Johannes Binotto: Tat Ort Bild: Dario Argento und die Unheimlichkeit des Raums

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    phenomena

    (1984)

    >[TatOrtBild]°Dario Argento und die Unheimlichkeit des Raums

    «Eigentlich bin ich

    ein verhinderter Architekt»

    Dario Argento

    Judith: Deine Mauern bluten …

    bluten … bluten …

     Alle Türen will ich öffnen!

    Blaubart: Aber weisst du,

    was sie bergen?

    Béla Balázs:

    Libretto zu «Herzog Blaubarts Burg»

    1920 veröffentlichte der ArchitektHeinrich de Fries unter dem Titel «Raum-gestaltung im Film» eine scharfsinnige Ana-lyse zeitgenössischer Filme des expressionis-tischen Kinos. In Werken wie Paul Wegenersder golem, Karl Heinz Martins von mor-gens bis mitternacht  und Robert Wie-nes das cabinet des dr. caligari  sahde Fries einen neuen filmischen Umgangmit Räumlichkeit sich anbahnen. Ein Kinoschien zu entstehen, welches den Raum nichtlänger als blosse Szenerie, als bedeutungslo-sen Rahmen einer Story versteht, sondern als

    eigenständigen Akteur, als eigentliche Hand-lung des Films, die es statt einer Erzählungzu lesen gilt.

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    1 Jennifer Connellyin phenomena (1984)

    2 inferno (1980)

     3 profondo rosso(1975)

    4 il gatto a novecode (1971)

     5 Jessica Harperin suspiria (1977)

    Statt das Haus als gängige Metapher zu nut-

    zen, als gewohnte Repräsentation der Psy-che seiner Bewohner auszugegeben, stellt Ar-gento die Verhältnisse auf den Kopf: Der Bauselbst ist psychotisch, und wer ihn bewohnt,den macht er wahnsinnig.

    Fragmentierung

    Auf die psychische Verwirrung, den Wahn, welche die Gebäude provozieren, folgtdie körperliche Wunde. Die Architektur mani-festiert sich physisch in den Körpern ihrer Be-

     wohner. Nicht von ungefähr. Eine lange Tra-dition sieht im architektonischen Bau einenAntropomorphismus. So formuliert bereitsEnde des ersten Jahrhunderts vor Christus Vi-truv in seinen «De architectura libri decem»die Entsprechung der Glieder des menschli-chen Körpers und der Räume eines Tempel- baus. Argento radikalisiert dieses Verhält-nis zwischen Fleisch und Stein, indem er dieFragmentierung des Raums mit der Zerstü-ckelung des menschlichen Körpers engführt, ja gar das eine an die Stelle des anderen setzt.

    So stechen in inferno  jene Aufnah-men ins Auge, welche ein Gewirr aus Holz- balken zwischen den schockierenden Bildernaufgelöster Leiber zeigen. Woher diese Auf-

    nahmen stammen, welchen Raum sie zeigen,lässt sich dabei nicht bestimmen. Ohne jeg-liche narrative Motivierung sind sie puresSinnbild für die äquivalente Fragmentierung von Körper und Raum.

    Eine Sequenz in il gatto a novecode scheint – obwohl sehr viel weniger auf-fällig inszeniert – eine ähnliche Funktion zuerfüllen: Im nächtlichen Zwielicht erscheintder imposante Raum einer Klinik durch Säu-len, Licht und Schatten verwirrend fragmen-tiert. Die Personen, welche im Fluchtpunktdes Raumes eine Treppe hochsteigen, ver-

     wandeln sich in unförmige Schatten. Diemenschlichen Umrisse vermischen sich mitdenen des Raumes. Die Homogenität des Rau-mes zerfällt und damit – wie in den anschlies-senden Szenen zu sehen – auch die physischeEinheit der Personen.

    In profondo rosso  schliesslich ver- weilt die Kamera an einem Tatort nicht aufdessen zentralem Gegenstand, der Leiche,sondern zeigt die zerbrochene, mit Blut be-schmierte Scheibe, durch welche das Opferkopfüber gestürzt ist. Die Scherben des Gla-ses erhalten dieselbe Wichtigkeit wie der zer-schnittene Körper des Opfers und deuten

    den intimen Zusammenhang zwischen demeinen und dem anderen an.

    Innen/Aussen

    Diese letale Entsprechung zwischenräumlicher Fragmentierung und Verwun-dung des Körper gilt es genauer zu betrach-ten. Jede Fragmentierung wiederholt nur deneinfachen Schnitt durch einen homogenenRaum. Der erste Schnitt ist die erste Organi-sation, die erste Strukturierung des Raumes,sozusagen die erste architektonische Aktion.Er definiert in einem Zug ein Hier und einDort, ein Innen und ein Aussen.

    Diese grundsätzliche Scheidung vonInnen und Aussen ist indes nicht nur archi-tektonisch fundamental. Sie konstituiertebenso Subjekt und Objekt als räumlicheGegenüberstellung. Wo sich nun aber dieräumliche Unterscheidung verwischt, stehtfolglich auch das Subjekt selbst auf demSpiel. Der Umschlag vom Innen ins Aussenund umgekehrt ist tödlich in einem radika-len Sinne – indem er keine Unterscheidungzwischen Subjekt und Objekt zulässt, zer-stört er beide.

    Die Schlafwandlerin in Argentos phe-nomena, die auf einem Sims stehend in einleeres Zimmer hineinblickt, verbildlicht die-sen Umschlag. Wie in einem Bild von Magrit-te ist sich der Zuschauer in der Unterschei-

    dung zwischen Innen und Aussen unklar. Indieser Verunsicherung implodiert die Leeredes Zimmers: ein blutüberströmtes Mädchenstürzt herein, fällt mit dem Gesicht durchsFenster. Ein Dolch bricht durch ihren Kopf,ragt aus ihrem im Schmerz aufgerissenenMund: Das Innen quillt nach draussen.

    «Interiora» steht auf der Wand einesGanges geschrieben, welchen die Protago-nistin aus suspiria im geheimen Innern derTanzschule aufgespürt hat. Doch in diesemtiefsten Inneren ist die junge Tänzerin zu-gleich in der absoluten Fremde. «Das innereAusland» hat Freud das Unbewusste genanntund damit klargemacht, dass die Topik derPsyche in einer äusseren Topologie zu fin-den ist. Auch Freuds Begriff des Unheimli-chen ist in diesem Sinne ein räumlicher Be-griff, indem er auf das vertraute Haus, das«Heim» verweist, welches im Un-heim-lichensteckt. Das Unheimliche ist jenes bange Zwi-schenreich zwischen vertraut und unvertraut.Im Heim sich fremd fühlen, im Fremden dieSpuren des Heims entdecken, das ist das Er-lebnis des Unheimlichen. Innen und Aussen

     vermischen sich, und so steht über dem Wort«Interiora» noch ein anderes an die Wand je-nes Ganges geschrieben: «Metamorphosis»

    – die Verwandlung von «Interiora» in «Exte-riora», von Heim in Fremde und umgekehrt.

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