Joseph J Ellis George Washington Eine Biographie...wartsfixiert; aber das Gleiche gilt auch für...

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394 Seiten. Mit 12 Abbildungen auf 10 Tafeln. Broschiert ISBN 978-3-406-70712-4 Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.chbeck.de/17814996 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Joseph J Ellis George Washington Eine Biographie

Transcript of Joseph J Ellis George Washington Eine Biographie...wartsfixiert; aber das Gleiche gilt auch für...

  • 394 Seiten. Mit 12 Abbildungen auf 10 Tafeln. Broschiert ISBN 978-3-406-70712-4

    Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.chbeck.de/17814996

    Unverkäufliche Leseprobe

    © Verlag C.H.Beck oHG, München

    Joseph J Ellis George Washington Eine Biographie

  • C·H·BeckPAPERBACK

  • Joseph J. Ellis entwirft in seiner Biographie ein ebenso umfassendeswie vielschichtiges Porträt George Washingtons. Er beschreibt nichtnur die Anfänge Washingtons, seine militärischen Jahre erst imFrench and Indian War und dann im Unabhängigkeitskrieg sowieseine beiden Amtszeiten als erster Präsident der Vereinigten Staatenvon Amerika. Mit großer Sensibilität spürt er auch der komplexenPersönlichkeit Washingtons nach, die heute fast ganz hinter der Ikoneaus Marmor verschwunden ist. Sein psychologischer Scharfsinn undvor allem seine souveräne Erzählkunst lassen so einen Mann wiederhautnah lebendig werden, der wie kein anderer die Geschichte Ame-rikas geprägt hat.

    Joseph J. Ellis ist emeritierter Professor für amerikanische Geschichteam Mount Holyoke College in Massachusetts. Für sein Buch überThomas Jefferson «American Sphinx» erhielt er den National BookAward, für sein Buch «Founding Brothers» (deutsch «Sie schufenAmerika», C.H.Beck 2003) den Pulitzer-Preis.

  • Joseph J. Ellis

    George Washington

    Eine Biographie

    Aus dem Amerikanischenvon Martin Pfeiffer

    C.H.Beck

  • Titel der amerikanischen Originalausgabe:His Excellency George Washington© Alfred A. Knopf, New York 2004

    Die erste Auflage des Buches erschien 2005in gebundener Form im Verlag C.H.Beck.

    Mit 12 Abbildungen auf 10 Tafeln

    1. Auflage in C.H.Beck Paperback. 2017

    © Verlag C. H. Beck oHG, München 2005Satz: Janß GmbH, Pfungstadt

    Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenUmschlagabbildung: George Washington,

    Gemälde von Gilbert Stuart© Francis G. Mayer/Corbis

    Printed in Germanyisbn 978 3 406 70712 4

    www.chbeck.de

  • Inhalt

    Vorwort: Der Mann im Mond 9

    1. Innere Regionen 15

    2. Der rührige Gutsherr 59

    3. Erster im Krieg 97

    4. Kind des Schicksals 141

    5. Besinnliches Intermezzo 185

    6. Erster im Frieden 235

    7. Das Testament 299

    Danksagung 340

    Anmerkungen 343

    Personenregister 381

  • Für W. W. Abbot

  • Vorwort

    Der Mann im Mond

    Meine Beziehung zu George Washington begann früh. Ich bin auf-gewachsen in Alexandria, Virginia, und in St.-Mary’s zur Schule ge-gangen; von dort konnte man auf dem Mount Vernon Boulevard dasetwa elf Kilometer entfernte Gut des großen Mannes besuchen. Un-sere Nähe zu Mount Vernon veranlaßte die Nonnen, die uns unter-richteten, nicht selten dazu, Wallfahrten mit uns zu jener histori-schen Stätte zu unternehmen, die vom Geist des größten säkularenHeiligen Amerikas beseelt war. Heute bietet die Führung durch dasHaus weitaus mehr historische Informationen als zur Zeit meinerKindheit. Ich erinnere mich jedenfalls nicht, daß man damals über-haupt von Sklaverei gesprochen hat. Doch ich erinnere mich sehrwohl daran, wie mir erzählt wurde, die Geschichte von Washingtonshölzernen Zähnen sei eine Legende – man konnte also, wie mirdamals klar geworden ist, durchaus nicht immer den Geschichts-büchern trauen. An diesen Punkt erinnere ich mich deutlich – dennein Höhepunkt der Führung war Washingtons Gebiß unter einemGlassturz: ein häßliches Folterwerkzeug aus Metall und Knochen,wie mir schien. Abgesehen davon ist mir nur noch der grandioseBlick von der Veranda an der Ostseite des Gutshauses auf den Poto-mac im Gedächtnis geblieben.*

    Als Zehnjähriger, Anfang der fünfziger Jahre, lag ich mit Freundeneinmal auf einem Garagendach, und wir sahen hinab auf die Ge-burtstagsparade durch die Washington Street. Wir liebten dieses Er-eignis, denn an Washingtons Geburtstag hatten wir immer schulfrei,und so konnten wir den Musikzügen der George Washington HighSchool und der Washington and Lee High School zusehen. Von

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    * Ich bin offenbar nicht der einzige, der Mount Vernon in den fünfziger Jahrenbesucht hat und sich entsinnt, damals Washingtons Gebiß gesehen zu haben,obwohl es nach den offiziellen Unterlagen erst in den achtziger Jahren öffent-lich gezeigt wurde. Die Museumsleute in Mount Vernon können sich dieseDiskrepanz nicht erklären – und ich kann es auch nicht.

  • meiner Mutter bekam ich auch eine damals wie heute mit Washing-tons Porträt geschmückte Dollarnote – das war in meiner Kindheiteine Menge Geld –, die ich in einem der örtlichen Läden ausgebendurfte, die für dollar-day sales warben. All das spielte sich im Schattender nach ihm benannten Stadt jenseits des Flusses ab, in die mein Va-ter jeden Tag zur Arbeit ging und deren Stadtbild beherrscht war voneinem gewaltigen Monument zum Andenken an einen einzigenMann.

    George Washington war in meiner Kindheit und Jugend also all-gegenwärtig; unausweichlich schwebte seine Gestalt über dem Le-ben. Doch abgesehen von dem Gebiß und der Veranda in MountVernon blieb er eigentümlich abstrakt, ja geheimnisvoll. Er glicheiner jener Jeffersonschen Wahrheiten, er war selbstverständlich undeinfach da. Und das Schöne solcher Wahrheiten war, daß keinMensch über sie reden mußte. Sie waren so vertraut, daß niemandauf den Gedanken kam zu fragen, weshalb man Jahr für Jahr eine Pa-rade für sie abhielt.

    Washington war für mich allgegenwärtiger als Thomas Jeffersonoder Abraham Lincoln, aber auch entrückter. Wenn man zum TidalBasin oder zur Mall ging, konnte man die beschwörenden Worte amJefferson-Denkmal oder am Lincoln-Monument lesen («DieseWahrheiten halten wir für selbstverständlich …»; «mit Groll gegenkeinen, mit Nächstenliebe gegenüber allen …»). Am Washington-Monument stand jedoch nichts geschrieben, da sah man nur Graffitisan den Wänden neben der Treppe, die hinaufführte. Jefferson waroffenbar wie Jesus, der auf Erden erschienen war und mit uns geredethatte. Washington war wie Gottvater, der über allem schwebte. Jef-ferson erschien mir wie eines jener Luftschiffe beim Super Bowl, dieilluminierte Botschaften verkünden. Washington hingegen verharrteunnahbar und schweigend wie der Mann im Mond.

    Man kann also das, was hier zu lesen ist, als meinen Versuch be-trachten, auf dem Mond zu landen. Die Technologie für die Reisezum Mond gab es damals noch nicht, als ich auf dem Garagendachan der Washington Street lag – ebensowenig die kommentierte Aus-gabe der Korrespondenz Washingtons, die jeden seiner Briefe er-schließt und darüber hinaus Anmerkungen der Herausgeber zu allenwichtigen Akteuren, Ereignissen und Konflikten bietet. Heute gibtes diese Edition. Eine brauchbare Ausgabe steht zwar schon seit den

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  • 1930er Jahren zur Verfügung, und niemandem, der sich mit Wa-shingtons Leben und seiner Zeit beschäftigen wollte, hat es je an hi-storischen Quellen gefehlt. Doch die moderne Ausgabe der Washing-ton Papers ist die Hauptquelle, denn sie bietet alle verstreuten Zettelund Materialien – zusammengetragen, katalogisiert und klassifiziert.Dieses gewaltige Projekt ist – abgesehen von den letzten drei Jahrendes Unabhängigkeitskrieges und der zweiten Amtszeit Washingtonsals Präsident – abgeschlossen, doch vermutlich wird der ereignisrei-che Charakter jener Jahre die Herausgeber noch eine Weile in Atemhalten. Man kann jedoch guten Gewissens sagen, daß uns jetzt jedeirgend erhaltene Urkunde zur Verfügung steht, mit deren Auftau-chen der Biograph und der Historiker überhaupt noch rechnen kann.Der große Patriarch Amerikas sitzt uns nun gegenüber: verwundbar,ungeschützt, ja sogar gesprächig.

    Können wir ihm zuhören? Das ist durchaus keine rhetorische Fra-ge. Aus Gründen, die uns Shakespeare und Freud am besten erklärthaben, bereitet es allen Kindern erhebliche Schwierigkeiten, ihrenVätern unbefangen zu begegnen. Und bei Washington zeigt sich dasPatriarchenproblem überaus eindringlich: wir sehen ihn auf demMount Rushmore, auf der Mall, auf den Dollarnoten und dem 25-Cent-Stück, aber immer als Ikone – fern, kühl, einschüchternd. Wirtragen ihn, wie Richard Brookhiser so schön gesagt hat, in der Brief-tasche, aber nicht im Herzen. Und da wir gerade beim Thema Herzsind: in jeder Kinderseele brodelt doch ein unausgegorenes Gemischaus Abhängigkeit und Rebellion, aus Liebe und Furcht, aus Intimitätund Distanz. Im Verlauf der amerikanischen Geschichte blieb unsereReaktion auf Washington im besonderen und auf die Gründerväterim allgemeinen in eben dieses emotionale Muster verstrickt, ohn-mächtig oszillierend zwischen Vergötterung und Verdammung. ImFalle Washingtons reicht die Skala von den Märchen, die PastorWeems von einem frommen jungen Mann erzählte, der keine Lügeüber die Lippen brachte, bis zu verächtlichen Urteilen über den to-testen, weißesten Mann in der amerikanischen Geschichte.

    Dieses Bild eines Helden/Schurken ist in Wirklichkeit die Vorder-und die Rückseite derselben Medaille: eine Karikatur, die uns mehrüber uns selbst sagt als über Washington. Die in der akademischenWelt gegenwärtig vorherrschende Meinung sieht Washington alsMitschuldigen an der Schaffung einer Nation, die imperialistisch,

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  • rassistisch, elitär und patriarchalisch gewesen ist. Zwar gibt es einigewichtige Ausnahmen von der Regel, aber für die orthodoxe Fachweltist Washington entweder tabu oder kaum der Rede wert, und jederehrgeizige Doktorand, der Interesse zeigt an Washingtons Karriereals Oberkommandierender oder als Präsident, erklärt damit gewis-sermaßen seinen intellektuellen Bankrott. (Eine Untersuchung überdie einfachen Soldaten in der Kontinentalarmee oder die Sklaven inMount Vernon wäre hingegen à la mode.) Wenn man Washingtonnicht einfach geflissentlich ignoriert, dann nimmt man ihn besten-falls als einladende Zielscheibe wahr, als den Mann, der für alle Ver-säumnisse der revolutionären Generation verantwortlich ist undunseren überlegenen Maßstäben politischer und rassischer Gerech-tigkeit nicht genügt. Dieser Ansatz ist völlig ahistorisch und gegen-wartsfixiert; aber das Gleiche gilt auch für sein Gegenteil, die Tradi-tion der heroischen Ikone. Und damit sind wir wieder bei derKarikatur. Oder vielleicht sollten wir an das verlockende Licht imHafen denken, das in The Great Gatsby immer wieder aufleuchtet underlischt wie eine Metapher unserer liebsten Illusionen.

    Wie können wir diesem Syndrom der Übertreibungen entgehen?Anders gesagt: Wenn wir in dem Raumschiff, das uns die heutigeAusgabe der Washington Papers zur Verfügung stellt, auf dem Mondgelandet sind, wie können wir dann das Terrain exakt auf einer Kartedarstellen, ohne die irrealen Erwartungen einfließen zu lassen, diewir von unserer Reise mitgebracht haben? Nun, wenn sich zeigt, daßwir nichts als Verherrlichung betreiben oder, umgekehrt, daß wirlediglich abschätzig urteilen, dann sollten wir noch einmal genauerhinsehen. Zum einen sollten wir die Suche damit beginnen, daß wirnach einem Menschen forschen, nicht nach einer Statue, und dieDenkmäler, denen wir begegnen, sollten unverzüglich vom Sockelgestoßen werden. Zum anderen sollten wir davon ausgehen, daß wiruns auf eine Reise begeben und nicht auf die Jagd, und damit vermei-den, Washington in den ideologischen Abgrund zu schleudern, inden seine zeitgenössischen Kritiker ihn und sein Erbe befördernmöchten. Ralph Waldo Emerson, der der nächsten Generation Re-bellion predigte, hat einmal bemerkt, die Gründer seien so ein-schüchternd gewesen, weil ihre hervorgehobene Position in deramerikanischen Geschichte es ihnen möglich gemacht habe, Gottvon Angesicht zu Angesicht zu erblicken, während alle, die nach

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  • ihnen kamen, ihn gleichsam nur mit den Augen ihrer Vorgängererblicken konnten. Wir sollten danach streben, Washington von An-gesicht zu Angesicht zu betrachten – oder, wenn man so will, aufAugenhöhe.

    Meine Erkundungsreise habe ich mit zwei Überzeugungen undeiner Frage begonnen. Zum einen wollte ich keinen Wälzer über eingewaltiges historisches Thema schreiben. Zwei meiner herausragen-den Vorgänger – Douglas Southall Freeman und James Thomas Flex-ner – haben schon großartige, mehrbändige Biographien verfaßt. Dermonumentale Umfang dieser Werke hat, wie mir scheint, implizitden überlebensgroßen Ansatz der Washington-Forschung bestätigtund an den boshaften Kommentar Lytton Stracheys über die viktoria-nische Biographie erinnert: aus den unzähligen Bänden sei eine end-lose Reihe verbaler Särge geworden. Das ist beiden Autoren gegen-über nicht eben fair, am wenigsten gegenüber Flexner, denn derfühlte sich nie verpflichtet, die scharfen Kanten von WashingtonsPersönlichkeit abzuschleifen oder seine Biographie in eine Enzyklo-pädie zu verwandeln. Ich möchte die beiden hier als ehrwürdige Pio-niere auf den Spuren Washingtons grüßen. Meiner Ansicht nach –und zum Teil infolge der von ihnen bereits erzielten Ergebnisse –brauchen wir kein weiteres episches Gemälde, sondern ein frischesPorträt, das sich vor allem auf Washingtons Charakter konzentriert.In diesem Sinne war der Vorgänger, von dem ich am meisten gelernthabe, Marcus Cunliffe, dessen Buch Washington: Man and Monumentzwar schon um die 50 Jahre alt ist, sich aber bemerkenswert gut ge-halten hat. Cunliffe verdient einen eigenen und speziellen Salut.

    Meine weitere Überzeugung betraf die historische Forschung zurRevolutionsära, die die Landschaft seit Cunliffes Buch rings um Wa-shington verändert hat. Wir sind sensibler geworden gegenüber denintellektuellen und emotionalen Gegebenheiten, die im kolonialenAmerika eine revolutionäre Ideologie hervorgebracht haben; auch ha-ben wir heute ein weitaus besseres Verständnis für die sozialen undpolitischen Kräfte, die Virginias Pflanzerklasse zur Rebellion getrie-ben haben. Auch unsere Einschätzung der strategischen Alternativen,vor denen beide Seiten im Unabhängigkeitskrieg standen, hat sichverfeinert, hinzu kommt ein vertieftes Verständnis für die nicht mit-einander zu vereinbarenden Versionen des «Geistes von 1776», die inden 1790er Jahren zum Ausbruch von politischem Parteienstreit

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  • führten. Washingtons Leben verlief ebenso wie seine zunehmendgefestigte Laufbahn im Kontext dieses verwickelten historischen Ge-schehens, das in seiner Gesamtheit einen neuen Rahmen für dieEinschätzung seiner Entwicklung und seiner Leistung geliefert hat.Bedeutend ist vor allem: die florierende Erforschung der Sklavereiund des Schicksals der amerikanischen Ureinwohner hat Themen,die früher im Hintergrund gestanden hatten, in den Vordergrundgerückt. Diese Fragen kann man nicht mehr als Randprobleme be-handeln. Um mit Washington ins reine zu kommen, muß man sie,insbesondere die Sklaverei, stärker als bislang berücksichtigen.

    Am Anfang meiner Odyssee stand auch die Frage, zu der mich frü-here Forschungen über die Nachlässe der Revolutionsgeneration ge-führt hatten. Mir schien, Benjamin Franklin sei weiser gewesen alsWashington, Alexander Hamilton brillanter, John Adams belesener,Thomas Jefferson intellektuell differenzierter und James Madisonpolitisch scharfsinniger. Doch ausnahmslos jeder dieser prominentenAkteure war der Meinung, Washington sei ihm fraglos überlegen ge-wesen. In der Galerie der Großen, die so oft als Gründerväter zumMythos gemacht werden, wurde Washington als primus inter paresanerkannt, als der Gründervater schlechthin. Wie kam das? In die-sem Buch habe ich nach einer Antwort gesucht, die in den Tiefen desehrgeizigsten, entschlossensten und kraftvollsten Menschen einerEpoche verborgen ist, der es an würdigen Rivalen wahrhaftig nichtgefehlt hat. Wie er so wurde und was er dann damit anfing – das istdie Geschichte, die ich erzählen will.

    Joseph J. EllisPlymouth, Vermont

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  • 1Innere Regionen

    Die Geschichte nahm von George Washington erstmals 1753 Notiz:schon als Einundzwanzigjähriger war er ein kühner und einfallsrei-cher Emissär, den man mit einem gefährlichen Auftrag in die ameri-kanische Wildnis geschickt hatte. Bei sich trug er einen Brief vonRobert Dinwiddie, dem Gouverneur von Virginia, gerichtet an denKommandeur französischer Truppen in der riesigen Region westlichder Blue Ridge Mountains und südlich der Großen Seen, von denVirginiern Ohio Country benannt. Er hatte den Befehl, eine kleineAbteilung über die Blue Ridge und dann über die Alleghenies zuführen und sich dort mit einem einflußreichen Indianerhäuptlingnamens Half-King zu treffen. Von dort aus sollte er dann zu demfranzösischen Vorposten in Presque Isle (dem heutigen Erie, Penn-sylvania) weiterreisen, um seine Botschaft «im Namen Seiner Britan-nischen Majestät» abzuliefern. Die entscheidende Passage in demmitgeführten Brief war, wie sich zeigte, der verbale Eröffnungsschußfür den Krieg, den dann die amerikanischen Kolonisten als Frenchand Indian War bezeichneten: «Die Länder am Fluß Ohio in denwestlichen Teilen der Kolonie Virginia sind so allgemein als Eigen-tum der Krone Großbritanniens bekannt, daß es für mich ein Ge-genstand von großer Besorgnis und Überraschung ist zu vernehmen,daß ein französischer Truppenteil an diesem Fluß, im Herrschaftsbe-reich Seiner Majestät, Festungen errichtet und Siedlungen anlegt.»1

    Das war der Moment, in dem die Welt zum ersten Mal auf denjungen Washington aufmerksam wurde, und wir gewinnen unserenersten nachhaltigen Eindruck von ihm, als er auf Drängen Dinwid-dies einen Bericht über seine Abenteuer unter dem Titel The Journalof Major George Washington veröffentlichte, der in mehreren Koloni-alzeitungen erschien und dann von Zeitschriften in England undSchottland nachgedruckt wurde. Obgleich Washington nur einEmissär war – die Sorte von tapferem und agilem jungem Mann, dieman in einer schwierigen Situation entsendet, um einen gefährlichenAuftrag auszuführen –, lieferte sein Journal den Lesern einen Bericht

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  • aus erster Hand über die Bergketten, die wilden Flüsse und die exoti-schen Völker in den Regionen des Binnenlandes, die auf den meisteneuropäischen Landkarten als dunkle und leere Flächen erschienen.Sein Bericht wurde zum Vorboten der meisterhaften Darstellung desamerikanischen Westens, die Lewis und Clarke mehr als 50 Jahrespäter publizierten. Er offenbarte auch, wenngleich unbeabsichtigt,den etwas lächerlichen Charakter jedes Anspruchs «Seiner Britanni-schen Majestät» wie auch jeder anderen europäischen Macht, einGrenzland von derartigen Ausmaßen kontrollieren zu wollen, daseuropäische Zivilisationsanmaßungen einfach verschlang und wiederausspie.2

    Obgleich Washington in seiner Geschichte zugleich Erzähler undHauptfigur ist, sagt er wenig über sich selbst und nichts über seineGedanken. «Ich habe besondere Sorgfalt darauf verwendet», be-merkt er im Vorwort, «nicht zu übertreiben.» Im Mittelpunkt stehennicht seine Überlegungen, sondern der knietiefe Schnee auf den Päs-sen über die Alleghenies und die eiskalten und oft bis zur Unpassier-barkeit angeschwollenen Flüsse, die ihn und seine Gefährten zwin-gen, neben ihren Kanus her zu waten, während ihre Mäntel brettsteifgefroren sind. Die Pferde brechen erschöpft zusammen und müssenzurückgelassen werden. Vor einem Indianerdorf, das den unheilver-kündenden Namen Murdering Town trägt, stoßen er und sein Mit-abenteurer Christopher Gist auf einen einsamen Krieger. Der Indi-aner scheint sich mit ihnen anfreunden zu wollen, dann dreht er sichplötzlich um und feuert aus kürzester Entfernung seine Muskete ab,trifft aber aus unerklärlichen Gründen nicht. «Sind Sie getroffen?»fragt Washington, aber Gist verneint, stürzt sich auf den Indianerund will ihn umbringen. Washington verhindert das, es ist ihm lie-ber, daß der Indianer entkommt. An den Ufern des Monongahelastoßen sie auf ein einsames Farmhaus, in dem zwei Erwachsene undfünf Kinder getötet und skalpiert worden sind. Die verwesenden Lei-chen werden von Schweinen angefressen.3

    In scharfem Kontrast zu den grausamen Bedingungen und dergleichgültigen Barbarei des Grenzlandmilieus wirken die französi-schen Offiziere, denen Washington in Fort Le Boeuf und PresqueIsle begegnet, wie elegantes Pariser Interieur, das in einer fremdenLandschaft vom Himmel gefallen ist. «Sie empfingen uns mit außer-ordentlicher Zuvorkommenheit», bemerkt Washington. Die Franzo-

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  • sen ergingen sich in schmeichelhaften Artigkeiten über die schwierigeReise durchs Gebirge, die Washingtons Gruppe hinter sich gebrachthatte. Sie erklärten aber auch, die Ansprüche des englischen Königsauf die Ohio-Region seien nachweislich schlechter begründet als diedes französischen Königs, Frucht einer Erkundungsreise, die Lasallefast 100 Jahre zuvor durch das amerikanische Landesinnere unter-nommen hatte. Zur Festigung ihres Souveränitätsanspruchs war einefranzösische Expedition kürzlich den Ohio hinabgesegelt und hatteeine Reihe von Bleiplatten vergraben, die das Siegel ihres Herrscherstrugen, was die Frage offensichtlich ein für alle Mal entschied.4

    Höflich hörten sich die Franzosen Washingtons Entgegnung an,in der er sich auf die im Jahre 1606 verliehene ursprüngliche Chartader Virginia Company berief, die als Westgrenze dieser Kolonie ent-weder den Mississippi oder aber, noch weiter ausgreifend, den Pazi-fik festgelegt hatte. In beiden Fällen schloß diese Urkunde die Ohio-Region mit ein und war 60 Jahre älter als der Anspruch Lasalles. Soüberzeugend dieses ziemlich summarische Argument in Williams-burg oder in London klingen mochte, es machte auf die französi-schen Offiziere keinen großen Eindruck. «Sie sagten mir», schriebWashington in seinem Journal, «es sei ihr unumstößlicher Plan, vomOhio Besitz zu ergreifen, und bei G…, sie würden es tun.» Der fran-zösische Kommandeur von Fort Le Boeuf, Jacques Le Gardner,Sieur de Saint Pierre, beendete die Verhandlungen mit der Nieder-schrift eines herzlichen Briefes, den Washington Gouverneur Din-widdie übergeben sollte und der die diplomatischen Floskeln beibe-hielt: «Ich habe es mir zur besonderen Pflicht gereichen lassen, Mr.Washington mit der Distinktion zu empfangen, wie sie Ihrer Würde,seiner Stellung und seinen großen Verdiensten zukommt. Ich bin zu-versichtlich, daß er mir bei Ihnen in dieser Hinsicht Gerechtigkeitwiderfahren lassen wird und daß er Ihnen die tiefe Hochachtungübermitteln wird, mit der ich, Sir, Ihr ergebenster und gehorsamsterDiener bin.»5

    Doch der Mann, den Washington in seinem Journal häufiger zi-tiert als jeden anderen, repräsentierte noch eine dritte imperialeMacht, die ihren eigenen exklusiven Souveränitätsanspruch auf dieOhio-Region erhob. Das war Half-King, der Seneca-Häuptling, des-sen indianischer Name Tanacharison lautete. Abgesehen von seinerStellung als lokaler Stammesführer hatte Half-King seinen quasi-kö-

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  • niglichen englischen Namen erhalten, weil er der diplomatische Re-präsentant des Irokesenbundes war, den man auch als Sechs Natio-nen bezeichnete und der sein Hauptquartier in Onondaga, NewYork, hatte. Als sie sich in dem indianischen Dorf namens Logstownerstmals begegnet waren, hatte Tanacharison erklärt, Washingtonsindianischer Name sei Conotocarius, was soviel hieß wie «Eroberervon Städten» oder «Verschlinger von Dörfern», weil dies der Namegewesen war, den man ursprünglich, fast 100 Jahre zuvor, Washing-tons Urgroßvater John Washington gegeben hatte. Daß sich dies imGedächtnis der mündlichen Überlieferung der Indianer erhaltenhatte, erinnerte auf dramatische Weise an die langjährige Herrschaftdes Irokesenbundes über diese Region. Sie hatten keine Bleiplattenvergraben, und sie wußten nichts von den vermessenen Ansprüchenirgendeines englischen Königs auf den Besitz eines Kontinents.Doch sie beherrschten dieses Land seit etwa 300 Jahren.6

    Unter den gegenwärtigen Umständen betrachtete Tanacharisondie Franzosen als eine größere Bedrohung für die indianische Sou-veränität. «Wenn ihr auf friedliche Weise gekommen wäret wie un-sere Brüder die Engländer», erklärte er dem französischen Kom-mandanten in Presque Isle, «dann hätten wir nichts dagegen gehabt,daß ihr mit uns Handel treibt, wie sie es tun, aber daß ihr, Väter,kommt und auf unserem Land große Häuser baut und es euch mitGewalt aneignet, das ist etwas, das wir nicht dulden können.» Ande-rerseits machte Tanacharison auch deutlich, daß alle indianischenBündnisse mit europäischen Mächten und ihren kolonialen Ver-wandten befristeten Nützlichkeitserwägungen gehorchten: «Sowohlihr als auch die Engländer sind Weiße. Wir leben in einem Land da-zwischen, deshalb gehört das Land weder dem einen noch dem an-deren; sondern das GROSSE WESEN hoch oben hat es eineWohnstatt für uns sein lassen.»7

    Washington zeichnete Tanacharisons Worte pflichtschuldig auf,und ihm war völlig klar, daß sie die konkurrierenden, ja sich gegen-seitig ausschließenden Erfordernisse zutage brachten, die seine di-plomatische Mission in der amerikanischen Wildnis definierten.Denn einerseits war er der Vertreter eines britischen Kabinetts undeiner kolonialen Regierung, die fest entschlossen war, die Ohio-Re-gion mit anglo-amerikanischen Siedlern zu bevölkern, deren Anwe-senheit mit der indianischen Auffassung von göttlicher Vorsehung

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  • absolut unvereinbar war. Andererseits war jedoch gerade das Volk,das Washingtons Vorgesetzte zu vertreiben gedachten, schon alleinangesichts der Größe der indianischen Bevölkerung in dieser Regionund angesichts ihrer unbestreitbaren Beherrschung der Waldkampf-taktik, die die Bedingungen der Wildnis erforderlich machten, indem sich abzeichnenden Konflikt zwischen Frankreich und Englandum die europäische Herrschaft über das amerikanische Landesinnereder entscheidende Machtfaktor.

    Diese Geschichte vom ersten amerikanischen Abenteuer des jun-gen Washington ist aus mehreren Gründen ein guter Ausgangspunktfür unsere Suche nach der schwer zu fassenden Persönlichkeit jenesMannes, der später zum Denkmal geworden ist. Erstens läßt sie er-kennen, wie früh sein privates Leben in die öffentlichen Angelegen-heiten verwickelt wurde, in diesem Falle in nichts Geringeres als dieglobale Auseinandersetzung zwischen den Weltmächten, die um dieOberherrschaft über einen halben Kontinent stritten. Zweitenszwingt sie uns dazu, die offenkundigste chronologische Tatsache zurKenntnis zu nehmen, daß nämlich Washington einer der wenigenprominenten Angehörigen der amerikanischen Gründergenerationwar – ein weiterer war Benjamin Franklin –, der so früh zur Welt ge-kommen war, daß er seine Grundüberzeugungen über die RolleAmerikas im britischen Empire vor dem Hintergrund des Frenchand Indian War entwickeln sollte. Drittens bietet diese Geschichtedas erste Beispiel für das Interpretationsdilemma gegenüber einemMann der Tat, der offensichtlich entschlossen ist, uns zu erzählen,was er getan hat, sich zugleich aber weigert, uns Nachricht davon zugeben, was er sich dabei gedacht hat. Schließlich stellt sie, und das istdas Wichtigste, eine Verbindung her zwischen WashingtonsCharakter in seinem frühesten Entwicklungsstadium und den rau-hen, oft brutalen Bedingungen in dem weiträumigen Gebiet, dasman Ohio Country nannte. Die inneren Regionen der Persönlich-keit George Washingtons begannen in den inneren Regionen des ko-lonialen Grenzlands Gestalt anzunehmen. Wie sich zeigte, war kei-ner dieser beiden Orte so leer, wie es zunächst den Anschein hatte.Und hier wie dort war es von elementarer Bedeutung, die Herrschaftüber Kräfte zu erlangen, die den Vorstellungen der zivilen Gesell-schaft oft im Wege standen.

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  • Erste Eindrücke

    Von Washingtons Kindheit und Jugend wissen wir vergleichsweisewenig. Die spärlich dokumentierten frühen Jahre sind später von Le-genden überlagert worden, die allesamt die Kindheit Washingtons inEinklang bringen sollten mit den dramatischen Leistungen seinerspäteren Laufbahn oder einfach mit dem Mythos des ersten Natio-nalheros der Vereinigten Staaten. John Marshall, sein erster seriöserBiograph, gab dem Kapitel über Washingtons Ankunft in der Weltsogar den Titel «The Birth of Mr. Washington», als sei er bei seinerGeburt schon vollständig bekleidet und bereit für das Präsidenten-amt gewesen. Die berühmteste Erzählung über ein Ereignis ausWashingtons Kindheit – die Geschichte vom Abhacken des Kirsch-baums, die von Pastor Weems stammt («Vater, ich kann keine Un-wahrheit sagen») – ist frei erfunden. In Wahrheit wissen wir so gutwie nichts über Washingtons Beziehung zu seinem Vater AugustineWashington, außer daß sie ein frühes Ende fand, als Washington elfJahre alt war. In seiner umfangreichen Korrespondenz hat Washing-ton seinen Vater nur an drei Stellen erwähnt, und auch das nur an-deutungsweise. Von seiner Mutter Mary Ball Washington wissen wir,daß sie eine hochgewachsene kraftvolle Frau gewesen ist, die seineWahl zum Präsidenten noch miterlebt hat, ihn aber niemals rühmteoder auch nur seine öffentlichen Triumphe anerkannte. Die Bezie-hung zwischen den beiden, die in späteren Jahren von Entfremdunggekennzeichnet war, bleibt für die Zeit seiner Kindheit und Jugendein Geheimnis. Angesichts dieses frustrierenden Gemischs aus Fehl-informationen und Legenden können wir nur die unwiderleglichenTatsachen aus Washingtons frühen Jahren festhalten und dann, sogut es geht, die weniger deutlichen Muster von Einflüssen auf seinefrühe Entwicklung skizzieren.8

    Gesichert ist, daß George Washington am 22. Februar 1732 inWestmoreland County, Virginia, nahe den Ufern des Potomac gebo-ren wurde. Er war in vierter Generation Virginier. Der Ahnherr derFamilie, John Washington, war 1657 aus England herübergekom-men und hatte die Familie Washington begründet: achtbare, wenn-gleich nicht sonderlich prominente Mitglieder der virginischen Ge-sellschaft. Die Indianer hatten ihm den Namen «Eroberer vonStädten» gegeben, und zwar nicht seiner militärischen Tüchtigkeit

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  • wegen, sondern weil er ihnen mit juristischen Winkelzügen ihr Landabgeluchst hatte.

    Das Erbe, das John Washington seinen Nachkommen hinterließ,zeigte drei ausgeprägte Tendenzen: erstens einen Hang zu Grundbe-sitz – je mehr, desto besser; zweitens große und kräftige Männer; unddrittens eine männliche Linie, deren Mitglieder alle vor Erreichendes 50. Lebensjahres starben. Ein flüchtiger Blick auf die Stammbäu-me des jungen George, väterlicher- wie mütterlicherseits, deutete aufein weiteres unheilvolles Muster hin. Der Begründer der FamilieWashington hatte drei Frauen, von denen die letzte dreimal verwit-wet gewesen war. Washingtons Vater hatte seine erste Frau 1729 ver-loren, und Mary Ball Washington, seine zweite Frau, war selbst eineWaise, deren Mutter zweimal Witwe geworden war. Die virginischeWelt, in die George Washington hineingeboren wurde, war eine aus-gesprochen gefahrvolle Region, in der weder häusliche Beständigkeitnoch auch nur das Leben als sicher gelten konnten. Diese harteWirklichkeit trat im April 1743 vor Augen, als Augustine Washing-ton starb und seiner Witwe und seinen sieben Kindern ein Erbe hin-terließ, zu dem 4000 Hektar Land, verteilt auf mehrere zersplitterteParzellen, und 49 Sklaven gehörten.9

    Washington verbrachte seine frühe Jugend mit seiner Mutter aufder Ferry Farm am Rappahonnok gegenüber von Fredericksburg, wodie Familie ein Farmhaus mit sechs Zimmern bewohnte. Er erhielteinen Unterricht, der der heutigen Grundschulausbildung ent-sprach, kam aber nie in den Genuß eines klassischen Lehrplans undwurde auch nicht dazu ermutigt, das College of William and Mary zubesuchen, ein Mangel, der ihm während seiner gesamten späterenLaufbahn im Kreise von amerikanischen Staatsmännern, die solidereBildungsqualifikationen aufzuweisen hatten, anhing. Mehrere Bio-graphen haben die Aufmerksamkeit auf die von ihm mit der Handabgeschriebene Liste von 110 Vorschriften gelenkt, die der SchriftThe Rules of Civility and Decent Behaviour in Company and Conversationentstammte. Sie ging auf Etiketteregeln zurück, die 1595 von Jesui-ten verfaßt worden waren. Manche der aufgeführten Regeln sind ku-rios (No. 9: «Spucke nicht ins Feuer, … besonders wenn Fleisch da-vor liegt»; No. 13: «Töte kein Ungeziefer, oder Flöhe, Läuse,Zecken etc., vor den Augen anderer»); aber die erste Regel scheintauch Bedeutung gehabt zu haben für das zwanghafte Bemühen um

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  • Haltung, das Washington später an den Tag legte: «Jede Handlungin der Gesellschaft sollte bestimmt sein von einer gewissen Achtungfür die Anwesenden.» Als Erinnerung an die Überzeugung frühererZeiten, daß Charakter nicht nur das ist, was man ist, sondern auchdas, was man nach Ansicht anderer ist, ist dies ein nützlicher Hin-weis, der schon hier auf Washingtons späteren Hang deutet, in seineröffentlichen Person zu verschwinden. Doch die prosaischere Wahr-heit ist, daß die Rules of Civility deshalb so große Aufmerksamkeit vonBiographen auf sich gezogen haben, weil dies eines der wenigenüberlieferten Dokumente aus Washingtons Jugend ist. Es ist durch-aus möglich, daß er die Liste lediglich als Schönschreibübung abge-schrieben hat.10

    Die beiden wichtigsten Einflüsse auf den jungen Washington gin-gen aus von seinem Halbbruder Lawrence, der 14 Jahre älter war alser, und von der Familie Fairfax. Lawrence wurde zu seinem Ersatzva-ter, der für die Karriereentscheidungen seines jungen Schützlingsverantwortlich war, da George als jüngerer Sohn kaum Aussicht hat-te, genug Land zu erben, um den ungehinderten Zugang zur Pflan-zerklasse der Chesapeake-Gesellschaft zu erlangen. Im Jahre 1746machte Lawrence den Vorschlag, George sollte als Seeoffizier in diebritische Marine eintreten. Seine Mutter war gegen diesen Plan undebenso auch sein Onkel in England, dessen Bemerkung, die Marinewerde ihn «zuschneiden und fixieren und wie einen Neger oder viel-mehr wie einen Hund benutzen», für die negative Entscheidung denAusschlag gab.11

    Die anderen beiden Beiträge, die Lawrence zu Washingtons künf-tiger Karriere leistete, waren reichlich ironisch. 1751 reiste er nachBarbados, um in den Tropen seine Tuberkulose auszukurieren, undnahm Washington als Begleiter mit. Das sollte dessen einzige Aus-landsreise sein und ihm Gelegenheit geben, sich die Pocken zuzuzie-hen. Für den Rest seines Lebens trug er kaum erkennbare Pocken-narben im Gesicht, war damit aber auch gegen die gefürchtetste undgefährlichste Krankheit der damaligen Zeit immun. Dann, im Jahre1752, verlor Lawrence seinen Kampf mit der Tuberkulose und setzteso die Familientradition kurzlebiger Männer fort. Seine 1000-Hek-tar-Plantage, die jetzt den Namen Mount Vernon trug, war Teil desNachlasses, den Washington schließlich erbte. Lawrences vorzeitigerTod machte seine größte Hinterlassenschaft möglich.12

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  • Der Einfluß der Familie Fairfax hatte ebenfalls ironische Züge. ImAlter von etwa 15 Jahren begann Washington, einen großen Teil sei-ner Zeit in Mount Vernon bei Lawrence zu verbringen, der AnnFairfax aus der Fairfax-Dynastie vom nahegelegenen Belvoir gehei-ratet hatte. Der Patriarch des Clans war Lord Thomas Fairfax, einexzentrischer Angehöriger des englischen Hochadels, dessen Ver-achtung für Frauen und dessen Liebe zu Pferden und Jagdhundenihn bald über die Blue Ridge führte, wo er seiner Leidenschaft, derFuchsjagd, frönen konnte, ohne durch die lästigen Verpflichtungenbehindert zu sein, die die Verwaltung seiner Güter mit sich brachte.Diese Verantwortung, eine wahrhaft beängstigende Aufgabe, über-nahm sein Vetter William Fairfax. Der stark umstrittene Fairfax-Claim, den der Privy Council in London erst kürzlich bestätigt hatte,gab Lord Fairfax Eigentumsrechte über zwei Millionen HektarLand, einschließlich des Northern Neck, der riesigen Region zwi-schen dem Potomac und dem Rappahonnok. Kurz, die Fairfax’ wa-ren ein lebendes Überbleibsel des europäischen Feudalismus und derAristokratie englischen Stils, fest verankert in der provinzielleren vir-ginischen Version des Landadels. Als solche waren sie das vorzüg-liche Beispiel für privilegierte Abstammungslinien, königliche Pro-tektion und das «eifrige Werben um die Großen», wie es einWashington-Biograph genannt hat. Wenngleich Washington eineRevolution anführen sollte, die dann schließlich diese Konstellationaristokratischer Überzeugungen und Anmaßungen umstürzte, war erdoch anfangs ein Nutznießer ihres Einflusses.13

    Im Jahre 1748 übertrug William Fairfax dem sechzehnjährigenWashington seine erste Aufgabe: Er sollte Williams Sohn GeorgeWilliam Fairfax auf einer Vermessungsexpedition durch die Fairfax-schen Besitzungen im Shenandoah-Tal begleiten. Washingtons frü-heste Tagebucheintragungen stammen aus dieser Zeit, und so erhal-ten wir die ersten Eindrücke von seiner Handschrift und seinem Stilund erfahren, welchen Eindruck die primitiven Verhältnisse jenseitsder Blue Ridge auf ihn gemacht haben: «Ging ins Bett, wie sie esnannten, stellte aber zu meinem Erstaunen fest, daß es nicht mehrwar als ein wenig zusammengedrücktes Stroh ohne Laken oder sonstetwas, sondern nur eine fadenscheinige Decke, deren Gewicht durchUngeziefer wie Läuse, Flöhe etc. um das Doppelte vermehrt war.»Die wenigen Siedler in dieser Grenzlandregion waren für ihn seltsa-

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  • me Geschöpfe, die zerlumpte Kleidung trugen und oft nicht Eng-lisch, sondern Deutsch sprachen. Er begegnete auch einer Gruppevon indianischen Kriegern, die mit einem Skalp von einem Scharmüt-zel zurückkehrten und ihren Sieg um ein Lagerfeuer tanzend unterdem Dröhnen einer Kesselpauke feierten.14

    Repräsentierte die Familie Fairfax den Inbegriff der englischenZivilisation, so zeigte das Gebiet westlich der Blue Ridge das ande-re Ende des zivilisatorischen Fortschritts. Dahinter dehnte sichdie Ohio-Region, in der alles aufhörte, was Europäer als zivilisiertbezeichneten. Im Jahr davor, 1747, hatte Lawrence gemeinsam miteiner Gruppe von Investoren die Ohio Company gegründet, dervom König 200 000 Hektar Land zugewiesen wurden, wodurchdie virginische Form der Zivilisation in jenes ferne Gebiet west-lich der Alleghenies getragen werden sollte, wo Washington schonbald im Namen des britischen Königs den Kampf gegen die Ele-mente aufnehmen und so seine Männlichkeit unter Beweis stellensollte. Einstweilen jedoch und auch noch für die nächsten dreiJahre blieb er am Ostrand der Grenzregion Virginias, er vermaßdie Fairfax-Besitzungen im Northern Neck und im Shenandoah-Tal, brachte es in seinem neuen Beruf zur Meisterschaft, indem ermehr als 190 Vermessungen durchführte, kampierte gewöhnlichunter freiem Himmel und kam finanziell so gut über die Runden,daß er seinen ersten Landkauf tätigen konnte, ein Grundstückvon 585 Hektar am Bullskin Creek im Bereich des unteren Shen-andoah.15

    Wiederum bieten die historischen Quellen nur karge Mitteilun-gen über den heranwachsenden jungen Mann. Es gibt jugendlicheKnittelverse über sein «armes schutzloses Herz», das von «Cupidosgefiedertem Pfeil» durchbohrt worden ist, vielleicht ein Hinweis aufeine unbekannte «Schöne aus dem Tiefland», die seine Leidenschaf-ten entzündete, vielleicht ein Hinweis auf sein vergebliches Werbenum Betsy Fauntleroy, eine kokette Sechzehnjährige, für die er inak-zeptabel war. In Fredericksburg erscheint er als Kläger in einem Pro-zeß, in dem er eine gewisse Mary McDaniel beschuldigt, seine Klei-dung durchwühlt zu haben, während er dort im Fluß badete. (Siebekam 15 Peitschenhiebe.) Später pflegten Frauen bei seinem Er-scheinen in Ohnmacht zu fallen, aber in dieser frühen Zeit kam erihnen linkisch, ja einfältig und lähmend schüchtern vor.16

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  • Für diese frühe Zeit gibt es keine Beschreibung seines Aussehens,aber Berichte, die aus einer etwas späteren Phase stammen, erlaubenRückschlüsse: so können wir uns einen hochgewachsenen jungenMann vorstellen – er war mindestens 1 Meter 88 groß und somiteinen Kopf größer als der Durchschnittsmann der damaligen Zeit.Seine Erscheinung war athletisch, wohlproportioniert und adrett. Erwog etwa 80 Kilo und hatte kräftige Schenkel, mit denen er die Flan-ken eines Pferdes fest umschließen und sich mit ungewöhnlicherLeichtigkeit im Sattel halten konnte. Er hatte graublaue, weit ausein-anderstehende Augen, nußbraunes Haar, das im Laufe der Jahredunkler werden sollte und das gewöhnlich hinten zu einem Zopf ge-flochten war. Hände und Füße waren überproportional groß, das ließihn etwas unbeholfen wirken, wenn er vor einem stand. Sobald ersich aber auf dem Tanzboden oder bei einer Fuchsjagd bewegte, ver-wischte seine natürliche Anmut den anfänglich irritierenden Ein-druck. Trotz seiner Kraft und seiner fließenden Bewegungen warf erdoch nie einen Silberdollar über den Potomac (auf der Höhe vonMount Vernon wäre das physisch unmöglich gewesen), aber erschleuderte einen Felsbrocken über die Natural Bridge im Shenan-doah-Tal, die etwa 65 Meter hoch ist. Er war der Inbegriff eines rich-tigen Mannes: körperlich stark, geistig rätselhaft, emotional zurück-haltend.17

    Im Juni 1752, als Lawrence in Mount Vernon im Sterben lag, be-warb sich Washington bei Gouverneur Dinwiddie um eine der Ge-neraladjutantenstellen in der virginischen Miliz. Er hatte keinerleimilitärische Erfahrung, und abgesehen von seiner körperlich ein-drucksvollen Erscheinung war er für das Soldatenhandwerk nichtqualifiziert. Hier wirkten die beiden wichtigsten Einflüsse, die seinefrühen Jahre bestimmten, wie üblich zusammen. Durch den Tod sei-nes Bruders Lawrence wurde im Adjutantencorps eine Stelle frei,und William Fairfax machte seinen Einfluß geltend und versicherteDinwiddie, dieser junge Mann sei der Aufgabe gewachsen. Washing-ton selbst sagte: «Ich habe das Gefühl, daß es an meinen bestenBemühungen nicht fehlen wird.» Dinwiddie stimmte zu, er machtesich zu Washingtons neuem Mentor und Schirmherrn und schicktedann im darauffolgenden Jahr Major Washington in die Wildnis imWesten.18

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  • Ermordung und Notwendigkeit

    Während der folgenden fünf Jahre, von 1754 bis 1759, verbrachteWashington den größten Teil seiner Zeit westlich der Blue Ridge, woer eine Reihe von Expeditionen in die Ohio-Region anführte, die fürihn Schnellkurse im Soldatenhandwerk waren. Sie vermittelten ihmauch eine Reihe wahrhaft einschneidender persönlicher Erfahrun-gen, die seine Weltanschauung grundlegend prägten. Anstatt dasCollege zu besuchen, zog er in den Krieg. Und die Art von Bildung,die er erhielt, hinterließ wie die Pocken, die er sich in Barbados zuge-zogen hatte, Narben, die nie verschwanden, und zugleich auch Im-munitäten gegen jegliche Form von jugendlichem Idealismus.

    Das erste Abenteuer begann im Frühjahr 1754, als das Abgeordne-tenhaus von Virginia Mittel zur Aufstellung eines Regiments von300 Mann bewilligte, das Siedler in der Ohio-Region vor der zuneh-menden französischen Bedrohung schützen sollte. Washington wur-de zum stellvertretenden Befehlshaber im Range eines Oberstleut-nants ernannt. Im April verließ er an der Spitze von 160 SoldatenAlexandria; er hatte den Auftrag, die strategisch wichtige Stelle amZusammenfluß von Allegheny und Monongahela zu sichern, wo dieOhio Company bereits mit dem Bau eines Forts begonnen hatte.Nach der mühseligen Überquerung der Alleghenies erfuhr Washing-ton, eine französische Truppe von über 1000 Mann habe das halbfer-tige Fort besetzt und es in Fort Duquesne umbenannt. Nun geheman daran, den französischen Einfluß auf die Indianerstämme derGegend auszuweiten. Die brauchbarste Information erreichte ihnvon seinem früheren Gefährten und indianischen HauptverbündetenTanacharison, der Washington davon in Kenntnis setzte, daß dieLage wirklich verzweifelt sei: «Wenn du uns jetzt nicht zu Hilfekommst», schrieb er, «sind wir völlig verloren, und ich glaube, wirwerden uns nie wiedersehen.» Angesichts einer haushoch überlege-nen feindlichen Streitmacht entschloß er sich, in der Nähe von Tana-charisons Camp ein behelfsmäßiges Fort zu errichten, alle indiani-schen Verbündeten, die er auftreiben konnte, um sich zu scharen undauf Verstärkung zu warten. Tanacharison sagte seine Unterstützungzu, warnte aber auch, daß ihre Chancen gleich Null seien.19

    Am 27. Mai berichtete Tanacharison, in der Nähe seien französi-sche Truppen aufgetaucht, und er brachte eine Abordnung von Krie-

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  • gern, die Washingtons Garnison in Great Meadows, etwa 65 Kilo-meter von Fort Duquesne entfernt, verstärken sollten. Am Morgendes 28. Mai traf Washington auf eine französische Patrouille von32 Soldaten, welche in einer bewaldeten Schlucht kampierten, dieTanacharison als «niedriggelegenen dunklen Ort» beschrieb. SeinTrupp von 40 Mann umzingelte gemeinsam mit den indianischenVerbündeten unter Tanacharison das französische Lager. Washing-tons Bericht über die anschließenden Kämpfe, den er am darauffol-genden Tag an Dinwiddie sandte, war knapp: «Ich traf daher im Be-nehmen mit dem Half-King … Vorkehrungen, um sie von allenSeiten anzugreifen, was dann auch geschah, und in einem Gefechtvon etwa 15 Minuten töteten wir 10, verwundeten einen und nah-men 21 Gefangene; unter den Getöteten war Monsieur De Jumon-ville, der Kommandeur.» Seine Tagebucheintragung war noch knap-per und zugleich aufschlußreicher: «Wir töteten Mr. de Jumonville –sowie neun andere … die Indianer skalpierten die Toten.»20

    Über die Frage, was in der Jumonville-Schlucht, wie man sie dannnannte, wirklich geschehen war, kam es schon bald zu einer interna-tionalen Kontroverse, bei der es darum ging, wer im French and In-dian War den ersten Schuß abgefeuert hatte. Seither streiten sichdie Gelehrten über das Thema, teils deshalb, weil dies Washingtonserste Kampferfahrung war, teils, weil es gute Gründe für die Annah-me gibt, daß er hier unversehens das Kommando bei einem Massa-ker hatte. Zwar stimmen wie so häufig die Augenzeugenberichtenicht überein, aber die plausibelste Fassung der Zeugnisse läßt dar-auf schließen, daß die französischen Soldaten, überrascht und imAngesicht überlegener Feuerkraft, nach dem ersten Schußwechseldie Waffen streckten und sich ergeben wollten. Der französischeKommandeur Joseph Coulon de Villiers, Sieur de Jumonville, be-mühte sich trotz einer Verwundung zu erklären, er sei in einer Frie-densmission im Auftrag seines Monarchen Ludwig XV. gekommen– in einer diplomatischen Mission, wie sie Washington seinerseitsim vorangegangenen Jahr im Auftrag des britischen Monarchen, derdie Souveränität über die umstrittene Ohio-Region beanspruchte,durchgeführt hatte.

    Während Washington die Übersetzung dieser diplomatischenBotschaft zu verstehen suchte, beschloß Tanacharison, der offenbarfließend französisch sprach und daher eher als Washington begriff,

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  • was Jumonville sagen wollte, die Dinge in die Hand zu nehmen. Erbegab sich zu dem verwundeten Jumonville und erklärte auf franzö-sisch: «Du bist noch nicht tot, mein Vater», hieb sein Beil in Jumon-villes Kopf, spaltete ihm den Schädel, riß sein Gehirn heraus undgrub die Hände in dieses Gemisch aus Blut und Hirnmasse. Dannfielen seine Krieger über die verwundeten französischen Soldatenher, skalpierten sie alle, enthaupteten einen von ihnen und stecktenseinen Kopf auf einen Spieß. All das geschah unter den Augen desschockierten und unglücklichen befehlshabenden Offiziers, Oberst-leutnant Washington.21

    Zwar belog Washington Dinwiddie nicht direkt, aber er sagte auchnicht die ganze Wahrheit über diese Episode. In seinem Tagebuchversuchte er sich einzureden, Jumonvilles Behauptung, er sei in di-plomatischer Mission gekommen, sei «ein reiner Vorwand [gewe-sen]; sie hätten nie die Absicht gehabt, uns anders denn als Feindeentgegenzutreten». In Wirklichkeit rechtfertigte er das Massaker vorsich selbst. In einem Brief, den er nach Hause an seinen Bruderschrieb, ging er über die Tötungen hinweg und beschränkte sich dar-auf, über seine persönliche Reaktion im Angesicht der Gefahr zusprechen: «Ich hörte die Kugeln pfeifen, und glaube mir, dieser Tonhatte etwas Reizvolles.» Dieses Stück Selbstdarstellung fand seinenWeg in die virginischen Zeitungen und gab zu einer Vielzahl vonGeschichten Anlaß, die Washington als Amerikas ersten Kriegshel-den schilderten. Die draufgängerische Bemerkung machte sogar inLondon die Runde, wo kein Geringerer als Georg II. sie angeblichals jugendliche Prahlerei abtat: «Er würde das nicht sagen, wenn erGelegenheit gehabt hätte, viele zu hören.»22

    Ob er nun ein Held war, ein Aufschneider oder ein Mordgehilfe,das Scharmützel in der Jumonville-Schlucht hatte Washington davonüberzeugt, daß sich seine Abteilung, obgleich sie den französischenTruppen in diesem Gebiet zahlenmäßig unterlegen war, bis zum Ein-treffen von Verstärkungen behaupten konnte. «Wir haben soebenein kleines Fort mit Palisaden fertiggestellt», schrieb er an Dinwid-die, «in dem ich mit meiner kleinen Schar auch den Angriff von500 Mann nicht fürchten muß.» Er nannte die rohe kreisförmigeEinfriedung, in der er Stellung zu beziehen gedachte, Fort Necessity,eine beiläufige Anerkennung seiner heiklen Lage. Anfang Juni billig-te Dinwiddie die Entscheidung, das Fort zu verteidigen, und zu-

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  • gleich teilte er mit, der Kommandeur des virginischen Regiments,Joshua Fry, sei vor kurzem nach einem Sturz vom Pferde gestorben.Damit wurde Washington zum neuen Befehlshaber im Rang einesObersten. (Abermals führte der Tod eines anderen Mannes zu seinerBeförderung.) Es war auch eine britische Abteilung von etwa200 Mann unterwegs, die als Verstärkung zu ihm stoßen sollte.23

    Immerhin erkannte Washington, daß sein Schicksal nicht so sehrvon den britischen Verstärkungen abhing wie von der Unterstützungdurch die in der Gegend ansässigen Indianer, die nach wie vor dieKontrolle über das Machtgleichgewicht in dieser Region hatten. Am18. Juni berief Tanacharison eine Versammlung von Indianern ein,auf der Washington auf Fragen nach den Absichten antwortete, diedie Engländer in der Ohio-Region verfolgten. Er teilte den versam-melten Häuptlingen mit, der einzige Zweck der englischen Militär-aktion sei es, «eure Rechte zu wahren, … das ganze Land für euchsicher zu machen». Er behauptete, die Engländer hätten kein ande-res Ziel, als für die Indianer alle Gebiete zurückzugewinnen, «dieihnen die Franzosen entrissen hatten». Das war eine glatte Lüge, dieder Einsicht gehorchte, daß sie, wie Washington wohl wußte, «ohnesie nichts tun» konnten. Den Häuptlingen erschien das Argumentoffenbar nicht überzeugend, oder sie wußten wohl einfach, daß ange-sichts der Stärke der vorrückenden französischen Streitmacht jedesBündnis mit Washingtons bedrängten Truppen mit einem hohen Ri-siko verbunden war. Auf jeden Fall führte Tanacharison alle Indianerin die Wälder und überließ Fort Necessity seinem Schicksal. Kurzdanach traf Hauptmann James McKay mit seinen Verstärkungen ein.Er stritt sich mit Washington über die Befehlsgewalt und behaupte-te, seine Stellung als Hauptmann in der britischen Armee wiegeschwerer als Washingtons kolonialer Rang als Oberst.24

    Lange konnten sie sich jedoch nicht zanken, denn Anfang Juli hör-ten sie, was Tanacharison wahrscheinlich schon früher erfahren hat-te: daß eine Truppe von etwa 1100 Franzosen und Indianern unterder Führung von Louis Coulon de Villiers, dem Bruder des ermor-deten Jumonville, im Begriff stand, sie anzugreifen. Am Morgen des3. Juli tauchten etwa 500 Meter vor dem Fort die ersten französi-schen Soldaten auf. Die Berichte darüber, wer die ersten Schüsse ab-feuerte, gehen auseinander. Da Washington rings um Fort NecessityBäume und das Unterholz nur auf einem Streifen von etwa 50 Me-

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  • tern Breite abgeholzt hatte, rückte die gesamte französische und in-dianische Streitmacht bis zu dieser Lichtung vor, ging hinter Baum-stümpfen in Deckung und ließ nun ein mörderisches Feuer auf diebedrängten Verteidiger niedergehen. Das Ergebnis war ein neun-stündiges Gemetzel. Ein heftiger Wolkenbruch füllte die Schützen-gräben innerhalb und außerhalb des Forts, ein großer Teil des Pul-vers wurde unbrauchbar. Bei Einbruch der Dunkelheit war fast einDrittel der Streitmacht Washingtons gefallen oder verwundet, unddie Überlebenden, welche spürten, daß die Katastrophe unmittelbarbevorstand, bemächtigten sich des Rumvorrats, um sich Mut anzu-trinken. In der Garnison verbreiteten sich Gerüchte, 400 indianischeKrieger seien in Erwartung eines Massakers mit vielen Trophäen undSkalps im Anmarsch, um den Franzosen beizustehen. Die Verteidi-ger hatten nicht nur eine demütigende Niederlage, sondern die völli-ge Vernichtung zu gewärtigen.25

    Washingtons Darstellung von den nun folgenden Ereignissen, dieer sein Leben lang wiederholte und revidierte, paßt nicht zur Mehr-zahl der urkundlichen Zeugnisse. Er behauptete, die Verteidiger vonFort Necessity hätten dem Feind schwere Verluste beigebracht –über 300 Tote oder Verwundete bis zum Ende des Tages –, und des-halb habe der französische Kommandeur, Hauptmann de Villiers,beschlossen, einen Waffenstillstand auszurufen und großzügige Ka-pitulationsbedingungen vorzuschlagen. Als Gegenleistung für dasVersprechen, sich für die Dauer eines Jahres aus der Ohio-Regionzurückzuziehen, durften die Verteidiger das Fort ehrenhaft unterMitnahme ihrer Waffen und ihrer Fahnen verlassen. In WashingtonsVersion war die Schlacht um Fort Necessity nicht so sehr eine Nie-derlage wie ein Patt, in dem sich die Virginier und die Briten tapferund beherrscht gehalten hatten, ungeachtet der gegen sie aufgebote-nen überlegenen französischen Streitmacht.26

    Die weniger schöne Wahrheit war, daß Washington seine Solda-ten in Fort Necessity in eine hoffnungslos verwundbare Lage ge-bracht hatte. 100 Mann waren gefallen, die Franzosen hatten nurfünf Mann verloren. Das erbarmungslose Musketenfeuer und dieentsetzlichen Wetterverhältnisse hatten dazu geführt, daß die Vertei-diger in Panik gerieten, und diese Panik verstärkte sich nur noch, alsNachrichten über das bevorstehende Eintreffen indianischer Ver-stärkungen die Aussicht eröffneten, daß die Garnison bis auf den

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  • letzten Mann niedergemetzelt werden würde. (In den Kapitulations-artikeln versprachen die Franzosen, «die Indianer, die bei uns sind,soweit es in unserer Macht stehen wird, im Zaume zu halten».) Be-sonders peinlich war, daß in den Kapitulationsartikeln von der «Er-mordung von M. de Jumonville» gesprochen wurde. WashingtonsUnterschrift unter dem Kapitulationsdokument billigte somit dieSchlußfolgerung, daß er und seine Männer für die Ermordung einesdiplomatischen Emissärs der französischen Krone verantwortlichwaren, und das hieß wiederum, daß die Schuld an den Kampfhand-lungen, die den French and Indian War in Gang gesetzt hatten, ein-deutig bei den Briten lag.27

    Bis zu seinem Tode behauptete Washington, er sei sich nie darüberim klaren gewesen, daß in den Kapitulationsartikeln das Wort «Er-mordung» enthalten gewesen sei, und er machte eine schlechteÜbersetzung aus dem französischen Original sowie das von Regendurchnäßte Dokument für das Mißverständnis verantwortlich; niehätte er sich auf derartige Bedingungen eingelassen, wenn er ihrevolle Bedeutung gekannt hätte. Angesichts der völlig verzweifeltenLage, in der er sich befand, kann man sich nur schwer vorstellen,welche Wahl er hatte, und das ist wahrscheinlich einer der Gründe,weshalb er sich verpflichtet fühlte, jedes Gefühl der Verzweiflung inAbrede zu stellen.

    Den geschlagenen Rest seines Regiments führte er am 4. Juli – aneinem Tag, von dem er sicher nie gedacht hätte, daß er ihn einmalfeiern würde – aus dem Fort heraus. Sein Ruf war beschädigt. Hora-tio Sharpe, der Gouverneur von Maryland, veröffentlichte einen kri-tischen Bericht über Washingtons Vorgehen in Fort Necessity, indem er die Schlacht als Debakel beschrieb und Washington selbst alsgefährliche Mischung aus Unerfahrenheit und Ungestüm. Die Fran-zosen hingegen sahen in ihm mit Blick auf die Rolle, die er bei demJumonville-Massaker gespielt hatte, ein Symbol für den verräteri-schen Charakter der Anglo-Amerikaner. Sie hatten in Fort Necessitysein Tagebuch beschlagnahmt und zitierten daraus den irreführen-den Abschnitt über den Jumonville-Vorfall als Beweis für seine Un-aufrichtigkeit. General Duquesne, der französische Befehlshaber inNordamerika, stellte Washington als die Unehrenhaftigkeit in Per-son hin: «Er lügt sehr viel, um die Ermordung von Sieur de Jumon-ville zu rechtfertigen, die sich gegen ihn gewendet hat und die er aus

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  • Dummheit in seiner Kapitulation eingestanden hat … Es gibt nichtsUnwürdigeres und Niedrigeres, ja Schwärzeres als die Gesinnungund die Denkweise dieses Washington. Es wäre ein Vergnügen ge-wesen, sein empörendes Tagebuch direkt vor seinen Augen zulesen.» Für die Zwecke der französischen Propaganda wurde Wa-shington der ideale Schurke, und als solcher erschien er in einer epi-schen Dichtung, die in Frankreich publiziert wurde und den bösarti-gen Charakter des Feindes aufzeigen sollte.28

    Daheim in Williamsburg machte William Fairfax hingegen seinenEinfluß geltend, um Fort Necessity als edlen, wenngleich vergeb-lichen Versuch hinzustellen, das Eindringen der Franzosen in dieWestgebiete Virginias zu vereiteln. Wenn die Franzosen Washingtonals eine diabolische Gestalt ansahen, war das nicht letzten Endes einegewisse Empfehlung? Als Reaktion auf Druck von Fairfax und Din-widdie erließ das Abgeordnetenhaus im September einen Befehl, indem Washington und eine Reihe seiner Offiziere in Fort Necessity«wegen ihres kürzlich gezeigten mutigen und tapferen Betragens beider Verteidigung ihres Landes» lobend erwähnt wurden. Was immerin der Jumonville-Schlucht geschehen war, wie unbesonnen das ver-gebliche Ausharren in Fort Necessity auch gewesen sein mochte, derjunge Mann war zweifellos tapfer, und da jetzt in der GrenzregionKrieg ausgebrochen war, brauchte Virginia einen Helden, der dieseRolle nun auch überzeugend spielen konnte.29

    Washington selbst war bitter enttäuscht, obgleich man ihn entla-stet hatte: «Was habe ich dadurch gewonnen?» fragte er seinen Bru-der. «Nachdem ich mich mit der Ausrüstung in erhebliche Unkostengestürzt und Vorräte für den Feldzug bereitgestellt hatte, bin ichhinausgezogen, habe Prügel bezogen und alles verloren, kam dannzurück, und mir wurde mein Offizierspatent genommen.» DieseKlage bezog sich auf die Entscheidung der Abgeordneten, keine Er-hebung neuer Steuern für einen größeren Feldzug gegen die Franzo-sen zu beschließen, und das hieß, daß das virginische Regiment inmehrere selbständige Kompanien aufgeteilt wurde, so daß Washing-ton in einem niedrigeren Rang Dienst tun mußte. Das empfand er alsschwere Kränkung. Im Hinblick auf seinen Rang war er empfindlich;da er weder über aristokratische Referenzen verfügte wie Fairfaxnoch über Beziehungen in London wie Dinwiddie, war die militäri-sche Stellung für ihn das wichtigste Zeichen für seinen gesellschaft-

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  • lichen Status in der virginischen Hierarchie. Anstatt die Degradie-rung zu akzeptieren, nahm er lieber seinen Abschied. Das geschah imNovember 1754, obwohl er nach wie vor davon überzeugt war, daßer seinen eigentlichen Beruf als Soldat gefunden hatte. «Meine Nei-gungen», gestand er, «gehen stark in Richtung auf das Waffenhand-werk.» Die Ereignisse sollten beweisen, daß er sich an einem idealenStandort befand, um diesen Neigungen nachzugehen.30

    Das Massaker am Monongahela

    Der Katalysator für diese Ereignisse traf im Februar 1755 in Virginiaein, begleitet von zwei Regimentern britischer Berufssoldaten, einerumfassenden Vollmacht, die oberste Befehlsgewalt über die britischeMilitärpolitik für ganz Nordamerika zu übernehmen, und speziellenBefehlen, durch die Einnahme von Fort Duquesne den Feldzug ge-gen die französische Bedrohung einzuleiten. Sein Name war GeneralEdward Braddock, er war ein Veteran mit 35 Dienstjahren und wuß-te alles, was man über das Drillen von Soldaten in der Garnison wis-sen muß, ein wenig über das Führen von Kriegen auf den Kriegs-schauplätzen Europas und nicht das Geringste über die grausamenVerhältnisse und ebenso grausamen Schlachtfelder von der Art, wieer sie im amerikanischen Landesinnern vorfinden würde.

    Seine Vorgesetzten, die sich in London über Landkarten beugten,hatten seine Mission als triumphalen Zug durch die Ohio-Region be-schrieben, gefolgt von der Einnahme von Fort Duquesne und einemanschließenden Feldzug, mit dem die Kette französischer Forts anden Großen Seen aufgerollt werden sollte, sowie der schließlichenEroberung von ganz Französisch-Kanada. Kein Mensch, der mit denBergen, Flüssen und Indianerstämmen in diesem Gelände auch nurim mindesten vertraut war, hätte derartige Befehle ausgearbeitet.Braddocks Mission war somit von vornherein nicht zu bewältigen.Noch undurchführbarer machte er sie durch seine herrischen Befehlean die Gouverneure und Parlamente von Virginia, Maryland undPennsylvania und die Forderung nach zusätzlichen Mitteln. Damitstieß er sämtliche Kolonialregierungen vor den Kopf. Sein Schicksalbesiegelte er vollends bei einer Begegnung mit einer Abordnung in-dianischer Häuptlinge, als er ihnen erklärte, ihre historischen An-

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  • sprüche auf Land im Ohio-Tal seien wertlos und britische Truppenhätten es nicht nötig, Hilfe von Wilden zu erbitten, was die Mehrzahlder Stämme in der Region dazu veranlaßte, zu den Franzosen überzu-laufen. So wie es Braddock sah, befehligte er die größte und bestaus-gerüstete Streitmacht, die je auf dem nordamerikanischen Kontinentzusammengezogen worden war, so daß ein Sieg unumgänglich wurde.In Wirklichkeit war der Feldzug von Anfang an zum Scheitern verur-teilt.31

    Washington hatte im Frühjahr 1755 von diesen allgemeinerenWidrigkeiten nicht die geringste Ahnung. Er lebte in Mount Ver-non, das er von der Witwe seines Bruders Lawrence gepachtet hatte,und überlegte, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Sein Brief-kopierbuch für diese Zeitspanne ist ein etwas kontaminiertes Doku-ment, weil er später zweimal, in den Jahren 1786–87 und 1797–98,seine Ausdrucksweise noch einmal überarbeitete, um Rechtschrei-bung und Satzbau zu verbessern und seine jugendliche Unentschlos-senheit zu verschleiern. Die modernen Herausgeber haben dieursprünglichen Texte wiederhergestellt und geben daneben die revi-dierten Fassungen wieder. Das ermöglicht uns, seine Verwirrung zudiesem Zeitpunkt nachzuvollziehen und ebenso seine beflissene undpeinlich ehrerbietige Haltung gegenüber der britischen Obrigkeit,die Braddock verkörperte.

    Im März schrieb er etwas gestelzt an Braddocks Stabschef RobertOrme: «Ich muß so freimütig sein zu gestehen, daß ich … den ernst-lichen Wunsch habe, eine gewisse Kenntnis vom Militärberuf zu er-langen, und bin der Ansicht, daß sich keine günstigere Gelegenheitbieten kann, als unter einem Gentleman mit den Fähigkeiten und derErfahrung von General Braddock zu dienen.» Mehr als an der Bil-dungserfahrung, die der Dienst unter einem erfahrenen britischenOffizier versprach, war Washington an der Protektion gelegen, dieBraddocks Status bieten konnte. «Ich habe jetzt eine gute Gelegen-heit», schrieb er seinem Bruder, «und werde sie mir nicht entgehenlassen, eine Bekanntschaft zu machen, die mir in der Folge nützlichsein mag, wenn ich es für lohnend finden werde, mein Glück im Mi-litärfach zu suchen.» Seine Empfindlichkeit in Rangfragen – zuvorwar er Oberst gewesen, jetzt würde er nur Hauptmann sein – ver-flüchtigte sich, als ihm Orme versicherte, Braddock werde sich «sehrüber Ihre Gesellschaft in seiner Familie freuen» – das heißt, als Adju-

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  • tant bei seinem Stab –, «wodurch allen Unzuträglichkeiten dieser Art[Rangfragen] begegnet werden wird». Anfang Mai 1755 schloß ersich in Frederick, Maryland, Braddocks zunehmend wachsendemGefolge von Männern, Pferden und Wagen an.32

    Braddock sah ein, daß er vor einem gewaltigen logistischen Pro-blem stand. Um eine regelrechte Belagerung von Fort Duquesnenach orthodoxen Erfolgskriterien europäischen Stils in die Wege zuleiten, brauchte er eine erdrückende Überlegenheit sowohl an Trup-penstärke als auch an Artillerie. Seine Hauptstreitmacht von über2000 Mann mußte unterwegs verpflegt werden, seine schweren Ka-nonen mußten von Pferden gezogen werden, und alle Lebensmittelmußten auf Wagen befördert werden, wofür zusätzliche Pferde – ins-gesamt etwa 2500 – erforderlich waren und dazu die Trainoffizieresowie die allgegenwärtigen Lagerdirnen, die im Troß folgten. Dieserschwerfällige Zug, der sich über zehn Kilometer dahinzog, mußtesich mehr als 160 Kilometer weit seinen eigenen Weg durch dieWildnis schlagen, durch ein Gebiet, von dem Washington wußte,daß es nahezu unpassierbar war, und von dem selbst Braddock einge-stand, es werde «große Schwierigkeiten verursachen und mich er-heblich aufhalten». Braddocks ausgedehnte militärische Erfahrun-gen schlugen allesamt zu seinem Nachteil aus: er wußte ziemlichgenau, wie man in Europa einen konventionellen Feldzug führenmußte, aber in der Ohio-Region erwiesen sich alle seine Kenntnisseentweder als nicht anwendbar oder als falsch.33

    Nachdem Braddocks Kolonne Mitte Mai in zügigem Tempo los-marschiert war, kam sie im Juni bei Erreichen der Alleghenies bei-nahe zum Stillstand. Washington ahnte um diese Zeit eine Katastro-phe und schrieb an seinen Bruder: «Diese Aussicht wurde schon baldüberschattet und all meine Hoffnungen sehr stark ernüchtert, als ichfeststellte, … daß sie Halt machten, um jeden einzelnen Maulwurfs-hügel einzuebnen und über jeden Bach eine Brücke zu schlagen; wasdazu führte, daß wir in 4 Tagen 12 Meilen zurücklegten.» Nachzüg-ler wurden umgebracht und skalpiert, ein Zeichen dafür, daß die in-dianischen Späher wußten, wo sich die Truppe befand und welchesZiel sie hatte. Washington erklärte Braddock, das schwerfällige Tem-po des Trosses werde faktisch sicherstellen, daß sie in Indianerlandabgeschnitten sein würden, sobald die Schneefälle im Gebirge jeg-liches Vorrücken unmöglich machten. Er empfahl, von der Hauptar-

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  • mee eine «fliegende Kolonne» von 1200 Leichtbewaffneten ab-zutrennen, die in einem raschen Vorstoß auf Fort Duquesnemarschieren sollte. Braddock folgte diesem Rat, und das war wahr-scheinlich einer der Gründe, weshalb sich Washington nie an derBraddock-Schelte beteiligte, die in den späteren Berichten über dasDebakel, zu dem es schließlich kam, betrieben wurde. Gerade als diefliegende Kolonne vorrückte, erkrankte Washington an Dysenterieund mußte bei den Wagen in der Nachhut bleiben. Er rang Brad-dock das Versprechen ab, ihn, sobald sie in Reichweite ihres Ziels ge-langt wären, nach vorn zu bringen, damit er an dem Angriff teilneh-men konnte. Am 8. Juli, als sich die Vorausabteilung anschickte, denMonongahela zu überqueren, ritt Washington, obgleich er noch Fie-ber hatte und infolge von Hämorrhoiden unter Schmerzen litt, dieihn dazu zwangen, sich Kissen auf den Sattel zu legen, an die Spitzezu Braddock.34

    Tags darauf kam es zur Katastrophe. Spätere Berichte über dieSchlacht, in denen Braddock vorgeworfen wird, er habe einen schwe-ren taktischen Fehler begangen, als er seine Truppen so sorglos übermehrere Flüsse führte, sind angezweifelt worden. Braddocks Fehlerwar nicht taktischer, sondern strategischer Natur – er verstand nicht,daß man europäische Regeln der Kriegführung nicht auf Amerikaübertragen konnte, ohne sie den Gegebenheiten entsprechend an-zupassen. Die Kampfhandlungen begannen eher als kriegerischerZufall, nicht als geplanter Hinterhalt. Eine 950 Mann umfassendeAufklärungsabteilung aus Duquesne, zwei Drittel davon Indianer,stolperte am Rand einer Waldlichtung über Braddocks Vorhut,schwärmte sofort im Halbkreis aus und eröffnete das Feuer.

    Die virginischen Soldaten eilten in den Wald, um den Feind ausder Nähe anzugreifen. Die britischen Berufssoldaten bildeten, wiesie es in der Ausbildung gelernt hatten, auf freiem Feld geschlosseneReihen. In den ersten zehn Minuten wurden sie dezimiert, und Panikbrach aus. Trotz heroischer Anstrengungen ihrer Offiziere, die Leutezusammenzuhalten, wurden sie zersprengt. Die virginischen Solda-ten gerieten schließlich in das Kreuzfeuer zwischen den Indianernund den Briten. Ganze Kompanien von Virginiern wurden von briti-schen Musketen niedergemäht. Wie Washington später beschrieb,«betrugen sie sich wie Männer, und sie starben als Soldaten», wäh-rend die Berufssoldaten «einbrachen und davonrannten wie Schafe

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  • vor Jagdhunden». Braddock selbst, der ebenso furchtlos wie eigen-sinnig war, ritt mitten in die Todeszone und wurde schnell niederge-macht; er erlitt Verwundungen an Schulter und Brust.35

    Nachdem Braddock am Boden lag und die anderen Adjutanten ge-fallen waren, fiel es Washington zu, die Reste der Truppe um sich zuscharen. In diesem Chaos sprengte er hin und her, zwei Pferde wur-den ihm unter dem Leib weggeschossen, vier Musketenkugelndurchlöcherten seinen Rock, aber wunderbarerweise trug er keineSchramme davon, während der Tod, wie er es formulierte, «meineGefährten auf allen Seiten niedermachte». Die Ironie war an jenemTage auf dem Schlachtfeld ebenso gegenwärtig wie das Schicksal.Einer der wenigen britischen Offiziere, die die Schlacht unverletztüberlebten, war Hauptmann Thomas Gage, dem Washington dann20 Jahre später als Befehlshaber der britischen Armee vor Boston be-gegnen sollte. In der Nachhut, als Aufseher über die Troßpferde, be-fand sich Daniel Boone, der ebenfalls überlebte, um dann zur ameri-kanischen Legende zu werden.36

    Es war ein völliges Debakel. Von einer Gesamtstreitmacht von1300 Mann hatten die Briten und Amerikaner mehr als 900 Gefalle-ne zu beklagen, während auf seiten der Franzosen und Indianer 23Mann gefallen und 16 verwundet waren. Sein Leben lang standenWashington die Bilder der Toten und die Schreie der Verwundeten,die skalpiert wurden, vor Augen. Braddock starb drei Tage später aufdem Rückzug; Washington begrub ihn mitten auf der Straße und ließdann Wagen über das Grab fahren, um zu verhindern, daß derLeichnam geschändet und sein Skalp als Trophäe erbeutet würde.Nachdem er in Sicherheit gelangt war, schrieb Washington an seineMutter und an seinen Bruder, um ihnen zu versichern, daß er am Le-ben sei: «Da ich … einen ausführlichen Bericht über meinen Todund meine letzten Worte gehört habe, ergreife ich diese erste sichbietende Gelegenheit, um dem ersteren zu widersprechen und euchzu versichern, daß ich letztere bislang noch nicht abgefaßt habe.»37

    Dieses Zeugnis eines tapferen Understatements verhüllte die beiWashington vorherrschende Reaktion auf die Niederlage, die an-fangs von der Fassungslosigkeit gezeichnet war, daß eine große undgut ausgerüstete Streitmacht völlig vernichtet werden konnte. Din-widdie sah die Sache genauso und gestand: «Es erscheint mir wie einTraum, wenn ich an die Truppen und den Artillerie-Train denke, die

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  • er mitführte.» Je länger aber Washington darüber nachdachte, destoklarer wurde ihm, daß gerade die Größe der Braddockschen Streit-macht mitsamt ihrem schwerfälligen Artillerie-Train, der sichschließlich als nutzlos erwies, in Wirklichkeit ein Grund für das Fias-ko war. Braddock selbst konnte man keinen persönlichen Vorwurfmachen, schuld war vielmehr die gesamte Art der Kriegführung, dieer im Kopf mit sich herumtrug und die in jenem fremden Land«hinter den Bergen», in dem die Waldkämpfertaktik der Indianerherrschte, nicht funktionieren konnte. Das Verhältnis zwischen Offi-zieren und Mannschaften mußte sich im Grenzland verändern, denn«in dieser Art von Kämpfen, in denen sie zerstreut sind, hat jedereinzelne von ihnen … größere Freiheit, sich schlecht zu benehmen,als wenn sie regelmäßig und im Verbund unter den Augen ihrer vor-gesetzten Offiziere aufgereiht wären». Einstweilen würde angesichtsder offenkundigen Tatsache, daß der größte Teil der Indianerstämmemit den Franzosen verbündet war, jeder konventionelle Feldzug, dernach Braddockschem Modell in der Ohio-Region unternommenwürde, dasselbe Schicksal erleiden. Das Massaker am Monongahelawar eine kostspielige und schmerzliche Lektion, aber Washingtonlernte sie gründlich, und das sollte von nun an für alle wesentlichenLektionen gelten, die er in sich aufnahm.38

    Was seinen Ruf betraf, so ging er zum zweiten Mal aus einer kata-strophalen Niederlage mit verbessertem Status hervor. Niemand gabihm die Schuld an der Tragödie – Braddock war die naheliegendeund leicht zu treffende Zielscheibe –, und man nannte ihn jetzt den«Helden vom Monongahela», weil er die Überlebenden in geordne-tem Rückzug um sich geschart hatte. Es war anscheinend seine Spe-zialität, in hoffnungslosen Fällen Mut an den Tag zu legen, oder erhatte sich, wie es in einem Zeitungsbericht formuliert wurde, «einenhohen Ruf wegen seiner militärischen Tüchtigkeit, Integrität undTapferkeit [erworben]; wenngleich der Erfolg seine Unternehmun-gen nicht immer begleitet hat». Es war – zum ersten Mal – sogar da-von die Rede, daß seine bemerkenswerte Fähigkeit zum Ausharrenihn zu einem Mann des Schicksals gemacht habe. «Ich darf das Pub-likum», schrieb Reverend Samuel Davies, «auf den heldenhaftenjungen Oberst Washington hinweisen, von dem ich nur hoffen kann,daß ihn die Vorsehung bislang in so auffälliger Weise für einen wich-tigen Dienst an seinem Lande behütet hat.» Das erwies sich später

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  • als Vorahnung, einstweilen aber war damit die wichtigste Eigenschaftdes jungen Mannes hervorgehoben, nämlich das Talent, schlicht undeinfach zu überleben.39

    Das Regiment

    Im August 1755 ließ Washingtons zunehmende Berühmtheit ihnzum naheliegenden Kandidaten für das Kommando über das neuge-schaffene virginische Regiment werden. In den folgenden dreiein-halb Jahren rekrutierte, exerzierte und führte er eine Truppe, diedann zu einer Eliteeinheit von zeitweise mehr als 1000 Mann wurdeund in der sich die auf peinliche Sauberkeit bedachte Disziplin briti-scher Berufssoldaten mit dem taktischen Geschick und Können in-dianischer Krieger verband. Während dieser Zeit verlagerte sich derHauptschauplatz des nunmehr offiziell erklärten French and IndianWar nordwärts zu den Großen Seen, nach Neuengland und Kanada,wodurch das virginische Grenzgebiet zu einem bloßen Nebenkriegs-schauplatz wurde und Washington selbst zum «vergessenen Mann aneiner vergessenen Front», wie ein Biograph es genannt hat.40

    Wenn er aber, aus einer allgemeineren strategischen und histori-schen Perspektive betrachtet, in Vergessenheit geraten war, erwiessich doch die Erfahrung als Oberbefehlshaber der virginischen Ar-mee für ihn als unmittelbarste und intensivste Schulung in militäri-scher Führung, ehe er 20 Jahre später den Oberbefehl über die Kon-tinentalarmee übernahm. Außerdem werden – teils deshalb, weil diehistorischen Zeugnisse in dieser Phase zahlreicher zu werden begin-nen, und teils, weil der junge Mann älter wurde – die bloßen Eindrük-ke, die wir vorher hatten, von deutlicheren Bildern abgelöst, auchwenn die Konturen noch immer unscharf sind. Schließlich war dasvirginische Regiment selbst in hohem Maße seine eigene Schöpfung,die erste Institution, über die er Exekutivgewalt ausübte, und es warin diesem Sinne eine Projektion seiner sich entwickelnden Überzeu-gungen sowohl als Offizier als auch als aufstrebender Gentleman.

    Von Anfang bis Ende waren ihm, so klagte er, wie er es dann späterwährend des gesamten Unabhängigkeitskrieges tat, Verantwortlich-keiten übertragen worden, ohne daß er über die Mittel verfügte, siezu erfüllen. «Ich bin in unserem kalten und unfruchtbaren Grenzland

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