat sich die Blume vollendet […].“ Galtung (1998a), S.
231. 153 Galtung (2005), S. 136. 154 Galtung (1986), S. 1.
27
Das Verhältnis zwischen der Kosmologie und der Oberflächenkultur ist dabei durch
isomorphe Bedingungen gekennzeichnet, was bedeutet, dass die Art wie die Wirklichkeit
entworfen wird – strukturell gesehen – viele Ähnlichkeit aufweist.155
„Identical patterns (isomorphisms) are recognized, sedimented unto the deeper recesses of human
consciousness, then gradually serving as a cognitive filter filtering out pattern that are different as
‚unnatural‘, ‚abnormal‘, thereby sliding into a more normative concept.”156
Weil normal und natürlich dasjenige ist, was dieselbe Struktur aufweist, sind diese
Strukturanalogien für Galtung gesellschafts- und zivilisationsübergreifend identifizierbar. Sie
zeigen sich beispielsweise in der Organisation der Gesellschaft, in der inhaltlichen
Ausformulierung von Glaubenssätzen, in der Wissenschaftskultur oder in ideologischen
Denkgebäuden. Eine isomorphe Beziehung lässt sich beispielsweise zwischen Liberalismus
und Marxismus feststellen; beide nur scheinbar gegensätzliche Ideologien157
sind für Galtung
lediglich differenzierte symbolische Konkretisierungen ein und derselben kosmologischen
Determinante. Ähnliches gilt für die Ausformung des modernen Kapitalismus: „[I]n short
almost everything was prepared cosmologically for the advent of modern capitalism which
would then fit like a hand in a glove.”158
Einen wichtigen Stellenwert in der mentalistisch-strukturalistschen Theorie der Tiefenkultur
nimmt die Kosmologie-Analyse ein. Ziel ist es, zu den grundlegenden mentalen Strukturen
eines Kollektivs vorzudringen. Die Decodierung mentaler Strukturen soll dabei Erkenntnisse
zu vergangenen und zukünftigen kollektiven Verhaltensmustern liefern. „Needless to say,
social cosmology is a construct and its usefulness depends on to what extent it can permit us
to formulate insights and even concrete post- and predictions about empirical reality.”159
Um friedenstheoretische Relevanz zu besitzen, muss sich die kosmologische Untersuchung
dabei auf Makro-Kulturen, auf Zivilisationen beziehen.160
„Wir brauchen also Analysen, die
sich eher auf Zivilisationen als auf Staaten oder ökonomische oder politische Systeme als
155 Brousek (2008), S. 189. 156 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 15. 157 „[T]here several ideologies complementing each other compatible with the same deep ideology (and presenting themselves as if they were profoundly antithetical to each other) […].“ Galtung/ Heiestad/ Rudeng
(1979), S. 34. 158 Galtung (2005), S. 33. 159 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 14. 160 „Genauer gesagt gilt unser Interesse dem Umstand, wie die Tiefenkultur einer Zivilisation (=Marko-Kultur) –
die für Menschen, die in dieser Kultur aufwachsen, festlegt, was normal und natürlich ist – die Beziehungen
zwischen den inneren Akteuren formt, die z.B. von Freud und Jung so lebendig porträtiert wurden. […]
Menschen wachsen in Kulturen auf, in denen Tiefencodes wirksam sind. Gesellschaften werden im
Wirkungsbereich dieser Codes eingerichtet, ebenso die Welt, die sich aus diesen Gesellschaften zusammensetzt,
und desgleichen unser Verhältnis zur Natur und zum Transpersonalen, ganz zu schweigen von unserer
kognitiven Wahrnehmung, die in unsere Gedanken, unsere Sprache und in unser Handeln projiziert wird, das in
Relation zu all diesen Instanzen steht.“ Galtung (1997), S. 141.
28
Einheiten beziehen.“161
In diesem Zusammenhang stellt sich für Galtung die Frage nach dem
adäquaten methodischen Vorgehen.
„How, then, should one try to characterize a social cosmology/ deep ideology/ social grammar? Or,
more precisely formulated: how would one write the program of Western Civilization? What are the
basic assumptions, the basic routines? And above all, given the hypothetical nature of this construct, what kind of methodology would one make use of? As to the latter the only honest answer seem to be
the ‚methodology of as if’: Western history should be seen ‚as if’ its actors were enacting a built-in
program, choosing the program formulations that seem to render a minimum axiomatic basis for the
understanding of a maximum of structures and processes. In so doing one could of course make use of
the writings selected by those persons elected by later generations into the various halls of fame, seeing
them as exponents of the Western consciousness (or even unconsciousness). But this would be a highly
elitist methodology, giving much too much weight to specific individuals and relying much too much
on the selection process that took place afterwards. Much better would have been systematic efforts, in
the tradition of deep social science investigations, of the deeper-lying assumptions behind peoples’
attitudes and behavior. If this is a question of philosophy one would like to know that of the peoples, not
only the philosophy of selected individuals; the focus on the latter to the exclusion of the former being in itself an expression of Western social cosmology.”162
Auf Basis seiner theoretischen Vorüberlegungen entwickelt Galtung zur Entschlüsselung
kosmologischer Codes ein methodisches Instrumentarium. Hierbei trennt er in seiner
strukturalen Analyse die objektive Ebene der Tiefenkultur von der subjektiven Ebene der
Oberflächenkultur.
„Being sui generis structures and cultures can be detached from actors and studied as dialectic holisms
in their own right. The structure of capitalism can be studied without any reference to, say, USA; the
culture of dualism can also be studied without reference to, say, USA.”163
Um eine möglichst systematische Analyse unterschiedlicher Kosmologien herauszuarbeiten,
unterteilt Galtung das tiefenkulturelle Material in verschiedene Dimensionen. Er differenziert
zwischen Welt, Zeit, Natur, Selbst, Gesellschaft und Kultur, wobei bei letzterer nochmals
Transpersonal und Episteme unterschieden wird. Die jeweiligen tiefenkulturellen
Dimensionen werden dann separat untersucht. Die charakteristischen Merkmale, die die
einzelnen Kosmologien in Bezug auf die jeweiligen Räume auszeichnen, können sich dabei in
unterschiedlicher Ausprägung manifestieren. Auffallend ist hierbei die prominente Stellung
der Religion und die Überzeugung, dass sich die „Organisation des Glaubens [...] nicht allzu
sehr von der Organisation der Gesellschaft“164
unterscheiden könne. Bei der Identifizierung
grundlegender inter-zivilisatorischer Differenzen ist daher die Religion als Trägerin der
Kosmologie zentral. Eine Zivilisation ist für Galtung deshalb meist deckungsgleich mit einer
Religionsgemeinschaft. Unter der Bezeichnung „Okzident“ versteht Galtung beispielsweise
„die Region, die von den semitisch-abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum,
161 Galtung (2005), S. 177. 162 Galtung (2005), S. 16. 163 Galtung (2008), S. 15. 164 Galtung (1975b), S. 70.
29
Islam)“165
umfasst wird.
Jede Kosmologie kann in den jeweiligen Räumen alternative Ausprägungen bestimmter
Merkmale aufweisen, die je nach Qualität auch als „hart“ oder „weich“ beschrieben werden
können. Beispielsweise existieren innerhalb der Kosmologie „Okzident I“ Elemente eines
„harten“ Individualismus, welcher vom Protestantismus kulturell geprägt wird; gleichzeitig
gibt es einflussreiche Strömungen des „weichen“ Kollektivismus, welcher sich im
Katholizismus und der Orthodoxie manifestiert.166
Ausgehend von dieser Grundlage und unter
Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Gewaltpotenziale und deren Erscheinungsformen
identifiziert Galtung unterschiedliche Zivilisationen. Er analysiert dabei die Möglichkeiten
sowohl von interzivilisatorischen wie von intrazivilisatorischen Konflikten.
Insgesamt zählt Galtung sechs wichtige Kosmologien auf:
- eine in „Okzident I“ und „Okzident II“ geteilte abendländische Zivilisation, wobei
„Okzident“ als Bereich definiert wird, der von den semitisch-abrahamitischen
Religionen – Judentum, Islam, Christentum – geprägt ist;
- eine „hinduistische“ Zivilisation;
- eine in „buddhistische“, „sinische“ und „nipponische“ geteilte orientalische
Zivilisation.
Des Weiteren führt Galtung noch eine Reihe weiterer Zivilisationen auf, die aber in seiner
Analyse marginalisiert und nicht berücksichtigt werden. Hierzu gehören die „afrikanische“,
die „amerikanisch-indianische“ wie die „asiatisch-pazifische“ Eingeborenenkultur sowie
weitere Kulturen in Ostasien, wie die „vietnamesische“ und die „koreanische“.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Galtungs Theorie der Tiefenkultur zahlreiche
Merkmale mentalistisch-strukturalistischer Kulturtheorien („Minimierung des Subjekts“,
Konzipierung der Tiefenkultur als objektive kulturelle Ebene, strukturale Methodik)
aufweist. Wie das folgende Kapitel zeigt, hat dieses Kulturverständnis Konsequenzen für die
Möglichkeitsbedingungen zur Reduzierung kultureller Gewalt.
2.4 Galtungs Vorschlag zur Reduzierung kultureller Gewalt
Folgt man den kultur- und zivilisationstheoretischen Ausführungen Galtungs so könnte man
den Eindruck gewinnen, als wären Menschen durch ihre tiefenkulturelle Codierung
165 Galtung (1998a), S. 368. 166 Vgl. Galtung (2005), S. 136ff.
30
determiniert und auf ewig Sklaven ihrer eigenen kulturellen Gewalt. Viele Aussagen lassen
Galtung „als späten Vertreter des kulturellen Determinismus erscheinen“167
. Und in der Tat
weisen Kosmologien eine ausgesprochene Veränderungsresistenz auf, denn sie beinhalten
„Annahmen, die so tief im kollektiven Unterbewusstsein liegen […], dass sie „nicht leicht ans
Tageslicht zu befördern, geschweige denn, auszumerzen“168
sind.169
Eine weitere Aussage
Galtungs verstärkt diesen Eindruck.
„Den kulturellen genetischen Code zu ändern, scheint mindestens ebenso schwierig, wie den
biologischen genetischen Code zu verändern. Aber nicht nur das: Eine zum Umbau kultureller Codes fähige ‚Kulturtechnik‘ [dürfte], so sie denn möglich wäre, eine Form von Gewalt darstellen, die sich als
ebenso problematisch erweisen könnte wie die Gentechnik.“170
Zudem haben tiefenkulturell verankerte Gewaltdispositionen eine andere Qualität als die
Gewaltrechtfertigungsfunktionen der Oberflächenkultur.
„Können Zivilisationen geändert werden? Nicht im oberflächlichen Sinne […], sondern im Sinne der
Änderung ihrer Codes, der Transformation ihrer Kosmologien? Die Antwort auf diese Frage ist alles
andere als klar. Doch ist die Frage gewiss eine der wichtigsten, die in der Friedensforschung aufgeworfen werden können. Wir wissen, dass sich Zivilisationen ändern, in dem Sinne, dass wir
tieferliegende Aspekte, die Kosmologie, als verändert betrachten dürfen. Doch solche Änderungen
wurden durch eine Reihe historischer Umstände, nicht durch willentliche Planung hervorgebracht.“171
Eine aktive und kreative Änderung des „genetischen kulturellen Codes“ durch „willentliche
Planung“ gesellschaftlicher Akteure wird bei Galtung klar ausgeschlossen. „Like human
personalities, social cosmologies were deemed to be necessary components of human social
existence. Though malleable and subject to distortion, their essence preceded
manipulation.”172
Galtung ist nicht der Meinung, dass es reicht erfolgreich „kulturelle Deutungen zu
delegitimieren […] [und] überzeugend Ideologiekritik und Religionskritik zu betreiben“173
um
167 Fuchs (2003), S. 17. 168 Galtung (2005), S. 125. 169
In diesem Zusammenhang sei auf Bourdieu verwiesen, dessen Idee der „symbolischen Gewalt“ ähnliche
deterministische Züge trägt. Bourdieu hebt beispielsweise hervor, dass „es völlig illusorisch ist, zu glauben, die
symbolische Gewalt könne mit den Waffen des Bewusstseins und des Willens allein besiegt werden [...], weil
die Resultate und die Bedingungen ihrer Wirksamkeit in Form von Dispositionen dauerhaft in das Innerste der
Körper eingeprägt sind.“ Es geht Bourdieu dabei um die Beseitigung dessen, was er „ein intellektualistisches und
scholastisches ‚Vorurteil‘“ nennt, „das wie bei Marx [...] zu der Erwartung verleitet, die Befreiung der Frauen ergebe sich als automatische Folge der ‚Bewusstwerdung‘, wobei man in Ermangelung einer Dispositionstheorie
der Praktiken nicht die Opakheit und Trägheit berücksichtigt, die aus der Einprägung der sozialen Strukturen in
die Körper resultieren“. Bourdieu (2005), S. 72ff. Zitiert nach Brousek (2008), S. 39. 170 Galtung (2005), S. 126. 171 Galtung (2005), S. 176f. 172 Lawler (1995), S. 148. 173 Reitter (1989), S. 57. Hierzu Schmidt „Soweit Galtung die Gewaltrechtfertigungsfunktion der Wissenschaften
wie anderer symbolischer Sphären der menschlichen Existenz – der Kunst etwa, der Sprache oder der Religion –
auf verborgene Interessen und argumentativ ungedeckte Ansprüche zurückführt, bleibt seine Kritik kultureller
Gewalt durchaus im Rahmen klassischer Ideologiekritik. Die eigentliche friedenswissenschaftliche
Herausforderung von Galtungs komparativ angelegter Kosmologieanalyse liegt denn auch eine Etage tiefer.“
Schmidt (2001), S. 520.
31
kosmologische Voraussetzungen zu verändern.174
Dieser Sachverhalt ist nicht weiter
überraschend, denn die Resistenz gegenüber aktiver willentlicher Beeinflussung gibt, wie im
vorherigen Kapitel dargestellt, seiner strukturalistischen Theoriearchitektur erst ihre Substanz.
Tiefenkulturen haben ja gerade Permanenzcharakter, weil sie von bewussten Handlungsakten
nicht tangiert werden. Diese „spielentscheidende“ Problematik erkennt Schmidt, indem er
betont, dass „tiefenkulturelle Bestände jeder instrumentalistischen Zurichtung
voraus[liegen]“.
„Offensichtlich sind wir hiermit weit über die Gewalt- oder Friedens-Rechtfertigungsfunktionen der
Oberflächenkultur hinaus. Aller konkreten Gewalt- (oder Friedens-)Legitimation vorausliegend,
disponiert der kulturelle Code, in der Regel begründungs-, reflexions-, ja bewusstlos, zur Konstruktion,
zur Perzeption wie zur Herstellung gewalttätiger und gewaltgeneigter sozialer Realität und Praktiken!
Um die hier spielentscheidende Differenz von Oberflächen- bzw. manifester und Tiefenkultur noch einmal zu variieren: Während die gewaltträchtigen Aspekte der ersteren bewusst oder bewusstseinsnah
sind und so einer politisch-ideologischen Inanspruchnahme wie Zurückweisung offen stehen, liegen die
tiefenkulturellen Bestände jeder instrumentalistischen Zurichtung voraus.“175
Obwohl Kosmologien nach Ansicht Galtungs, ebenso wie genetische Codes, eine große
Veränderungsresistenz aufweisen, sind sie jedoch nicht statisch oder monolithisch.176
Veränderungen der Kosmologie werden nicht ausgeschlossen, allerdings werden sie nicht
durch (bewusste) Aktivitäten gesellschaftsinterner Akteure hervorgerufen.177
Ein (zum
Scheitern verurteiltes) Vorhaben, dass sich die aktive Veränderung des kulturellen Codes in
Form einer „Kulturtechnik“ zum Ziel setzt, stellt für Galtung „eine Form der Gewalt“ dar,
„die sich als ebenso problematisch erweisen könnte wie die Gen-Technik“178
. Überhaupt
weist die Frage nach der Ursache von tiefenkulturellen Änderungen in die falsche Richtung:
„Essentially it is a question of changes not in, but of a total configuration, and it may well be
that the question ‚where does the change start‘ in itself is a wrong question, a product of
174 Den speziellen Zusammenhang zwischen Oberflächen- und Tiefenkultur erkennt auch Schmidt: „Wie oft
nämlich laufen anscheinend entgegengesetzte Vorstellungen der Oberflächenkultur in Wissenschaft und
Ideologie, laufen alternative Entwicklungs- und Friedensvorstellungen etwa liberaler, christlicher und
marxistischer Provenienz in der Praxis auf dasselbe, das von ihnen gemeinsam Kritisierte nämlich, hinaus –
mangels Berücksichtigung der gemeinsamen tiefenkulturellen Grundlagen!“ Schmidt (2005), S. 36. 175 Schmidt (2002), S. 24. 176 Gleiches gilt für die Qualität von Strukturen: „Social structures are human constructions, like architectonic constructs. As such they can be deconstructed, and reconstructed, as is being done all the time. […] In other
words, there is nothing deterministic in the concept of structural violence in the sense that people are condemned
forever to live in some structural prison. […] The higher the consciousness of structural violence, the more the
actors can do about it. ” Galtung (2008), S. 105. 177 Ähnlich interpretiert Reckwitz die strukturalistische Kulturtheorie: „Wenn im Rahmen der strukturalistischen
Kulturtheorie damit die Leitdifferenz zwischen den tatsächlich handlungskonstitutiven symbolischen Ordnungen
und der sekundären und nur als Selbstbeschreibung relevanten ‚subjektiven Perspektive‘ des
Teilnehmerverstehens auf der Ebene der Differenz zwischen überhistorischer kultureller Struktur und dem
Prozess der ‚Geschichte‘ reproduziert wird, so heißt dies […] jedoch nicht, dass es keine ‚Transformationen‘ im
Bereich der symbolischen Ordnung gäbe. Diese Transformationen sind allerdings in der strukturalen Analyse
von den Interpretationen des Subjekts völlig unabhängig zu begreifen.“ Reckwitz (2006), S. 227. 178 Galtung (1998a), S. 363.
32
Western epistemological linearity […].”179
Tiefenkulturelle Transformation ist für Galtung
nur denkbar als Ergebnis kosmologischer „Systemkrisen“180
, welche er mit dem Begriff
„structural fatigue“ umschreibt. In diesem Zusammenhang sind die Grundzüge Galtungs
strukturalistischer Kulturtheorie und die schon im Konzept der strukturellen Gewalt
diagnostizierte „Minimierung des Subjekts“ klar zu erkennen:
„In metallurgy a structural yields services up to a certain point when the metal becomes, for instance,
brittle. Similarly we assume that the social structure, and the cognitive structure, both have a finite
capacity for producing solutions: sooner or later that capacity will be exhausted. One way of expressing
this principle of limitation would be through the language of permutations. Any given social grammar
has a limited number of combinations to offer, hence a limited number of strategies for solving
problems. As the society runs through these strategies and one after the other fails to meet the bill, a
more fundamental crisis is building up: that of exhausting the repertory. […] If both the inner periphery
and the outer periphery revolt at the same time and nature shows her limitation as host to the human
race very clearly, this is all difficult but not in itself dangerous to the system as long as the elites are
convinced that there are still some possible strategies left to be attempted. It is only when these
strategies have been tried, the problems continue to accumulate unabated and there are no more games left to play that the challenge becomes overpowering. It is at this stage that the elites might abdicate
even voluntarily, or let themselves be beaten out of defaitism, or even join the new forces in the search
for fundamentally new formulas. That all these conditions should hold true at the same points in time
and space will appear unlikely, so these situations of profound crisis should be seen as very rare in the
history of mankind.”181
Dass es trotz der Veränderungsresidenz von Kosmologien Hoffnung auf die Überwindung
von kultureller Gewalt gibt, ist einem spezielle Phänomen geschuldet, nämlich dem „ying-
yang aspect“ von Zivilisationen. Mit dem „ying-yang aspect“ hebt Galtung hervor, dass eine
Zivilisation nicht nur über eine Tiefenkultur verfügt, sondern, dass es neben der dominanten
auch immer – zumindest - eine rezessive Tiefenkultur gibt.
„[W]e shall postulate [a] yin-yang aspect to social cosmology. Thus, we shall not assume that the
Western social cosmology is a clear-cut thing, invariant in social and geographical space and in time. It
obviously is not, for if it were then there would not be these fundamental changes in what was
considered normal and natural, nor the variations in social and geographical space within each sub-
period, so far not touched upon at all. So we shall assume that there is something like a dominant/
manifest social cosmology, always accompanied by a recessive/ latent social cosmology, like its alter
ego; and further postulate that whereas the dominant cosmology by definition is that of the center in the
Center, the alternative cosmology may be particularly pronounced elsewhere – in the inner proletariat or in outer-West – not to mention in the Outside.”182
Galtung postuliert nicht die Existenz einer Einheitskultur, die raum- und zeitunabhängig das
Verhalten der unterschiedlichsten Akteure determiniert. Vielmehr geht Galtung von einer
Pluralität von teilweise miteinander konkurrierenden oder sich widersprechenden
tiefenkulturellen Deutungssystemen aus. Jede Kosmologie enthält tiefenkulturelle
Variationen, die verschiedene handlungsleitende Potenziale beinhalten können.
Deshalb gilt für Galtung der Grundsatz:
179 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 32. 180 „[T]he root of the real crisis is seen here as being related to a social cosmology no longer able to produce
solutions […].” Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 38. 181 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 29f. 182 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 14.
33
„[U]nterhalb der Oberfläche zu graben, bedeutet nicht, von der Vielheit (der Kulturen) zur Einheit/
Einfachheit (der Tiefenkulturen) überzugehen. Die ‚okzidentale Tiefenstruktur‘ z.B. ist nicht
unzweideutig. So würde ich etwa argumentieren, dass das Christentum nur in den Begriffen von
zumindest zwei verschiedenen Lektüren verstanden werden kann – einer harten (mehr auf Transzendenz
und auf Erbsünde ausgerichteten) und einer weichen (die Immanenz und den ursprünglichen
Gnadenstand hervorhebenden) Lesart. Andere erkennen eine noch komplexere Mannigfaltigkeit der
Tiefenstrukturen.“183
Galtung erläutert diesen Sachverhalt am Beispiel der westlichen Zivilisation. In der
westlichen Welt führten widersprüchliche tiefenkulturelle Wurzeln zur Herausbildung zweier
alternativer Kosmologien. Als Okzident I bezeichnet Galtung die derzeit dominante
Tiefenkultur, nämlich die der Moderne. Sie weist große strukturelle Ähnlichkeiten mit der
griechisch-römischen Antike auf. Unter Okzident II versteht Galtung die zur Zeit des
Mittelalters dominante Tiefenkultur, die seit der Renaissance in Vergessenheit geraten,
beziehungsweise nur mehr in der „Peripherie“ beheimatet ist.184
Der vermutlich größte
Gegensatz besteht darin, dass die Tiefenkultur des Okzident II gegenüber der des Okzident I
durch eine „weichere“ und weniger expanisionistische Grundausrichtung gekennzeichnet ist.
Interessanterweise konnte nach Galtung Okzident II vom Ende des Weströmischen zum Ende
des Mittelalters die Vorherrschaft des Okzidents I brechen und temporär eine hegemoniale
Stellung einnehmen. Dass die Hoffnung für den Westen hinsichtlich seiner Friedfertigkeit
nicht verloren ist, führt Galtung deshalb auf diesen Einfluss zurück: „Die Tatsache, dass im
Abendland auch Frieden herrscht, dass dieser manchmal sogar vom Okzident ausging, ist so
etwas wie ein Wunder und möglicherweise den weicheren Strängen desselben
zuzuschreiben.“185
Da es für Mitglieder einer Zivilisation die Möglichkeit gibt auf unterschiedliche
tiefenkulturelle Bestände zurückzugreifen, bleibt Galtungs Konzept einer friedensförderlichen
Bearbeitung nicht völlig verschlossen.
Zur Reduzierung kulturelle Gewalt ist nun eine doppelte Strategie denkbar.
„Die Inhalte der Tiefenkultur sind grundsätzlich bewusstseinsfähig […]. Dadurch hält sich aber jede
Kosmologie […] einer doppelten Veränderung offen: durch Selbst-Thematisierung und Selbst-Kritik,
kurz durch intrakulturelle Dialoge und Auseinandersetzungen auf der einen, durch interkulturelle
Dialoge und Einwirkungen auf der anderen Seite.“186
Ein erster Schritt auf dem Weg zur Reduzierung von kultureller Gewalt ist demnach die in
einer Kosmologie integrierten Gehalte kultureller Gewalt zu untersuchen. Ziel ist es zunächst
183 Galtung (2005), S. 125. 184 Konkret führt Galtung aus: „Hierunter wird der latente oder rückläufige Okzident im zeitgenössischen Westen
verstanden sowie der manifeste oder herrschende Okzident in der Zeit des Mittelalters, vom Niedergang des
Weströmischen Reiches bis zu dem Moment, als das grundherrliche Feudalsystem den Stadtstaaten wich, die
später zu National- und Weltstaaten bzw. Weltreichen werden sollten.“ Galtung (2005), S. 139. 185 Galtung (1998a), S. 363. 186 Schmidt (2002), S. 25.
34
eine Archäologie der „Tiefenkultur“ oder „Expedition in das [...] kollektive Unterbewusste“187
durchzuführen. Hier sollen die entscheidenden kulturellen Faktoren kultureller Gewalt
offengelegt werden.188
Der Erfolg dieser Anstrengung hängt davon ab, ob es gelingt das
Unterbewusste ans Tageslicht zu befördern:
„Gelingt es uns, das Unterbewusste bewusst zu machen, können wir uns vielleicht befreien von
langwieriger struktureller und wiederholter direkter Gewalt. Vielleicht werden wir dann auch genauer
erkennen, wie die moderne westliche Wirtschaft funktioniert und inwiefern die gängige
Wirtschaftswissenschaften im Decodieren von Basisunterstellungen eines bestimmten Typus westlicher
Zivilisation besteht. Und Vergleichbares gilt für die üblichen Konflikt- und Sicherheitsanalysen: Vieles
darin ist nicht mehr als ein Entwickeln kollektiver und unterbewusster Voraussetzungen, die einer
ernsthaften Untersuchung nie unterzogen wurden.“189
„Die ganze Theorie der Kosmologie, der Tiefenkultur einer Gesellschaft, dient dazu, sich mit
den allgemein geteilten Prä-Kognitionen des kollektiven Unterbewusstseins zu befassen.“190
Ein zentrales Fördermittel, um tiefenkulturelle Elemente einer Gewaltkultur so intensiv als
möglich ins Bewusstsein zu heben, stellt dabei der interzivilisatorischen Dialog dar. Denn:
„Wenn es um Aspekte der Tiefenkultur geht, kann ein intraokzidentaler Dialog für den
Westen nur begrenzte Vorteile bringen.“191
Durch interkulturelle Dialoge kann ein Prozess
der Selbsterkenntnis optimiert werden.
„Kosmologie ist jedoch etwas ganz Anderes und geht viel tiefer. Für mich ist die Kosmologie einer
Zivilisation dasselbe wie die Persönlichkeit eines Menschen. Also die Züge, die eine gewisse Invarianz
aufweisen, eine gewisse Permanenz. D.h. nicht, dass man die Persönlichkeit oder die Kosmologie nicht
verändern kann. Aber wenn, dann meistens durch Krisen und Infragestellung des Selbst und die
Bearbeitung des Selbst. Und das ist sehr, sehr schwierig. Man ist sich seiner Persönlichkeit nicht
notwendigerweise bewusst. Die Anderen sehen das meist besser. Dasselbe gilt für eine Zivilisation. Die
Anderen sehen die dahinter liegende Kosmologie besser. Das meiste, was ich über die westliche
Zivilisation weiß, habe ich von draußen gesehen. Ich kann in Konversationen über ‚Abendländer‘ viel
mehr über die ‚Abendländer‘ lernen, als in Konversation mit den Bewohnern der Abendländer
selber.“192
Galtung ist optimistisch, dass die unbewussten tiefenkulturellen Gewaltaspekte ins
Bewusstsein gehoben werden können. „[D]eep culture is not deterministic unless it remains
subconscious. Our spirit is capable both of consciousness and reprogramming.”193
Tiefenkultur ist für Galtung prinzipiell in unterschiedlichen Graden erkennbar und
reflektierbar. Jeder Mensch hat daher die Möglichkeit seine kulturellen Determinationen
aufzudecken. Bei diesem Prozess können Friedensfachkräfte behilflich sein.
„Die Arbeit von Friedensforschern und Friedensaktivisten ist nun darauf gerichtet, nach Mitteln und
Wegen zu suchen, diese ‚Programmierung‘ bzw. Codes zu entschlüsseln und so einer gemeinsamen
Bearbeitung durch die an einem Konflikt beteiligten Seiten zugänglich zu machen. Dabei sind
187 Galtung (1998a), S. 367. 188 Galtung (1998a), S. 362. 189 Galtung (1998a), S. 13. 190 Galtung (2005), S. 17. 191 Majer (2003), S. 96. 192 Graf/ Macho (2010), S. 41. 193 Galtung (2008), S. 95.
35
Ideologien, Überzeugungen und Glaubenssysteme jene Medien, über die unterbewusste Prägungen an
die Oberfläche treten und so analysiert und verändert werden können.“194
Das Erkennen der Potenziale kultureller Gewalt ist allerdings nur der halbe Weg. Das Ziel
aller Anstrengung ist letztlich die Überwindung kultureller Gewalt. „Gewaltkulturen müssen
durch Friedenskulturen, die die Gewalt entlegitimieren, ersetzt werden.“195
Das entscheidende
Wort in diesem Zusammenhang ist „ersetzt“. Veränderung oder „reprograming“
heißt nicht – zumindest wenn man Galtungs Arbeit eine gewisse Logik unterstellen möchte196
– eine willentlich herbeigeführte tiefenkulturelle Neuerfindung. Für eine Neuprogrammierung
fehlen – um in Galtungs Sprachbild zu bleiben – die Zugriffsrechte, es fehlt das
tiefenkulturelle Passwort. Mit „reprograming“ meint Galtung das Aufspielen eines anderen,
„weicheren“ Betriebssystems.
„Der Kampf für […] einen anderen Frieden [muss] auch als Herausforderung, ja als Transformation der
abendländischen Kosmologie geführt werden – durch Bewusstmachung und Kritik des jeweiligen
tiefenkulturellen Unterbewussten (Aufklärung) und durch das Ausspielen bzw. Starkmachen
tiefenkultureller Alternativen und Gegenströmungen.“197
Da eine aktive und willentliche Veränderung des „kulturellen genetischen Codes“ theoretisch
von Galtung ausgeschlossen wird und kosmologische Systemkrisen selten sind, ist der einzige
gangbare Weg für die Realisierung einer Friedenskultur, die in einer Zivilisation schon
existierenden „weicheren“ Gehalte zu nutzen.
3. Potenzial und Defizite der Theorie der kulturellen Gewalt
Nachdem Galtungs zentrale theoretische Vorüberlegungen dargelegt wurden und die
Konzeption der kulturellen Gewalt rekonstruiert wurde, gilt es sich nun der kritischen
Diskussion zuzuwenden. Grundsätzlich ist hierbei festzustellen, dass Galtungs Ansatz eine
194 Schrader (2000), S. 231. 195 Galtung (1994), S. 208. 196 Diese scheint in der Tat nicht immer stringent: „Für eine Operationalisierung sind Galtungs Hinweise zur
Lösung des Problems der kulturellen Gewalt auch widersprüchlich. Einerseits soll der Westen die weichen
Aspekte des Orients mittels Dialog aufnehmen, andererseits kann die Kultur nicht so einfach geändert werden,
hängt sie doch vom kulturellen Code ab, der wie Galtung behauptet, womöglich gleich schwer zu ändern sein
wird wie ein genetischer Code.“ Majer (2003), S. 97. 197 Schmidt (1999), S. 43.
36
kontroverse Rezeption198
im friedenswissenschaftlichen Diskurs erfährt. Sie „reicht von
kritikloser Übernahme über die Versuche, die Schwächen der Konzeption aufzunehmen und
konstruktiv zu bearbeiten, bis hin zu radikaler Ablehnung“199
. Diese positiven und negativen
Beurteilungen sollen als nächstes diskutiert und das Potenzial und die Schwächen der Theorie
der kulturellen Gewalt herausgearbeitet werden. Besonders gewinnbringend erscheint mir in
diesem Zusammenhang die friedenstheoretische Leistungsfähigkeit des kulturorientierten
Ansatzes anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit der liberalen Theorie des
„demokratischen Friedens“ zu demonstrieren, einer Theorie die eine zentrale Bedeutung für
die diskursive Ausrichtung der Friedensforschung der letzten Jahre hatte. Im Mittelpunkt
dieses Forschungsprogramms steht die Frage, inwieweit liberal-demokratische
Herrschaftsformen eine pazifizierende Wirkung auf das Außenverhalten von Gemeinwesen
haben. Empirisch werden die Grundannahmen der liberalen Theorie des „demokratischen
Friedens“ im Wesentlichen bestätigt, jedenfalls was die Häufigkeit interdemokratischer
kriegerischer Gewalt anbetrifft. Der Befund, dass Demokratien (fast) keine Kriege
gegeneinander führen, gehört in der Forschung hierbei zu den stärksten und nicht-trivialen
Generalisierungen. Ganz anders verhält es sich in Konflikten mit Nicht-Demokratien. Hier ist
der positive Korrelationseffekt von Demokratie und Frieden wesentlich geringer ausgeprägt.
Dieser aus konflikttheoretischer Sicht zunächst überraschende empirische Doppelbefund hat
die wissenschaftliche Bearbeitung des Zusammenhangs von Demokratie und Frieden zu einer
„demokratiezentrierten Friedens- und Gewaltforschung“200
expandieren lassen. Diese
erweiterte Perspektive erlaubt es nun auch den „demokratischen Krieg“ als „Schattenseite des
Demokratischen Friedens“201
in den Fokus des Interesses zu stellen.
198 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass außerhalb der Friedensforschung eine
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Galtungs Thesen kaum stattfindet. In klassischen Disziplinen der
internationalen Politik wird der Begründer der Friedens- und Konfliktforschung nahezu komplett ignoriert. Von
einer Beeinflussung der wissenschaftlichen „mainstream-Diskurse“ kann nicht die Rede sein. Und was vielleicht
noch gravierender ist: Galtungs Friedenstheorien sind einer breiteren Öffentlichkeit nahezu völlig unbekannt.
Diese Begebenheit widerspricht dem Grundziel der Friedensforschung eine praxisrelevante und
wirklichkeitsverändernde Wirkung zu entfalten. Ein mangelndes „Forschungsmarketing“ (unsensible Wahl der Begrifflichkeiten, problematische Vergleiche [Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus], einseitige empirische
Perspektive, emotional überspitze Argumentationsführung etc.) könnte für den geringen Einfluss Galtungs
verantwortlich sein. Es stellt sich insgesamt die Frage, ob mit größerer Sensibilität und Dialogbereitschaft nicht
mehr zu erreichen wäre. 199 Alfs (1995), S. 34. Zur grundlegenden Problematik einer Galtung-Kritik äußert sich Posern: „Kritik hat es
schwer, sich mit Galtung auseinanderzusetzen, weicht dieser doch immer wieder zurück, indem er seinen
Arbeiten sehr beschränkte Funktionen zuweist. Da jedoch anscheinend alle Arbeiten Galtungs sich darauf
beschränken, ‚base-lines‘ und ‚points of departure‘ aufzuweisen, muss das Fehlen gründlicher Analysen doch
auch hier als gravierender Mangel vermerkt werden.“ Posern (1992), S. 64. 200 Geis/ Wagner (2006). 201 „Democratic peace increasingly seems to be linked to war. Obviously, there is a dark side to democratic
peace”. Brock/ Geis/ Müller (2006), S. 3.
37
„Die in jüngster Zeit wieder vermehrt aufgenommene Forschung zur gewaltsamen Seite von
Demokratien stellt [dabei] nicht einfach eine Fortführung der älteren DF-Forschung zu einem
‚Doppelbefund‘ dar, sondern fokussiert nunmehr stärker auf demokratiespezifische Motive und Anreize
bzw. Kontextbedingungen dieser Gewalt.“202
Hierbei wird die These vertreten, dass Galtungs Idee der „kulturellen Gewalt“ ein wichtigstes
Desiderat liberal-szientistischer Forschung ausfüllen könnte, allerdings dieses Potenzial
aufgrund des problematischen Kulturverständnisses von Galtung nicht ausgeschöpft wird.
Aufbauend auf einer eingehenden kulturtheoretischen Diskussion sollen Galtungs theoretische
Defizite identifiziert werden. Bevor aber auf die eigentliche Diskussion eingegangen wird,
soll die Theorie des „demokratischen Friedens“ kurz rekapituliert werden.
Die liberale Variante der Theorie des „demokratischen Friedens“ leitet seine Grundprämissen
aus der Metatheorie des Liberalismus der Internationalen Beziehungen ab. Der liberale
theoretische Ansatz vertritt grundsätzlich die Position, dass es unzureichend ist, Staaten im
internationalen System als unitäre Akteure anzusehen, deren außenpolitisches Verhalten allein
von den Gegebenheiten einer gesetzlosen internationalen Konstellation determiniert wird.203
Die liberale Theoriebildung zielt darauf ab, die strukturelle Ausgrenzung von internen
Prozessen aufzubrechen und macht staatlich organisierte Gesellschaft und das politische
System zu den primären Analyseebenen.204
Staatliches und damit außenpolitisches Verhalten
leitet sich aus gesellschaftlichen Strukturen und Interessen ab.205
Diese theoretische Perspektive nehmen auch die Erklärungen liberalen Theorien des
„demokratischen Friedens“ ein. Im Fokus des Interesses stehen das institutionelle Gefüge der
demokratischen Regierungsform sowie die normativ oder rational motivierten Präferenzen der
Bürger, die sich über diese Institutionen in die Außenpolitik vermitteln.
Die normative Argumentationslogik führt die demokratische Friedensneigung hierbei auf die
kulturellen Spezifikationen einer demokratischen Gesellschaft zurück, in welcher politische
Eliten und Bürger via Sozialisation pazifistische Ideale206
internalisiert haben.207
Da sich
internalisierte Wertvorstellungen nicht einfach ablegen lassen, werden die an friedlicher
Konfliktregelung orientierten innenpolitischen Normen – so der Analogieschluss – im
202 Geis/ Wagner (2006), S. 280. 203 Hier grenzt sich der Liberalismus deutlich von anderen Großtheorien der Internationalen Beziehungen wie
dem (Neo-)Realismus und dem (Neo-)Institutionalismus ab. 204 Vgl. Schimmelfennig (2008), S. 140. 205 „For liberals, the configuration of state preferences matters most in world politics — not, as realists argue, the
configuration of capabilities and not, as institutionalists (that is, functional regime theorists) maintain, the
configuration of information and institutions.” Moravcsik (1997), S. 515. 206 Zu nennen sind die Ausbildung von Werten wie Vertrauen, Empathie und die hohe Einschätzung von
individueller Freiheit oder auch „Achtung der Gesetze, faire Partizipation der Einzelnen, Achtung der
Minderheiten etc.“ Geis (2001), S. 289. 207 Vgl. Owen (1996), S. 119.
38
Außenverhalten von Demokratien externalisiert.208
Die Anwendung von Gewalt „als
Instrument der politischen Auseinandersetzung“209
ist hingegen mit der normativen
Grundorientierung einer demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar. Aus normativer
Perspektive stellen kriegerische Demokratien deshalb einen logischen Bruch dar.210
Institutionelle Erklärungen streichen dagegen die spezifischen Charakteristika interner
demokratischer Institutionen und Prozesse zur Erklärung des außenpolitischen Verhaltens von
Demokratien heraus. Die Wahrscheinlichkeit zur Anwendung von Gewalt in der
Außenpolitik wird durch institutionelle Zwänge (Gewaltenteilung, Rechtstaatlichkeit,
turnusmäßige Ablösung der Regierung durch freie Wahlen etc.) reduziert, die sich aus der
demokratischen Verfasstheit der Staaten ergeben. Rationalistische Ansätze der liberalen
Theorie des „demokratischen Friedens“ erstellen einen Zusammenhang zwischen der
etablierten Herrschaftsform und innenpolitischen Kosten externer Gewaltanwendung. Hierbei
unterstellt die anthropologische Grundannahme a priori eine risikoabgeneigte Neigung der
Bürger. Diese Grundhaltung resultiert aus den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Akteure. Es wird
konstatiert, dass die Wahrscheinlichkeit für eine friedliche Außenpolitik steigt, wenn Bürger
die Entscheidung über Krieg und Frieden selbst tragen.211
Grundsätzlich haben alle liberalen Ansätze das Problem, dass sie den Doppelbefund nicht
schlüssig erklären können. Einige Argumentationslinien versuchen die Validität der Idee des
„demokratischen Friedens“ dadurch zu retten, indem sie darauf verweisen, dass gewaltaffine
Demokratien im Grunde genommen gar keine Demokratien sein können. Diesen Weg verfolgt
beispielsweise Czempiel: Demokratien die aufgrund unzureichender institutioneller Kontrolle
und fehlendem demokratischen Einfluss militante Züge tragen, stellen aus dieser Warte
höchstens noch demokratieähnliche Gebilde („kollektivierte Monarchien“212
) dar.
Fraglich bleibt hier, „warum selbst dergestalt defizitäre Demokratien bislang keine Kriege
gegeneinander geführt haben und auch sonst im wechselseitigen Verhältnis nur sehr selten auf
Gewaltstrategien zurückgriffen“213
. Ohne das Demokratieniveau oder die normativen
Gesichtspunkte zu problematisieren, versucht der utilitaristische Argumentationsstrang die
Gewaltanwendung von Demokratien theoretisch zu integrieren. Kriege, die kaum mit Risiken
208 Vgl. Risse-Kappen (1994), S. 171; Hasenclever (2003), S. 206. 209 Hasenclever (2003), S. 205. 210 Vgl. Czempiel (1996). 211 Vgl. Rummel (1983), S. 28. 212 „Der privilegierte Zugang von partikularen Interessengruppen zum Gewaltmonopol des politischen Systems,
der alle westlichen Demokratien nach wie vor kennzeichnet, kann nicht als Rest eines historischen Ballastes
verstanden werden, der sich im Laufe der Zeit verliert. Er deutet vielmehr darauf hin, dass die westlichen
Demokratien zwar schon einen beachtlichen, keineswegs aber zureichenden Entwicklungsgrad erreicht haben. Es
ist nur wenig übertrieben sie als kollektivierte Monarchien zu bezeichnen.“ Czempiel (1996), S. 86. 213 Hasenclever (2003), S. 213.
39
behaftet bzw. mit Nettonutzen für die demokratische Gesellschaft verbunden sind, sind
beispielsweise für Moravcsik also durchaus denkbar.214
Zwar bleiben demokratische
Aggressionen in dieser Konzeption theoretisch greifbar; allerdings büßt diese Beweisführung
in Bezug auf den Doppelbefund ihre Erklärungskraft ein. Im Grunde genommen müsste die
tendenzielle Kriegsaversion bzw. Kriegsbereitschaft von Demokratien unabhängig von der
politischen Konstellation des Gegenübers konstant bleiben.
„If democratic public opinion really had the effect ascribed to it, democracies would be peaceful in their
relations with all states, whether they are democratic or not. If citizens and policymakers of a democracy were especially sensitive to the human and material costs of war, that sensitivity should be
evident whenever their state is on the verge of war, regardless of whether the adversary is democratic:
the lives lost and money spent will be the same.”215
Eine weitere Argumentationslogik zielt darauf ab, dass Demokratien ihre gewaltlimitierende
Wirkung in nur rein demokratischen Dyaden entfalten können. Der Hang von Demokratien zu
(Präventiv-)Kriegen resultiert aus dieser Perspektive letztlich aus einem
Selbstverteidigungsreflex. Demokratien müssen sich gegen potenziell aggressive Nicht-
Demokratien zur Wehr setzen, was Gewaltanwendung nicht ausschließt.
Die Forschung zur Theorie des „demokratischen Friedens“ hat zahlreiche weitere
Argumentationslogiken für den empirischen Doppelbefund erarbeitet. Da sich allerdings das
argumentative Potenzial nur unwesentlich vergrößert, braucht es an dieser Stelle nicht weiter
zu interessieren. Die Grundproblematik ist, dass die meisten Erklärungsansätze für
demokratische Militanz die liberalen Denkmuster nicht überwinden, wie Schrader
herausstreicht.
„Ein Beispiel für diese Art ‚szientistischer‘ Sozialforschung sind die […] Studien zur Theorie des
‚demokratischen Friedens‘. Dabei wird die hegemoniale liberale Theorie in aller Regel als Rahmen für
die eigenen Forschungen akzeptiert. Kritik an der liberalen Theorie des ‚demokratischen Friedens‘, die
es natürlich auch gibt, richtet sich meist nicht darauf, das den empirischen und theoretischen
Forschungen zugrunde liegende liberale Paradigma und Wissenschaftsverständnis infrage zu stellen oder gar zu überwinden. Stattdessen richten sich die Anstrengungen darauf, neue, ähnlich
unterkomplexe Theorien anstelle der alten durchzusetzen.“216
Diese „unterkomplexen Theorien“ sind in der Regel nicht in der Lage die demokratische
Gewaltneigung als demokratieimmanentes Problem zu betrachten. An dieser Stelle erweist
sich Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt besonders produktiv. „Der Begriff der
kulturellen Gewalt deckt die gewalttätige Seite der Kultur auf bzw. lässt sie zumindest
erahnen. Galtung hat damit die Aufmerksamkeit der Friedensforschung auf bisher zu wenig
beachtete Zusammenhänge gelenkt.“217
Indem Galtung vorschlägt Kultur als
214 Vgl. Moravcsik (1997), S. 517. 215 Layne (1996), S. 164. 216 Schrader (2009), S. 61. 217 Wintersteiner (1999a), S. 86.
40
gewaltgenerierenden Faktor zu theoretisieren, kann er das zentrale Defizit liberaler
Theoriebildung überwinden, welche sich durch eine „genetischen Blindheit“ gegenüber
kulturellen Phänomenen äußert. Die liberalen Theorien des „demokratischen Friedens“
greifen in ihrer Argumentation zwar auf kulturelle Faktoren zurück. Allerdings besteht das
Hauptproblem der normativen Erklärung in der unplausiblen Annahme einer fixierten
pazifistischen Grundhaltung demokratischer Bürger und Eliten.
„Derlei konkurrierende, Identität stiftende Normen und Ideen, die möglicherweise die tendenzielle
Friedlichkeit von Demokratien beeinträchtigen oder gar in ihr Gegenteil verkehren, sind jedoch vor allem in der amerikanischen, vorwiegend quantitativen Forschung zum demokratischen Frieden
weitgehend unter den Tisch gefallen. Indem der Schwerpunkt auf formale demokratische Prinzipien und
Institutionen als Bedingung für gewaltfreies Konfliktverhalten gesetzt wird, geraten die normativen und
ideologischen Voraussetzungen aus dem Blick. Sie werden schlicht als universal angenommen und
nicht weiter hinterfragt. Doch gerade wenn die Forschung die Grenzen der westlichen Welt
überschreitet, muss diese behauptete Universalität utilitaristischer und normativer Präferenzen erheblich
angezweifelt werden.“218
Diese limitierte Perspektive macht eine systematische Untersuchung möglicher Gefährdungen
der demokratischen Friedensneigung durch konkurrierende, auf das politisch-kulturelle
Selbstverständnis von Gemeinwesen basierende Ideologien und Präferenzen unmöglich. Mit
Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt ist es möglich, den eingeschränkten Blickwinkel der
liberalen Wissenschaftstradition zu erweitern und die potenziell gewaltgenerierenden
kulturellen Phänomene zu thematisieren.219
Mit dem kulturtheoretischen bzw.
„zivilisationskritischen Ansatz wird es möglich, die (tiefen-)kulturellen Muster und Prägungen, die den
Rechtsordnungen und Institutionen zugrundeliegen, als Quelle und Katalysator von direkter und
struktureller Gewalt analytisch habhaft zu machen. Die Arbeit von Friedensforschern und
Friedensaktivisten ist nun darauf gerichtet, nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese ‚Programmierung‘ bzw. Codes zu entschlüsseln und so einer gemeinsamen Bearbeitung durch die an einem Konflikt
beteiligten Seiten zugänglich zu machen.“220
Entsprechend betont Galtung, dass „Pazifismus/ Bellizismus von anderen Variablen abhängen
[könnten], wie z.B. der Tiefenkulturen (Expansionismus, Manichäismus, Singularismus/
Universalismus), die quer stehen zur Demokratie/ Nicht-Demokratie-Untersuchung.“221
Insgesamt hat Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt der Friedensforschung
„den Dienst erwiesen, dass es die die Aufmerksamkeit auf völlig neue Aspekte gelenkt hat. Die
Verdienste […] lassen sich wie folgt umreißen: - Unfriede lässt sich mit der kulturellen Gewalt (wie mit der strukturellen Gewalt) auch dort aufspüren,
wo kein Krieg herrscht – also ‚Frieden‘.
- Der Begriff der kulturellen Gewalt deckt den Beitrag der Kultur zur Gewalt und zum Krieg auf. Wurde
bisher Kultur in den Zivilisationstheorien stets als das gute Gegenstück zum bösen Krieg gesehen, so
wird durch Galtungs Konzept eine völlig neue Perspektive möglich. Kultur ist weder rein gut noch rein
218 Baumgart-Ochse (2008), S. 64. 219 Ähnlich argumentiert Schrader: „Das Aufbrechen des Reduktionismus liberaler Theorien des
‚demokratischen Friedens‘ bietet die Chance, ihre methodologischen Aporien und theoretischen Antinomien in
Bezug auf eine angemessene Analyse und Konzeptualisierung außenpolitischer Willensbildungs- und
Entscheidungsprozesse in Demokratien zu überwinden.“ Schrader (2003), S. 177. 220 Schrader (2000), S. 231. 221 Galtung (2001), S. 95 (Fußnote 58).
41
schlecht, sondern enthält Aspekte von beidem.
- Die Untersuchung der Kultur lässt auch eine verstärkte Kritik bestimmter Kulturen zu“222.
Allerdings schöpft Galtung das Potenzial seiner Theorie der kulturellen Gewalt nicht aus, was
ich anhand der Darstellung seiner Analyse demokratischer Kriegsneigung im Folgenden
beispielhaft demonstrieren will. Galtung bezweifelt die grundsätzliche, auf normative Erwägungen basierende
Friedensneigung demokratischer Regierungsformen. Demokratie ist für ihn „mit
Gewaltausübung großen Ausmaßes kompatibel, das heißt, sie führt nicht nur (gelegentlich)
Kriege, sie ist bellizistisch.“223
Auf Basis seiner kulturtheoretischen Perspektive führt er diese
demokratische Gewaltaffinität auf die tiefenkulturellen Codes der okzidentalen Zivilisation
zurück. Die Tiefenkultur dieser westlichen Kosmologie versammelt „ein riesiges
Gewaltpotenzial, das auf der manifesten Ebene der Kultur zum Ausdruck gebracht und dazu
benutzt werden kann, all das zu rechtfertigen, was eigentlich nicht zu rechtfertigen ist“224
.
Insgesamt zeigt der Okzident „so many violent features that the whole culture starts to look
violent”225
. Zu den wichtigsten Charakteristka des Okzidents I zählen der
Transzendentalismus, der Monotheismus, der Universalismus, der Singularismus
(Gültigkeitsmonopol) und der Individualismus. Diese Hauptmerkmale manifestieren sich in
der Kosmologie des Okzidents I in den durch
„- die drei abrahamitischen Religionen geprägten gesellschaftlichen Entitäten bzw. Regionen mit ihrer
jeweils transzendenten monothetischen Gottesvorstellung und deren säkularen Nachfolgern, wie dem
Nationalismus oder der Ideologie;
- mit ihren akteursorientierten und zur Hierarchiebildung neigenden Gesellschaftsformen, an deren Spitze der Mann steht;
- mit der Vorstellung der Auserwähltheit im Judentum, im Islam, im Westen und dem Anspruch vor
allem des Christentums bzw. heute des Westens und des Islams auf universale Gültigkeit, worauf sich
die Vorstellung von einem Gefälle vom Selbst zum anderen begründet, was potenziell Speziezismus,
Rassismus, Klassenhass, Sexismus hervorbringt;
- mit ihrer Vorstellung von Dichotomie, die das Selbst als das Gute, das Andere als das Böse wahrnimmt,
die sich in einem ständigen Entscheidungskampf befinden“226.
Eine zentrale Komponente kultureller Gewalt identifiziert Galtung in der gängigen
Gegenüberstellung von Gott und Satan, welche aus den Glaubensvorstellungen des Okzidents
entspringen. Dies ist für Galtung deshalb von entscheidender Bedeutung, weil mit den
Vorstellungen von Gott und Satan die Voraussetzung für Freund-Feind-Konstruktionen
geschaffen wurden. Die Idee des Satans liefert das „Rohmaterial für die Konstruktion von
222 Majer (2003), S. 98. 223 Galtung (2001), S. 98. 224 Galtung (1998a), S. 363. 225 Galtung (1998a), S. 363. 226 Schmidtke (1998), S. 49.
42
Feindbildern“227
. Das Potenzial westlicher kultureller Gewalt resultiert allerdings nicht alleine
aus einem manichäischen Weltbild. Einen weiteren wichtigen Faktor stellt „die Idee, ein
Auserwähltes Volk zu sein“228
dar. Brisant ist dieses Auserwähltheitsbewusstsein, da es sich
auf eine monotheistische Glaubensstruktur stützt, welche die Vorstellung von Exklusivität in
sich trägt. Aus dieser Kombination resultiert die Überzeugung, dass „der konkrete Glaube
oder die konkrete Religion die einzige Wahrheit (Singularismus) [sei] und gültig an allen
Orten und für alle Zeiten (Universalismus)“229
. Der Weg von der Überzeugung an die eigene
universale Wahrheit hin zum missionarischen Auftrag ist dann nicht mehr weit; er ist die
„logische Folge des Singularismus cum Univeralismus“230
. Getragen vom fundamentalen
Glauben an die eigene Unschuld und von der Überzeugung von der prinzipiellen Richtigkeit
des eigenen Handelns ergibt sich ein tiefenkulturell manifestiertes Sendungsbewusstsein,
welches zum Ziel hat, die eigenen überlegenen Ordnungsvorstellungen in die Welt zu tragen.
„In other words, the Western social cosmology includes the idea of changing the cosmology
of others.”231
Im Missionsgedanken sieht Galtung ein wesentliches Fundament kulturellen
Gewaltpotenzials, da es – wenn auch nur unbewusst – die Legitimationsgrundlagen
bereitstellt, Gewalt zur Erfüllung des gottgegebenen Auftrags einzusetzen.
Insgesamt ist der Okzident
„der Neigung nach expansionistisch, Fortschritt mit Expansion identifizierend, Krisen eigener Machart
ansteuernd, und diese als normal betrachtend, […] rücksichtslos gegenüber der Natur, begierig darauf,
die eigene Peripherie durch Eroberung anderer Völker zu erweitern, politisch, militärisch, wirtschaftlich
und/ oder kulturell getrieben entweder durch abendländische Götter […], deren erwählte Völker sie sind
[…], oder durch solch weltliche Versionen wie den Nationalismus.“232
Aus der tiefenkulturellen Analyse der westlichen Zivilisation ergibt sich für Galtung nun ein
logischer Zusammenhang zur demokratischen Gewaltaffinität.
„Die kriegswilligsten Kulturen der Welt scheinen die jüdisch-christlich-islamisch inspirierten Kulturen
zu sein, mit ihrem Auserwähltheitsglauben, ihrem Singularismus (Anspruch auf eine einzige Wahrheit)
und ihrem Universalismus (Anspruch auf deren Weltgeltung, wobei der Judaismus hier eine Ausnahme
macht). Das Jüdisch-Christliche bestätigt sich aber auch an einer Kultur, die Demokratien durch einen
kompetitiven Individualismus beflügelt […]. So gelangen wir also zu einem gemeinsamen kulturellen
Faktor, der Demokratie mit Bellizismus verbindet und nicht mit dem Pazifismus der buddhistischen
Zivilisation, der weniger individualistisch ist und daher auch weniger demokratisierend im westlichen
Sinne wirkt.“233
An anderer Stelle variiert er seine Diagnose nochmals:
„An dieser Stelle geht es darum, dass Menschen, die in Demokratien leben, selbstgerecht sind, eben
weil sie in Demokratien leben. […] Auf demokratischer Seite ist man nur zu willig, dem Ruf zu folgen
227 Galtung (1998a), S. 381. 228 Galtung (1998b), S. 210. 229 Galtung (1998a), S. 374. 230 Galtung (1998b), S. 211. 231 Galtung/ Heiestad/ Rudeng (1979), S. 17. 232 Galtung (1998a), S. 406. 233 Galtung (2001), S. 106.
43
und zu versuchen, Diktaturen mit Hilfe von politischen und ökonomischen Sanktionen auf den richtigen
Weg zu bringen, wenn nötig auch mit militärischen Mitteln. Ein derartiger Krieg wird mehr als Pflicht
denn als Recht betrachtet; man führt ihn ja nicht aus egoistischen Gründen, sondern um andere Länder
vor gefährlichen, expansionistischen Diktaturen zu retten. Als weiterer Grund gilt der, dass man den
Menschen, die unter solchen Diktaturen leiden, zu Hilfe kommen will. […] Demokratien führen also
Krieg gegen bösartige Diktaturen und projizieren auf diese ihre eigene Repressivität und ihren eignen
Expansionismus, so wie das wahrhaft Selbstgerechte immer tun.“234
Nun wird Galtungs tiefenkulturelle Analyse der westlichen Zivilisation durch eine empirische
Unregelmäßigkeit theoretisch herausgefordert. So existieren auf der einen Seite Demokratien,
die ihre Militanz gegenüber Nicht-Demokratien permanent unter Beweis stellen und auf der
anderen Seite demokratische Staatsformen, die sich durch grundsätzliche Abwesenheit
aggressiver Außenpolitik auszeichnen.
„[…] [D]ie Präferenzmuster von Demokratien [weisen] kein einheitliches, ihnen allen gemeinsames,
über Zeit konstantes Schema auf. Weder herrscht durchgehend der unverbrüchliche Friedenswille erga
omnes, noch verbindet sich überall der Wunsch nach Frieden mit Demokratien mit der Neigung zu gewaltsamen Scharmützeln mit Nichtdemokratien. Es öffnet sich vielmehr ein Kontinuum zwischen der
Haltung, gegenüber Nichtdemokratien friedlich und kooperativ aufzutreten, und der Bereitschaft, gegen
dieses vermeintlich maliziöse Gegenüber schnell mit den Gewaltinstrumenten bei der Hand zu sein, auf
dem sich die Demokratien positionieren.“235
Deshalb stellt Harald Müller fest, dass „[i]n der zentralen Frage des Demokratischen Friedens,
der Anwendung von Gewalt, […] sich die Polarität militante/ pazifistische Demokratien als
wichtigste Dimension“ 236
anbietet. Gerade an dieser Stelle verliert Galtungs Theorie der
kulturellen Gewalt aber entscheidend an Substanz. Indem Galtung versucht die demokratische
Gewaltneigung als Ausfluss eines zivilisatorischen Codes zu betrachten, verliert er
notwendigerweise den Blick für kulturelle Details und Varianzen. „Galtung versucht bei
seiner Analyse der Kosmologien natürlich eine Reduktion zu erreichen, um
Hypothesenbildung zu ermöglichen und eine Taxonomie zu erstellen, muss dann aber auf die
Komplexität der dynamischen Interaktionen der Kulturen verzichten.“237
Indem Galtung seine
Untersuchung auf die zivilisatorische Perspektive ausweitet, berücksichtigt er nicht, dass es
große innerzivilisatorische Differenzierungen238
gibt und diese zu völlig unterschiedlichen
Gewaltrechtfertigungsstrategien führen können. Ähnlich wie die liberale Theoriebildung kann
also auch Galtung mit seinem makro-kulturellen Ansatz weder den Friedensüberschuss
234 Galtung (2001), S. 108f. 235 Müller (2007), S. 290. Ähnlich Müller/ Wolff: „The statement ‚democracies are peaceful to each other and
bellicose in generale‘ is an aggregate statement on the behavior of democratic states. This apparent average is an
academic artefact and hides the fact that some democracies are almost continuously involved in military action
which they frequently initiate, while others are apparently at eternal peace.” Müller/ Wolff (2004), S. 4. 236 Müller (2007), S. 307. 237 Majer (2003), S. 96. 238 Die Problematik Galtungs makrokultureller Perspektive zeigt sich beispielsweise in folgender
Verallgemeinerung: „Darüber hinaus kann ich der Auffassung nicht zustimmen, Deutschland habe sich in den
Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges so sehr von England und Frankreich unterschieden.“ Galtung
(2001), S. 95 (Fußnote, S. 58).
44
zwischen Demokratien noch die Varianz demokratischer Kriegsneigung schlüssig erklären.239
Die „genetische Blindheit“ der liberalen Theorie gegenüber kulturellen Phänomenen tauscht
Galtung ein gegen eine „genetische Blindheit“ gegenüber kulturellen Varianzen.
An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, eine theoretische Grundsatzfrage zu diskutieren.
Kann überhaupt davon gesprochen werden, dass das „Handeln von Mitgliedern und ‚Eliten‘
einer Zivilisation „[…] in den Fragen von Friede, Konflikt und Entwicklung“ durch eine
Tiefenkultur „konditioniert“240
wird. Gibt es einen direkten Weg von einer zivilisatorischen
Präkognition zur Gewalt? Konditioniert beispielsweise Singularismus und Universalismus zur
direkten oder strukturellen Gewalt? Sind nicht auch andere, friedlichere und gerechtere
Interpretationen möglich? Anders herum gefragt: Konditioniert beispielsweise die
buddhistische Tiefenkultur zum direkten und strukturellen Frieden? Sind nicht auch
gewaltförderliche Interpretationen möglich?241
Solche aus meiner Sicht „spielentscheidenden“ Variationen auf der Oberflächenkultur geraten
bei Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt aufgrund seines zivilisationskritischen Ansatzes
aus dem Fokus.
„Dieser makrokulturelle Ansatz dient daher vor allem dem Verstehen von kulturellen Gegebenheiten in
einem größeren Kontext […] was […] natürlich mit sich bringt, dass die ‚feinen‘ Unterschiede
vernachlässigt werden. In diesem Punkt tappt die hier angewandte Methode der Kulturkritik des
Okzidents vielleicht wieder genau in die Falle, der zu entkommen ihre Intention ist, nämlich das Große anvisierend, das Kleine zu vernachlässigen.“242
Bezeichnenderweise sind es gerade die kulturellen „feinen Unterschiede“, die letztlich die
Fragen von Leben und Tod (mit-)entscheiden. Nun kann man weiter Fragen, ob Galtungs
zivilisationskritischer Ansatz nicht gerade den Blick auf die variablen „(tiefen-)kulturellen
Muster und Prägungen, die den Rechtsordnungen und Institutionen zugrundeliegen“243
versperrt. Aus meiner Sicht schöpft Galtung Theorie der kulturellen Gewalt ihr Potenzial hier
239
So muss Galtung beispielsweise bei der Erklärung des demokratischen Separat-Friedens auf strukturell-
ökonomische Argumente ausweichen. Das Kosten-Nutzen-Kalkül ist letztlich entscheidend für den faktischen
Friedensüberschuss zwischen Demokratien, weil Ausbeutung und Unterdrückung auf diese Weise reibungsloser
funktionieren. „Ich fürchte, wenn sie sich nicht bekriegen, dann darum, weil sie mehr zu gewinnen haben, wenn
sie zusammenhalten zwecks Verteidigung ihrer Privilegien im Weltsystem, als wenn sie einander bekämpfen;
darüber hinaus mögen sie bedroht sein von unten […], das fördert den Zusammenhalt.“ Galtung (2001), S. 95 (Fußnote 58). 240 Schmidt (2005), S. 34. 241 Ähnlich fragt Walter: „Und überhaupt: bedarf es generell einer solchen Theorie, um die benannten
Phänomene zu erklären? Sind sie – gerade unter tiefenpsychologischem Aspekt nicht auch anders versteh- und
interpretierbar? So interessant ich Galtungs Ansatz der Verbindung zwischen individueller Psyche, kollektiver
psychischer Mechanismen und Tiefenstrukturen und kultureller, politischer und sozialer Phänomene halte, in
deren Durchführung ist zu unmittelbar von einem ‚kollektiven Unterbewusstsein‘, - was das ist, bleibt völlig
unklar -, auf politische, kulturelle und gesellschaftliche Prozesse im Sinne deren reduktionistischer Erklärung
geschlossen; sie sind mir zu psychologistisch mit der Tendenz zu deren Mystifizierung und Entpolitisierung.“
Walter (1998), S. 51. 242 Brousek (2008), S.66. 243 Schrader (2000), S. 231.
45
nicht aus, da sie beispielsweise aus der Logik des zivilisatorischen „kulturellen genetischen
Codes“ nicht erklären kann, warum einige Demokratien militant sind und andere nicht. Wenn
man die Ausrottungsideologie eines Nazi-Deutschlands und die US-amerikanische Militanz
als Ausgeburten ein und derselben okzidentalen Tiefenkultur betrachtet, schüttet man das
Kind mit dem Bade aus. Wenn man die Varianzen innerzivilisatorischer kultureller Gewalt
nur als unterschiedliche Werte auf einer Richterskala wahrnimmt244
, dann gerät das
„Verstehen“ der Gewalt aus dem Blickfeld.245
Ein weiterer Punkt soll in diesen
Zusammenhang angesprochen werden. Gerade weil die demokratische Gewaltbereitschaft
variabel ist, muss eine erfolgreiche Kulturtransformation immer an reale gesellschaftliche
Entwicklungen anknüpfen. Dass Entwicklungen und Erfahrungen von Kollektiven immer
auch jeweils individuell verarbeitet werden, heißt für die Friedensforschung: jede
Gewaltkultur benötigt ihre einige Transformationsstrategie. Diese Dimension verliert Galtung
durch sein starres und überdimensioniertes Tiefenkultur-Konzept aus den Augen246
:
„However, he got to this point by isomorphically transposing an underexplored individual psychology
onto collective actors such as states. A more fruitful route might have been to examine comparatively
the political culture and social structures within certain states in order to examine why some states
appear to act with a greater sensitivity to moral dictates than others – an anthropology of innate power.
No such exploration was even tentatively undertaken, hardly surprising given that the state was to have
little place in his preferred world.”247
Mit diesen Hinweisen möchte ich die Diskussion der theoretischen Problematik der Theorie
der kulturellen Gewalt nun weiter vertiefen. Hierzu möchte ich zunächst auf (weitere)
methodisch-empirische Schwierigkeiten hinweisen und dann eine grundlegende theoretische
Diskussion anschließen.
244 „In meiner Konflikttheorie und Zivilisationstheorie des Westens sehe ich das nicht als einen spezifischen Zug
von Hitler an, sondern als superteutonisch. Und das Teutonische bezeichne ich als superabendländisch, d.h. als
extremen Auswuchs eines westlichen Konfliktdenkens. Also einige Schritte extremer, aber nicht so viel
extremer.“ Graf/ Macho (2010), S. 24. 245
Für Galtung gilt deshalb Ähnliches wie für „klassische Kulturtheorien“ allgemein: „Zu den ,klassischen
Kulturtheorien‘ […] ist zusammenfassend festzustellen, dass sie sich in nicht mehr haltbaren Auffassungen über
Kultur verfangen. Obwohl sie sich zur Aufgabe machen, fremde Kulturen zu ‚verstehen‘, arbeiten sie
vorwiegend naturwissenschaftlich orientiert, indem sie beschreiben, ordnen und kategorisieren. Dies reicht nicht
aus, um zu einem tiefergehenden Verstehen zu gelangen.“ Leifeld (2002), S. 84. 246 Gebhardt verweist darauf, dass auch im „Westen“ hierzu genug Ansatzpunkte gibt: „Wenngleich nun insbesondere die angelsächsischen Demokratien in ihrem Selbstverständnis eine gleichsam linear verlaufende
Entwicklungslogik im westlichen Zivilisationsprozess von der Magna Charta zur modernen Demokratie
postuliert haben, so wird von einem geschichtskritischen Gesichtspunkt aus auf die Diskontinuitäten und Brüche
in der westlichen Zivilisationsgeschichte hingewiesen werden müssen. Den griechisch-römischen, germanisch-
aristokratischen und christlich-jüdischen Ursprüngen der europäischen Welt entsprangen eine Vielzahl
miteinander verknüpfter Entwicklungen, die insgesamt die Vielgestaltigkeit des westlichen
Zivilisationsprozesses bewirkten. […] [Es] waren eine Pluralität geistes- und gesellschaftsgeschichtlicher
Traditionen wirksam, die die eigentümliche Mannigfaltigkeit nationaler politischer, religiöser, kultureller und
sozioökonomischer Ordnungsgestaltungen hervortrieben. Das variationsreiche Zusammenspiel von
geschichtsmächtigen Ideal- und Realfaktoren im europäischen Zivilisationsraum äußerte sich in einer Vielzahl
nationaler Sonderwege […].“ Gebhardt (1996), S. 8. 247 Lawler (1995), S. 176.
46
Grundsätzlich erscheint Galtungs Vorhaben einer objektiven Darstellung eines
tiefenkulturellen Bauplans durch eine systematisch-deskriptive Methodik problematisch. Das
strukturalistisch-mentalistische Kulturverständnis wird weiterhin von der positivistischen
Grundüberzeugung geleitet, dass die Beobachtung und Kategorisierung objektiver kultureller
Tatsachen möglich sei.
„Nonetheless, his tendency to objectivize the categories of civilization and culture suggests that,
intentionally or otherwise, the mantle of scientism has not been entirely discarded. A plethora of
cautionary arides notwithstanding, Galtung’s analysis of civilizations and cultures proceeds as if they
can be unequivocally discerned independently of discourses endeavoring to interpret them.”248
Brousek verweist in diesem Zusammenhang auf ein fundamentales wissenschaftstheoretisches
Problem: „Galtung betont zwar, dass die Methode der Empirie aufgrund ihrer vermeintlichen
Wertneutralität unzureichend ist, tut dies aber in einer Art, die uns glauben machen könnte,
dass es nach wie vor ‚rein‘ empirische Wissenschaften gäbe.“249
Nun kann aber auch das hohe
Abstraktionsniveau Galtungs strukturalistischer Kulturtheorie die Objektivität seiner
Untersuchungen nur suggerieren aber nicht herstellen. Selbstverständlich ist sein Blickwinkel
durch Sozialisation, Lebenserfahrung und Kultur subjektiv geprägt. „Das theoretische Ideal
der ‚Kulturfreiheit‘ des Forschers kann nicht erreicht werden, weil er selbst, wie alle anderen
Menschen auch, an unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten partizipiert, die nicht einfach –
wie ein Kleidungsstück – abgelegt werden können.“250
Dass auch Galtung nicht frei ist von
kulturellen Prädispositionen wird besonders in seinen einseitigen empirischen Studien
deutlich. „Tatsächlich lässt sich nicht leugnen, dass Galtungs Kritik an der okzidentalen
Tiefenkultur zumindest phasenweise derselben (Tiefen-)Struktur unterliegt, der zu
entkommen seine Intention gewesen sein dürfte.“251
Durch seine binären Grenzziehungen
zwischen Gut (Orient) und Böse (Okzident), Innen und Außen, Inklusion und Exklusion
reproduziert Galtung letztlich jenes manichäische Weltbild, welches er selbst so ablehnt.
„Den Beschreibungen sind jedoch Tendenzen zu einer Dichotomie zwischen bösem Okzident und
besserem Orient schwer abzusprechen. Sehr leichtfertig werden pauschale Beschreibungen von
Kulturen abgegeben. […] Die Grenze zwischen dem Westen mit seinen „katastrophalen Ideen"
(transzendentaler Gott, Nationalstaat) und einer vermeintlich friedlicheren orientalischen Kosmologie
wird zu klar gezogen, um wirklich begründbar zu sein. […] Der Verdacht liegt nahe, dass er mit diesen Charakterisierungen und gezeichneten Dichotomien genau die Denkmuster des Okzidents anwendet, die
er selber als verachtenswert beschreibt.“252
248 Lawler (1995), S. 192. 249 Brousek (2008), S. 50. 250 Leifeld (2002), S. 123. 251 Brousek (2008), S. 70. 252 Majer (2003), S. 94. Ebenso Lawler:„Galtung’s choice of in-group or out-group, his preferred ‚other,’ may
accord more with contemporary progressivist fashion, but in so starkly (re)inscribing the boundaries between
inside and outside, or good and bad, he simply perpetuates those features of occidentalism that he apparently
despises.” Lawler (1995), S. 218.
47
Zudem wird durch Galtungs kritiklose Präferenz der pazifistischen buddhistischen
Kosmologie253
, bei deren Illustration die Grenzen zwischen Realität, Wunschgedanke und
Vorurteil fließend sind, das gesamte tiefenkulturelle Experiment „a large exercise in definitive
essentialism premised upon a core dualism of Occident and Orient“254
.
Es ist überhaupt die Frage, ob die tiefenkulturellen Homogenitätsvorstellungen nicht selbst
das Ergebnis eines vorurteilsbehafteten Weltbildes sind, in welchem alle unpassenden
Elemente willkürlich ausgeblendet werden.255
„Die vorgeblichen Einheiten der Kultur, die fixen Sinngrenzen, die distinkten Ideen- und Sinnsysteme,
die totalen sich selbst reproduzierenden Lebensformen stellen sich […] eher als semantische Produkte
jener nicht immer bewussten Intellektualisierungsstrategien dar, die nach eindeutigen Einheiten sucht
und die Unreinheiten der ‚mangle of practice‘ meidet, eine Strategie, die Pierre Bourdieu […] als
‚scholastischen Habitus‘ umschreibt.“256
Darüber hinaus fragt sich Walter,
„[w]as außer phänomenologischen (und darin bereits interpretierenden und interpretierten)
Beschreibungen die Gründe [sind], dass bestimmte von Galtung z.B. als ‚okzidental‘, ‚indisch‘, ‚buddhistisch‘, ‚sinisch‘, ‚nipponisch‘ etc. […] benannten kollektive psychische Tiefenstrukturen
gerade da auftreten, wo sie nach Galtungs Ausführungen auftreten. Impliziert dies nicht eine letztlich
geo-kulturelle und damit geo-psychologische und geo-politische (bzw. um es schärfer zu formulieren:
eine geo-rassische) Auffassung psychischer Phänomene […]“257.
Auch wenn man den Vorwurf des Georassismus nicht teilen muss, sind insgesamt in
empirisch-methodischer Hinsicht die Essentialisierung kultureller Differenzen und eine
frappierende Ignorierung postmoderner, anti-positivistischer kulturtheoretischer Argumente
zu kritisieren.
Gravierender als Galtungs methodisch-empirische Unzulänglichkeiten sind aus
friedensorientierter Sicht allerdings Galtungs theoretische Schwierigkeiten. Drei Punkte
möchte ich in diesem Zusammenhang näher diskutieren:
253 Indem Galtung dieser Kosmologie keinen ying-yang Aspekt zuschreibt, fällt er hinter seinen eigenen
Anspruch zurück. Die Tiefenkulturen des Orients verbleiben hier im Singular. Scharfsinnig kommentiert diesen
Sachverhalt Brousek: „Es mangelt im Fall der Analyse orientaler Zivilisationen schlichtweg an Versuchen, eine
Erklärung für gegenwärtige sich dort abzeichnende Trends zu liefern. Denn im Falle, dass alles für den Orient
Untypische mit der fortschreitenden Verwestlichung abgetan wird, untergräbt man die Ernsthaftigkeit der bei
weitem brauchbareren Kritik der okzidentalen Tiefenkulturen. Es bräuchte genauso wie das für den Okzident
geschieht, Konzepte die zur Erklärung kulturellen Wandels dienen. Auch in orientalischen Kulturen müssen innerkulturelle Voraussetzungen gegeben sein, die eine ‚Verwestlichung‘ zulassen.“ Brousek (2008), S. 69. 254 Lawler (1995), S. 218. An anderer Stelle heißt es: „The fallacy of the occidental depiction of the world as
composed of a superior core and a lesser periphery in need of enlightenment was being supplanted with a hardly
more nuanced division of the world into Occident and Orient. Ostensibly, Galtung’s dualism differed in its
preference for East over West; yet Galtung’s preferred Orient skated uncertainly between the real and the
imaginary, sensitivity and sheer prejudice.” Lawler (1995), S. 234. 255 Galtung selbst scheint damit kein Problem zu haben: „Ja, die Kritik gegen meine Art der Forschung ist, dass
ich immer die Beispiele nehme, die passen und nicht die, die nicht passen. Das ist selbstverständlich richtig. Das
hat mit der Methode selbst zu tun. Ich möchte die Muster, die Invarianzen auffinden und kenntlich machen.“
Graf/ Macho (2010), S. 46. 256 Reckwitz (2005), S. 108. 257 Walter (1998), S. 51 (Fußnote 196).
48
- die „Hypostasierung des Überlieferungszusammenhangs“258
;
- die Akteurslosigkeit;
- die fehlende Theoretisierung tiefenkulturellen Wandels.
Grundproblematisch erscheint, dass Galtung eine Kosmologie als vererbtes ideelles Ganzes
definiert, deren Attribute durch den Sozialisationsprozess unverändert von einer Generation
zur nächsten weitergereicht werden. Wie diese kosmologische Invarianz gewährleistet wird,
bleibt bei Galtung theoretisch unterbelichtet. Die Entstehung und Reproduktionsmechanismen
von Kosmologien werden, wenn überhaupt nur schematisch beschrieben, allerdings an keiner
Stelle systematisch theoretisiert. Galtung setzt statische kosmologische Momente somit a
priori voraus, ohne die Frage ihrer „politischen“ Konstitution in seine Analyse zu integrieren.
Kosmologien sind als Ergebnis einer nicht weiter spezifizierten „anonymen Sinnstiftung“
völlig losgelöst von der Frage nach der Entstehung von kollektiven Sinnzusammenhängen.
„Galtung showed no interest in critically examining the social origins or substantive ethical
content of the cosmologies themselves.”259
Durch die unbeantwortete Frage nach einer
„Autorschaft“ der Kosmologie wird sie zu einer „gleichsam unabhängig gegebenen Größe
hypostasierenden Kollektiv-Vorstellung[..]“260
. Das Problem, welches sich durch solch eine
„Hypostasierung des Überlieferungszusammenhangs“ ergibt ist, dass die Funktion der
Kosmologie „bei der Steuerung der gesellschaftlichen Praxis […] ungeklärt [bleibt]“ so lange
„die Genealogie dieser Tiefenkulturen im Dunkeln verbleibt“261
. Hier zeigt sich, dass Galtung
in vieler Hinsicht ein tendenziell apolitisches bzw. politisch-reduziertes Kulturverständnis
vertritt. Dies hat zur Folge, dass statische kosmologische Momente a priori voraussetzt
werden, ohne die Frage ihrer „politischen“ Konstitution in seine Analyse zu integrieren. In
diesem Zusammenhang ist ein „dringendes Desiderat bei der Begründung und Erprobung des
Kosmologiekonzepts, auch im Vergleich zur herkömmlichen Ideologiekritik“262
angesprochen.
Die fehlende Thematisierung der Genealogie der Tiefenkulturen ist allerdings nicht zufällig,
sondern Resultat Galtungs problematischer mentalistisch-strukturalistischer
Kulturkonzeption. Indem Galtung eine kulturtheoretische Subjekt-Objekt-Dichotomie
postuliert und die subjektive Oberflächenkultur nur als Juniorpartner der objektiven
Tiefenkultur definiert, gehen ihm notwendigerweise wichtige theoretische
Erklärungspotenziale verloren. Da die Tiefenkultur quasi von einer semi-permeablen
258 Mit dieser Formel kritisiert Habermas Gadamers Hermeneutik-Verständnis. Habermas (1982), S. 361. 259 Lawler (1995), S. 180. 260 Sigwart (2012), S. 257. 261 Schmidt (1999), S. 47. 262 Schmidt (1999), S. 47.
49
Membran umgeben ist, welche Informationen nur in eine Richtung, nämlich in die Richtung
der Oberflächenkultur passieren lässt, bleibt die Entstehung der Kosmologie eine
theorieinduzierte Blindstelle. Da die Oberflächenkultur theoretisch keine
Einflussmöglichkeiten auf die Tiefenkultur besitzt, erhält Galtungs kulturtheoretische
Konzeption Einbahnstraßencharakter.263
Galtung selbst scheint diese Problematik erkannt zu
haben. Indem Galtung seinen Begriff der „kultureller Gewalt“ in unmittelbare Beziehung zu
statischen objektiv-geistigen Zusammenhänge stellt, fällt es ihm allerdings schwer seine selbst
errichtete kollektivistische und apolitische Hürde der Kosmologie friedenstheoretisch zu
überspringen. Um nicht in eine ausweglose friedenstheoretische Sackgasse zu geraten,
konstruiert Galtung einen theoretischen Kunstgriff. Galtung räumt schlicht die Möglichkeit
der Existenz mehrerer Kosmologien ein. Da aber Galtung nicht erklären kann, wie und warum
diese sekundären Kosmologien entstanden sind, bleibt sein theoretisches Unterfangen wenig
überzeugend. Ebenso ist völlig unklar „warum sich in der orientalischen Kultur so viel mehr
weiche Aspekte herausbilden konnten als im Westen“264
. Insgesamt bleibt Galtungs
theoretisches Grundproblem weiter bestehen: Kosmologien werden weiterhin als
unveränderliche Größen theoretisiert, die gegenüber der Beeinflussung durch die
Oberflächenkultur resistent sind. Die prinzipielle progressive Offenheit tiefenkultureller
Entwicklungen wird negiert.
„Dringendes Desiderat, zu Erkenntnis- wie zu Handlungszwecken, wäre [deshalb] zweifellos der Aufweis genereller wie zivilisations- und gesellschaftsspezifischer Zwischenglieder und
Vermittlungsprozesse zwischen Tiefen- und Oberflächenstrukturen, die zugleich das Wirken und die
Entfaltung tiefenkultureller Bestände in Politik, Ökonomie, Militär und Kultur (und ggf. vice versa)
nachvollziehbar und thematisierbar machten.“265
Aus dem fehlenden Gedankenschritt, der aufzeigt, wie tiefenkulturelle Bestände produziert
werden, resultieren nun weitere (friedens-)theoretische Schwierigkeiten. Konkret ergeben sich
durch theoriearchitektonische Konstruktionsmängel erhebliche Konsequenzen für die
theoretischen Möglichkeitsbedingungen für kulturellen Wandel und für ontologische
Konzeptionen des Akteurs.
In der Tradition der mentalistisch-strukturalistischen Kulturtheorie stehend, ist Galtungs
Konzeption der Tiefenkultur dem Verfügungsbereich des Menschen tendenziell entzogen.
Innerhalb seiner tiefenkulturellen Konzeption sehe ich – von einigen Lippenbekenntnissen
263 Diese Problematik diagnostiert Brown auch für Galtungs Strukturbegriff: „While this is generally acceptable,
it does tend to push to one side an important feature of structure, namely the continual interplay of structure and
action. Galtung’s formulation seems to suggest an initial creation of structure after which the relationship
between structure and action is one-way only; this presents considerable logical difficulties since it portrays
structure as a ‚thing’, a sort of supernatured presence that influences without being influenced. This is an un-
necessary oversimplification and one that at times leads Galtung into trouble […].” Brown (1981), S. 223. 264 Majer (2003), S. 97. 265 Schmidt (1999), S. 46.
50
mal abgesehen – nicht, wo Galtung an einer substantiellen „Beeinflussbarkeit und
Veränderbarkeit sozialer Systeme durch individuelle und kollektive Akteure fest[hält]“266
.
Der Aussage, dass Galtung „[d]en Akteuren […] eine Schlüsselrolle für die Unterbrechung
und Transformation struktureller Muster von Gesellschaften zu[misst]“267
, kann ich nur wenig
Plausibilität abgewinnen. Jedenfalls bleibt die Rolle der Akteure unterbestimmt und es fehlt
die „theoretische Ausbuchstabierung und Verankerung innerhalb des konzeptionellen
Gesamtzusammenhangs“268
. Zwar haben Akteure die Möglichkeit durch Selbstthematisierung
und interkulturellen Dialog die Gewaltpotenziale ihrer Kultur zu erkennen. Außerdem haben
sie theoretisch die Möglichkeit, sich tiefenkulturellen Elemente zu entledigen und auf
rezessive tiefenkulturelle Bestände zurückzugreifen. Aufgrund der fehlenden Theoretisierung
der Entstehung von Kosmologien bleibt die Rolle des Akteurs aber diffus. Deshalb bin ich mit
Lawler der Meinung, dass „[a] […] significant flaw in Galtung’s foundational model of peace
research was the absence of any sustained consideration of collective or individual agency”269
.
Durch die „Anonymisierung“ kultureller Sinnstiftungsprozesse verliert Galtung die Sinnstifter
aus dem Blick und die aktive tiefenkulturelle Neuerfindung bleibt ein blinder Fleck in
Galtungs theoretischem Konzept.270
Deshalb „existiert innerhalb des theoretischen Gebäudes
von Galtung […] bislang […] keine integrative theoretische Folie, die soziologische,
kulturelle, sozial- und individualpsychologische Konzepte zu einer kohärenten Subjekt- und
Akteurstheorie integriert“271
. Die Akteure bleiben im Hintergrund und eine „Minimierung des
Subjekts“ ist deutlich zu erkennen.
Was demnach erforderlich ist, ist die systematische Einbettung des Akteurs in die
kulturtheoretische Konzeption, die es ermöglichen würde, kulturelle Reproduktion und
kulturelle Dynamik, Stabilität und Destabilisierung von kollektiven Sinnmustern
gleichermaßen zu beleuchten und verständlich zu machen. Denn: „Die Theorie ist […] erst
komplett, wenn die Akteure auf der gesellschaftlichen Bühne erscheinen.“272
Eine
266 Schrader (2009), S. 37. 267 Schrader (2009), S. 37. 268 Schrader (2009), S. 39 (Fußnote 22). 269 Lawler (1995), S. 225. 270 Ähnliches Problem sieht Lawler auch beim Konzept der strukturellen Gewalt gegeben: „Nevertheless, the
analysis of structures and their operant logic remained abstract; the role of individuals or groups in creating
exploitative structures and ensuring their reproduction was left unexplored.” Ebenso Prepoudis: „Die Darstellung
der speziellen strukturellen Gewalt jedoch erfolgt auf eine Weise, die das gesellschaftliche Subjekt der Gewalt
unausfindig macht. Somit bleibt am Ende die abstrakte Struktur für die Gewalt haften, die ohne Bezug auf
gesellschaftliche Akteure erscheint.“ Prepoudis (1983), S. 122. 271 Schrader (2009), S. 94. Hierzu auch Walter: „Es überrascht, dass ein solch kritischer Geist wie Galtung die
umfangreiche Diskussion zur Politischen Psychologie […] und zur Frage der unbewussten Bestimmtheit
gesellschaftlicher Prozesse nicht nur nicht zur Kenntnis nimmt, sondern einem weitgehend gesellschaftsfreien
Modell gesellschaftlicher Tiefenstrukturen aufsitzt.“ Walter (1998), S. 53 (Fußnote 205). 272 Schrader (2009), S. 38.
51
Kulturtheorie, die auf praktische Friedensförderung abzielt, sollte von vornherein so
zugeschnitten sein, „dass es soziale Reproduktion und Dynamik gleichermaßen beschreibbar
und erklärbar macht, statt im nachhinein sozialen Wandel als eine Residualkategorie
einzufügen“273
. Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre, auf die theoretische Trennung von
Oberflächen- und Tiefenkultur zu verzichten.
Durch die „theoretische Unterbestimmtheit der Subjekt- und Akteursposition“274
droht
Galtungs friedensorientierte Konzeption insgesamt ins Leere zu laufen. Indem Galtung die
emanzipatorischen und kreativen Potenziale des Menschen außer Acht lässt, kann er für
kulturellen Wandel keine überzeugenden Mechanismen ins Feld führen. „The lacuna in
Galtung's sociology, which was to be carried into peace research, was any sense of the
political ethics of social change; it was avowedly antiphilosophical.”275
Zugriffsrechte gesteht
Galtung dem Menschen nur auf der Ebene der Oberflächenkultur zu. Veränderungen auf der
Oberflächenkultur führen allerdings nicht zur Transformation der Tiefenkultur. Durch die
fehlende Theoretisierung des Akteurs bleibt in Galtungs Konzeption der Tiefenkultur auch die
Dimension des Politischen ausgeklammert. Unter welchen politischen Bedingungen
verfestigen sich kulturelle Bedingungen oder welche politischen Bedingungen können zur
Veränderung kultureller Tradierungen beitragen, diese Fragen stellt sich Galtung nicht. Die
Konzeption der Tiefenkultur ist somit eine gesellschaftsfreie und apolitische Kategorie.
„Was [insgesamt] noch aussteht, ist die Einbettung [der] kultur- und zivilisationssensitiven
Komponenten in eine aussagekräftige und praxistaugliche Kulturtheorie.“276
Voraussetzung
hierfür ist es den doppelten Aspekt des Kulturellen von vornherein mitzudenken, nämlich:
„[...] dass der Mensch Schöpfer aller Kultur ist und zugleich die Menschen Geschöpfe einer je
spezifischen Kultur sind“277
.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
„ein großes Stück theoretischer Ausbauarbeit zu leisten [ist]. Denkbare Ausgangspunkte und Pfade
hierfür sind soziologische und (tiefen)psychologische Subjekttheorien sowie kulturwissenschaftliche
Erklärungsmodelle, die die Wechselwirkung von Individuum, Struktur/ Institution und Kultur
thematisieren“278.
Solange diese theoretischen Defizite, die quer liegen zu der von Galtung postulierten
Praxisorientierung der Friedensforschung, nicht beseitigt sind, sitzt Galtungs Theorie der
kulturellen Gewalt
273 Reckwitz (2006), S. 616. 274 Schrader (2009), S. 13. 275 Lawler (1995), S. 40. 276 Schrader (2009), S. 13. 277 Schmidt, S.J. (1997), S. 176. 278 Schrader (2009), S. 39, Fußnote 22.
52
„assertorisch und ungeklärt wie die Theorie der kulturellen Codes ist – der Mystifizierung von wie
immer gearteten Tiefenstrukturen menschlicher Zivilisationen auf. GALTUNGs Friedensbegriff dankt
hiermit in seiner kritischen Potenz vollends ab und macht einer ominösen hypostasierten
‚Tiefenstruktur‘ menschlicher Zivilisationen Platz; das ‚gemeinsame kollektive Unterbewusste‘ in Form
struktureller Codes mutiert zur ‚invisible hand‘, die unser aller Geschicke lenkt. Durch diese abstrakte,
ahistorische und gesellschaftsfreie Theorie des Bezugs von individuellen und kollektiven unbewussten
Prozessen zur politisch-sozialen Wirklichkeit begibt sich GALTUNG entgegen seinem Ansatzes der
Chance, einen ausreichend komplexen und realitätsbezogenen Begriff individueller und kollektiver
Selbstverwirklichung entwickeln zu können“279.
4. Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt im Lichte der
pragmatistischen Philosophie John Deweys
Ausgangpunkt von Deweys Philosophie bildet die Kritik am traditionellen kontinental-
europäischen Kulturverständnis.280
Dabei ist atomistisch-individualistische Tradition
angelsächsischer Provenienz genauso Gegenstand der Kritik, wie das kollektivistisch
überhöhte Kulturverständnis Zentraleuropas. An ersterer kritisiert er den methodologischen
Individualismus, welcher Nutzenmaximierung und Egoismus nicht als Ausfluss von
Kulturbedingungen definiert, sondern als unveränderliche anthropologische Grundkonstante
ansieht. Resultat dieses Denkansatzes ist beispielsweise die Begünstigung einer Gesellschaft
von Einzelkämpfern, die den Zusammenhalt und die Moral einer Gemeinschaft gefährden.281
Während Deweys Kritik an atomistisch-individualistischen Philosophien an einigen Stellen
stark an Galtungs Ausführungen erinnert, unterscheidet sie sich gleichzeitig in einem
wesentlichen Punkt: Dewey beantwortet die Kritik am Atomismus nicht mit
kollektivistischen Positionen. Die Idee von unveränderlichen Tiefenkulturen oder Kosmologie
widerstrebt Dewey gänzlich. Für Dewey sind die „Minimierung des Subjekts“ und die
Überhöhung des Überlieferungszusammenhangs Merkmale zentral-europäischer
Kulturphilosophie. Prekär ist diese Idee des Kulturellen, weil sie eine Entmündigung der
Menschen, ein „Ergeben im Schicksal“ und Autoritätshörigkeit fördere.282
Das Paradebeispiel
für ein Kulturverständnis mit autoritären und kollektivistischen Implikationen stellt für
Dewey die deutsche Tradition dar.
„In letzten, moralischen Fragen aber neigte sie dazu, das Prinzip der Autorität wieder zur Geltung zu
bringen. Sie begünstigte wirksame Organisation mehr als irgendeine der früher erwähnten Philosophien;
aber sie traf keine Vorsorge für freie, experimentelle Abänderung dieser Organisation. Der Gedanke der
politischen Demokratie mit dem Glauben an das Recht und das Verlangen jedes einzelnen, an der
ständigen Umgestaltung auch des grundsätzlichen Aufbaues der Gesellschaft mitzuwirken, war ihr
279 Walter (1998), S. 52f. 280 Meine Dewey-Interpretation ist v.a. inspiriert durch Arbeiten von Sigwart (2012) und Jörke (2003). 281 Vgl. Jörke (2003), S. 128ff. 282 Vgl. Sigwart (2012), S. 127.
53
fremd.“283
Was Dewey somit anstrebt „ist die Überwindung sowohl der klassischen atomistischen
Sozialtheorien als auch der Sackgassen der Bewusstseinsphilosophie“284
.
„Es ist gerade das spannungsreiche Nebeneinander der wichtigen Rolle sowohl des Einzelnen als auch des Ganzen für die Konstitution politischer Bedeutungen, das den eigentümlichen Akzent von Deweys
[…] liberal-kommunitaristischer Perspektive ausmacht.“285
Deweys „spezifisch angelsächsisch-amerikanisches Verständnis von ‚Kultur‘“286
unterscheidet sich hierbei deutlich vom zentraleuropäischen Kulturverständnis, dem offenbar
Galtung nahesteht.
„Dem kontinentaleuropäischen Kulturverständnis, in dem das Starre und Vorgegebene betont wird und
das deshalb tendenziell apolitisch ist, wird dabei ein dezidiert politisches, demokratisch-
bürgerschaftlich inspiriertes Kulturverständnis der amerikanischen Tradition gegenübergestellt, in dem
vor allem das dynamische, gestalterische und emanzipative bzw. partizipatorische Moment in
gesellschaftlichen Prozessen und der besondere Stellenwert des Individuums im Vordergrund stehen.“287
Im Gegensatz zu Galtung ist der „Untersuchungsgegenstand eines pragmatistischen Ansatzes
[…] keine einheitliche transformationsresistente Kultur, die sich jedem partizipierenden
Mitglied überstülpt, sondern der handelnde und denkende Mensch selbst“288
. Auf Basis der
Problematisierung kultureller Überlieferungen – kulturelle Statik und Verkrustung gilt als das
„zentrale politisch-hermeneutische ‚Problem‘, das es zu verstehen gilt“289
– konzipiert
Dewey eine dynamische Kulturtheorie, die das kreative und aktiv gestalterische Moment bzw.
die Idee des „Neuen“ besonders hervorhebt.290
„Kultur“ erscheint bei Dewey
„nicht nur als bestehendes Festes, Ermöglichendes und Beschränkendes, ‚objektiv‘ Vorgegebenes und
politisch nur schwer oder gar Unhintergehbares, sondern immer auch als Neues, als zu Begründendes,
zu Gestaltendes und zunächst überhaupt erst zu Erkämpfendes, der „Natur“ gleichsam Abzutrotzendes
und vielfach nur in bewusster gemeinschaftlicher Selbstorganisation Realisierbares und
Aufrechtzuerhaltendes […]“291.
Mit dieser Akzentsetzung hebt sich Dewey deutlich von Galtung ab, dessen Hauptinteresse in
der Aufdeckung (scheinbar) starrer kultureller Invarianzen liegt.
283 Dewey (1993), S. 390. 284 Jörke (2003), S. 98. 285 Sigwart (2012), S. 261. 286 Sigwart (2012), S. 114. 287 Sigwart (2012), S. 114. Eine prinzipiell apolitische Ausrichtung der „deutschen Geisteswissenschaft“ betont
auch Jürgen Gebhardt: Die „eigentümliche deutsche Qualität der Geisteswissenschaft“ liege in der Tatsache,
„dass diese apolitisch war und sie den Wirkungszusammenhang der geschichtlich-sozialen Welt letztendlich als
einen Zusammenhang des objektiven Geistes oder, lebensphilosophisch gewendet, als einen
Lebenszusammenhang bestimmte“, jedoch gerade deren Artikulierung und Ausformung „in der politischen
Gemeinschaftsbildung und deren Ideenwelten“ außer acht lasse. Gebhardt (1989), S. 260f. 288 Roos (2003), S. 99. 289 Sigwart (2012), S. 481. 290 Vgl. Sigwart (2012), S. 175. 291 Sigwart (2012), S. 115.
54
Deweys kulturtheoretische Überlegungen sind darüber hinaus eingebettet in eine
hermeneutische Theorie des Politischen. Im Unterschied zu Galtung, der kein Interesse an der
Ausformulierung einer politischen Theorie zeigt, erfährt Deweys Kulturtheorie eine
umfassende demokratietheoretische Konkretisierung. Dabei entwickelt Dewey einen
Demokratiebegriff der beim Bewusstsein der Menschen ansetzt. Der „‚kreative‘ bzw. aktiv-
partizipative Akzent des Verstehens“ wird bei Dewey
„in genuin sozialen und politischen Kategorien verstanden und beschrieben […]. Damit verbindet sich
nicht nur ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein von der grundsätzlich prekären Natur der gemeinsamen Welt und ein positiveres Verständnis von ihrem Angewiesensein auf bzw. ihrer Abhängigkeit von der
mehr oder weniger bewussten gemeinschaftlichen ‚Sorge‘ um ihre soziokulturellen Grundlagen und
einem entsprechenden politischen Verantwortungsbewusstsein.“292
Eine Demokratie ist in erster Linie nicht durch ihre institutionell-organisatorische Eigenheit
charakterisiert, sondern durch die geistig-moralische Qualität („Demokratie als Lebensform“)
ihrer Bürger.
Insgesamt dient Deweys kulturtheoretischer Ansatz einer „Befreiung des Menschen“.
Normative Fixpunkte sind die Animierung des Menschen zur Hinterfragung seiner kulturellen
Prägungen in Form von kontinuierlicher Selbstthematisierung und vor allem die Motivation
zur Veränderung negativer kultureller Überlieferungen durch kreatives und intelligentes
politisches Handeln.
„As a matter of fact, the pragmatic theory of intelligence means that the function of mind is to project
new and more complex ends – to free experience form routine and from caprice. Not the use of thought
to accomplish purposes already given either in the mechanism of the body or in that of the existent state
of society, but the use of intelligence to liberate and liberalize action, is the pragmatic lesson.[…] A
pragmatic intelligence is a creative intelligence, not a routine mechanic.”293
Alles in allem also eine Werteorientierung, die gut zu Galtungs Idee einer
„wirklichkeitsverändernden“, praxisorientierten Friedensforschung passt. Da Galtung selbst
aufgrund seiner Tendenz zur methodisch-konzeptionellen Entproblematisierung von
Kollektivbegriffen, seiner konzeptionell apolitischen Perspektive und seiner Akteurslosigkeit
„Wirklichkeitsveränderung“ nur ungenügend theoretisiert, erscheint es mir gewinnbringend
sich nun Deweys Reflexionen näher zu widmen.
4.1 Wissenschafts- und Erkenntnistheoretische Grundannahmen
292 Sigwart (2012), S. 123. 293 Dewey (1917), S. 63. An anderer Stelle heißt es: „Eine empirische Philosophie ist in jedem Falle eine Art
intellektuelle Entkleidung. Wir können uns nicht permanent der intellektuellen Gewohnheiten entledigen, die wir
annehmen und tragen, wenn wir die Kultur unserer eigenen Zeit und Umgebung assimilieren. Aber eine
intelligente Förderung der Kultur verlangt, dass wir einige von ihnen ablegen, dass wir sie kritisch inspizieren,
um zu sehen, woraus sie gemacht sind und was ihr Tragen für uns bedeutet. Wir können keine ursprüngliche
Naivität zurückgewinnen. Aber erreichbar ist eine kultivierte Naivität des Auges, Ohres und des Denkens, eine,
die nur durch die Disziplin strengen Denkens erreicht werden kann.“293 Dewey (2007a), S. 52f.
55
Deweys Grundausrichtung wissenschaftlicher Tätigkeit weist deutliche Parallelen zu Galtung
auf. So ist bei Dewey der Praxisbezug der Wissenschaft ebenso grundlegend wie ein
Zusammenspiel von Empirie, Kritik und Konstruktion, welches an die Galtung‘sche
Dreiteilung der Friedenswissenschaft erinnert. Dewey baut hierbei seine Argumentation auf
eine anspruchsvolle kritische Auseinandersetzung mit der abendländischen
Philosophiegeschichte auf. Hauptkritikpunkt sind für Dewey die „künstlichen Dualismen der
neuzeitlichen Philosophie“294
.
„Wollte man Deweys Philosophie auf einen Nenner bringen, so findet man diesen in seinem
grundlegenden Bestreben, die Dualismen, die die abendländische Kultur grundlegend geprägt haben,
wie Subjekt-Objekt, Körper-Geist, Natur-Kultur und allen voran Theorie-Praxis, zu überwinden.“295
Einher mit der Ablehnung künstlicher Dualismen geht Deweys anti-fundamentalistische
Einstellung.296
Dewey lehnt die Idee von objektiv gegebenen, apriorischen Wahrheiten ab.
Wissenschaftliches Handeln ist für Dewey mit einer positivistischen „Suche nach Gewissheit“
unvereinbar.297
„Weder die klassischen Pragmatisten noch die Neopragmatisten glauben, dass
es so etwas wie ein eigentliches Sosein der Dinge gibt.“298
Dewey ist im Gegensatz zu
Galtung der Überzeugung, dass eine „Zuschauertheorie der Erkenntnis“299
, „dass die
Vorstellung, das Erkennen sei ein akkurates Darstellen – ermöglicht durch besondere mentale
Vorgänge und verstehbar durch eine allgemeine Theorie der Darstellung – aufgegeben werden
muss“300
.
Die Suche nach unveränderlichen Wahrheiten oder letzten Gründen wird von Dewey ebenso
abgelehnt wie die theoretische Erfindung von natürlichen Rechten des Menschen mit
Ewigkeitscharakter.301
„Philosophie ist eine Überschau des Möglichen, nicht ein Bericht über
vollendete Tatsachen. Daher ist die Philosophie hypothetisch wie alles Denken.“302
Damit
begibt sich Dewey von vornherein nicht auf die Suche nach der theoretischen Begründung
von Wahrheiten. Durch die Negierung objektiver Wahrheiten begibt sich Dewey allerdings
nicht auf den Irrweg eines universellen Relativismus. Vielmehr liegt die Wahrheit einer Sache
für Dewey in der praktischen Konsequenz einer Theorie. Wahr sind demnach „Prozesse der
Veränderung, die so gelenkt werden, dass sie ein beabsichtigtes Ziel erreichen“303
. Ähnlich
294 Vogt (2002), S. 338. Zitiert nach Sigwart (2012), S. 121. 295 Jörke (2003), S. 38. 296 Vgl. Nagl (1998), S. 7ff. 297 „Die Suche nach Gewissheit hat unsere grundlegende Metaphysik bestimmt.“ Dewey (1998), S. 26. 298 Rorty (1994), S. 16. 299 Dewey (1998), S. 27. 300 Rorty (1981), S. 16. Zitiert nach Jörke (2003), S. 36. 301 Durch die Ablehnung unantastbarer ewiger Wahrheiten versucht Dewey die Philosophie von mangelnder
Kritikfähigkeit, Dynamik und Kreativität zu befreien. 302 Dewey (1993), S. 420. 303 Dewey (1995), S. 162.
56
wie Galtung betont Dewey die Relevanz der Praxis304
: die normative Qualität
wissenschaftlicher Arbeit bemisst sich an den praktischen Konsequenzen für die „human
affairs“. Ziel ist es nicht, „to idealize and rationalize the universe at large”, sondern „to master
the courses of things that specifically concern us”305
.
Die normative Daseinsberechtigung von Wissenschaft und Philosophie ergibt sich aus der
Forderung, zur Bestimmung und Lösung der alltäglichen Probleme und Sorgen der Menschen
einen Beitrag zu leisten. Hierbei ist es wichtig, die menschliche Selbstermächtigung zu
fördern und die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Kreativität darzulegen.
„It is becoming more and more the duty of every educated person to take some active part in the
shaping and reshaping of beliefs. […] A study of philosophy is no sure road to becoming an intellectual
leader, but it does acquaint the student with the forces that create ideas and make them potent, and it
should give some increase of expertness in the use of the tools by which the leading ideas of humanity
are worked out and tested. To help a man make a living is the ultimate end of education; […] To have
some part in the making of ideas is a necessary part in the making of a living that is worth living, and
the chief justification of philosophical study is that it renders the student more apt at this particular kind
of making.“306
Wissenschaft steht für Dewey in einem dreifachen Bezug zur Praxis. Ausgangspunkt ist die
empirische Diagnose von „problematischen Situationen“ in der Gesellschaft. Auf der Basis
empirischer Erkenntnisse gilt es nun, ungeeignete und unzeitgemäße gesellschaftliche
Gewohnheiten zu diagnostizieren und zu kritisieren. Es geht Dewey um die „Kritik der
Überzeugungen, Institutionen, Sitten und politischen Strategien im Hinblick darauf, ob sie auf
das Gute zielen“307
. „[P]hilosophy must […] become a method of locating and interpreting the
more serious of the conflicts that occur in life, and a method of projecting ways for dealing
with them: a method of moral and political diagnosis and prognosis.”308
Mit Empirie und
Kritik ist die philosophische Praxis aber noch nicht vollendet. Der Reflexionsprozess muss
vielmehr zu seinen Ausgangspunkt zurückkehren und praktisch werden, indem er neue
Handlungsoptionen aufzeigt, durch die die gesellschaftlichen Krisensituationen gemeistert
werden können. Das Ziel der wissenschaftlichen Praxis ist es, durch „vision, imagination,
reflection“309
neue Möglichkeitsspielräume zu eröffnen. Praxis bedeutet vor diesem
Hintergrund „nicht nur die Gestaltung, sondern dabei zugleich die ‚Interpretation‘ von
Wirklichkeit […].“310
304 Hierzu Hörning: „Der Pragmatismus ist eine der großen Denkbewegungen der Moderne. […] [Sein]
gemeinsamer Nenner ist die Betonung der Praxis, der sie den Primat vor der Theorie zuweisen.“ Hörning (2004),
S. 29. 305 Dewey (2007b), S. 11. 306 Dewey (1911), S. 136f. 307 Dewey (2007a), S. 381. 308 Dewey (2007b), S. 11. 309 Dewey (2008), S. 46. 310 Sigwart (2012), S. 143.
57
Deweys wissenschaftliche Praxisorientierung geht einher mit der Negierung der Wertfreiheit:
„[I]nsofern es sich um eine experimentelle Wissenschaft handelt, also um eine Tätigkeit, die auf
Veränderung abzielt, müssen im Forschungsprozess selber Wertungen vorgenommen werden,
Ergebnisse als erstrebenswert oder unerwünscht eingestuft werden.“311
4.2 Die dynamische Kulturtheorie
Ähnlich wie bei Galtung ist bei Dewey der Primat der Kultur grundlegend. Im Gegensatz zu
Galtung sind Empirie, Kritik und Konstruktion in Deweys Kulturtheorie aber schon in einem
systematischen Zusammenhang gebracht. Am Anfang von Deweys kulturtheoretischen
Überlegungen steht ähnlich wie bei Galtung das kulturell geprägte Individuum. „Man is
creature of habit, not of reason nor yet of instinct.”312
Im Verlauf des Sozialisationsprozesses
internalisiert der Mensch all jene kulturellen Eigenschaften, die in einer Gesellschaft von
Bedeutung sind. Die Übernahme gegebener kultureller Überlieferungen geben jene
Orientierungshilfen, die überhaupt erst das Handeln in einer Gesellschaft ermöglichen; durch
Sozialisation wird der Mensch zu einem sozialen Wesen. Außerdem werden durch
Sozialisation grundlegende Werte und Institutionen eines Kollektivs internalisiert und damit
reproduziert. „[C]ustoms persist because individuals form their personal habits under
conditions set by prior customs.”313
Hiermit ist auch der Primat des Sozialen und Deweys
kritische Abgrenzung zum methodologischen Individualismus angesprochen. Dewey
betrachtet die Sozialität des Menschen als Grundvoraussetzung für die Entwicklung von
Individualität und räumt dem Sozialen einen Vorrang vor dem Individuellen ein: „[T]o say
that some pre-existent association of human beings is prior to every particular human being
who is born into the world is to mention a commonplace.“314
Analog zu Galtung betont Dewey den reproduktiven Charakter von „habits“; sie dienen
letztlich der Aufrechterhaltung des Sozialen, seiner grundlegenden Werte und Institutionen.
Ebenso hinterlassen „habits“ Spuren in der Persönlichkeit eines Menschen in dem Sinne, dass
grundlegende kulturell geformte moralisch-ethische Dispositionen in die psychische
Grundstruktur eingebaut werden. Der primäre Sozialisationsprozess verläuft vorbewusst und
reflexionslos. In dieser Phase „habits [are] working below direct consciousness“315
. Und
311 Jörke (2003), S. 214. 312 Dewey (2002), S. 125. Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die deutsche Übersetzung von
„habit“ durch „Gewohnheit“ zu kurz greift. 313 Dewey (2002), S. 43. 314 Dewey (2002), S. 59. 315 Dewey (2002), S. 32.
58
bezeichnenderweise sind es gerade „[u]nsere festen Gewohnheiten […], von denen wir am
wenigsten Bewusstsein haben.“316
Ähnlich wie bei Galtung rücken das Selbst und seine Gewohnheiten untrennbar zusammen.
„All habits are demands for certain kinds of activity; and they constitute the self.”317
Und
ebenso wie bei Galtung werden kulturellen Gewohnheiten eine Qualität zugeschrieben, der
man sich kaum entziehen kann, denn „each habit operates all the time of waking life“318
.
Außerdem beeinflussen „habits“ die Handlungen von Menschen: „[H]abit is propulsive“319
und „suggests an inherent tendency to action and also a hold, command over us“320
.
Bis hier hin weisen Deweys und Galtungs Argumentationen in die gleiche Richtung. Der
Mensch ist maßgeblich geprägt durch unbewusste, kulturell geformte Verhaltensweisen.
Durch die Bildung von „habits“ eignet sich das Individuum Bedeutungen an, die in den
Verhaltensmustern und Bräuchen kultureller Praktiken, Routinen und Institutionen enthalten
sind, die seiner Existenz als Individuum vorausgehen.
Dewey erkennt die Implikationen seiner Gedanken frühzeitig. „Indeed, at first sight it seems
to indicate that every attempt to solve the problem and secure fundamental reorganizations is
caught a in vicious circle”.321
Allerdings – hier liegt der entscheidende Unterschied zu
Galtung – ist Dewey nicht bereit diesen „vicious circle” als deterministisches Faktum
anzuerkennen. Beide Autoren unterscheiden sich deshalb in ihrem Anliegen und in ihrer
Akzentsetzung deutlich voneinander: Während bei Galtung kulturelle Determinationsfaktoren
im Mittelpunkt stehen, versucht Dewey nicht bei der theoretischen Betrachtung der
Reproduktions-mechanismen stehen zu bleiben. Dewey stellt sich deshalb die Frage, „how the
activities of component individuals remake and redirect previously established customs“322
.
Ohne die kontextuelle Einbettung der menschlichen Existenz aus den Augen zu verlieren,
distanziert sich Dewey von Theorien, die kulturelle Rahmenbedingungen einzig als eine
Behinderung des Wandelns konzeptualisieren. „Dewey [erteilt] geschichtsphilosophischen
Modellen eine Absage, die retrospektiv oder prophetisch den Lauf der Dinge einem
vernünftigen Muster unterordnen.“323
Kultur ist für Dewey keine einseitige konservative
316 Dewey (1995), S. 295. Hierzu auch Jörke (2003): „Entscheidend ist für Dewey, dass dieser Prozess
überwiegend vorbewusst abläuft, sich also gleichsam von selbst ergibt, und auch die erworbenen Fähigkeiten
und Kompetenzen zunächst und zumeist als solche nicht bewusst sind. Genau diesen Aspekt des Vorbewussten
der meisten unserer Verhaltensweisen soll der Begriff des ‚habit‘ zum Ausdruck bringen.“ Jörke (2003), S. 101. 317 Dewey (2002), S. 21. 318 Dewey (2002), S. 37. 319 Dewey (2002), S. 37. 320 Dewey (2002), S. 25. 321 Dewey (2007c), S. 125f. 322 Dewey (2007c), S. 60. 323 Jörke (2003), S. 124. In den Worten Deweys: „Geschichte und Anthropologie (haben) nicht nur individuelle
59
Bedingung, sondern ambivalent, nämlich Grundlage von Wandel und Konstanz zugleich.
Insgesamt sind Deweys gesamte kulturtheoretische Überlegungen darauf ausgerichtet, einen
Weg aufzuzeigen, sich negativen kulturellen Gewohnheiten zu entledigen. Die zentrale
Intention besteht darin „to find an intelligent substitute for blind custom and blind impulse to
habit and conduct”324
. Hierin liegt der normative Auftrag Deweys Kulturphilosophie.
„[…] [D]ie normative Stoßrichtung von Deweys Sozialpsychologie ist die Frage nach den Bedingungen
von institutionellem Wandel und moralischem Wachstum. Insofern kann er sich mit dem Nachweis des
bloßen Reproduktionszusammenhanges von ‚habit‘ und ‚custom‘ nicht begnügen. Vielmehr muss er,
sofern er nicht bereit ist, aus Einsicht in die Unabdingbarkeit des Zirkels der Reproduktion, seine
politischen Hoffnungen fallen zu lassen, die Möglichkeiten der Entwicklung von Gewohnheiten
aufzeigen, die auf die ‚customs‘ gestalterisch einwirken und damit den reproduktiven Zirkel aufbrechen
könnten.“325
Deweys theoretische Grundlegung des kulturellen Wandels, seine Idee der „Kreativität der
Gewohnheit“326
soll nun kurz erläutert werden.
Grundsätzlich sind die durch Sozialisation gewonnenen kulturellen Prägungen für Dewey
nicht der prozessuale Endpunkt der Persönlichkeitsentwicklung, sondern sind lediglich dessen
Ausgangspunkt. Der Mensch wird in einen kulturellen Raum hineingeboren, wird durch
diesen jedoch nicht ein Leben lang notwendigerweise determiniert. Zwar vollzieht sich jede
gesellschaftliche Praxis auf der Grundlage von „schon bestehenden, objektiv gegebenen
Kulturzuständen“327
. Inwieweit „habits” kulturelle Permanenzen produzieren oder die
kulturelle Erneuerung fördern hängt für Dewey wesentlich vom Denken und Handeln der
Menschen selbst ab; es ist letztlich eine Frage der Qualität der gesellschaftlich verankerten
Gewohnheiten. Langfristige kulturelle Reproduktion, also kontinuierliche Erneuerung
tradierter kultureller Bestände, ist für Dewey nicht ein Zeichen der Unveränderlichkeit der
kulturellen Überlieferung, sondern Ausfluss einer passiven Grundhaltung der Menschen.
Beständigkeit entsteht durch fehlende Selbsthinterfragung, also des fehlenden Gebrauchs von
Kreativität in Krisensituationen. „Die Gewohnheit wird erst dadurch zu einer konservativen
Kraft, die den Handlungsspielraum einschränkt, wenn man sie von den Impulsen, von den
Motiven und vom Denken abspaltet.“328
Im Gegensatz zu Galtung ist Dewey also davon
überzeugt, dass die „durchhaltende Kraft des tätigen Willens“ die Möglichkeit gibt tradierte
Personen, sondern einmalige Situationen und Ereignisse zum Gegenstand. Der Versuch, dem Dilemma dadurch
zu entkommen, dass man Zuflucht bei uniformen und unilinearen Gesetzen der Abfolge oder ‚Evolution’ sucht,
geht fehl; er widerspricht den vorausgesetzten Prämissen und wird durch die Tatsachen nicht bestätigt. [...]
Kulturen sind in vielerlei Hinsicht individuell und einzigartig.“ Dewey (2007a), S. 150. 324 Dewey (1921), S. 125f. 325 Jörke (2003), S. 104. 326 Auf diese treffende Formel bringt Hartmann die Kernthese von Deweys Kulturtheorie. Hartmann (2003). 327 Dewey (2004), S. 23. 328 Salaverría (2007), S. 155.
60
kulturelle Bedeutungen „zu durchbrechen“329
. Für Dewey ist es klar, dass „die kulturellen
Verhältnisse in gewissem Grade vorsätzlich gestaltet werden können“330
.
Was Dewey also mehr als Galtung interessiert, sind die produktiven und konstruktiven
Potenziale von „habits“. Während Galtung ihre Routine stark macht, hebt Dewey die
Produktivität von Gewohnheiten hervor: „We are confronted with two kinds of habit,
intelligent and routine.“331
Entsprechend ist es Deweys Anliegen reflexive ‚habits‘ zu fördern,
welche neue gesellschaftliche Konfliktlagen und gelebte Gewohnheiten in Beziehung setzen
und hinterfragen. „Habits“ sollten so konstruiert sein, dass sie Kreativität und Selbstkritik332
fördern, den Handlungsspielraum erweitern und eine größere Variabilität beim Lösen von
Problemen ermöglichen. Je stärker diese reflexiven ‚habits‘ gesellschaftlich etabliert sind,
desto wahrscheinlicher ist die befriedigende Bearbeitung des jeweiligen Konfliktes.
„What is necessary is that habits be formed which are more intelligent, more sensitively percipient,
more informed with foresight, more aware of what they are about, more direct and sincere, more
flexibly responsive than those now current.”333
Eine entscheidende Bedeutung für kulturelle Erneuerung nimmt für Dewey die Idee der
„problematischen Situation“334
ein. Die Krise eröffnet als Impulsgeber Handlungsspielräume,
die von reflexiven „habits“ genutzt werden können.335
Kulturelle Gewohnheiten, die
politische Problemlagen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen nicht mehr erfolgreich
bewältigen können, können nun in Frage gestellt werden und gegebenenfalls erneuert werden.
Durch die Konfrontation mit neuen Problemlagen können kulturelle Gewohnheiten neu
interpretiert werden. ,
„Wir können das Neue nicht fassen, wir können es nicht einmal bewusst machen geschweige denn
begreifen, wenn nicht mit Hilfe von Ideen und Kenntnissen, die wir schon besitzen. Aber gerade weil
das Neue neu ist, ist es nicht lediglich eine Wiederholung von etwas, was wir schon besitzen und
beherrschen. Das Alte nimmt eine neue Färbung und Bedeutung an, wenn es dazu verwendet wird, das
Neue zu fassen und zu interpretieren. Je größer die Lücke, die Disparität zwischen dem, was zu einem
vertrauten Besitz geworden ist, und den Eigenschaften, die sich in einem neuen Stoff darstellen, um so
größer die Last, die der Reflexion auferlegt ist […].“336
Um auf kreative und konstruktive Weise auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren,
329 Dewey (2004), S. 11. 330 Dewey (2003), S. 20. 331 Dewey (2007c), S. 71. 332 „Creative activity is our great need; but criticism, self-criticism, is the road to its release.” Dewey (1984a), S.
143. 333 Dewey (2007c), S. 123. 334 Vgl. Jörke (2003), S. 117. 335 Über diese Möglichkeitsbedingung für tiefenkulturellen Wandel scheint auch Galtung nachzudenken. Er baut
sie allerdings in sein theoretische Gebäude (noch) nicht ein: „Wann hat denn eine Kultur, insbesondere
Tiefenkultur, hinreichend Plastizität (Scholem), um geformt, neu geformt zu werden? In Krisenzeiten?
Nachdem ihr ein tiefes Trauma zugefügt wurde – das spezifische Trauma, anderen schwere Traumata zugefügt
zu haben, eingeschlossen? Wir wissen kaum mehr, als dass es sich hier um entscheidende Fragen handelt.“
Galtung (1998a), S. 363 (Fußnote 301). 336 Dewey (2007a), S. 7f.
61
muss man zumindest teilweise das „equipment of beliefs, religious, political, artistic,
economic“ einer kritischen Prüfung und Neubewertung unterziehen, welches „come to him in
all sorts of indirect and uncriticized ways, and to inquire how much of it is validated and
verified in present need, opportunity, and application”337
.
„Hier zeigt sich, dass Deweys Kritik eines ‚übernommenen‘ Kulturverständnisses und sein gegen ein
solches Verständnis und seine statischen, traditionalistischen Implikationen gerichteter Versuch, das
aktive, gestalterische Moment soziokultureller Zusammenhänge und Prozesse herauszuarbeiten, sich
unmittelbar mit der Frage nach dem normativen Status kultureller Bedeutungen – sowohl als gegebene
Vorverständnisse und Gewohnheiten, als auch als Ergebnisse von Neuanfängen und
Weiterentwicklungen – verbindet.“338
Kultureller Wandel findet bei Dewey im Spannungsbogen zwischen der gesellschaftlichen
Prägung von Menschen und der gesellschaftlichen Neu-Konstruktion von Wirklichkeit statt.
Dieser Prozess der Selbstthematisierung, des Sich-in-Frage-Stellens, ist im Prinzip unendlich.
In diesem Sinne „beginnt […] eine menschliche Gesellschaft immer von vorn. Sie ist immer
in einem Prozess der Erneuerung und hat nur wegen dieser Erneuerung Bestand“339
.
„We are not caught in a circle; we traverse a spiral in which social customs generate some
consciousness of interdependencies, and this consciousness is embodied in acts which in improving the
environment generate new perceptions of social ties, and so on forever.”340
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Invarianz und Permanenz des Kulturellen
bei Dewey nicht theoretisch vorentschieden, sondern handlungstheoretisch konkretisiert wird.
Der entscheidende Vorteil der fehlenden Ontologisierung kultureller Permanenz und der
Betonung der Praxisabhängigkeit ist die Erschaffung von Freiräumen, welche von Menschen
emanzipatorisch und kreativ genutzt werden können. Die kulturtheoretischen Überlegungen
John Deweys, welche gesellschaftliche Bedeutungsgenerierung im Prozess
symbolvermittelter Interaktionen verorten, ähneln dabei in vielerlei Hinsicht der von Geertz
vertretenen „textualistischen“ Kulturtheorie.
„Aus pragmatistischer Perspektive wird der ‚Kultur‘ genannte Bedeutungsraum nicht als unabhängige
Variable gedacht, sondern als sich stets transformierende Gedanken- und Zeichenwolke, welche die
unterschiedlich erfahrenen Wirkungen und Bedeutungen von Gegenständen, Wesen und Ideen
zusammenfasst und symbolisch veröffentlicht.“341
Kultur ist nicht nur Basis gesellschaftlicher Praxis, sondern sie kann auch bewusst zum
Gegenstand politischer Praxis und bewusster Gestaltung gemacht werden. Insgesamt ist
Deweys Kulturbegriff offen genug gestaltet, um Galtungs ontologische Setzungen zu
überwinden.
337 Dewey (1984a), S. 142. 338 Sigwart (2012), S. 183. 339 Dewey (2007a), S. 74. 340 Dewey (2002), S. 328. 341 Roos (2003), S. 43.
62
4.3 Das Demokratieverständnis
Im Gegensatz zu Galtung wird die Frage der kulturellen Permanenz von Dewey theoretisch
nicht vorentschieden. Vielmehr wird diese Frage von Dewey problematisiert und politisiert.
Deweys Kulturbegriff und sein praktisches, aktives Verständnis von Verstehen und
Interpretation ist hierbei aufs engste mit seinen Überlegungen zur „Demokratie“ verknüpft.
Im Gegensatz zu Galtung erfahren Deweys kulturtheoretische Überlegungen eine umfassende
demokratietheoretische Konkretisierung.
Dewey stellt sich die Frage, welche politischen Gemeinwesen sich dadurch auszeichnen,
„dass in ihnen lebendige und möglichst breit ausgreifende Formen der Artikulierung und permanenten
Aktualisierung des politischen Modus von Erfahrung und ihrer Interpretation bestehen und die
politisch-kulturellen ‚Objektivierungen‘ (in Form von relativ stabilen Institutionen und Strukturen) an
eine breite gesellschaftliche Praxis der (um)gestaltenden politischen Interpretation rückgebunden
bleiben“342.
Dewey beantwortet diese Frage unmissverständlich: Nur eine demokratische Gemeinschaft ist
in der Lage kulturelle Selbsterneuerung zu fördern. „Das Ziel von Deweys Kulturkritik ist
[somit] die Demokratisierung der Gesellschaft.“343
Rorty bezeichnet aus diesem Grund
Dewey auch als „Philosophen der Demokratie“344
.
Wichtig ist es, sich in diesem Zusammenhang Deweys Demokratieverständnis zu
vergegenwärtigen. Ausgangspunkt Deweys Demokratiekonzeption ist die Kritik an rein
liberalistisch-instrumentellen Demokratievorstellungen. Interessant ist in diesem
Zusammenhang Deweys kritische historische Betrachtungsweise. So stellt er fest, dass die
„alte“ liberalistische Demokratieidee mit ihrer individualrechtlichen und kapitalistischen
Fokussierung in der Frühphase der Amerikanischen Republik durchaus ihre Berechtigung
hatte. Sie fand eine angemessene Antwort auf die verkrusteten Strukturen des Feudalismus,
sie formulierte eine adäquate Antwort – um es mit Galtungs Worten auszudrücken – auf die
strukturellen Gewaltverhältnisse des britischen Herrschaftssystems.345
Mit anderen Worten:
Die Entstehung und Etablierung der liberalen Demokratie in Amerika ist für Dewey ein
positives Beispiel für aktiv herbeigeführten kulturellen Wandel. Im Laufe der Zeit ist der
amerikanische Liberalismus in Deweys Augen aber selbst in die Krise geraten. Der
Kapitalismus hat – Deweys und Galtungs Kapitalismuskritik gehen hierbei in die selbe
Richtung – soziale und politische Schieflagen produziert, welche mit dem Gemeinwohl nicht
mehr zu vereinbaren waren.
342 Sigwart (2012), S. 488. 343 Jörke (2003), S. 69. 344 Rorty (1994), S. 13ff. 345 Vgl. Jörke (2003), S. 130.
63
„Instead of the development of individualities which it prophetically set forth, there is a perversion of
the whole idea of individualism of a pecuniary culture. It has become the source and justification of
inequalities and oppressions.”346
Der Liberalismus alter Prägung kann laut Dewey keine angemessenen Antworten auf neue
problematische Situationen bereitstellten. Die Ursache, warum der Liberalismus selbst „zu
einer konservativen Ideologie erstarrt”347
ist, sieht Dewey nun im Liberalismus selbst
angelegt.
Durch seine naturrechtliche Fundierung – zentrale Bausteine sind hier universale,
naturgegebene und damit unveränderliche, ahistorische Grundrechte – ist der Liberalismus
nicht in Lage auf neue Problemsituationen zu reagieren. Er gibt alte Antworten auf neue
Fragen. „[E]ine kontingente Unterscheidung wird zu etwas Universellen, Allgemeingültigen
und somit nicht mehr Hinterfragbaren hypostasiert.“348
In diesem Zusammenhang zeigen sich die zentralen Vorteile von Deweys praxisorientierter
Philosophie bzw. seines dynamischen Kulturverständnisses.
„Ideen und Wertvorstellungen stehen für ihn […] immer im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen und spiegeln weniger ein unveränderliches, natürliches Recht als vielmehr die
jeweiligen Gegebenheiten einer historischen Epoche wider. […] Das, was vermeintlich universell gültig
ist, wird als kontingentes, aber durchaus rekonstruierbares Produkt einer bestimmten Problemsituation
gedeutet.“349
Auf Basis seines kritischen Bewusstseins und ausgehend von der progressiven Kulturtheorie
versucht Dewey nun den in seinen Augen unzeitgemäßen „alten“ Liberalismus zu erneuern.
Entscheidend ist es in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass Dewey die Krise des
Liberalismus nicht mit kollektivistischen Positionen zu lösen versucht. Das freie Individuum
bleibt der zentrale Akteur seiner politischen Theorie. „Nevertheless, the ideas of liberty, of
individuality and of freed intelligence have an enduring value, a value never more needed
than now.”350
Und: Die einzige „Kur für die Leiden der Demokratie“ sieht Dewey in der
Förderung von „mehr Demokratie“351
.
Dewey entwickelt einen Demokratiebegriff der beim Bewusstsein der Menschen ansetzt.
„Demokratie versteht er dabei in einem umfassenderen Sinne; er möchte sie nicht auf die
politischen Institutionen beschränkt wissen, sondern hebt die Bedeutsamkeit des
Demokratieideals für alle gesellschaftlichen Sphären hervor.“352
Es gibt für Dewey keine
sozialen Institutionen, die unabhängig vom jeweiligen kulturellen oder historischen Kontext
346 Dewey (1984b), S. 49. 347 Jörke (2003), S. 127. 348 Jörke (2003), S. 129. 349 Jörke (2003), S. 129. 350 Dewey (1987a), S. 35. 351 Dewey (1996), S. 127. 352 Jörke (2003), S. 17.
64
eine absolute Gültigkeit besäßen.353
Eine Demokratie ist in erster Linie nicht durch ihre
institutionell-organisatorische Eigenheit charakterisiert, sondern durch die geistig-moralische
Qualität („Demokratie als Lebensform“354
) ihrer Bürger. Diese Qualität ist ausgezeichnet
durch ein aktives politisches Leben.
„Die sinnhafte Grundlage freiheitlicher Politik ist sozusagen eine lebendige, möglichst viele Individuen
nicht nur rezeptiv, sondern auch aktiv einbeziehende soziokulturelle hermeneutische Praxis des
politischen Gemeinwesens als des pluralen Interpreten seiner selbst und der Wirklichkeit.“355
Nach Deweys Überzeugung fußt Demokratie auf der anhaltenden Verpflichtung jedes
Individuums, dafür zu sorgen, dass es selbst wie auch jedes andere Gesellschaftsmitglied ein
möglichst erfülltes, gelingendes und friedliches Leben („growth“) führen kann. Mittelpunkt
der Aktivität ist die ständige individuelle und kollektive Selbstthematisierung, welche eine
kontinuierliche Neujustierung kultureller Eigenheiten ermöglicht.
„In the first place, democracy is much broader than a special political form, a method of conducting
government, of making laws and carrying on governmental administration by means of popular suffrage and elected officers. It is that, of course. But it is something broader and deeper than that. The political
and governmental phase of democracy is a means, the best means so far found, for realizing ends that
lie in the wide domain of human relationships and the development of human personality. It is, as we
often say, though perhaps without appreciating all that is involved in the saying, a way of life, social
and individual. The keynote of democracy as a way of life may be expressed; it seems to me, as the
necessity for the participation of every mature human being in formation of the values that regulate the
living of men together: which is necessary from the standpoint of both the general social welfare and the
full development of human beings as individuals.”356
Demokratie bedeutet in diesem Sinne das aktive und kontinuierliche Aufbrechen negativer
kultureller Permanenzen und die kreative Entwicklung neuer positiver ‚habits‘ im kollektiven
Einverständnis.
„[D]ie Partizipation der einzelnen Individuen beschränkt sich nicht auf bloße Rezeptivität gegenüber als
autoritativ erfahrenen vorgegebenen Ideen, Zielen, Zwecken, Identitäten, sondern impliziert immer
individuelles ‚Selbst Denken‘, die aktive Partizipation an der Entwicklung, Entfaltung und permanenten
Umformung gemeinschaftlicher Zwecke, gesellschaftlicher ‚Identität‘ und ihrer symbolischen
Artikulation.“357
5. Schlussbetrachtung
353
Interessanterweise verbindet sich Deweys Ablehnung des instrumentellen Demokratieverständnisses mit der
Ablehnung einer gewaltsamen Demokratieförderung: „Sofern die menschliche Erfahrung unmissverständlich auf eine Schlussfolgerung hinweist, dann ist es die, dass es für die Verwirklichung demokratischer Ziele
demokratischer Methoden bedarf. Autoritäre Methoden präsentieren sich uns in neuen Masken. Sie melden sich
bei uns mit der Behauptung, dass sie den letzten Zielen der Freiheit und Gerechtigkeit [...] dienen. Oder sie legen
uns ein totalitäres Regime nahe, um das totalitäre System zu bekämpfen. Einerlei in welcher Form sie sich
zeigen: Sie verdanken ihren lockenden Einfluss der Behauptung, dass sie idealen Zwecken dienen. Unsere [...]
Abwehr besteht in der Einsicht, dass der Demokratie nur durch eine allmähliche, schrittweise Einführung und
fortschreitende Verbreitung solcher Methoden auf sämtliche Gebiete unseres Alltagslebens gedient ist, die mit
den gesteckten Zielen identisch sind.“ Dewey (2003), S. 134 f. 354 Mit dieser Formel bringt Gebhard Deweys Demokratieverständnis auf den Punkt. Gebhard (2011). 355 Sigwart (2012), S. 489. 356 Dewey (1987b), S. 217. 357 Sigwart (2012), S. 262.
65
Ein Wissenschaftler muss die Auswirkungen seines Schaffens reflektieren und muss
hinterfragen, welche politisch-praktischen Effekte seine Theorien bewirken. Er steht, wie es
Praxistheoretiker John Law bezeichnet, vor Fragen „ontologischer Politik“. D.h. ein Forscher
muss sich die normative Frage stellen, welche Wirklichkeitsbilder er erstellen möchte.358
„Der Wissenschaftler befindet sich damit nicht in einem epistemologischen, sondern normativen Nexus.
[…] [Eine] sensibilisierte Selbstprüfung der Interpretation sollte auch die möglichen Effekte für die
‚Beforschten’ antizipieren, um den ‚fröhlichen Positivismus’ nicht kurzerhand durch einen ‚fröhlichen
Konstruktivismus’ zu ersetzen.“359
Ein geeignetes Kriterium zur Bewertung einer praxisrelevanten Friedenstheorie ist ihr sozial-
kritisches Potenzial.360
Die Frage die sich stellt lautet: Inwiefern leistet eine Theorie einen
Beitrag dazu, dass Menschen ein Instrument zur Hand bekommen, mit dem sie sich selbst und
ihre Lebensverhältnisse durchschauen und ändern können? Eine Theorie, die den Menschen
als jemanden versteht, der von sozialen oder kulturellen Gezeiten hin- und hergeschwemmt
wird, hätte demnach kein oder nur ein geringes sozial-kritisches Potenzial. „Eine Theorie
dagegen, die z.B. die zunehmende Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen
‚aufdeckt‘, und die deren sozialfunktionale Konstruktionszusammenhänge ‚zeigt‘, hätte ein
hohes sozial-kritisches Potenzial, da sie den einzelnen Menschen als Aktor anspricht und ihm
so die Möglichkeit anbietet, die ‚sozialen Verhältnisse‘ und damit sich selbst zu ändern.“361
Die Fragen „ontologischer Politik“ beantwortet Galtung mit seiner Theorie der kulturellen
Gewalt aus meiner Sicht nicht durchweg zufriedenstellend. Der große Verdienst Galtungs ist
die Öffnung des friedenswissenschaftlichen Diskurses für kulturtheoretische Fragen. Mit
Galtungs Theorie der kulturellen Gewalt werden die Fragen von Kultur und Gewalt erstmals
in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Diesen positiven Aspekt spricht unter
Anderem Schmidt an:
„Wenn das kulturelle Gewaltpotenzial einer Zivilisation bzw. Gesellschaft sich an den Aspekten ihrer
Kultur ablesen lässt, die sich zur Legitimation direkter oder struktureller (und übrigens auch kultureller)
Gewalt nutzen lassen, dann scheint die friedenswissenschaftliche Aufgabenstellung klar: Erstens
Untersuche Religion und Ideologie, Sprache und Kunst, die empirischen wie die formalen
Wissenschaften – Zentralbereiche der symbolischen Existenz zeitgenössischer Gesellschaften – auf das in ihnen liegende Gewaltlegitimationspotential hin, und zweitens: Bemühe dich um die sorgfältige, nach
Möglichkeit auch wissenschaftsfundierte Kritik des Eruierten, die nicht nur auf die intellektuellen
Defizienzen seiner Produktion, sondern zugleich auch auf die darin identifizierbaren Interessen der
jeweiligen Produzenten abstellt. Hier liegt in der Tat ein weites Feld friedenswissenschaftlicher
Aktivitäten, dessen grundsätzliche Bestellung Galtung dringend angelegen ist – wie seine Kritik etwa
der Gewaltförmigkeit ökonomischer Theorien, theologisch begründeter Auserwähltheitstheoreme oder
der Nationalstaatsideologie überzeugend demonstriert.“362
358 Law (2004), S. 143ff. 359 Reckwitz (2003), S. 97. 360 Vgl. Laucken (1995), S. 298. 361 Laucken (1995), S. 298. 362 Schmidt (1999), S. 39f.
66
Positiv hervorzuheben ist darüber hinaus Galtungs motivationale Ausrichtung. Er hält mit der
Theoretisierung kulturell bedingter Gewaltverhältnisse jedem Menschen einen Spiegel
entgegen. Seine Theorie der kulturellen Gewalt weist in diesem Zusammenhang ein hohes
sozial-kritisches Potenzial auf, da sie die Menschen für Fragen unbewusster kultureller
Gewaltlegitimation sensibilisiert. Mit Holm könnte man sagen, dass „the main relevance of
Galtung’s work lies in the ideas it can produce in the reader. They are a source of creativity,
because they may open up for new combinations and new ideas.”363 Anhand der Reflexion
der liberalen Theorie des „Demokratischen Friedens“ versuchte ich zu zeigen, dass Galtungs
Verquickung kulturtheoretischer und friedensorientierter Fragen zwar in der Tendenz und der
Sache in die richtige Richtung weisen. Allerdings verhindert Galtungs antidynamisches
Kulturverständnis aber, dass die Überwindung kultureller Gewalt zum zentralen „Problem“
des wissenschaftlichen Nachdenkens wird. An dieser Stelle büßt seine Theorie der kulturellen
Gewalt an sozial-kritischem Potenzial ein. Die negativen Konsequenzen aus Galtungs
kulturtheoretischer Akzentsetzung (mitsamt ihrer apolitischen und ahistorischen Implikation)
zeigen sich dadurch, dass gerade das friedenspraktische Potenzial der Theorie der kulturellen
Gewalt durch die Ausblendung der kulturgenerierenden Faktoren blockiert wird. In diesem
Zusammenhang sei auch auf die unglückliche und wenig zielführende Begrifflichkeit
Galtungs verwiesen. Biologistische Termini mit deterministischer Konnotation stehen einer
praxisorientierten Friedensforschung, die am Abbau von kultureller Gewalt interessiert ist,
eher entgegen als sie zu fördern. Denn: „Die entscheidende Frage ist, ob er [der Beforschte]
sich noch bewusst bleibt, dass die gesellschaftliche Welt, wie auch immer objektiviert, von
Menschen gemacht ist – und deshalb neu von Ihnen gemacht werden kann.“364
Die Suche
nach kultureller Permanenz versperrt bei Galtung den Blick auf die Kreativitätspotenziale des
Menschen. Das emanzipatorische Moment kommt aufgrund der gewählten theoretischen
Perspektive notwendigerweise zu kurz. Nicht nur der tiefenkulturelle Sozialisationsprozess
findet im Unterbewusstsein statt, sondern auch der Transformationsprozess des Unbewussten
vollzieht sich im Diffusen. Scheinbar völlig unabhängig von den Handlungen individueller
und kollektiver Akteure sind die Existenz und die Statik der Tiefenkultur vorgegeben. Die
Permanenz des Kulturellen wird somit theoretisch vorentschieden. Deshalb gilt für Galtung
das Selbe, was Leifeld für die Kulturtheorie Levi-Strauss‘ konstatiert.
„Kultur ist etwas vom Menschen Unabhängiges; sie beherrscht den Menschen, aber der Mensch, der
wie eine Marionette an den Fäden der strukturellen Regeln hängt, kann wenig Einfluss auf die
Ausprägung der Kultur nehmen. Damit ist der Kulturbegriff zu strukturdeterminiert, zu eng
363 Holm (1980), S. 44. 364 Berger/ Luckmann (2000), S. 95.
67
eingebunden und zu unflexibel. Selbst wenn Levi-Strauss zurecht hinter gesellschaftsformenden Regeln
eine Ordnung der Gesellschaft diagnostiziert, bleibt in seiner Theorie kein Platz dafür, dass Menschen
einen freien Willen haben und Kultur interaktiv mit ihren Mitmenschen in einem Prozess aushandeln
können.“365
Dieser Sachverhalt liegt quer zur Galtungs postulierter Praxisorientierung der
Friedensforschung bzw. zur Idee einer „wirklichkeitsverändernden“ Wissenschaft.
„Die Aufgabe der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Friedens- und Konfliktforschung im
Besonderen wird in erster Linie darin gesehen, mit den Forschungsergebnissen eine
gesellschaftsverändernde Praxis anzuleiten und mit eigenem gesellschaftlichen und politischen
Engagement diese Veränderungsprozesse auch zu unterstützen.“366
In diesem Zusammenhang ist auch Kinkelbur zuzustimmen, der hervorhebt, dass „[e]rst die
Veränderbarkeit eines kulturellen Sozio-Codes […] die Arbeit an einer Kultur des Friedens in
ihren ideellen und insbesondere materiellen Gehalten zu einer konkreten Perspektive für einen
Zuwachs für Humanität und Zivilität werden [lässt].“367
Gerade eine friedens- und
praxisorientierte Wissenschaft, welcher an der Veränderung der konstruierten Wirklichkeit
gelegen ist, darf die Rolle der Akteure nicht aus den Augen verlieren, sondern muss sie
rekonstruieren und in die theoretische Konzeptualisierung integrieren.368
Durch die
theoretische Unterbestimmtheit der Subjekt- und Akteursebene droht Galtungs
friedensorientierte Konzeption deshalb ins Leere zu laufen. Indem Galtung die
emanzipatorischen und kreativen Potenziale des Menschen außer Acht lässt, kann er für
kulturellen Wandel keine überzeugenden Mechanismen ins Feld führen.
Auf Basis der diagnostizierten Defizite Galtungs kulturtheoretischer Überlegungen versuchte
die Arbeit zu zeigen, dass eine pragmatistisch angeleitete Theorie der kulturellen Gewalt
geeignetere Antworten auf die Fragen „ontologischer Politik“ geben kann. Dewey
problematisiert und politisiert gerade jenes Moment, welches bei Galtung aus dem Blick
gerät: den Permanenzcharakter kultureller Überlieferungszusammenhänge. Dabei lehnt
Dewey die deterministische Tendenz und die Betonung der ‚Wandlungsresistenz‘ kulturelle
Tatsachen ab und verweist auf den permanenten Wandel der Bedeutungen und Begriffe sowie
auf deren kontingenten und situationsabhängigen Wirkungen. Durch die Betonung der
zentralen Rolle des „Faktors Mensch“ verfügt die pragmatistische Kultur- und
Handlungstheorie dabei über ein besonders tragfähiges Akteurskonzept, welches der Theorie
der kulturellen Gewalt zugrunde gelegt werden könnte. Der Rückgriff auf Deweys
365 Leifeld (2002), S. 79. 366 Schrader (2009), S. 30. 367 Kinkelbur (2000), S. 27. 368 Vgl. Leifeld (2002), S. 112. Ähnlich betont diese Sachverhalt Luckmann: „Die erste methodologische
Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht nicht in der Ausschaltung der sinnkonstituierenden Alltagspraxis,
sondern in deren systematischen Rekonstruktion.“ Luckmann (1986), S. 195.
68
dynamisches Kulturverständnis hätte den zentralen Vorteil, die Genese kulturell bedingter
Gewalt in den Fokus des Interesses zu stellen und damit einen Weg zur Vermeidung oder
Bearbeitung von Gewalt-Konflikten aufzuzeigen. Mit einer pragmatistisch informierten
Kulturtheorie könnte nicht allein das dialektische Verhältnis von Kultur und Gewalt betont
und thematisiert werden, sondern auch die Möglichkeitsbedingungen für eine Kultur des
Friedens theoretisiert werden. Durch den pragmatistischen Beitrag kann der bei Galtung
diagnostizierten „Hypostasierung des Überlieferungszusammenhangs“ ein wirksamer
Schutzmechanismus entgegengesetzt werden. Insgesamt können Deweys kultur- und
demokratietheoretischen Überlegungen mit Galtungs Idee der kulturellen Gewalt in
produktive Verbindung gebracht werden: Mit seiner Demokratieidee, die sich durch ständige
kulturelle Selbstvergewisserung und Weiterentwicklung auszeichnet, ist eine politische
Theorie ausgearbeitet, die den Abbau kultureller Gewalt und den Aufbau einer Kultur des
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