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SC? ERPUNKT | ProAlter 01/2017 24 Joseph Beuys und die Pfegeoase Um Menschen mit schwerer Demenz am Ende ihres Lebens besser begleiten zu können und ihrem räumlichen Schutzbedürfnis Rechnung zu tragen, müssen althergebrachte Konzepte überdacht und durch kreative neuen Ideen ergänzt wer - den. Christine Sowinski, Dr. Franca D’Arrigo und Georg Rindermann erklären, wie die Arbeiten des Künstlers Joseph Beuys ihnen bei der Entwicklung des Pflege- oasen-Konzepts und der „Hausgemeinschaft plus“ geholfen haben. W as brauchen Menschen, die immobil und in vielfältiger Weise eingeschränkt sind, um sich wohlzufühlen? Es muss etwas sein, wo sie sich geborgen fühlen, eine Art Nest, das Wärme und positive Sinneseindrücke vermittelt. Wer sich im Zusammenhang mit der Begleitung und Pfege von Menschen mit Demenz am L-e bensende beschäftigt und gleichzeitig auch mit dem künstlerischen Schaffen von Joseph Beuys, der fndet hier viele Parallelen. Beuys’ -Wer ke drehen sich oft um „Wärme“, „Einwickeln“, „Einsalben“ und „Leid“. Ebenso spielt das Phä - nomen des Heilens eine große Rolle. In seinen Installationen verwendet er Heilmittel wie Tab - letten, Pfaster, Mullbinden, Medikamente. Die - se stehen nicht selten in Verbindung mit so-ge nannten metaphorischen Requisiten. So tauchen in seinem Werk häufg Filz (Wärme) und Fett (Salbung) auf. Der „Tatarenlegende“ zufolge wurde der Kampf - pilot Joseph Beuys 1944 auf der Krim a-bge schossen und von umherziehenden Tataren g-e rettet. Nach eigenen Aussagen überlebte Beuys nur durch das Einreiben mit Fett und wärmende Filzdecken. Die Tataren sind ein Nomadenvolk und so taucht die nomadische Kultur auch i-m mer wieder in Beuys’ Kunstwerken auf. Übertragen auf das Leben alter Menschen am Lebensende, die nicht mehr zu Hause, sondern in einer stationären Wohnform leben, dienen diese Werke Beuys’ als gute Zustandsbeschre -i bung: Die alten Menschen sind gewissermaßen Wanderer zwischen den Welten. Die alte Welt haben sie schon verlassen müssen und in der neuen Welt – dem Himmel oder Jenseits – sind sie noch nicht angekommen. Pfegeoase als Soziale Plastik Für die Entwicklung der Pfegeoase war Joseph Beuys auch deshalb so inspirierend, weil er die Kunst und den Alltag der Menschen eng mitein- ander verbunden und sich so von der Kunst hin zur Wirklichkeit bewegt hat. So war Beuys zum Beispiel der Auffassung, dass dem Menschsein formgebende bzw. plastische Prinzipien inne-

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Joseph Beuys und die Pfegeoase

Um Menschen mit schwerer Demenz am Ende ihres Lebens besser begleiten

zu können und ihrem räumlichen Schutzbedürfnis Rechnung zu tragen, müssen

althergebrachte Konzepte überdacht und durch kreative neuen Ideen ergänzt wer-

den. Christine Sowinski, Dr. Franca D’Arrigo und Georg Rindermann erklären, wie

die Arbeiten des Künstlers Joseph Beuys ihnen bei der Entwicklung des Pflege-

oasen-Konzepts und der „Hausgemeinschaft plus“ geholfen haben.

Was brauchen Menschen, die immobil und

in vielfältiger Weise eingeschränkt sind,

um sich wohlzufühlen? Es muss etwas sein,

wo sie sich geborgen fühlen, eine Art Nest, das

Wärme und positive Sinneseindrücke vermittelt.

Wer sich im Zusammenhang mit der Begleitung

und Pfege von Menschen mit Demenz am L-e

bensende beschäftigt und gleichzeitig auch mit

dem künstlerischen Schaffen von Joseph Beuys,

der fndet hier viele Parallelen. Beuys’ -Wer

ke drehen sich oft um „Wärme“, „Einwickeln“,

„Einsalben“ und „Leid“. Ebenso spielt das Phä -

nomen des Heilens eine große Rolle. In seinen

Installationen verwendet er Heilmittel wie Tab-

letten, Pfaster, Mullbinden, Medikamente. Die -

se stehen nicht selten in Verbindung mit so-ge

nannten metaphorischen Requisiten. So tauchen

in seinem Werk häufg Filz (Wärme) und Fett

(Salbung) auf.

Der „Tatarenlegende“ zufolge wurde der Kampf -

pilot Joseph Beuys 1944 auf der Krim a-bge

schossen und von umherziehenden Tataren g-e

rettet. Nach eigenen Aussagen überlebte Beuys

nur durch das Einreiben mit Fett und wärmende

Filzdecken. Die Tataren sind ein Nomadenvolk

und so taucht die nomadische Kultur auch i-m

mer wieder in Beuys’ Kunstwerken auf.

Übertragen auf das Leben alter Menschen am

Lebensende, die nicht mehr zu Hause, sondern

in einer stationären Wohnform leben, dienen

diese Werke Beuys’ als gute Zustandsbeschre-i

bung: Die alten Menschen sind gewissermaßen

Wanderer zwischen den Welten. Die alte Welt

haben sie schon verlassen müssen und in der

neuen Welt – dem Himmel oder Jenseits – sind

sie noch nicht angekommen.

Pfegeoase als Soziale Plastik

Für die Entwicklung der Pfegeoase war Joseph

Beuys auch deshalb so inspirierend, weil er die

Kunst und den Alltag der Menschen eng mitein-

ander verbunden und sich so von der Kunst hin

zur Wirklichkeit bewegt hat. So war Beuys zum

Beispiel der Auffassung, dass dem Menschsein

formgebende bzw. plastische Prinzipien inne-

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Hausgemeinschaft plus

Angeregt durch den Begriff der „Sozialen

Plastik“ und dem Erfolgsmodell der Pfegeoa-

se in Zwickau (s. S. 19) wurde auch in Nord-

rhein-Westfalen ein Wohnmodell für Menschen

mit Demenz am Lebensende entwickelt: Im rhei-

nisch-bergischen Overath betreibt die geme-in

nützige Vivat GmbH seit Dezember 2011 acht

stationäre Hausgemeinschaften mit jeweils zehn

wohnen. Erst durch sein Denken und sein kreati-

ves Handeln forme sich der Mensch selbst. Diese

schöpferische Kraft nannte er „Soziale Plastik“.

Mit ihr werde jeder Mensch zu einem Künstler,

erschafft und verändert sich selbst und damit

auch die Gesellschaft. Durch die Kunst kann da-

mit die materialistische Welt zu einer sozialeren

und demokratischen Lebensform gewandelt wer -

den.

Heute wird die „Soziale Plastik“ auch zuneh-

mend mit Unternehmen gleichgesetzt. Das Un-

ternehmen als „Soziale Plastik“ ist nie vollendet

und wandelt sich ständig durch die Energie der

Mitarbeitenden. In diesem Sinn ist auch die Pfe-

geoase eine „Soziale Plastik“, die sich durch die

schöpferische Kraft der Menschen, die hier leben

und arbeiten, verändert und sich so ihren Bedürf-

nissen anpasst.

Dr. Franca Franca D’Arrigo hat

Joseph Beuys noch persönlich

erlebt und ist tief beeindruckt

von seinem Schaffen.

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Literatur

D’Arrigo, Franca (2011): Sinneswelten für Menschen mit

Demenz in der stationären Altenhilfe. Eine Lokalstudie.

Universität Siegen, Hochschulschriften

Gohde, J.; Sowinski, C.; Strunk-Richter, G.; Sachse, M.

(2015): Großer Erfolg: ein Jahr Pfegeoase Zwickau. In:

ProAlter 5/15, S. 53–58

Kuratorium Deutsche Altershilfe (2014): Arbeiter-Sama-

riter-Bund eröffnet in Sachsen die erste KDA-Pfege-

oase. Pressemitteilung vom 4. Juni 2014

Lebenswelten Ermen, Reinhard (2010): Joseph Beuys.

Hamburg

Rutenkröger, A.; Kuhn, C. (2008): „Im Blick haben“.

Evaluationsstudie zur Pfegeoase im Seniorenzentrum

Holle. Stachelhaus, Heiner (2010): Joseph Beuys. Berlin

Szeemann, Harald (2008): Beuysnobiscum. Hamburg

Harlan, Volker; Rappmann, Rainer; Schata, Peter (1984):

Plätzen, eine Tagespfege und ambulant betreutes

Soziale Plastik. Achberg

Wohnen. Die gesamte Einrichtung fühlt sich so-

wohl der „Sozialen Plastik“ im Sinne von Beuys

als auch der „Dreigliederung des sozialen Orga-

nismus“ verpfichtet. Die soziale Dreigliederung

geht auf den Anthroposophen Rudolf Steiner zu-

rück, der damit von 1917 bis 1922 ein Leitbild

für die gesellschaftliche Entwicklung entwarf.

Heute gilt die soziale Dreigliederung von

Freiheit im Geistesleben,

Gleichheit im Rechtsleben,

Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben

vielen als Urbild einer sinnvollen Gestaltung des

sozialen Lebens. Jeder einzelne Mensch hat nach

diesem Leitbild Einfuss auf die Gesellschaft und

gestaltet sie mit. Sie gilt in Overath auch für das

Unternehmen Vivat GmbH, seine Mitarbeiter

und Bewohner. In Teamsitzungen und Gesamt-

teams wird regelmäßig das Konzept von allen

Beteiligten weiterentwickelt. Insbesondere das

Zusammenspiel zwischen Pfege und Alltags-

managerinnen stellt die Mitarbeiterinnen immer

wieder vor neue Herausforderungen, die nur von

den Akteuren selbst gelöst werden können. Die-

se Herangehensweise hat Erfolg. Die Nachfrage

nach den Plätzen in den stationären Hausgemein-

schaften war so groß, dass nun zusätzlich ein

neues Gebäude mit vier weiteren Wohngruppen

geplant wird. Bei diesen Wohngruppen handelt

es sich um „Hausgemeinschaften plus“ für Men-

schen mit schwerer Demenz am Lebensende,

die auch Zielgruppe der KDA-Pfegeoase sind.

In den „Hausgemeinschaften plus“ wird es wie

in der Pfegeoase in Zwickau (s. S. 19) ebenfalls

keine Flure geben. Die zehn Appartements grup-

pieren sich um die gemeinsame Wohn- und Ess-

küche. Für jedes Appartement ist anders als in der

Pfegeoase in Zwickau ein eigenes Bad geplant,

dadurch entsprechen die „Hausgemeinschaften

plus“ den Bedingungen des Wohn- und Teilh-a

begesetzes in Nordrhein-Westfalen (WTG) und

fallen nicht unter die Experimentierklausel ( s.

S. 18). ?

Christine Sowinski

… ist Krankenschwester und Diplom-Psychologin. Sie leitet

den Bereich „Beratung von Einrichtungen und Diensten“ im

KDA. Schon im Studium hat sie sich viel mit Kunst beschäf-

tigt: „Immer, wenn ich glaubte, nicht weiterzukommen, hat

mir die Kunst geholfen, einen neuen Weg zu finden.“

Dr. Franca D‘Arrigo

… ist Diplom-Sozialarbeiterin, Diplom-Pädagogin, Referentin

für stationäre Altenhilfe, Geschäftsführerin der AG Hospizar-

beit und Sterbebegleitung bei der Diakonie Hessen – Dia-

konisches Werk in Hessen und Nassau und Kurhessen-Wal-

deck e. V., Kassel.

Georg Rindermann

… ist Pädagoge, Kunsttherapeut und freier Künstler, Ge-

schäftsführer der Vivat gemeinnützige GmbH in Overath

und hat u. a. mit dem KDA das Modell „Hausgemeinschaft

plus“ für Menschen mit Demenz am Lebensende entwickelt.

Autoren

Georg Rindermann ist selber

Künstler. Neben Beuys steht ihm

auch Rudolf Steiner nahe, auf den

die Dreigliederung des „Sozialen

Organismus“ zurückgeht.