Sonntag, 04. Juni 2017 15.04 17.00 Uhr

Johann Sebastian BachEine Sendereihe von Michael Struck-Schloen

22. Folge: Die Frchte der spten Jahre

AUTORBachs letztes Lebensjahrzehnt war keine Phase des kreativen Niedergangs auch wenn er deutlich weniger Kirchenmusik komponierte als in den ersten Leipziger Jahren. Aber eswar eine Zeit des Rckzugs, in der der Kantor vom Repertoire zehrte, weniger dirigierteund am Schreibtisch seinen eigenen Projekten nachging, die auf die Zeitgenossen nichtsonderlich modern oder fashionabel wirkten. Mit diesem Ausklang des Riesenwerks will ichmich heute beschftigen, Titel: Die Frucht der spten Jahre. Den Beginn macht derCembalist Christophe Rousset mit einem Werk, das Bach mit 50 Jahren in Nrnbergdrucken lie: mit der Ouvertre h-Moll aus dem zweiten Teil der Clavier bung.

MUSIK 1DeccaLC 00171433054-2Track 4

Johann Sebastian BachOuvertre h-Moll nach franzsischer ArtBWV 8311) OuvertureChristophe Rousset (Cembalo)

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AUTORAls Ouverture nach Franzsischer Art hat Bach dieses Stck im Jahr 1735 angekndigt.Damit meinte er einerseits den eben gehrten Anfangssatz in der typischen Form einerfranzsischen Opern-Ouvertre, die sich aus einem langsamen, zeremoniellen und einemschnellen Teil zusammensetzte. Andererseits meinte der Begriff Ouverture zur Bach-Zeiteine ganze Suite aus Tanzstzen mehr oder weniger franzsischer Herkunft. Bach bewiesalso mit seiner Ouvertren-Suite h-Moll, Werkeverzeichnis 831, dass er den franzsischenStil in der Musik beherrschte so wie er im selben Band die Vertrautheit mit der Konzertform eines Tartini oder Vivaldi unter Beweis stellte: im so genannten ItalienischenKonzert.

Wie immer bei Bach handelte es sich dabei nicht um eine Kopie, sondern um einehchst individuelle Anverwandlung. Wenn er die franzsischen Formen und Manieren,sprich: Verzierungen, aufnahm, dann klang das nicht nach den in Arabesken aufgelstenStcken eines Couperin oder Rameau, sondern dichter und polyphoner, klanglich kerniger,fast mchte man sagen: teutonischer. Womit auch diese Stcke nach der Mode der Zeitzu Bachs Sptwerk hinfhren, in dem die glitzernde Oberflche mehr und mehr zerbrckeltund einen intellektuellen Unterbau freigibt.

Hren wir noch einmal Musik aus der Suite h-Moll BWV 831: Es spielt wiederChristophe Rousset auf einem zweimanualigen Instrument des aus Kln stammenden undin Paris wirkenden Cembalobauers Henri Hemsch.

MUSIK 2DeccaLC 00171433054-2Track 8-11

Johann Sebastian BachOuvertre h-Moll nach franzsischer ArtBWV 8315) Sarabande6) Bourre I & II7) Gigue8) EchoChristophe Rousset (Cembalo)

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AUTORDas waren die Schlusstnze der Ouvertre h-Moll BWV 831 aus dem zweiten Teil derClavier bung, gespielt von Christophe Rousset.

Wie mssen wir uns Bach in seinen letzten anderthalb Lebensjahrzehntenvorstellen? Von seinem Haushalt in der Thomasschule, der von Bachs zweiter Frau AnnaMagdalena gefhrt wurde, war in einer frheren Folge schon die Rede. Als Bach mit 50Jahren den zweiten Teil seiner Clavier bung mit der franzsischen Suite auf den Marktbrachte, lebten in der Familie sieben seiner insgesamt zwanzig Kinder. Johann Christian,der spter als einziger Bach in der Oper Erfolg haben sollte, wurde im September desJahres 1735 geboren, spter kamen noch zwei Tchter zur Welt, die ihren Vater ummehrere Jahrzehnte berlebten immerhin machte die Medizin so weit Fortschritte, dass auch die Kindersterblichkeit allmhlich nachlie.

Nach wie vor war Bachs berufliche Belastung hoch. Als Thomaskantor war es seinePflicht, einmal im Monat eine Woche lang als Inspektor den Unterricht an der Schule, dengeregelten Tagesablauf der Thomaner und ihr sittliches Benehmen zu berwachen natrlich zustzlich zum Musikunterricht, zu den sonntglichen Auffhrungen an denbeiden Kirchen St. Thomas und St. Nikolai und zu sonstigen Einstzen bei Hochzeiten oderBegrbnissen, die wertvolle Nebeneinnahmen, die so genannten Akzidentien, brachten.Bach hatte sie bitter ntig, denn Leipzig war eine Universitts- und Messestadt mit extremhohen Lebenshaltungskosten.

In einem Brief an seinen Schulfreund Georg Erdmann nach Danzig hat Bach 1730eindrcklich geschildert, womit er sich nach sieben Amtsjahren befassen und herumrgernmusste. Das Schreiben ist eines der wenigen Dokumente, in denen Bach nicht diplomatisch,sondern offen und persnlich argumentiert. Und es wird deutlich, dass die LeipzigerAnstellung seine einstigen Erwartungen bei weitem nicht erfllte.

ZITATOR (035)Da ich aber nun (1.) finde, da dieser Dienst bey weitem nicht so erklecklich ist als mannmir Ihn beschrieben, (2.) viele accidentia meinem Gehalt entgangen, (3.) Leipzig ein sehrtherer Orth und (4.) eine wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit ist, ichmithin fast in stetem Verdru, Neid und Verfolgung leben mu also werde ich genthigt werden, mit des Hchsten Beystand mein Fortun anderweitig zu suchen.[Bach an Georg Erdmann in Danzig v. 28. Okt. 1730, zit. nach: JSB: Leben und Werk inDokumenten, hrsg. von Hans Joachim Schulze, Mnchen/Kassel 1975, S. 12]

AUTORDas war starker Tobak. Ob Bach wirklich daran dachte, seine Stellung zu wechseln, istfraglich schlielich war Leipzig eine der lebhaftesten Stdte im Reich, von deren kulturellen Angeboten Bach nur profitieren konnte. Andererseits beschwerte er sichdarber, dass die Nebeneinknfte saisonal schwankten manchmal, wie bei den Begrbnissen, hing es vom Wetter ab.

ZITATOR (032)Wenn es etwas mehrere, als ordinairement, Leichen gibt, so steigen auch nach proportiondie accidentia; ist aber eine gesunde Lufft, so fallen hingegen auch solche, wie denn vorigesJahr an ordinairen Leichen accidentien ber 100 Taler Einbue gehabt. In Thringen kannich mit 400 Talern weiter kommen als hiesigen Ortes mit noch einmahl so vielenhunderten, wegen der exceiven kostbahren Lebensarth.[Bach an Georg Erdmann in Danzig v. 28. Okt. 1730, zit. nach: JSB: Leben und Werk inDokumenten, hrsg. von Hans Joachim Schulze, Mnchen/Kassel 1975, S. 13]

AUTORHinzu kam der Streit mit einer der Music wenig ergebenen Obrigkeit, wie es Bach mitseinem typischen Understatement formulierte. Damit meinte er einerseits den Stadtrat,

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aber auch seinen direkten Vorgesetzten, den Rektor der Thomasschule. Nachdem MatthiasGesner, auf den er groe Hoffnungen gesetzt hatte, Leipzig verlassen hatte, musste Bachmit seinem jungen, erst 27-jhrigen Nachfolger Johann August Ernesti zurechtkommen.Das funktionierte zunchst ganz gut, bis Ernesti eines Tages in Bachs Kompetenzeneingriff, einen seiner wichtigsten Assistenten entlie und ber Bachs Kopf hinweg einenneuen einsetzte. Bach brauchte die Prfekten, weil sie ihm bei Singstunden, alsDirigenten in der Kirche oder beim Unterricht von Privatschlern assistierten deshalb achtete er darauf, dass niemand ihm bei der Auswahl hineinredete. Der Rektor aber kanntedabei keine Scheu, und so entzndete sich der so genannte Prfektenstreit, der sich berJahre hinzog und das Verhltnis zwischen Kantor und Rektor fr immer zerrttete.

Die Folge: Bach kmmerte sich mehr und mehr um angenehmere Aufgaben wie dieLeitung des Collegium musicum, whrend er als Kantor zum Dienst nach Vorschriftberging. Nur noch wenige neue Kantaten sind in den letzten Jahren entstanden, wobeiBach meist auf frhere Vorlagen zurckgriff. Dabei hat er durchaus auf denMusikgeschmack seiner Zeit reagiert wie in der Hochzeitskantate Nr. 195: Franzsische Rhythmen und Verzierungen, der prominente Einsatz der Traversflte oder moderneharmonische Wendungen zeigen an, dass Bach stilistisch up to date sein konnte wenn er wollte. Hren Sie den Schluss der Kantate Dem Gerechten muss das Licht immer wiederaufgehen mit dem Bassisten Harry van der Kamp, dem Knabenchor Hannover und demLeonhardt-Consort, dirigiert von Gustav Leonhardt.

MUSIK 3Teldec ClassicsLC 060194509-91755-2Track 15-18

Johann Sebastian BachKantate Dem Gerechten muss das Lichtimmer wieder aufgehen BWV 1953) Arie Rhmet Gottes Gt und Treu4) Rezit. Wohlan, so knpfte denn5) Chor Wir kommen, deine Heiligkeit6) Choral Nun danket all und bringet EhrJan Patrick OFarell (Sopran)Harry van der Kamp (Bass)Knabenchor HannoverCollegium Vocale GentLeonhardt ConsortLeitung: Gustav Leonhardt

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AUTORDer Schluss der Kantate Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen BWV195 mit dem Knabenchor Hannover, dem Collegium Vocale Gent und dem Leonhardt Consort geleitet von Gustav Leonhardt. Die Solisten waren Harry van der Kamp (Bass) undder Knabensopran Jan Patrick OFarell.

Die Frchte der spten Jahre habe ich die 22. Folge der Bach-Serie im Kulturradiovom rbb berschrieben; im Studio ist Michael Struck-Schloen. Die Kantate Nr. 195, die indieser Fassung aus Bachs letzten Lebensjahren stammt, zeigt deutlich, dass derThomaskantor nicht nur Kontrapunktik und Chorle, sondern auch geschmeidige Melodienund moderne Harmonien im Repertoire hatte eine erstaunliche Entwicklung fr einen Musiker aus der altdeutschen Stadtpfeifer- und Kantorentradition. Auch die katholischeMesse h-Moll, die in der nchsten Folge die dominierende Rolle spielen wird, zeigt BachsBemhen um stilistische Modernitt, die ihm 1736 den Titel eines Hof-Compositeurs amHofe des schsischen Kurfrsten und polnischen Knigs einbrachte.

Allerdings wurde sich der Thomaskantor im selben Moment auch der Grenzenseines Amtes bewusst. Als fest angestellter Hofkomponist in Dresden kam Bach wohl vonvornherein nicht in Frage an der Elbe brauchte man einen wendigen Meister wie Johann Adolf Hasse, der mit italienischen Wassern gewaschen war und das Genre desMusiktheaters beherrschte. Whrend also Hasse am Knigshof Karriere machte, erforschte

Johann Se