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Journal Journal 2 20. April 2013 Auswanderer Wenn Jim Nies- sen sei- ne deutschen Vorfahren besuchen möchte, dann fährt er in den Nordwesten der Stadt Philadelphia. Dort stehen auf einer fußballfeldgroßen Wiese Dutzende Grabstei- ne – auf ihnen sind fast nur deutsche Namen zu le- sen. „Hier ruhet in Gott“, heißt es auf der Inschrift eines Grabsteins. In der Mitte des St. Mary's Ce- metery in Roxborough steht ein schlichter, weißer, rechteckiger, oben abgerundeter Stein. In kaum noch lesbaren Buchstaben steht dort: „Father and Mother, Albert Serwazi, Anna Serwazi“. Die Aus- wanderer aus Pünderich an der Mosel haben hier ihren Frieden gefunden. Es sind die Ururgroßeltern des New Yorkers. Nur zwei Schritte ent- fernt ist das Grab ihres ältesten Sohns Peter Serwazi: ein großes ver- ziertes Kreuz. „Ist das nicht ein wunderbares Mo- nument“, sagt Jim Niessen. Direkt davor steht der Grabstein der ältesten Serwazi-Tochter Bar- bara und ihres ebenfalls aus Pünderich stam- menden Ehemanns Martin Franzen. Einige Schritte weiter ruhen unter einem schwarzen Gedenkstein die zweitälteste Serwazi-Tochter Gertrud und ihr ebenfalls aus Pünderich aus- gewanderter Ehemann Peter Rockenbach. Jim Niessen, der im New Yorker Stadtteil Queens lebt und als Bibliothekar an der re- nommierten Rutgers University in New Brunswick (New Jersey) arbeitet, hat zu- sammen mit seinem Bruder Len mehrere Bü- cher über die Geschichte seiner Familie ge- schrieben. Allein anhand der Gräber auf diesem Friedhof kann Jim vieles aus der Geschichte seiner Vorfahren erzählen. Denn es ist die Grabstätte der katholi- schen St.-Mary's-Kirche in Manayunk, die 1849 gegründet wurde. Fast alle Mitglie- der waren damals Deutsche. „Die Messe wurde natürlich auf Latein gehalten, aber die Gesänge, die Beichte, die Glaubens- bekenntnisse und Gebete wurden auf Deutsch gesprochen“, berichtet Jim. Doch auch die Gräber können ihm nicht erklären, wie seine Urahnen die beschwerliche Reise in die Neue Welt zusammen mit acht Kindern überleb- ten. „Es gibt eine Lücke zwi- schen 1857 und April 1859, als Albert Serwazi in Manayunk schließlich einen Antrag auf Einbürgerung in die USA stellte.“ Über welchen Hafen sind die Ser- wazis ausgewandert? Haben sie den weiten Weg nach Norddeutschland gewählt, nach Hamburg oder gar Bremerhaven? Oder sind sie wie viele Auswan- derer zuvor über Rotterdam oder Le Havre und dann Liverpool nach New York gereist? Und wo erreichten sie Amerika? In Castle Garden, am Südzipfel Man- hattans? Oder reisten sie direkt nach Philadelphia, nach Manayunk, das am Delaware Fluss liegt? Alle Re- cherchen zu dieser Frage blieben er- folglos. Auch zu den Rockenbachs und Franzens aus Pünderich fanden sich in den Auswanderer- und Schifffahrtsregistern in Bremerhaven und Hamburg keine Spuren. Doch Anfang der 1860er-Jahre wurden die Pünde- richer zu Bürgern von Manayunk, wie der Einbürge- rungsantrag Albert Serwazis und seine Heiratsurkunde belegen. 1854 war der Ort Stadtteil von Philadelphia geworden. Bereits in den 1830er-Jahren hatte Manay- unk viele Einwanderer aus Deutschland und anderen europäischen Staaten angezogen, weil es dort eine wachsende Textilindustrie gab. Eine der ersten Grup- pen, die nach Manayunk kam, waren Auswanderer aus dem Schwarzwald. Auf sie folgten die Moselaner, denen es wieder andere gleich taten. „Es war ein klas- sischer Fall einer Kettenauswanderung“, sagt Jim Nies- sen. Im Landeshauptarchiv Koblenz ist nachzulesen, dass der Onkel der 1852 aus Pünderich ausgewander- ten Brüder Rockenbach bereits seit Längerem in einer Seidenfabrik in Philadelphia arbeitete. Der Onkel wünschte, dass einer der Söhne nach Amerika kommt, „dass er dort sein gutes Unterkommen finden würde“. Jakob Rockenbach, 19 Jahre, wurde ausgewählt, weil er „für den Militärdienst zu schwach zu sein scheint“, heißt es im Auswanderungsantrag. Peter Serwazi, der älteste Sohn von Al- bert und Anna Maria, heiratete am 15. August 1864 eine Frau aus Schutter- wald im Schwarzwald: Teresa Roth- mann, 1857 nach Amerika ausgewan- dert. Natürlich gaben sie sich das Jawort in der St-Mary's-Kirche in Manayunk. Das indianische Wort bedeutet übrigens „wo wir zum Trinken hingehen“. Es wurde das Motto der ersten Auswanderergeneration der Serwazis in Phila- delphia. Denn Albert Serwazi und sein ältester Sohn Peter suchten sich keine Arbeit in der Textilindustrie – sie machten sich selbstständig. Albert und Anna Maria Serwazi firmierten im Telefon- buch von 1865 als Hotelbe- sitzer in Manay- unk. Fünf Jahre später ist er Be- sitzer eines „Lager Beer Saloon“ einer Kneipe, würde man heute sagen. 1888 stirbt Albert an chronischer Gastritis, seine Frau Anna drei Jahre später an Herzversagen. Auf ihren ältesten Sohn Peter wartete drei Jahre nach der Auswanderung eine der größten Bewäh- rungsproben seines jungen Lebens: Nachdem er zu- nächst im Hotel seines Vaters gearbeitet hatte, meldete er sich 1861 als 23-Jähriger freiwillig für den Dienst als Soldat in der Armee der Unionis- ten im amerikanischen Bürger- krieg. Zusammen mit seinem erst 16-jährigen Bruder Joseph kämpfte er als Sergeant in den Reihen der Nordstaaten. Jim Nies- sen will herausgefunden haben, dass sehr viele deutsche Einwan- derer aus Manayunk, so viele wie aus keiner anderen amerikani- schen Kleinstadt, sich freiwillig für den Militärdienst im Bürger- krieg meldeten – wohl um so ih- ren Patriotismus und ihre Zuge- hörigkeit zur neuen Heimat zu demonstrieren. Die Ser- wazi-Brüder waren damals noch keine Amerikaner, sondern Deutsche, besser gesagt Preußen. Vielen, oft armen Einwanderern ging es aber nicht nur um patri- otische Gefühle, sondern einfach darum, dass sie durch den Kriegseinsatz gutes Geld verdienen konnten. Joseph und Peter waren Teil des 27. Infanteriere- giments von Pennsylvania, eines von vier rein deut- schen Truppenteilen aus Philadelphia. Sie kämpften in Gefechten, die zu Legenden der amerikanischen Geschichte geworden sind und noch heute auf den Originalschauplätzen nachgestellt werden: die Schlachten von Bull Run und Gettysburg. Auf einer Ta- fel der Gedenkstätte von Gettysburg findet sich neben vielen deutschen Namen auch Sergeant Peter Serwazi. Im Bürgerkrieg erlebten die Serwazi-Brüder ihre Taufe als amerikanische Staatsbürger. Jim Nies- sen erzählt es so: Zu Beginn des Krieges waren die deutschen Regimenter zutiefst germanisiert. Die Soldaten sprachen un- tereinander Deutsch, die Befehlsbücher waren in Deutsch geschrieben. Und die Offiziere ermutigten ih- re Soldaten sogar dazu, die Sitten und Gebräuche aus ihrer Heimat zu pflegen. Zu den Mahlzeiten gab es Wurst, Sauerkraut und deutsches Bier. Typisch ame- rikanisches Weißbrot lehnten die Soldaten strikt ab. Die Musikgruppen der Regimenter spielten deutsche Marschmusik. Nicht deutsche Beobachter waren völ- lig konsterniert, weil die Soldaten ständig sangen – so- gar auf dem Weg in die Schlacht und bis hi- nein in den Morgen. Im Brief eines deutschen Einwanderers aus Philadel- phia heißt es: „Es sind immer die Deutschen, die beson- ders mutig sind und am besten kämpfen.“ In der Tat waren die Deutschen durchschnittlich älter als die amerikanischen Soldaten und durch den Militärdienst in ihrer Heimat oft deutlich erfahrener. Ihre Offiziere wie Franz Sigel oder der bekannte Auswanderer und spätere Senator von Missouri, Carl Schurz, waren le- gendäre Militärführer auch au- ßerhalb der deutschen Reihen. Doch all dies änderte sich, als vor allem deutsche Regimenter während der Schlacht von Chan- cellorsville durch die Armee der Südstaaten besiegt und in die Flucht geschlagen wurden. Zwar konnten die Konföderierten durch das 27. Regiment der Serwazi- Brüder wieder zurückgedrängt werden. Doch in der Folge machte sich die amerikanische Presse um die New York Times über die „fly- ing Dutchmen“ – wie sie die feigen, flüchtenden Deut- schen spaßeshalber nannten – lustig. Danach war in den deutschen Regimentern Schluss mit lustig. Sigel nahm seinen Hut, Schurz wurde degradiert. Deutsch- sprachige Musikgruppen und Bierfässer verschwan- den, Englisch ersetzte Deutsch in den Regimentern. Zwar echauffierte sich die deutsche Presse noch Jahre später über diese Demütigung. Doch die Ser- wazi-Brüder zogen ihre Konsequenzen. Joseph und Peter wurden kurz nach dem Bürgerkrieg amerikani- sche Staatsbürger. Allerdings lebte ihre deutsche Kul- tur noch lange fort. So heirateten die Nachkommen der Auswanderer weiter deutsche Frauen, Joseph Ser- wazi 1867 die Deutsche Theresa Weinmann. Und selbst die dritte Serwazi-Generation nach der Aus- wanderung blieb dabei: Das achte von 13 Kindern, die Peter Serwazis Frau Theresa zur Welt brachte, ihr Name war Theresa Helen Serwazi, heiratete im Jahr 1907 einen gewissen Emil Niessen. Der kam vom Nie- derrhein – wie einst der Urvater der Deutschen in Ame- rika, Franz Daniel Pastorius. Er verzauberte die En- kelin des Pündericher Auswanderers Albert Serwazi mit süßen Gedichten. „Dabei mischte er ab und zu ein deutsches Wort in seine sehr guten englischen Sätze“, sagt Jim Niessen in geschliffenem Englisch und schmunzelt über seinen Großvater. Als er vor dem Grab seines Urahnen Albert Serwa- zi steht, erzählt er in fast akzentfreiem Deutsch, womit dessen Söhne Peter und Joseph, die Bürgerkriegshel- den, berühmt wurden. Sie hatten eine Flaschenfabrik in Manayunk, da „wo wir zum Trinken hingehen“. „Es sind noch viele Flaschen der Firma Serwazi im Bo- den von Manayunk zu finden.“ Jim Niessen hat noch viel auszugraben – hier in der neuen Hei- mat seiner Vorfahren aus Deutschland. CHRISTIAN KUNST „Liebe macht alles leicht. Wir breiten nur den Mantel aus. Der soll uns durch die Lufte tragen. Und sind wir leicht, so geht es schnell hinauf. Und gratulieren uns, zum neuen Lebenslauf.“ Liebesgedicht von Emil Niessen Die Neue Welt Wohin sie auswanderten New York und dann Philadelphia: Für viele deutsche Auswanderer waren das auch im 19. Jahrhundert noch die ersten Stationen – wie für die Serwazis aus Pünderich. So sieht das Haus der Serwazis in Pünderich heute aus. So sieht Philadelphias Stadtteil Manayunk heute aus. Foto: Kunst Auch der Pündericher Auswanderer Peter Ro- ckenbach heiratete eine Serwazi, Gertrude – hier mit Enkel George Gibson. Foto: Archiv Niessen Auch die Franzens aus Pünderich haben ein Grab auf dem Friedhof. Albert Serwazis älteste Tochter Barbara hatte den Auswanderer Martin Franzen geheiratet. Manayunk: In diesem Block hatte Albert Serwazi sein Hotel. Foto: Niessen Pünderich im Jahr 1899: Rechts die Ackerflächen, links Marienburg und Weinberge Fotos (2): Archiv Schneiders Zu Besuch bei seinen Vorfahren: Jim Niessen besichtigt den Grabstein des Pünderichers Albert Serwazi in Philadelphia. Dahinter steht das Grab von Alberts Sohn Peter. Fotos (2): Kunst

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JournalJournal2 20. April 2013 Auswanderer

Wenn Jim Nies-sen sei- ne deutschen Vorfahren

besuchen möchte, dann fährt er in denNordwesten der Stadt Philadelphia. Dort stehen aufeiner fußballfeldgroßen Wiese Dutzende Grabstei-ne – auf ihnen sind fast nur deutsche Namen zu le-sen. „Hier ruhet in Gott“, heißt es auf der Inschrifteines Grabsteins. In der Mitte des St. Mary's Ce-metery in Roxborough steht ein schlichter, weißer,rechteckiger, oben abgerundeter Stein. In kaumnoch lesbaren Buchstaben steht dort: „Father andMother, Albert Serwazi, Anna Serwazi“. Die Aus-wanderer aus Pünderich an der Mosel haben hierihren Frieden gefunden. Es sinddie Ururgroßeltern des NewYorkers. Nur zwei Schritte ent-fernt ist das Grab ihres ältestenSohns Peter Serwazi: ein großes ver-ziertes Kreuz. „Ist das nicht ein wunderbares Mo-nument“, sagt Jim Niessen. Direkt davor stehtder Grabstein der ältesten Serwazi-Tochter Bar-bara und ihres ebenfalls aus Pünderich stam-menden Ehemanns Martin Franzen. EinigeSchritte weiter ruhen unter einem schwarzenGedenkstein die zweitälteste Serwazi-TochterGertrud und ihr ebenfalls aus Pünderich aus-gewanderter Ehemann Peter Rockenbach.

Jim Niessen, der im New Yorker StadtteilQueens lebt und als Bibliothekar an der re-nommierten Rutgers University in NewBrunswick (New Jersey) arbeitet, hat zu-sammen mit seinem Bruder Len mehrere Bü-cher über die Geschichte seiner Familie ge-schrieben. Allein anhand der Gräber aufdiesem Friedhof kann Jim vieles aus derGeschichte seiner Vorfahren erzählen.Denn es ist die Grabstätte der katholi-schen St.-Mary's-Kirche in Manayunk, die1849 gegründet wurde. Fast alle Mitglie-der waren damals Deutsche. „Die Messewurde natürlich auf Latein gehalten, aberdie Gesänge, die Beichte, die Glaubens-bekenntnisse und Gebete wurden aufDeutsch gesprochen“, berichtet Jim.

Doch auch die Gräber können ihmnicht erklären, wie seine Urahnen diebeschwerliche Reise in die Neue Welt

zusammen mit acht Kindern überleb-ten. „Es gibt eine Lücke zwi-

schen 1857 und April1859, als

AlbertSerwazi in Manayunkschließlich einen Antrag aufEinbürgerung in die USA stellte.“Über welchen Hafen sind die Ser-wazis ausgewandert? Haben sie den weiten Wegnach Norddeutschland gewählt, nach Hamburg odergar Bremerhaven? Oder sind sie wie viele Auswan-derer zuvor über Rotterdam oder Le Havre und dannLiverpool nach New York gereist? Und wo erreichtensie Amerika? In Castle Garden, am Südzipfel Man-hattans? Oder reisten sie direkt nach Philadelphia,nach Manayunk, das am Delaware Fluss liegt? Alle Re-

cherchen zu dieser Frage blieben er-folglos. Auch zu den Rockenbachsund Franzens aus Pünderich fandensich in den Auswanderer- und

Schifffahrtsregistern in Bremerhavenund Hamburg keine Spuren.

Doch Anfang der 1860er-Jahre wurden die Pünde-richer zu Bürgern von Manayunk, wie der Einbürge-rungsantrag Albert Serwazis und seine Heiratsurkundebelegen. 1854 war der Ort Stadtteil von Philadelphiageworden. Bereits in den 1830er-Jahren hatte Manay-unk viele Einwanderer aus Deutschland und andereneuropäischen Staaten angezogen, weil es dort einewachsende Textilindustrie gab. Eine der ersten Grup-pen, die nach Manayunk kam, waren Auswandereraus dem Schwarzwald. Auf sie folgten die Moselaner,denen es wieder andere gleich taten. „Es war ein klas-sischer Fall einer Kettenauswanderung“, sagt Jim Nies-sen. Im Landeshauptarchiv Koblenz ist nachzulesen,dass der Onkel der 1852 aus Pünderich ausgewander-ten Brüder Rockenbach bereits seit Längerem in einerSeidenfabrik in Philadelphia arbeitete. Der Onkelwünschte, dass einer der Söhne nach Amerika kommt,„dass er dort sein gutes Unterkommen finden würde“.Jakob Rockenbach, 19 Jahre, wurde ausgewählt, weiler „für den Militärdienst zu schwach zu sein scheint“,heißt es im Auswanderungsantrag.

Peter Serwazi, der älteste Sohn von Al-bert und Anna Maria, heiratete am15. August 1864 eine Frau aus Schutter-wald im Schwarzwald: Teresa Roth-mann, 1857 nach Amerika ausgewan-dert. Natürlich gaben sie sich das Jawortin der St-Mary's-Kirche in Manayunk.Das indianische Wort bedeutet übrigens „wowir zum Trinken hingehen“. Es wurde das Motto derersten Auswanderergeneration der Serwazis in Phila-delphia. Denn Albert Serwazi und sein ältester SohnPeter suchten sich keine Arbeit in der Textilindustrie –

sie machten sich selbstständig. Albert und AnnaMaria Serwazi firmierten im Telefon-

buch von 1865 als Hotelbe-sitzer in Manay-

unk.

Fünf Jahrespäter ist er Be-sitzer eines „Lager Beer Saloon“– einer Kneipe, würde man heutesagen. 1888 stirbt Albert an chronischer Gastritis,seine Frau Anna drei Jahre später an Herzversagen.

Auf ihren ältesten Sohn Peter wartete drei Jahrenach der Auswanderung eine der größten Bewäh-rungsproben seines jungen Lebens: Nachdem er zu-nächst im Hotel seines Vaters gearbeitet hatte, meldeteer sich 1861 als 23-Jähriger freiwillig für den Dienst alsSoldat in der Armee der Unionis-ten im amerikanischen Bürger-krieg. Zusammen mit seinem erst16-jährigen Bruder Josephkämpfte er als Sergeant in denReihen der Nordstaaten. Jim Nies-sen will herausgefunden haben,dass sehr viele deutsche Einwan-derer aus Manayunk, so viele wieaus keiner anderen amerikani-schen Kleinstadt, sich freiwilligfür den Militärdienst im Bürger-krieg meldeten – wohl um so ih-ren Patriotismus und ihre Zuge-hörigkeit zur neuen Heimat zu demonstrieren. Die Ser-wazi-Brüder waren damals noch keine Amerikaner,sondern Deutsche, besser gesagt Preußen. Vielen, oftarmen Einwanderern ging es aber nicht nur um patri-otische Gefühle, sondern einfach darum, dass sie durchden Kriegseinsatz gutes Geld verdienen konnten.

Joseph und Peter waren Teil des 27. Infanteriere-giments von Pennsylvania, eines von vier rein deut-schen Truppenteilen aus Philadelphia. Sie kämpftenin Gefechten, die zu Legenden der amerikanischenGeschichte geworden sind und noch heute auf denOriginalschauplätzen nachgestellt werden: dieSchlachten von Bull Run und Gettysburg. Auf einer Ta-

fel der Gedenkstätte von Gettysburg findetsich neben vielen deutschen Namen auchSergeant Peter Serwazi. Im Bürgerkriegerlebten die Serwazi-Brüder ihre Taufeals amerikanische Staatsbürger. Jim Nies-sen erzählt es so: Zu Beginn des Kriegeswaren die deutschen Regimenter zutiefstgermanisiert. Die Soldaten sprachen un-

tereinander Deutsch, die Befehlsbücher waren inDeutsch geschrieben. Und die Offiziere ermutigten ih-re Soldaten sogar dazu, die Sitten und Gebräuche ausihrer Heimat zu pflegen. Zu den Mahlzeiten gab esWurst, Sauerkraut und deutsches Bier. Typisch ame-rikanisches Weißbrot lehnten die Soldaten strikt ab.Die Musikgruppen der Regimenter spielten deutscheMarschmusik. Nicht deutsche Beobachter waren völ-lig konsterniert, weil die Soldaten ständig sangen – so-

gar auf dem Weg in die Schlacht und bis hi-nein in den Morgen. Im Brief eines

deutschen Einwanderersaus Philadel-

phia heißt es: „Essind immer die Deutschen, die beson-ders mutig sind und am besten kämpfen.“ In der Tatwaren die Deutschen durchschnittlich älter als dieamerikanischen Soldaten und durch den Militärdienstin ihrer Heimat oft deutlich erfahrener. Ihre Offizierewie Franz Sigel oder der bekannte Auswanderer undspätere Senator von Missouri, Carl Schurz, waren le-

gendäre Militärführer auch au-ßerhalb der deutschen Reihen.

Doch all dies änderte sich, alsvor allem deutsche Regimenterwährend der Schlacht von Chan-cellorsville durch die Armee derSüdstaaten besiegt und in dieFlucht geschlagen wurden. Zwarkonnten die Konföderierten durchdas 27. Regiment der Serwazi-Brüder wieder zurückgedrängtwerden. Doch in der Folge machtesich die amerikanische Presse umdie New York Times über die „fly-

ing Dutchmen“ – wie sie die feigen, flüchtenden Deut-schen spaßeshalber nannten – lustig. Danach war inden deutschen Regimentern Schluss mit lustig. Sigelnahm seinen Hut, Schurz wurde degradiert. Deutsch-sprachige Musikgruppen und Bierfässer verschwan-den, Englisch ersetzte Deutsch in den Regimentern.

Zwar echauffierte sich die deutsche Presse nochJahre später über diese Demütigung. Doch die Ser-wazi-Brüder zogen ihre Konsequenzen. Joseph undPeter wurden kurz nach dem Bürgerkrieg amerikani-sche Staatsbürger. Allerdings lebte ihre deutsche Kul-tur noch lange fort. So heirateten die Nachkommender Auswanderer weiter deutsche Frauen, Joseph Ser-wazi 1867 die Deutsche Theresa Weinmann. Undselbst die dritte Serwazi-Generation nach der Aus-wanderung blieb dabei: Das achte von 13 Kindern,die Peter Serwazis Frau Theresa zur Welt brachte, ihrName war Theresa Helen Serwazi, heiratete im Jahr1907 einen gewissen Emil Niessen. Der kam vom Nie-derrhein – wie einst der Urvater der Deutschen in Ame-rika, Franz Daniel Pastorius. Er verzauberte die En-kelin des Pündericher Auswanderers Albert Serwazimit süßen Gedichten. „Dabei mischte er ab und zu eindeutsches Wort in seine sehr guten englischen Sätze“,sagt Jim Niessen in geschliffenem Englisch undschmunzelt über seinen Großvater.

Als er vor dem Grab seines Urahnen Albert Serwa-zi steht, erzählt er in fast akzentfreiem Deutsch, womitdessen Söhne Peter und Joseph, die Bürgerkriegshel-den, berühmt wurden. Sie hatten eine Flaschenfabrikin Manayunk, da „wo wir zum Trinken hingehen“.„Es sind noch viele Flaschen der Firma Serwazi im Bo-den von Manayunk zu finden.“ Jim Niessen hatnoch viel auszugraben – hier in der neuen Hei-mat seiner Vorfahren aus Deutschland.

CHRISTIAN KUNST

„Liebe macht alles leicht.Wir breiten nur den Mantel aus.Der soll uns durch die Lufte tragen.Und sind wir leicht, so geht esschnell hinauf. Und gratulierenuns, zum neuen Lebenslauf.“

Liebesgedicht von Emil Niessen

Die Neue Welt

Wohin sie auswanderten

New York und dann Philadelphia:Für viele deutsche Auswandererwaren das auch im 19. Jahrhundertnoch die ersten Stationen – wie fürdie Serwazis aus Pünderich.

So sieht das Haus der Serwazis inPünderich heute aus.

So sieht Philadelphias StadtteilManayunk heute aus. Foto: Kunst

Auch der Pündericher Auswanderer Peter Ro-ckenbach heiratete eine Serwazi, Gertrude –hier mit Enkel George Gibson. Foto: Archiv Niessen

Auch die Franzens aus Pünderich haben ein Grab aufdem Friedhof. Albert Serwazis älteste Tochter Barbarahatte den Auswanderer Martin Franzen geheiratet.

Manayunk: In diesem Block hatteAlbert Serwazi sein Hotel. Foto: Niessen

Pünderich im Jahr 1899: Rechts die Ackerflächen,links Marienburg und Weinberge Fotos (2): Archiv Schneiders

Zu Besuch bei seinen Vorfahren: Jim Niessen besichtigt denGrabstein des Pünderichers Albert Serwazi in Philadelphia.Dahinter steht das Grab von Alberts Sohn Peter. Fotos (2): Kunst

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JournalJournalAuswanderer 20. April 2013 3

Als die Deutschen weiterzogen

Die Spuren der Deutschen im She-nandoah-Tal im US-Bundesstaat Vir-ginia sind verwischt. Das spürt manauch an diesem Abend in dem Res-taurant Capital Alehouse mitten in der40 000-Einwohner-Stadt Harrison-burg. Zwar stehen auf der Oktober-festkarte bayerische Gerichte, und aufdem T-Shirt der Bedienung ist „gotSchnitzel?“ zu lesen. Doch all dies istnicht mehr als amerikanischeDeutschland-Folklore. Wer zu denSpuren der Deutschen vordringen will,der muss mit Menschen wie dem Ge-schichtsprofessor Chris Arndt von derJames Madison Universität oder Eng-lischprofessor Scott Suter vomBridgewater College sprechen. BeideAmerikaner stoßen mit einem deut-schen Bier an. Sie lieben Deutschland

– aber nicht wegen der Folklore, son-dern weil es die Heimat ihrer Vorfah-ren ist.

Arndts Großmutter kam aus Flens-burg, der Großvater aus Kiel. 1925lernten sie sich auf einer Fähre zurNordseeinsel Föhr kennen. Ein Jahrspäter heirateten sie. Noch bevor dieGroße Depression Deutschland amEnde des Jahrzehnts erschütterte,wanderten sie 1929 in die USA aus.Sie folgten – wie so viele andere Deut-sche – der Empfehlung eines Freun-des, der schon Jahre zuvor emigriertwar. Sie ließen sich nahe New Bruns-

wick im Bundesstaat New Jersey nie-der. Großvater Arndt arbeitete als Fri-seur, in seiner Freizeit ging er zu denPicknicks und in die Biergärten seinerdeutschen Landsleute. Erst als sich un-ter die Feiernden immer öfter Nazi-Sympathisanten mischten, mieden dieArndts die Treffen. Denn GroßvaterArndt war ein links eingestellter Ar-beiter, Unterstützer des US-Präsiden-ten Franklin D. Roosevelt, der Ameri-ka aus der Großen Depression half.

Doch Arndt senior war auch einDeutscher – durch und durch. SeinSohn, Chris Arndts Vater, im Septem-ber 1929 in den USA geboren, lernteEnglisch auf der Straße. „Erst dort hater gemerkt, dass man in diesem LandEnglisch spricht.“ Der von Deutsch-land entfachte Zweite Weltkrieg und

der Holocaustzwangen jedochauch die Großel-terngenerationdazu, sich gegendie Amerikani-sierung nicht län-

ger zu wehren. Alles Deutsche warnicht mehr gern gesehen.

Eine Generation später sagt ChrisArndt, der vor einigen Jahren in dasShenandoah-Tal in Virginia gezogenist: „Ich bin stolz auf meine deutscheHerkunft. Aber ich bin Amerikaner.Wissen Sie, die Deutschamerikanersind die größte Minderheit in denUSA, aber sie sind eine schweigendeMehrheit, die am meisten amerikani-sierte Gruppe.“

Scott Suter ist ein typischer Vertre-ter dieser Gruppe. Fast schüchtern er-zählt er von seinem Vorfahren aus

Steeg, heute ein Ortsteil von Bacha-rach, der Stadt am Rhein. Es ist Jo-hann Matthias Hütwohl, 1711 in Steeggeboren, 1748 nach Amerika ausge-wandert. Er ist quasi der Urvater derriesigen Heatwole-Familie, die in denJahrhunderten nach der Auswande-rung aus Deutschland etliche be-kannte Politiker und Persönlichkeitenhervorgebracht hat. Kaum eine Aus-wanderergeschichte aus dem18. Jahrhundert ist so gut dokumen-tiert wie die des Deutschen aus Steeg.Wer sich auf Ahnenforschungsporta-len wie Ancestry umschaut, findetzahlreiche Hinweiseauf ihn.

Als Johann Mat-thias Hütwohl am15. September 1748an Bord des Schiffes„Zwei Brüder“ inden Hafen von Phi-ladelphia einfuhr,kam er als gebro-chener Mann. Dennseine Frau AnnaChristina sowie sei-ne beiden TöchterChristine Elisabethund Anna Susannahatten die mehr alseinen Monat dau-ernde Überfahrt vonRotterdam überPortsmouth in Eng-land nach Philadel-phia nicht überlebt.Dabei war dies imVergleich zu den oft12- bis 24-wöchigenSchiffsreisen anderer Auswanderer ei-ne kurze Zeit auf dem Atlantik. Dochdie Bedingungen auf den Schiffen wa-ren damals meist katastrophal. Nichtselten starben bis zu 80 Prozent derPassagiere auf hoher See. „Man kannsolches Essen fast nicht genießen. DasWasser, so man verteilet, ist vielmalssehr schwarz, dick und voller Wür-

„Deutschamerikaner sind die größte Minder-heit in den USA, aber sie sind eine schwei-gende Mehrheit, die am meisten amerikani-sierte Gruppe“ Der Historiker Chris Arndt

Die Frontier, das Grenzland, ist Teil des amerikanischen My-thos. Hier blühte die Freiheit des Einzelnen auf – fern allerObrigkeit. Die deutschen Auswanderer hatten einen wichti-gen Anteil daran, Menschen wie die Hütwohls aus Steeg.

mer“, schreibt der Frankfurter Aus-wanderer Gottlieb Mittelberger in ei-nem Brief, „den Zwieback oder dasSchiffsbrot hat man essen müssen, ob-gleich an einem ganzen Stück kaumeines Thalers groß gut gewesen ist,das nicht voller roter Würmlein undSpinnennester gesteckt hätte.“

Nach seiner Ankunft in Philadel-phia ließ sich Johann Matthias Hüt-wohl in Pennsylvania nieder und hei-ratete einige Jahre später „Miss Haas“,Schwester des deutschen Auswande-rers Christian Haas. Sechs Kinder, vierJungen und zwei Mädchen, brachtesie zur Welt. Doch schon bald wurdendiese Waisen, weil der Vater bei ei-nem Unfall starb. Wie damals oft üb-lich wurden die Kinder der meist ver-armten Witwen in die Obhut von Pfle-gefamilien gegeben. David, das vierteKind der Hütwohls, zog schließlich indas Haus seines Onkels ChristianHaas, bei dem er eine Schuhmacher-lehre machte. In den 1790er-Jahrenging er zusammen mit seiner FrauMagdalena Weland – ebenfalls Nach-fahre deutscher Auswanderer – in dasfruchtbare Shenandoah-Tal zwischenden beiden großen Gebirgszügen, denAppalachen und den Blue RidgeMountains. Ihr zehntes von elf Kin-dern, Anna Heatwole, heiratete Endeder 1820er-Jahre Daniel Suter, Nach-fahre eines Auswanderers aus derSchweiz – so kam Scott Suter zu sei-nem Namen.

David Hütwohls Geschichte ist ex-emplarisch für Generationen vonDeutschen, die westwärts, in die nurvon Indianern bewohnten Gebiete zo-gen – auf der Suche nach billigemSiedlungsland. Sie lebten im Grenz-land, an der Frontier zu einer anderenKultur, der der Indianer, die sie immerweiter zurückdrängten, schließlich na-hezu vernichteten. Das Gefühl, aufsich allein gestellt zu sein und nichtdurch eine Obrigkeit in seiner Freiheitbeschränkt zu werden, sondern es nur

durch eigene Fähigkeiten zu etwasbringen und überleben zu können, istbis heute elementarer Bestandteil desamerikanischen Selbstverständnisses.Die Vorstellung vom Land der unbe-grenzten Möglichkeiten – Teil deramerikanischen Identität und Attrak-tion für Auswanderer – wurde durchdie Idee der Frontier erst geboren.

Das Shenandoah Valley ist bis heu-te ein Tal der Deutschen, weil sie zu-sammen mit schottischen und auchSchweizer Auswanderern zeitweisedie Mehrheit der Bevölkerung im Val-ley bildeten und die Region kulturellund wirtschaftlich prägten. Historikerhaben herausgefunden, dass alleinzwischen 1750 und 1776 – also nochbevor die Hütwohls hier herkamen –bis zu 25 000 deutsche Siedler in dasTal wanderten. Das war die Hälfte derdamals 50 000 Einwohner in der Re-gion zwischen Winchester im Nordenund Harrisonburg im Süden.

Heute sind die Spuren der Deut-schen verwischt. Man braucht Histo-riker wie Warren Hofstra von der She-nandoah Universität in Winchester imNorden des Tals, um sie aufzuspüren.Hofstra spricht vom Neuen Virginia,wenn er auf das Tal der Deutschenblickt. Da die Freigeister aus Steegund anderswo in Deutschland Gegnerder Sklaverei waren, konnten im Val-ley nie große Plantagen wie im Ostendes Bundesstaates entstehen, erklärter. Dazu beigetragen hat auch, dassviele Deutsche kleine Handwerkerwie David Hütwohl oder Bauern wa-ren. Daher sei man rund um Harri-sonburg und Winchester schon immermoderner gewesen, allein weil so dieIndustrialisierung schneller voran-schritt. Die Folge: Heute ist das She-nandoah Valley nicht von einem Wirt-schaftszweig abhängig, sondern öko-nomisch breit aufgestellt. Dadurch istauch die Arbeitslosigkeit geringer. Po-litisch gesehen ist die Bevölkerungähnlich wie in den Vororten von Wa-shington D.C. eher moderat bis pro-gressiv – es ist eher Obama-Landdenn republikanisch dominiert.

Scott Suter hat seine deutschen Spu-ren wiederentdeckt: 2007 besuchte erSteeg. Er war dort zusammen mit sei-ner jungen deutschen Ehefrau Geral-dine Poppke. Sie hat ihren Ehemannals Austauschstudentin in Harrison-burg kennengelernt und ist in denUSA geblieben. Ohne sie, sagt Scott,wäre er wohl nie nach Steeg gefahren.Als er damals auf den Rhein blickte, er-zählt er, hat er gelächelt. Ob es sichein bisschen wie Heimat anfühlte?„Ich hatte eine Vorstellung davon, wiees dort aussehen könnte. Aber dieWirklichkeit war viel schöner.“

CHRISTIAN KUNST

Scott Suter, Nachfahre der Hüt-wohls, und seine Frau Geraldine

Vom Rhein in die NeueWelt: So könnte es gewesensein, als Johann MatthiasHütwohl im Jahr 1748 seineHeimat Steeg/Bacharach inRichtung Philadelphia ver-lassen hat. Sein Sohn Davidzog weiter in das Shenan-doah-Tal in Virginia, insGrenzland, der sogenanntenFrontier – wie viele anderedeutsche Auswanderer.Foto: Ballinstadt

Hart an der Grenze

Das Tal der Deutschen

Schon im 18. Jahrhundert hielt esviele Auswanderer nicht in denOstküstenstädten, in denen sielandeten. Sie zogen weiter west-wärts – unter anderem in dasShenandoah-Tal in Virginia.

Das ist die Werkstatt des Schuhmachers David Hüt-wohl, Sohn des Auswanderers Johann Matthias.

Blick in das Tal der Deutschen: Die Aufnahme zeigt das ShenandoahValley bei Harrisonburg, Virginia, im Hintergrund die Appalachen.

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Woran denken Sie noch, um Debat-ten anzustoßen?

Wir wollen eine Möglichkeit schaffen,dass Besucher ihre Meinung zu strit-tigen Fragen wie einem möglichen Be-schneidungsverbot oder der Kopf-tuchdebatte äußern können. Man kanndann zum Beispiel die Frage beant-worten: „Sind Sie dafür oder dagegen,dass Lehrerinnen ein Kopftuch tra-gen?“ Danach würde man erfahren,wie die Besucher bislang über dieseFrage abgestimmt haben. Statistikensollen dann Auskunft geben, wie vieleFrauen in Deutschland überhaupt einKopftuch tragen. Das heißt, dass ichdann weitere Informationen bekom-me, um mir eine neue Meinung bildenzu können.

Welche Erfahrungen machen Sie mitSchulklassen?

Sehr unterschiedliche. Die ganz jun-gen Kinder sind immer schwer beein-druckt, weil sie Lebenswelten sehen,die sie selbst gar nicht mehr kennen.Wenn man sie fragt, was sie mitneh-men würden, wenn sie auswandernmüssten, dann verstehen sie nicht,dass das Smartphone nicht gerade diebeste Entscheidung ist. (lacht) Die et-was älteren Kinder sprechen vor allemdie Biografien an. Sie schreiben Briefean unsere Auswanderer. Darin drü-cken sie Trauer aus: „Schade, dass ichdich nicht kennengelernt habe.“ Oder:„Es tut mir leid, dass dein Leben sohart war.“

Seit Jahren gibt es ja eine Diskussionum das „Zentrum gegen Vertreibun-gen“. Wurden Sie einmal gefragt,sich daran zu beteiligen?

Ja. Michael Dormann, Kurator der Stif-tung Flucht, Vertreibung, Versöhnunghat mich gebeten, meine fachlicheEinschätzung zum Konzept zu geben.Dazu kann ich aber sehr wenig sagen,weil sie immer noch in einem Fin-dungsprozess sind. Wenn es aber zumusealen Arbeiten kommt, wird eherdas Deutsche Historische Museum be-teiligt sein. Wir haben bei diesem The-ma einen völlig anderen Ansatz: Wirsagen, dass auch die deutsche Fluchtund Vertreibung ein Teil von 300 Jah-ren deutscher Einwanderungsge-schichte sind. Flüchtlings- und Ver-triebenenverbände haben dem wi-dersprochen. Sie wollen nicht mit denGastarbeitern verglichen werden. Wirwollen aber gerade den Blick weiten.Das alles ist eine Form von Migration.Flucht und Vertreibung wird es so lan-ge geben, wie es Kriege und Wirt-schaftskrisen gibt.

Was passiert mit den Menschen?Das ist für mich eine sehr spannendeFrage: Was macht es mit einem Men-schen, wenn er geflohen ist und ge-wisse Bedingungen erfüllen muss, umin Deutschland leben zu dürfen? Wasmacht das mit dem Thema Wahrheitund mit der eigenen Biografie, wennich meine eigene Geschichte auf be-stimmte Weise erzählen muss? Ich

glaube, dass man dann zwei Identitä-ten entwickelt. Man hat das ganze Le-ben vor diesem entscheidenden Mo-ment der Flucht verloren, Freunde, Fa-milie, Bekannte. Alles bricht weg. Imneuen Land muss man nur erzählen,warum man geflohen ist. Das frühereLeben verschwindet. Alle Menschen,die man nach der Flucht trifft, kenneneinen nur mit diesem Trauma. DieFlucht wird zu einer neuen Identität.

Ist dies ein verbindendes Elementzwischen dem Auswanderer in dieUSA und dem Wirtschaftsflüchtlingdes 21. Jahrhunderts?

Ja. Beide verlieren ihre ursprünglicheIdentität – und sie müssen eine neueaufbauen.

CHRISTIAN KUNST

wichtig ist, das hat diese Frau geleistet: Siehat hart gearbeitet, sie hat sich sehr für dieGemeinschaft enga-giert. Das reicht doch.Und sie war wirklicheine leidenschaftlicheAmerikanerin. Abersie hat mir gezeigt,dass wir einmal denBlick weiten sollten:Nicht alles ist so stumpfnational. Jeder mussseinen Raum finden.

Ist das ein Vorbildfür Integration inDeutschland?

Ich glaube, dass dashier nicht mehr funk-tioniert. Die Bedin-gungen sind anders.Die Bundesrepublikhat keine Willkom-menskultur wie in denUSA. Dafür leben hierzu viele verschiedeneGruppen, zu vieleLeute, die hier entwe-der nicht bleiben woll-ten oder sich gar nichtals Einwanderer be-greifen – damit meineich die Nachfahren derdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen.

Sie haben seit Kurzem einen neuen Be-reich im Museum zur Einwanderung nachDeutschland. Gewinnt dieser Aspekt im

Deutschen Auswandererhaus an Bedeu-tung, weil er politisch brisanter ist?

Ja. Allerdings sind dasnatürlich zwei Seitender Medaille Migrati-on. Das könnte unsauch mehr Gelassen-heit geben. Wenn ichsehe, wie sich dieDeutschen in den USA,Kanada oder Australi-en eingelebt haben: Siehaben oft auch erst inder zweiten oder drit-ten Generation ange-fangen, Englisch zusprechen. Und das wirdsich auch in Deutsch-land mit seinen Ein-wanderern regeln.

Könnte das Museumeine Lehrstunde inSachen Integrationgeben?

Wenn jeder Einzelneetwas dazulernen wür-de, dann wäre das toll.

Tritt denn ein Lern-effekt ein?

Ja. Wir machen seitJahren eine Besucher-

auswertung und wissen daher sehr gut,was die Leute von den einzelnen Ausstel-lungsräumen denken. 92 bis 93 Prozent derBesucher nehmen etwas mit und findendas Museum gut. Und es gibt die 5 Pro-

zent, die ihre Vorurteile haben und mit Ver-ärgerung auf den neuen Teil zur Einwan-derung reagieren.

Die Brisanz hat also zugenommen?Ja. Das haben wir natürlich geahnt. Des-halb werden wir die Mitarbeiter im Um-gang mit diesen kritischen Besuchern im-mer weiter schulen. Wir wollen aber auf kei-nen Fall in die Situation kommen, dass Mit-arbeiter etwas verteidigen müssen. Konkretging es immer wieder um einen türkischenEinwanderer. Die Mitarbeiter sollen lernen,Besuchern zu erklären, warum wir dieseBiografie ausgesucht haben. Die Erklärungist: Wir wollen ihn mit einem deutschen Un-ternehmer vergleichen, der in die USA aus-gewandert ist. Der türkische Einwandererist auch Unternehmer. Es sind beides Ein-wanderer, und beide haben es geschafft.

Wollen Sie auch mit Veranstaltungen wiePodiumsdiskussionen eine Debatte darü-ber anstoßen?

Ja. Wir denken darüber nach. Was inDeutschland aber sehr schwer ist, die Men-schen zu bewegen, ihre politische Kor-rektheit aufzugeben. Die Deutschen sind jaso sehr darauf getrimmt, auf keinen Fall et-was über Fremde zu sagen. Man muss janicht unsachlich werden. Aber man darfdoch über Ängste gegenüber dem Frem-den sprechen. Denn das ist der Beginn in-terkultureller Bildung. Ich finde diese Dis-kussionen gut, wenn sie klare Grenzen ha-ben. Wer sie überschreitet, muss das Mu-seum verlassen. Das ist bei klar antisemiti-schen Besuchern schon passiert.

Der Boarding Pass ist das Ticketfür das Museum: Mit der Kartekann man einen Aus- und einenEinwanderer durch das DeutscheAuswandererhaus begleiten underhält viele Informationen in Bild-und Tondokumenten. Foto: Stefan Volk

Ihr halbes Leben lang hat sich SimoneEick mit wandernden und flüchtendenMenschen beschäftigt. Im Jahr 2002promovierte die Historikerin über dieAmerika-Auswanderung im 19. Jahr-hundert. Heute leitet die 40-Jährigedas Deutsche Auswandererhaus inBremerhaven. Im In-terview mit unsererZeitung spannt sie ei-nen Bogen von denAmerika-Auswande-rern des 19. Jahrhun-derts zu den Wirt-schaftsflüchtlingen derGegenwart: „Allesbricht weg. Das frühereLeben verschwindet.Alle Menschen, die mannach der Flucht trifft,kennen einen nur mitdiesem Trauma. DieFlucht wird zu einerneuen Identität.“ ImGespräch mit unsererZeitung erzählt sie vonihrer Arbeit für das einmalige Muse-um in Bremerhaven und von ihren ei-genen Wanderungen.

Mehr als 1,5 Millionen Menschenhaben das Deutsche Auswanderer-haus seit der Eröffnung 2005 be-sucht. Warum übt das Thema Aus-wanderung solch eine große Faszi-nation auf Menschen aus?

Weil Aus- und Einwanderung etwasmit einem selbst zu tun haben. Das Ers-te, was man sich in einem solchen Mu-seum fragt, ist: Wie hätte ich michselbst verhalten? Oder: Ich wollte dochauch immer schon einmal weggehen.Das ist der erste Moment. Danach be-rühren einen die Inszenierungen. Dassetzt eine Kettenreaktion in Gang.

Sind Sie zufrieden mit den Besu-cherzahlen?

Ja, weil es konstant mehr sind, als wireigentlich erwartet haben.

Macht es einen Unterschied, dass Sieein privates Museum sind?

Ja. Es ist einfacher für uns, weil wirkaum bürokratische Abläufe haben.So geht vieles deutlich schneller. Aufder anderen Seite sehe ich, wie vielPersonal staatliche Museen immernoch haben, und ich vergleiche dasdamit, was ich zur Verfügung habe.Sehr viel weniger. Wir haben 51 Mit-arbeiter für mehr als 4000 Ausstel-lungsquadratmeter und eine eigeneSammlung. Das funktioniert nur mitMitarbeitern, die sehr engagiert sind.Der Vorteil an einem privaten Muse-um ist, dass die Besucher auch unsereKunden sind. Es ist wichtig, darübernachzudenken, wie die Menschen et-was aus einer Ausstellung mitnehmenund trotzdem dafür bezahlen. Zwarmuss es auch Museen geben, die sichnicht rechnen – gerade in einem Landwie Deutschland mit seiner Wirt-schaftskraft und reichen Kultur. Trotz-dem muss man darüber nachdenken,wie man eine Ausstellung so gestaltet,dass die Leute bereit sind, mehr dafürzu bezahlen, als es zurzeit in staatli-chen Museen der Fall ist.

Warum wandern Menschen?Das sind sehr archaische Gründe.Zum einen sucht man nach einem bes-seren Leben. Manchmal ist man aberauch dazu gezwungen, wenn man anFlüchtlinge oder Vertriebene denkt.Die Frage ist: Wo ist die Grenze zwi-schen Freiwilligkeit und Zwang? Dennauch wirtschaftliche Zwänge, die überJahre erlebt worden sind, werden viel-leicht nicht bewusst wahrgenommen.Es kann sich um eine schleichendeVerarmung handeln. Die Frage ist,

wann der Punkt erreicht ist, dass manes nicht mehr aushält. Es ist sehrmenschlich, dass man nie aufsteckt,dass man immer versucht, für sich undvor allem seine Kinder ein besseres Le-ben zu finden.

Warum sind Sie ge-wandert?

Ich bin ein klassischerakademischer Wan-derer – erst für dieDoktorarbeit nachChicago, dann für denJob nach Hamburg,Kiel, wieder zurücknach Hamburg, undjetzt bin ich in Bre-merhaven.

Was hat Sie ange-trieben?

Das war immer einegegenseitige Anzie-hungskraft. Es warenimmer sehr interes-

sante Jobs. Außerdem hatte ich meistmit der einen Stelle abgeschlossenund war bereit für etwas Neues. Undes war immer freiwillig.

Als Sie das erste Mal durch dasDeutsche Auswandererhaus gegan-gen sind: Was haben Sie da gedacht?

Ich habe ja schon für das Deutsche Aus-wandererhaus gearbeitet, bevor es er-öffnet wurde. Drei Jahre habe ich anden Plänen mitgewirkt. In dieser Zeithaben wir in einem interdisziplinärenTeam gearbeitet. Das heißt: Wir saßenmit Designern, Architekten, Kunsthis-torikern und Theaterdramaturgen zu-sammen. In Gedanken bin ich schonseit 2003 durch das Museum gegan-gen. Als ich die Ausstellung das ersteMal zusammen mit dem ArchitektenAndreas Heller sah, da war ich wahn-sinnig ergriffen. Es war bewegend,das, was man über Jahre erdacht hat,plötzlich vor einem stehen zu sehen.Ich hatte von Anfang an das Gefühl,dass dies ein sehr warmer Ort ist.

Was hat ihn warm gemacht?Ich kenne alle Lebensgeschichten, diein unserem Museum eine Heimat ge-funden haben. Außerdem ist es dasviele Holz, das Andreas Heller im Mu-seum eingesetzt hat. Und es ist die In-szenierung der Aus- und Einwande-rergeschichten, die wir genau auf denPunkt gebracht haben. Es war unsere

Idee, diese Wärme beim Besucher zuerzeugen. Und es hat noch erstaunli-cher funktioniert, als wir es uns ge-dacht haben.

Sie sprachen von Theaterdramatur-gen. Was waren deren Aufgaben?

Einmal ging es um die Dramaturgiedes Rundlaufs. Sind die Stationen gut?Gibt es einen dramaturgischen Höhe-punkt? Wann fällt es ab? Wo müssenwir die Besucher noch einmal auffan-gen? Uns hat die Frage lange be-schäftigt, ob wir tatsächlich drei ver-schiedene Schiffstypen zeigen können.

Der Beginn der Ausstellung an derKaje von Bremerhaven hat fast etwasFilmreifes.

Ja. Der Architekt Andreas Heller warim ersten Berufsleben Bühnenbildner,unter anderem am Thalia-Theater inHamburg. Er hat aber auch bei Filmengearbeitet. Andreas Heller hat vielen

Ausstellungsräumen eine ganz ein-zigartige Färbung und Perspektive ge-geben. Und in unserem ersten Kura-torium war unter anderem der oscar-gekrönte Kameramann Michael Ball-haus Mitglied.

Auch Musik spielt eine große Rolle.Kann sie Eindrücke nicht auch über-zeichnen, zu rührselig sein?

Das ist möglich. Aber wenn man ge-nau hinschaut, dann sieht man, dasswir unsere sehr sehnsuchtsvolle Titel-melodie, unseren fast amerikanischenJingle, in keinem der Räume einset-zen, die inszeniert sind. Sie läuft imneutralen Raum mit der Weltkugel.Auf Ellis Island läuft Stimmengewirr.So versuchen wir, die Menschen nochtiefer in die Thematik hineinzuziehen.Auch auf der Brücke hören die Besu-cher jetzt Musik – von Franz Schubert.

Es scheint, dass die Begeisterung fürdas Thema Auswanderung in denUSA noch ausgeprägter ist als inDeutschland. Woran liegt das?

Das ist das, was ich an den USA sehrbewundere, die Haltung: Wir sind ei-ne Einwanderernation – mit allenSchwierigkeiten, die das mit sichbringt. Jede Einbürgerung wird dortgefeiert. Ich finde es großartig, dassdie Amerikaner sagen: Ja, wir wolleneuch hier haben. Selbst bei den ille-galen Einwanderern aus Lateiname-rika könnte es diese Momente bald ge-ben. Das kann ich mir in Deutschlandüberhaupt nicht vorstellen. Wenn manallein sieht, wie mit den TausendenMinderjährigen umgegangen wird, diejedes Jahr als Flüchtlinge hierher-kommen. Es ist unfassbar, wie dieseKinder und Jugendlichen behandeltwerden, dass man diese Menschennicht irgendwann einfach willkommenheißt. Dieses „Herzlich willkommen“in den USA ist sehr berührend undmenschlich. Ich wünsche mir sehr,dass sich dieses Gefühl irgendwannauch stärker in Deutschland entwi-ckelt. Das ist einer der Gründe, wa-rum wir hier als Museum noch viel zutun haben. Unser Ziel ist es, dass die-ses Willkommensgefühl auch inDeutschland stärker wird.

Gibt es ein Schicksal eines Auswande-rers, das Sie besonders ergriffen hat?

Ja. Ein ganz besonderes Erlebnis hatteich, als ich noch in Chicago geforschthabe. Ich habe damals eine Frau in ei-

nem Wohnstift besucht. Ihr ging es of-fenbar finanziell sehr gut, weil es einsehr exklusives Wohnstift war. Abereiner ihrer Mittelfinger war gekappt.Sie hat erzählt, dass sie mit der Handin einen Mähdrescher gekommen war.Was mich völlig irritiert hat, war, wiesie geredet hat. Sie war 104 Jahre altund hat mich im Schaumburger Plattangesprochen. Und mir war so pein-lich, dass ich das nicht sprechen konn-te. (lacht) Vor mir saß eine geboreneAmerikanerin, die nie in Deutschlandgelebt hat. Damals habe ich angefan-gen, über Einwanderung ganz andersnachzudenken: Was ist Identität? Wasist Integration?

Was sind Ihre Antworten?Die Frage ist, was man voneinandererwartet. Hat nicht jeder ein Recht aufsein persönliches Heimatgefühl? Undwie auch immer das aussehen mag –es geht niemanden etwas an. Was

„Alle Menschen, die man nach der Flucht trifft,kennen einen nur mit diesem Trauma. Die Fluchtwird zu einer neuen Identität.“ Simone Eick

Simone Eick

Die Zeitreise im Museum beginnt dort, wo die Auswanderung vor 150Jahren ebenfalls ihren Auftakt nahm: an der Bremerhavener Kaje. Foto: dpa

JournalJournal 20. April 2013 4/5Auswanderer

Wie die Flucht das neue Leben prägt

DerWeg auf das Schiff: Wie einst die Auswanderer in Bremerhaven desJahres 1888 steigen die Besucher die Gangway hoch. Foto: Werner Huthmacher

In der dritten Klasse über den Atlantik: So sah es im Zwischendeck desSegelschiffes „Bremen“ aus. Drei Schiffstypen sind zu sehen. Foto: H. Dehn

Die Neue Welt vor Augen: Im Nachbau von Ellis Island können Be-sucher testen, ob sie 1907 hätten einreisen dürfen. Foto: Stefan Volk

Wie in den 70er-Jahren: In einem neuen Museumsteil wird das Leben derEinwanderer in Deutschland beleuchtet. Foto: Deutsches Auswandererhaus

Seit 2005 kann man in Bremerhaven dem Schicksal von Millionen deutscher Auswanderer nachspüren: Im Deutschen Auswandererhaus direkt an der Kaje,wo früher die großen Schiffe ablegten, gibt das einmalige Erlebnismuseum tiefe Einblicke in die Lebens- und Gefühlswelten der Emigranten und Immig-ranten. Museumsdirektorin Simone Eick will mit der Ausstellung auch in Deutschland für eine Willkommenskultur wie in den USA werben.

Grand Central Terminal: Hier erfährt man, wie deutscheEinwanderer sich einlebten. Foto: Deutsches Auswandererhaus

Bilanz an der Kaje

Was Auswanderer bewegt

Warum nur flüchten und wandernMillionen Menschen von einemOrt zum anderen? Antwortendarauf gibt es im DeutschenAuswandererhaus in Bremerhavenund von MuseumsdirektorinSimone Eick im Interview.

Page 4: Journal - lima-city.de

.

Woran denken Sie noch, um Debat-ten anzustoßen?

Wir wollen eine Möglichkeit schaffen,dass Besucher ihre Meinung zu strit-tigen Fragen wie einem möglichen Be-schneidungsverbot oder der Kopf-tuchdebatte äußern können. Man kanndann zum Beispiel die Frage beant-worten: „Sind Sie dafür oder dagegen,dass Lehrerinnen ein Kopftuch tra-gen?“ Danach würde man erfahren,wie die Besucher bislang über dieseFrage abgestimmt haben. Statistikensollen dann Auskunft geben, wie vieleFrauen in Deutschland überhaupt einKopftuch tragen. Das heißt, dass ichdann weitere Informationen bekom-me, um mir eine neue Meinung bildenzu können.

Welche Erfahrungen machen Sie mitSchulklassen?

Sehr unterschiedliche. Die ganz jun-gen Kinder sind immer schwer beein-druckt, weil sie Lebenswelten sehen,die sie selbst gar nicht mehr kennen.Wenn man sie fragt, was sie mitneh-men würden, wenn sie auswandernmüssten, dann verstehen sie nicht,dass das Smartphone nicht gerade diebeste Entscheidung ist. (lacht) Die et-was älteren Kinder sprechen vor allemdie Biografien an. Sie schreiben Briefean unsere Auswanderer. Darin drü-cken sie Trauer aus: „Schade, dass ichdich nicht kennengelernt habe.“ Oder:„Es tut mir leid, dass dein Leben sohart war.“

Seit Jahren gibt es ja eine Diskussionum das „Zentrum gegen Vertreibun-gen“. Wurden Sie einmal gefragt,sich daran zu beteiligen?

Ja. Michael Dormann, Kurator der Stif-tung Flucht, Vertreibung, Versöhnunghat mich gebeten, meine fachlicheEinschätzung zum Konzept zu geben.Dazu kann ich aber sehr wenig sagen,weil sie immer noch in einem Fin-dungsprozess sind. Wenn es aber zumusealen Arbeiten kommt, wird eherdas Deutsche Historische Museum be-teiligt sein. Wir haben bei diesem The-ma einen völlig anderen Ansatz: Wirsagen, dass auch die deutsche Fluchtund Vertreibung ein Teil von 300 Jah-ren deutscher Einwanderungsge-schichte sind. Flüchtlings- und Ver-triebenenverbände haben dem wi-dersprochen. Sie wollen nicht mit denGastarbeitern verglichen werden. Wirwollen aber gerade den Blick weiten.Das alles ist eine Form von Migration.Flucht und Vertreibung wird es so lan-ge geben, wie es Kriege und Wirt-schaftskrisen gibt.

Was passiert mit den Menschen?Das ist für mich eine sehr spannendeFrage: Was macht es mit einem Men-schen, wenn er geflohen ist und ge-wisse Bedingungen erfüllen muss, umin Deutschland leben zu dürfen? Wasmacht das mit dem Thema Wahrheitund mit der eigenen Biografie, wennich meine eigene Geschichte auf be-stimmte Weise erzählen muss? Ich

glaube, dass man dann zwei Identitä-ten entwickelt. Man hat das ganze Le-ben vor diesem entscheidenden Mo-ment der Flucht verloren, Freunde, Fa-milie, Bekannte. Alles bricht weg. Imneuen Land muss man nur erzählen,warum man geflohen ist. Das frühereLeben verschwindet. Alle Menschen,die man nach der Flucht trifft, kenneneinen nur mit diesem Trauma. DieFlucht wird zu einer neuen Identität.

Ist dies ein verbindendes Elementzwischen dem Auswanderer in dieUSA und dem Wirtschaftsflüchtlingdes 21. Jahrhunderts?

Ja. Beide verlieren ihre ursprünglicheIdentität – und sie müssen eine neueaufbauen.

CHRISTIAN KUNST

wichtig ist, das hat diese Frau geleistet: Siehat hart gearbeitet, sie hat sich sehr für dieGemeinschaft enga-giert. Das reicht doch.Und sie war wirklicheine leidenschaftlicheAmerikanerin. Abersie hat mir gezeigt,dass wir einmal denBlick weiten sollten:Nicht alles ist so stumpfnational. Jeder mussseinen Raum finden.

Ist das ein Vorbildfür Integration inDeutschland?

Ich glaube, dass dashier nicht mehr funk-tioniert. Die Bedin-gungen sind anders.Die Bundesrepublikhat keine Willkom-menskultur wie in denUSA. Dafür leben hierzu viele verschiedeneGruppen, zu vieleLeute, die hier entwe-der nicht bleiben woll-ten oder sich gar nichtals Einwanderer be-greifen – damit meineich die Nachfahren derdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen.

Sie haben seit Kurzem einen neuen Be-reich im Museum zur Einwanderung nachDeutschland. Gewinnt dieser Aspekt im

Deutschen Auswandererhaus an Bedeu-tung, weil er politisch brisanter ist?

Ja. Allerdings sind dasnatürlich zwei Seitender Medaille Migrati-on. Das könnte unsauch mehr Gelassen-heit geben. Wenn ichsehe, wie sich dieDeutschen in den USA,Kanada oder Australi-en eingelebt haben: Siehaben oft auch erst inder zweiten oder drit-ten Generation ange-fangen, Englisch zusprechen. Und das wirdsich auch in Deutsch-land mit seinen Ein-wanderern regeln.

Könnte das Museumeine Lehrstunde inSachen Integrationgeben?

Wenn jeder Einzelneetwas dazulernen wür-de, dann wäre das toll.

Tritt denn ein Lern-effekt ein?

Ja. Wir machen seitJahren eine Besucher-

auswertung und wissen daher sehr gut,was die Leute von den einzelnen Ausstel-lungsräumen denken. 92 bis 93 Prozent derBesucher nehmen etwas mit und findendas Museum gut. Und es gibt die 5 Pro-

zent, die ihre Vorurteile haben und mit Ver-ärgerung auf den neuen Teil zur Einwan-derung reagieren.

Die Brisanz hat also zugenommen?Ja. Das haben wir natürlich geahnt. Des-halb werden wir die Mitarbeiter im Um-gang mit diesen kritischen Besuchern im-mer weiter schulen. Wir wollen aber auf kei-nen Fall in die Situation kommen, dass Mit-arbeiter etwas verteidigen müssen. Konkretging es immer wieder um einen türkischenEinwanderer. Die Mitarbeiter sollen lernen,Besuchern zu erklären, warum wir dieseBiografie ausgesucht haben. Die Erklärungist: Wir wollen ihn mit einem deutschen Un-ternehmer vergleichen, der in die USA aus-gewandert ist. Der türkische Einwandererist auch Unternehmer. Es sind beides Ein-wanderer, und beide haben es geschafft.

Wollen Sie auch mit Veranstaltungen wiePodiumsdiskussionen eine Debatte darü-ber anstoßen?

Ja. Wir denken darüber nach. Was inDeutschland aber sehr schwer ist, die Men-schen zu bewegen, ihre politische Kor-rektheit aufzugeben. Die Deutschen sind jaso sehr darauf getrimmt, auf keinen Fall et-was über Fremde zu sagen. Man muss janicht unsachlich werden. Aber man darfdoch über Ängste gegenüber dem Frem-den sprechen. Denn das ist der Beginn in-terkultureller Bildung. Ich finde diese Dis-kussionen gut, wenn sie klare Grenzen ha-ben. Wer sie überschreitet, muss das Mu-seum verlassen. Das ist bei klar antisemiti-schen Besuchern schon passiert.

Der Boarding Pass ist das Ticketfür das Museum: Mit der Kartekann man einen Aus- und einenEinwanderer durch das DeutscheAuswandererhaus begleiten underhält viele Informationen in Bild-und Tondokumenten. Foto: Stefan Volk

Ihr halbes Leben lang hat sich SimoneEick mit wandernden und flüchtendenMenschen beschäftigt. Im Jahr 2002promovierte die Historikerin über dieAmerika-Auswanderung im 19. Jahr-hundert. Heute leitet die 40-Jährigedas Deutsche Auswandererhaus inBremerhaven. Im In-terview mit unsererZeitung spannt sie ei-nen Bogen von denAmerika-Auswande-rern des 19. Jahrhun-derts zu den Wirt-schaftsflüchtlingen derGegenwart: „Allesbricht weg. Das frühereLeben verschwindet.Alle Menschen, die mannach der Flucht trifft,kennen einen nur mitdiesem Trauma. DieFlucht wird zu einerneuen Identität.“ ImGespräch mit unsererZeitung erzählt sie vonihrer Arbeit für das einmalige Muse-um in Bremerhaven und von ihren ei-genen Wanderungen.

Mehr als 1,5 Millionen Menschenhaben das Deutsche Auswanderer-haus seit der Eröffnung 2005 be-sucht. Warum übt das Thema Aus-wanderung solch eine große Faszi-nation auf Menschen aus?

Weil Aus- und Einwanderung etwasmit einem selbst zu tun haben. Das Ers-te, was man sich in einem solchen Mu-seum fragt, ist: Wie hätte ich michselbst verhalten? Oder: Ich wollte dochauch immer schon einmal weggehen.Das ist der erste Moment. Danach be-rühren einen die Inszenierungen. Dassetzt eine Kettenreaktion in Gang.

Sind Sie zufrieden mit den Besu-cherzahlen?

Ja, weil es konstant mehr sind, als wireigentlich erwartet haben.

Macht es einen Unterschied, dass Sieein privates Museum sind?

Ja. Es ist einfacher für uns, weil wirkaum bürokratische Abläufe haben.So geht vieles deutlich schneller. Aufder anderen Seite sehe ich, wie vielPersonal staatliche Museen immernoch haben, und ich vergleiche dasdamit, was ich zur Verfügung habe.Sehr viel weniger. Wir haben 51 Mit-arbeiter für mehr als 4000 Ausstel-lungsquadratmeter und eine eigeneSammlung. Das funktioniert nur mitMitarbeitern, die sehr engagiert sind.Der Vorteil an einem privaten Muse-um ist, dass die Besucher auch unsereKunden sind. Es ist wichtig, darübernachzudenken, wie die Menschen et-was aus einer Ausstellung mitnehmenund trotzdem dafür bezahlen. Zwarmuss es auch Museen geben, die sichnicht rechnen – gerade in einem Landwie Deutschland mit seiner Wirt-schaftskraft und reichen Kultur. Trotz-dem muss man darüber nachdenken,wie man eine Ausstellung so gestaltet,dass die Leute bereit sind, mehr dafürzu bezahlen, als es zurzeit in staatli-chen Museen der Fall ist.

Warum wandern Menschen?Das sind sehr archaische Gründe.Zum einen sucht man nach einem bes-seren Leben. Manchmal ist man aberauch dazu gezwungen, wenn man anFlüchtlinge oder Vertriebene denkt.Die Frage ist: Wo ist die Grenze zwi-schen Freiwilligkeit und Zwang? Dennauch wirtschaftliche Zwänge, die überJahre erlebt worden sind, werden viel-leicht nicht bewusst wahrgenommen.Es kann sich um eine schleichendeVerarmung handeln. Die Frage ist,

wann der Punkt erreicht ist, dass manes nicht mehr aushält. Es ist sehrmenschlich, dass man nie aufsteckt,dass man immer versucht, für sich undvor allem seine Kinder ein besseres Le-ben zu finden.

Warum sind Sie ge-wandert?

Ich bin ein klassischerakademischer Wan-derer – erst für dieDoktorarbeit nachChicago, dann für denJob nach Hamburg,Kiel, wieder zurücknach Hamburg, undjetzt bin ich in Bre-merhaven.

Was hat Sie ange-trieben?

Das war immer einegegenseitige Anzie-hungskraft. Es warenimmer sehr interes-

sante Jobs. Außerdem hatte ich meistmit der einen Stelle abgeschlossenund war bereit für etwas Neues. Undes war immer freiwillig.

Als Sie das erste Mal durch dasDeutsche Auswandererhaus gegan-gen sind: Was haben Sie da gedacht?

Ich habe ja schon für das Deutsche Aus-wandererhaus gearbeitet, bevor es er-öffnet wurde. Drei Jahre habe ich anden Plänen mitgewirkt. In dieser Zeithaben wir in einem interdisziplinärenTeam gearbeitet. Das heißt: Wir saßenmit Designern, Architekten, Kunsthis-torikern und Theaterdramaturgen zu-sammen. In Gedanken bin ich schonseit 2003 durch das Museum gegan-gen. Als ich die Ausstellung das ersteMal zusammen mit dem ArchitektenAndreas Heller sah, da war ich wahn-sinnig ergriffen. Es war bewegend,das, was man über Jahre erdacht hat,plötzlich vor einem stehen zu sehen.Ich hatte von Anfang an das Gefühl,dass dies ein sehr warmer Ort ist.

Was hat ihn warm gemacht?Ich kenne alle Lebensgeschichten, diein unserem Museum eine Heimat ge-funden haben. Außerdem ist es dasviele Holz, das Andreas Heller im Mu-seum eingesetzt hat. Und es ist die In-szenierung der Aus- und Einwande-rergeschichten, die wir genau auf denPunkt gebracht haben. Es war unsere

Idee, diese Wärme beim Besucher zuerzeugen. Und es hat noch erstaunli-cher funktioniert, als wir es uns ge-dacht haben.

Sie sprachen von Theaterdramatur-gen. Was waren deren Aufgaben?

Einmal ging es um die Dramaturgiedes Rundlaufs. Sind die Stationen gut?Gibt es einen dramaturgischen Höhe-punkt? Wann fällt es ab? Wo müssenwir die Besucher noch einmal auffan-gen? Uns hat die Frage lange be-schäftigt, ob wir tatsächlich drei ver-schiedene Schiffstypen zeigen können.

Der Beginn der Ausstellung an derKaje von Bremerhaven hat fast etwasFilmreifes.

Ja. Der Architekt Andreas Heller warim ersten Berufsleben Bühnenbildner,unter anderem am Thalia-Theater inHamburg. Er hat aber auch bei Filmengearbeitet. Andreas Heller hat vielen

Ausstellungsräumen eine ganz ein-zigartige Färbung und Perspektive ge-geben. Und in unserem ersten Kura-torium war unter anderem der oscar-gekrönte Kameramann Michael Ball-haus Mitglied.

Auch Musik spielt eine große Rolle.Kann sie Eindrücke nicht auch über-zeichnen, zu rührselig sein?

Das ist möglich. Aber wenn man ge-nau hinschaut, dann sieht man, dasswir unsere sehr sehnsuchtsvolle Titel-melodie, unseren fast amerikanischenJingle, in keinem der Räume einset-zen, die inszeniert sind. Sie läuft imneutralen Raum mit der Weltkugel.Auf Ellis Island läuft Stimmengewirr.So versuchen wir, die Menschen nochtiefer in die Thematik hineinzuziehen.Auch auf der Brücke hören die Besu-cher jetzt Musik – von Franz Schubert.

Es scheint, dass die Begeisterung fürdas Thema Auswanderung in denUSA noch ausgeprägter ist als inDeutschland. Woran liegt das?

Das ist das, was ich an den USA sehrbewundere, die Haltung: Wir sind ei-ne Einwanderernation – mit allenSchwierigkeiten, die das mit sichbringt. Jede Einbürgerung wird dortgefeiert. Ich finde es großartig, dassdie Amerikaner sagen: Ja, wir wolleneuch hier haben. Selbst bei den ille-galen Einwanderern aus Lateiname-rika könnte es diese Momente bald ge-ben. Das kann ich mir in Deutschlandüberhaupt nicht vorstellen. Wenn manallein sieht, wie mit den TausendenMinderjährigen umgegangen wird, diejedes Jahr als Flüchtlinge hierher-kommen. Es ist unfassbar, wie dieseKinder und Jugendlichen behandeltwerden, dass man diese Menschennicht irgendwann einfach willkommenheißt. Dieses „Herzlich willkommen“in den USA ist sehr berührend undmenschlich. Ich wünsche mir sehr,dass sich dieses Gefühl irgendwannauch stärker in Deutschland entwi-ckelt. Das ist einer der Gründe, wa-rum wir hier als Museum noch viel zutun haben. Unser Ziel ist es, dass die-ses Willkommensgefühl auch inDeutschland stärker wird.

Gibt es ein Schicksal eines Auswande-rers, das Sie besonders ergriffen hat?

Ja. Ein ganz besonderes Erlebnis hatteich, als ich noch in Chicago geforschthabe. Ich habe damals eine Frau in ei-

nem Wohnstift besucht. Ihr ging es of-fenbar finanziell sehr gut, weil es einsehr exklusives Wohnstift war. Abereiner ihrer Mittelfinger war gekappt.Sie hat erzählt, dass sie mit der Handin einen Mähdrescher gekommen war.Was mich völlig irritiert hat, war, wiesie geredet hat. Sie war 104 Jahre altund hat mich im Schaumburger Plattangesprochen. Und mir war so pein-lich, dass ich das nicht sprechen konn-te. (lacht) Vor mir saß eine geboreneAmerikanerin, die nie in Deutschlandgelebt hat. Damals habe ich angefan-gen, über Einwanderung ganz andersnachzudenken: Was ist Identität? Wasist Integration?

Was sind Ihre Antworten?Die Frage ist, was man voneinandererwartet. Hat nicht jeder ein Recht aufsein persönliches Heimatgefühl? Undwie auch immer das aussehen mag –es geht niemanden etwas an. Was

„Alle Menschen, die man nach der Flucht trifft,kennen einen nur mit diesem Trauma. Die Fluchtwird zu einer neuen Identität.“ Simone Eick

Simone Eick

Die Zeitreise im Museum beginnt dort, wo die Auswanderung vor 150Jahren ebenfalls ihren Auftakt nahm: an der Bremerhavener Kaje. Foto: dpa

JournalJournal 20. April 2013 4/5Auswanderer

Wie die Flucht das neue Leben prägt

DerWeg auf das Schiff: Wie einst die Auswanderer in Bremerhaven desJahres 1888 steigen die Besucher die Gangway hoch. Foto: Werner Huthmacher

In der dritten Klasse über den Atlantik: So sah es im Zwischendeck desSegelschiffes „Bremen“ aus. Drei Schiffstypen sind zu sehen. Foto: H. Dehn

Die Neue Welt vor Augen: Im Nachbau von Ellis Island können Be-sucher testen, ob sie 1907 hätten einreisen dürfen. Foto: Stefan Volk

Wie in den 70er-Jahren: In einem neuen Museumsteil wird das Leben derEinwanderer in Deutschland beleuchtet. Foto: Deutsches Auswandererhaus

Seit 2005 kann man in Bremerhaven dem Schicksal von Millionen deutscher Auswanderer nachspüren: Im Deutschen Auswandererhaus direkt an der Kaje,wo früher die großen Schiffe ablegten, gibt das einmalige Erlebnismuseum tiefe Einblicke in die Lebens- und Gefühlswelten der Emigranten und Immig-ranten. Museumsdirektorin Simone Eick will mit der Ausstellung auch in Deutschland für eine Willkommenskultur wie in den USA werben.

Grand Central Terminal: Hier erfährt man, wie deutscheEinwanderer sich einlebten. Foto: Deutsches Auswandererhaus

Bilanz an der Kaje

Was Auswanderer bewegt

Warum nur flüchten und wandernMillionen Menschen von einemOrt zum anderen? Antwortendarauf gibt es im DeutschenAuswandererhaus in Bremerhavenund von MuseumsdirektorinSimone Eick im Interview.

Page 5: Journal - lima-city.de

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Carl Brühl (links) ist 1853 mit ei-nem halben Jahr der jüngste Aus-wanderer, der in die VereinigtenStaaten aufbricht.

Ein Dorf wandert aus: Vor 160 Jahren brechen die Einwoh-ner von Sespenroth nach Amerika auf. Im Westerwald sindihre Spuren weitgehend verwischt. Wisconsin haben dieAuswanderer hingegen ihren Stempel aufgedrückt.

VomWesterwaldin den WildenWestenAm 30. Mai 1853 sind alle 117 Passa-giere der „Leander“ an Deck. Wie ei-ne Verheißung liegt New York vorden Auswanderern. Noch wartet dieStadt nicht mit ihren berühmten Wol-kenkratzern auf. Und auch die Frei-heitsstatue wird erst mehr als 30 Jahrespäter auf Liberty Island geklotzt.Dennoch staunen die 48 Westerwälderan Bord, als am Horizont leuchtend rotdie Backsteinhäuser von Manhattanauftauchen. Was für ein Moloch! Lan-ge ist für viele Sespenrother das ver-schlafene Provinzstädtchen Monta-baur mit seinen paar Tausend Ein-wohnern das Maß aller Dinge. DochNew York sprengt alle Dimensionen.Das Tor zur Neuen Welt droht in den50er-Jahren des 19. Jahrhunderts un-ter dem Ansturm der Emigranten ge-radezu zu bersten. Eine Million Men-schen drängen sich in den Straßen,die vor Aktivität brodeln.

Der Dreimaster legt an der Süd-spitze der Halbinsel am Hudson Riveran. Endlich wieder festen Boden unterden Füßen! Acht Wochen auf derschwankenden Brigg haben den Wes-terwäldern arg zugesetzt. Manchedürften schon nach wenigen Tagenganz grün im Gesicht gewesen sein.Nein, geborene Seefahrer sind die Se-spenrother wahrlich nicht. Es sindschon welche im Gelbach ertrunken.Und dann liegen plötzlich 5000 MeterWasser unterm Kiel. Bis zu zehn Män-ner, Frauen und Kinder sind in denkleinen Kabinen zusammengepfercht,die Luft ist stickig. Die Spanten knar-ren bedrohlich. Gut, dass die Musi-kantenfamilie Brühl für etwas Ab-wechslung sorgt. Immerhin haben alledie Überfahrt überlebt. Das ist keineSelbstverständlichkeit. Das Logbuchverzeichnet sogar eine Geburt.

Jetzt wanken sie mit unsicherenSchritten von Bord. Und werden gleichvon Mitarbeitern der Einwanderungs-behörde in Empfang genommen. „Siemussten sich der Größe nach aufstel-len“, sagt Guido Feig, der sich inten-siv mit der Geschichte der Sespenrot-her beschäftigt hat. Penibel werdenNamen, Herkunft, Alter und Berufeder Neuankömmlinge vermerkt. Feighat die Original-Passagierliste in ei-nem Archiv gefunden und in gut zweiMetern Größe ausgedruckt. Jacob

Brühl heißt jetzt Brill, sein Sohn Jo-hannes John. Schnell wird klar: MitWäller Platt kommen sie hier nichtweit. Da ist der Empfang des Nassau-er Generalkonsuls eine Wohltat. Zeitfür einen Stadtrundgang gibt's hinge-gen nicht. „Sie waren wahrscheinlichnur einen Tag in New York“, sagtFeig. Dann geht's per Bahn weiternach Westen.

Rückblick: An Ostern ist die Grup-pe ins Ungewisse aufgebrochen, hatalle Zelte hinter sich abgebrochen.Mit ihnen verschwindet Sespenrothnach 500 Jahren von der Landkarte.Ihr Hab und Gut haben die Bewohnerfür 8573 Gulden an die Nachbarn inHeilberscheid verkauft. Gut ein Drittelgeht für die Überfahrt drauf. „63 Gul-den pro Kopf kostete die Karte“, hatFeig recherchiert. Das wenige, was siebesitzen, passt auf zwei Handkarren,die sie bis Koblenz hinter sich herzie-hen. Es ist ein Abschied für immer.Rückfahrttickets hat niemand gelöst.

Und so mischt sich in die Auf-bruchstimmung auch Wehmut. Wes-terwälder sind bodenständige Men-schen. Und Sespenroth liegt idyllischim Gelbachtal. Doch von der schönenAussicht allein wird man nicht satt.Der Boden ist karg, taugt nur zur Wei-dewirtschaft. Und die heraufbrechen-de Industrialisierung droht den Korb-flechtern, Kesselflickern und Schnal-lenmachern die Existenzgrundlage zuentziehen. Viel zu verlieren haben siealso nicht. Schon gar nicht Anna Kuss-

mann. Die 60-Jährige ist erst kurz zu-vor wegen „Landstreicherei“ mit demGesetz in Konflikt geraten.

Und so bricht das ganze Dorf auf,als sich die Gelegenheit bietet. Nurdrei Familien bleiben zurück. Sie wer-den auf die Nachbarorte verteilt. DerRest stellt am 26. Februar 1852 einenentsprechenden Antrag bei der Re-gierung des Herzogtums Nassau inWiesbaden. Die 21 Gebäude kommenunter den Hammer. Das sichert ihnenwenigstens ein kleines Startkapital in

Die Familie Brühlaus Sespenrothbringt es inAmerika schnellzu einem gewis-sen Wohlstand.Aus Musikernwerden selbst-ständige Hand-werker. Das un-datierte Fotozeigt NikolausBrühl, dessenVater John 1853als Sechsjährigermit dem Drei-master „Leander“nach Wisconsinausgewandertist.Fotos: Archiv Guido Feig

„In dem Versteigerungsprotokoll befindensich nur zwei Unterschriften. Die Übrigenhatten sich mit drei Kreuzen eingezeichnet.“Aus „Alt Montabaur“ zu 110 Jahren Auswanderung

der neuen Heimat. Laut eines altenZeitungsberichts finden sich in denVersteigerungsprotokollen nur zweiUnterschriften. Die übrigen Bewohnersollen drei Kreuze unters Dokumentgesetzt haben. Am 29. März 1853 ma-chen sich die 48 Sespenrother auf denWeg. Der jüngste ist der sechs Monatealte Carl Brühl, die ältesten sind be-reits 60 Jahre – für damalige Verhält-nisse Greise. Familie Klein bricht mitacht Kindern auf. Unter den Emig-ranten finden sich auch sonst viele Na-men, wie sie noch heute im Wester-wald verbreitet sind: Hoffahrt, Diehl,Ickenroth, Nebgen. Der Kontakt brichtschnell ab. Bis heute ist kein Brief ausden USA in die Heimat aufgetaucht.

Vom Dorf selbst ist nichts geblie-ben. Alle Spuren sind verwischt. Wersich im Gelbachtal in der Wüstung um-schaut, stößt nur noch auf eine Hin-weistafel und ein Kreuz. Von denWohnhäusern, der Kapelle, dem Ba-ckes und den sechs Ställen sind nichtmal mehr Grundmauern zu erkennen.Die neuen Besitzer haben alle Häuserabgebaut oder die Reste als Bauma-terial genutzt. Ganz anders in Wis-consin. Die Namen der SespenrotherNachfahren füllen hier noch immerdie Telefonbücher. Im Juni 1853 er-

reichen die Westerwälder die GroßenSeen. Die meisten siedeln sich im Nor-den von Milwaukee an, das damalsschon rund 30 000 Einwohner hat. DieGruppe bleibt weitgehend zusammen,man hilft sich gegenseitig. Schon baldwird überall gesägt und gehämmert.Die schmucken Holzhäuser stehenzum Teil noch heute. Denn anpackenkönnen die Neuankömmlinge allemal.Verwöhnt sind sie nicht.

Schon am 24. August 1853 wird dieerste Amerikanerin mit SpesenrotherWurzeln geboren: Elisabeth Stiehl.Guido Feig hat den Eintrag im Tauf-register der Kirche St. Mary aufgestö-bert. Die übrigen Westerwälder müs-sen etwas länger warten, bis sie dieUS-Staatsbürgerschaft erhalten. AusUntertanen werden freie Männer – einerhebendes Gefühl. Bei der Schick-salswahl 1860, bei der Lincoln US-Prä-sident wird, dürfen viele wohl schonihre Stimme abgeben. Und wer trotz-dem Heimweh bekommt, kann es indeutschem Bier ertränken.

Doch kaum jemand wird den Schrittbereut haben. Zumal es viele schnellzu Wohlstand bringen. Die Brühls ma-chen sich als Klempner und Blech-schmiede selbstständig. Später eröff-nen sie eine Autowerkstatt. Ein Spross

hat die künstlerischen Gene der Vor-fahren geerbt: Henry William Brühl istauf Eisskulpturen spezialisiert.

Andere Westerwälder haben dieEnge des Gelbachtals gegen die Wei-te der Prärie getauscht – Indianer in-klusive. Eine bizarre Vorstellung, wieder Wäller mit dem Chippewaschwätzt. „Aber die waren friedlich“,betont Feig. Den Farmern werdenrund 40 Hektar große Parzellen zuge-teilt. Und nicht nur das: Der Boden istauch noch ungemein fruchtbar, wenner denn mal gepflügt ist. Während siein der alten Heimat oft schon nach we-nigen Zentimetern auf Schiefer kratz-ten, können sie hier metertief graben– ein Eldorado für Bauern.

Weniger Glück ist hingegen denenbeschieden, die im Goldrausch nachKalifornien aufgebrochen sein sollen.Weit kommen sie nicht. Die Gruppewird am Mississippi von Indianernüberfallen und skalpiert. Nur zweiMänner kehren nach Milwaukee zu-rück. So wird es zumindest überliefert.Doch Feig hat da so seine Zweifel.„Ich habe bei meinen Recherchen kei-ne Belege gefunden.“

DIRK EBERZ

JournalJournal6 20. April 2013 Auswanderer

Nach Westen

Ganze Dörfer verschwinden

Besonders im 19. Jahrhundertmachten sich ganze Dörfer ausdem heutigen Rheinland-Pfalz indie Neue Welt auf. Ein Beispieldieser Auswanderung: das DorfSespenroth im Westerwald.

Elisabeth Meurer, geborene Icken-roth, bei ihrem 85. Geburtstag imJahr 1904. Auch sie ist in Sespen-roth geboren.

Henry William Brühl, Sohn vonCarl Brühl, setzt mit seinen Eis-skulpturen die künstlerische Tra-dition der Familie fort.

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JournalJournalAuswanderer 20. April 2013 7

Sie ist die älteste deutsche Interessenvertretung in den USA:die German Society in Philadelphia. Oft blicken ihre 900Mitglieder in die stolze Vergangenheit, vergessen dabei aberdie Zukunft. Das soll sich ändern.

Das Deutschland der Nachkriegszeitversteckt sich in einem Keller in Phi-ladelphia. Am Eingang lächelt einender freundliche Köbes aus dem Rhein-land an. Er trägt Weste, Fliege und inseinen Händen einen Gaffel mit Kölsch.Es ist die Werbefigur der gleichnami-gen Brauerei. Wenige Schritte weiterauf dem braun gefliesten Boden er-reicht man den bayerischen Teil desKellers. Hinter der Theke laden Wer-bebleche zum Genuss bayerischerWeißbiere ein. Daneben sind auf einerKarte „The German Vineyards“ – diedeutschen Weinregionen – zusam-mengestellt. „German wines – outs-tanding among wines“ – deutsche Wei-ne, herausragend unter allen Weinen,ist dort zu lesen. An den Wandsäulenhängen die Wappen der16 deutschen Bundeslän-der. In die braunen Holz-wände sind Fensterge-mälde eingelassen. Auf ei-nem ist zu lesen: „Gottse-ligkeit, Arbeitsfleiss undtapferer Mut werden dieKinder unserer Deutschendurchbringen.“ Es scheint,als habe jemand in den50er-Jahren die Uhren an-gehalten – im Ratskellerder German Society inPhiladelphia, dem ältestenKlub der heimatfernenDeutschen in den USA.

Hardy von Auenmueller steht hin-ter der Theke des Ratskellers. „Willstdu was trinken?“, fragt der hagereMann. Das Du ist typisch amerika-nisch, das Deutsch akzentfrei – ob-wohl der 75-Jährige schon seit 1959 inden USA ist. Der Chemie- und Phar-mariese Höchst schickte ihn damalsals 22-Jährigen für ein Jahr nach New

York. Er landete ganz oben, im82. Stockwerk des Empire State Buil-ding, des damals höchsten Gebäudesder Welt. „Das war der absolute phy-sische Zenit meines Lebens“, sagt erheute. New York wurde für ihn zu ei-nem „absoluten Paradies“. Höchstverlängerte Hardys Vertrag, bis 1979blieb er dem Konzern treu.Dann wollte er auf eigenenBeinen stehen und wurdeUnternehmensberater.

Der Mann mit der hohenStirn und dem ergrauten Haarstellt ein Bier auf den Tresen.Vor wenigen Monaten wäredas noch unmöglich gewe-sen. Die German Society hat-te nur eine Lizenz zum Aus-

schank an Mit-glieder. Hardy,der Aufsichts-ratschef, und seinVorstandskollegeTony Michels ha-ben das geändert.Als beide vor ei-nigen Jahren andie Spitze der So-ciety rückten, wardie Gesellschafthoch verschuldet.

BesondersHardy hat den Klub finan-ziell wieder auf Kurs ge-bracht, wird Tony einen

Tag später in seinem Büro erzählen.Tony wanderte vor sechs Jahren we-gen der Liebe aus Krefeld nach Phila-delphia aus. Der heute 59-Jährigekommt aus jener Stadt am Nieder-rhein, von wo 1683 die ersten 13 deut-schen Familien unter der Führung desFranken Franz Daniel Pastorius nachPhiladelphia auswanderten. 100 000

Hardy vonAuenmueller

Deutsche folgten ihnen bis zur Revo-lution im Jahr 1776 in die britischenKolonien in Amerika. Sie kamen aufEinladung des Quäkers William Penn,der im 17. Jahrhundert die KoloniePennsylvania gründete und sie zu ei-nem Hort religiöser Freiheit machte.Heute thront seine Statue über Phila-delphias Altstadt. Er und Tony Mi-chels wollen diese Vergangenheit be-wahren. Aber sie wollen die GermanSociety auch für Jüngere öffnen. Tonysagt: „Der eigentliche Grund für un-sere Existenz ist ja nicht mehr da: Wirmüssen uns nicht mehr um Einwan-derer aus Deutschland kümmern. Die

brauchen uns nicht mehr.“ InZeiten von Google und Face-book, meint der 59-Jährige.

Doch viele der 900 Mitglie-der blickten nur in die Ver-gangenheit. „Die letzte großeEinwanderungsgruppe kam inden 50er- und 60er-Jahren indie USA. Diese Deutschen be-suchen uns, sie sterben aberlangsam aus. Und sie pflegenhier die Kultur ihrer Jugend.Sie waren hier – ebenso wie inDeutschland – beispielsweiselandsmannschaftlich organi-siert“, analysiert Tony Michels.Ähnlich schonungslos fährt erfort: „Unser Ratskeller ist fürmich der Albtraum meinerKindheit. Das ist das Deutsch-land der Nachkriegszeit, dasich nicht mag. Aber du erfüllstdamit die Erwartungshaltungder Amerikaner, die früher inDeutschland stationiert gewe-

sen sind. Bier, Bratwurst, Oktoberfest,Humtata.“

Im Ratskeller erzählt Hardy von Au-enmueller: Vor 249 Jahren war dasnoch völlig anders. Da war die Ger-man Society – damals noch in derCherry Street – eine Zufluchtsstätte,ein Rettungsanker für oft mittelloseund hoch verschuldete deutsche Ein-wanderer. Allein zwischen 1737 und1754 kamen 55 000 Deutsche nachPhiladelphia, wo sie ein Drittel der Be-

völkerung aus-machten, fast soviele wie die eng-lischsprachigenEinwohner. Dochviele Deutsche,berichtet Hardy,wurden „jahre-lang wie Sklavenausgenutzt“. Siemussten ihreSchulden für dieÜberfahrt mitharter, schlechtbezahlter Arbeit inHäusern reicherAmerikaner, inHandwerksbe-trieben oder Bä-ckereien abbe-zahlen. Historikerhaben herausge-funden, dass von

1700 bis 1775, am Vorabend der Re-volution, 40 Prozent der 255 000 Ein-wanderer aus Europa sogenannte Ver-tragsknechte (indentured servants)waren. Das heißt, dass sie für eine be-stimmte Zeit für eine Person oder einUnternehmen in Amerika arbeitenmussten, ohne dafür Geld zu bekom-men. Sie erhielten nur das Nötigstezum Leben und sollten so ihre teureReise abarbeiten.

1765, ein Jahr nach ihrer Grün-dung, brachte die schon aus 150 Mit-gliedern bestehende German Societyeinen Gesetzentwurf in das Pennsyl-vanische Parlament ein, der die Rech-

te deutscher Einwanderer deutlichverbessern sollte. Danach bekamenDeutsche beim Abschluss von Verträ-gen das Recht auf einen zweisprachi-gen Berater. Außerdem gaben diesevon der German Society gestelltenRechtsbeistände Rat bei allen sozialenund wirtschaftlichen Fragen.

Vor allem verbesserte das Gesetzaber die Lage der Schiffsreisenden.Künftig gab es Mindestanforderungenfür den zur Verfügung gestellten Platz.Denn oft stopften die Eigner aus Pro-fitgier so viele Auswanderer wie mög-lich in ihre Schiffe. Außerdem wurdensie durch das Gesetz verpflichtet, sichum die gesundheitliche Versorgungihrer kranken Passagiere zu küm-mern. Starb ein Auswanderer, dannwurden nur die Kinder für die Kostender Reise zur Kasse gebeten – nichtmehr wie zuvor jeder Verwandte.

Die German Society tat all dies nichtnur aus Nächstenliebe. Denn ihr ersterVorsitzender Henry Keppele, der dasGesetz als Abgeordneter eingebrachthatte, war Besitzer von zwölf Schiffen.Damit gehörten ihm 5 Prozent derSchiffe, die zwischen 1752 und 1775Einwanderer nach Amerika brachten.Allein in diesem Zeitraum transpor-tierten Keppele und sein Schwieger-sohn John Steinmetz fast 2300 Deut-sche in die Neue Welt. Und die neuenVorschriften garantierten ihnen höhereProfite, weil dadurch weniger Men-schen auf dem Schiff starben.

Doch auch für die Einwanderer wardas Gesetz ein Segen: Oft wurden diefrüher wie Leibeigene behandeltenNeubürger danach mit kleinen Sum-men aus ihrem Abhängigkeitsver-hältnis freigekauft. Die Zahl der Ver-tragsknechte sank stetig: Nach der Re-volution waren es bis 1809 nur noch 8Prozent der Immigranten, danach gingihre Zahl auf null. Die German Societyhalf diesen oft armen, kranken und be-dürftigen deutschen Einwanderern mitGeld, Essen, einer Unterkunft, medi-zinischer Unterstützung und nicht zu-letzt rechtlichem Rat. Später über-nahm die Gesellschaft Sozialleistun-

gen für Kriegswaisen und entwickeltesich zur zentralen Arbeitsvermittlung.

Nach der Revolution wurden auchdie Deutschen Bürger der VereinigtenStaaten. Und wie so oft in einer ausEinwanderung gewachsenen Nationversuchte auch die German Society,die deutsche Identität zu bewahren.Sichtbarstes Zeichen war die 1817 auseinigen Büchern entstandene Biblio-thek. Im obersten Geschoss der heuti-gen German Society in der Spring Gar-den Street ist diese größte deutsch-sprachige Bibliothek außerhalb vonDeutschland zu besichtigen. Zahlrei-che weiße Büsten deutscher Philoso-

phen und Denkerwie HeinrichKleist oder Ale-xander von Hum-boldt zeugen vondem schon damalsmit der Bibliothek

verfolgten Ziel, die deutsche Hoch-kultur zu pflegen. Die vielen Hand-werker und Bauern unter den deut-schen Einwanderern machten der Ger-man Society aber einen Strich durchdie Rechnung. Schnell fanden sich inden Regalen vor allem Klassiker derTrivialliteratur – heute fallen sofort dievielen Konsalik-Romane ins Auge. Au-ßerdem verlangten immer mehr Mit-glieder der German Society, dass eng-lischsprachige Bücher angeschafftwerden. Schon 1818 wurde Englischzur offiziellen Sprache in der Society.

Auch wenn die deutsche Identitätdurch die Einwanderungswellen des19. Jahrhunderts – in den 1850er-Jah-ren kamen 100 000, in den 1880er-Jah-ren mehr als 200 000 Einwanderer, imgesamten Jahrhundert vor dem ErstenWeltkrieg 5,5 Millionen Deutsche nachAmerika – wieder betont wurde: Spä-testens nach den zwei Weltkriegendes 20. Jahrhunderts „haben viele Ein-wanderer das Deutschtum völlig bei-seitegeschoben“, sagt Hardy. „Sie ha-ben ihre Namen geändert, kein WortDeutsch mehr gesprochen, auch nichtmit ihren Kindern.“

Heute Abend ist Deutschsprechenerwünscht: Die German Society lädtzum „Konversationsabend“. Es gehtum Harry Pfund, nach 1945 hochran-giges Mitglied der Gesellschaft, Nach-komme eines deutschen Auswande-rers nach der gescheiterten Revolutionvon 1848. Nach dem Zweiten Welt-krieg half er im Auftrag der Quäker-organisation American Friends Ser-vice Committee Landsleuten in zer-bombten Städten wie Freiburg oderKoblenz mit Lebensmitteln und Klei-dung über den harten Winter.

Tony Michels ist nicht mehr oft imRatskeller, im Albtraum seiner Kind-heit. Er will lieber über die Zukunftder German Society reden. Nicht imRatskeller, sondern in seinem Büro –dort, wo sie nicht nur über das Ges-tern sprechen, sondern vom Morgenträumen.

CHRISTIAN KUNST

„Viele Einwanderer haben ihr Deutschtumbeiseitegeschoben. Sie haben ihre Namen ge-ändert, kein Wort Deutsch mehr gesprochen.“Hardy von Auenmueller

Das deutsche Amerikawill sich neu finden

Deutsche Tugenden werdenauf den Fenstergemälden imRatskeller der German So-ciety noch großgeschrieben.Doch dass sich allein mit derstolzen Vergangenheit keineZukunft gestalten lässt,wird den vielen älterenMitgliedern immer mehrbewusst.Fotos: Christian Kunst

Vergilbte Erinnerung (von links): Die Statue in Philadelphias Stadtteil Germantown erinnert an Franz DanielPastorius, den Urvater der Deutschamerikaner. Die Bibliothek ist die größte deutschsprachige außerhalb vonDeutschland. Das Wandgemälde zeigt die wechselvolle Geschichte der Deutschamerikaner.

Das deutsche Erbe

German Society – was war?

Die deutsche Gesellschaft hat ei-ne fast 250-jährige Geschichte.Einst als Hilfsorganisation fürdeutsche Einwanderer gegründet,ist man heute auf der Suche nachneuen Aufgaben.

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„Als Kinder, bei Gewitter in einerKornhocke, haben wir gedacht: Unssieht keiner. Aber wir werden alle

gesehen.“Die deutsche Amerika-Auswanderin Gesine Cre-spahl im Roman „Jahrestage“ von Uwe Johnson

Keiner weiß, wie diese Geschichtewirklich begonnen hat – nicht Win-fried Schneiders, der Chronist der Ge-meinde Pünderich am Rand des Krei-ses Cochem-Zell, nicht derNew Yorker Jim Nies-sen, Nachfahre vonAuswanderern ausPünderich. Diebeiden Männerhaben jahre-lang Mosaik-steine dieserGeschichtegesammelt.Aus ihnen ent-steht ein Bildmit einigenLücken. Mankann sie füllen, mitwohlbegründetenVermutungen, mit ei-nem Vielleicht. Vielleicht al-so hat die Geschichte der Familie Ser-wazi aus Pünderich so begonnen:„1857: sehr trockener Winter. Heißerund sehr trockener Sommer. Nieder-schlagsarmes Jahr“, schreibt WinfriedSchneiders in seiner Chronologie his-torischer Klimadaten für Pünderich. Eswar ein hartes Jahr für die 650 Ein-wohner des Moselortes. Unter ihnenAlbert Josef Serwazi, geboren 1812 inMesenich, einige Kilometer moselab-wärts. Und seine 1816 in Pünderich ge-borene Frau Anna Maria Filzen, derenVorfahren schon Mitte des 18. Jahr-

hundert in Pün-derich lebten.1838 heiratetenbeide und zogen

in das Haus der Fil-zens mit der Nummer109. Es muss damals in ei-nem sehr guten Zustandgewesen sein. WinfriedSchneiders erklärt es so:„Es wurde jedenfalls mitKlasse fünf und 9 Thalern

besteuert.“ Vor dem Haus befand sichdamals ein Garten, wo die Serwazisvielleicht Gemüse anpflanzten.

Aus ihrem Fenster konnte die Fa-milie auf das schauen, was den klei-nen Moselort bis heute berühmt macht:die steilen Weinberge unterhalb der

Marienburg. DerWein aus Pünde-rich galt als einerder besten der ge-samten Moselre-gion, wegen derSüdlage, wegendes steilen Hangs. Auch die Serwazisdürften dort Wein angebaut haben,vermutet Chronist Schneiders.Schließlich hätten sie in einem typi-schen, eher großen Winzerhaus ge-wohnt. „Der Weinbau brachte ihnenaber nur ein paar Pfennig extra. Vor al-lem hatten sie eine Landwirtschaft fürden Eigenbedarf am Rande des heu-tigen Ortes“, erzählt er. Vermutlichhaben sich Albert Serwazi und Schnei-ders Ururgroßvater Caspar Dahm ge-kannt. Denn Dahm war wie alle Vor-fahren Schneiders' Fährmann. Mit ei-nem Boot brachten die Dahms dieWinzerleute von Pünderich zu ihrenReben unterhalb der Marienburg aufder anderen Moselseite.

Die Ehe der Serwazis begann tra-gisch: Ihr erstes Kind Peter starb nurvier Stunden nach seiner Geburt. Derfrühe Tod war nichts Seltenes in die-sem Jahrhundert, und er hatte die Fa-

milie nicht das erste Mal hartgetroffen. Alberts Vater

starb, als sein Sohnzwei Jahre alt war,

Anna Filzens Va-ter, als sie sechswar – ertrunkenin der Mosel. Nurein Jahr, nach-dem ihr erstesKind gestorbenwar, kam dernächste Serwazi-

Spross zur Welt:Wieder nannten sieihn Peter. In den

nächsten 19 Jahrengebar Anna Filzen acht

weitere Kinder, nur Jakob,1854 zur Welt gekommen, starb, bevordie Familie 1857 von der Mosel nachAmerika auswanderte.

Es scheint, dass die Serwazis keinearme Familie waren. Alberts Elternwaren Bootsbauer in Mesenich, ausAnnas Familie kamen einige Bürger-meister der Gemeinde Pünderich.Überhaupt war der Moselort anders

als viele Nachbargemeinden durchauswohlhabend, im 30-jährigen Kriegwar die Bevölkerungszahl längst nichtso stark gesunken wie andernorts. Of-fenbar war der Ort von dem jahr-zehntelangen Gemetzel größtenteilsverschont geblieben.

Doch die Hungerjahre nach 1850trafen auch Pünderich hart. Die Win-zerchronik spricht von den sieben ma-geren Jahren von 1850 bis 1856. Chro-nist Schneiders schreibt in der Dorf-geschichte: „Alles in allem gesehen,war die wirtschaftliche Lage damalsfür den Winzerstand sehr schlecht. Da-zu kam noch, dass der verhältnismä-ßig wenige Most, der geerntet wurde,im Notverkauf aus dem Haus gingund somit unter Wert bezahlt wurde.Viele Familien nagten am Hunger-tuch.“ Zwangsläufig mussten sie sichGedanken über ihre Zukunft machen,die ja durch die paar Weinreben aufder anderen Moselseite kaum gesi-chert war. Zudem drückten die vonPreußen – seit 1814 gehörte die Mo-selregion zur preußischen Rheinpro-vinz – eingeführten Moststeuern unddie Einfuhrzölle für Wein in den an-deren Staaten des Deutschen Bundesdas karge Einkommen der Winzernoch weiter.

Auch das andere Standbein der Ser-wazis war brüchig: die Landwirt-schaft. Da waren nicht nur die Miss-ernten der Jahre 1846 und 1853, diedie Preise für Lebensmittel in die Hö-

Hunderttausende Menschenan Rhein und Mosel habenihre Heimat im 19. Jahrhun-dert in Richtung Amerikaverlassen. Mehr als 500 wa-ren es allein in Pünderich.Darunter war auch die acht-köpfige Familie Serwazi, diein Philadelphia eine neueHeimat fand.

he trieben und große Teile der Bevöl-kerung verarmen ließen. Vor allemwurden die Ackerflächen immerkleinteiliger und damit unwirtschaft-licher, weil auch in der preußischenRheinprovinz an der während Napo-leons Herrschaft eingeführten Real-teilung festgehalten wurde. Alle Er-ben wurden dabei gleichgestellt. An-

gesichts der enormen Be-völkerungszunahme –

in Rheinhessen et-wa stieg die Ein-

wohnerzahlzwischen 1816und 1834 vonknapp160 000 auf205 000 –hatte dieseRegelung fa-tale Folgen.

Der kalte Win-ter 1856/57, indem die Kartof-

feln auf den Pün-dericher Äckern er-

froren, dürfte die Not derSerwazis verschärft haben. Geradewar ihr zehntes Kind Mathilde gebo-ren worden. Sie mussten sich jetzt umacht Kinder kümmern.

Doch so nach-vollziehbar esheute erscheinenmag, dass dieGroßfamilie ihrGlück in der Neu-en Welt suchte, sowenig war diesdamals. Dass siees schließlich dochwagten, könntezwei Gründe ge-habt haben. Viel-leicht zogen auch

durch Pünderich Reiseagenten. „See-lenverkäufer“ nennt Schneiders sie,weil diese Vermittler die Auswande-rungswilligen oft schon völlig ausge-nommen hatten, ehe sie die Häfen in

Le Havre, Dünkirchen, Antwerpen,Amsterdam, Bremen und Hamburg er-reichten. Doch die Versprechungen inihren Prospekten waren auch nur all-zu verheißungsvoll: „Ihr werdet einLeben finden, wie es hier nur die Edel-leute führen, das Land quillt über vonFruchtbarkeit, und Milch und Honigfließen wie im Gelobten Lande, unddas Klima ist mild und warm dasganze Jahr.“

Noch wahrscheinlicher ist jedoch,dass sich die Serwazis nicht allein aufdie Versprechungen der Agenten,sondern eher auf die Erfahrungenzweier Familien aus Pünderich verlie-ßen, die schon vor ihnen nach Ameri-ka ausgewandert waren: die Rocken-bachs und Franzens. Peter Rocken-bach (geboren 1835) und sein BruderJohann Jakob (geboren 1832) verlie-ßen ihre Heimat bereits 1852. ZweiJahre später wanderte Johann Mater-nus Franzen, der sich später MartinFranzen nannte und 1830 in Pünde-rich geboren war, nach Amerika aus.Auch wenn es keinen dokumentiertenBriefwechsel gibt, spricht vieles dafür,dass die drei Familien im Kontakt mit-einander standen, auch als zwei be-reits in Amerika waren. Denn im Jahr1861 heiratete Martin Franzen Barba-ra Serwazi (siehe rechtes Foto), die äl-teste Tochter von Albert und Anna.Und drei Jahre später vermählten sichder Tischler Peter Rockenbach unddie zweitälteste Serwazi-Tochter Ger-trud. All dies geschah in Manayunk,einem Stadtteil von Philadelphia –dem Ort, wo 1683 die ersten 13 deut-schen Familien aus Krefeld unter derFührung des Franken Franz DanielPastorius gelandet waren.

Es ist der 3. Juni 1857, als Albertund Anna Maria Serwazi in Pünderichzusammen mit ihren acht Kindern undzehn weiteren Bürgern der Moselge-meinde ein Schiff besteigen. ChronistSchneiders weiß dies aus dem Ge-meindearchiv. Insgesamt gab es zwi-schen 1825 und 1913 mehr als 500Auswanderer aus Pünderich. Mehr als300 zog es nach Amerika, den Restnach Brasilien. 1857 könnte das Schiffder Serwazis das einzige gewesensein, denn in diesem Jahr wandertennur 20 Personen nach Amerika aus.

Vielleicht haben schon damals dieKinder der Volksschule am Ufer ge-standen und das Lied gesungen, des-sen Text bis heute überlebt hat: „Trä-nen hab ich viele, viele vergossen,dass ich scheiden muss von hier. Dochmein lieber Vater hat es beschlossen,aus der Heimat wandern wir. Aus derHeimat wandern wir. Heut auf ewigvon dir. Drum ade, so lebet wohl.“ DieSpur der Serwazis verliert sich da-raufhin für zwei Jahre und tauchtdann wieder auf: in Manayunk.

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Die Alte Welt

Warum sie auswanderten

Missernten, finanzielle Nöte undAbenteuerlust trieben im 19.Jahrhundert Millionen Deutsche indie Neue Welt. Nicht alle schafftenden Neustart. Den Serwazis ausPünderich ist er gelungen.

Mit Schiffen wie diesen – hier die „George Washington“ der Norddeutschen Lloyd – wurdenMillionen Einwanderer von Bremerhaven nach New York gebracht. Foto: Archiv Ballinstadt

Warumsind Sie in dieUSA ausge-wandert?

Um zu heiraten. Ich habe meine ame-rikanische Frau schon 1984 inDeutschland kennengelernt. Dannhaben wir uns 20 Jahre lang aus denAugen verloren, als sie 1986 nach derTschernobyl-Katastrophe ausDeutschland weggegangen ist. Siewar Opernsängerin und ich Bühnen-arbeiter, weil ich nach meinem Studi-um und dem ersten Job bei der Lan-desregierung von NRW eine Pausebrauchte.

Unddann?2003 habe ich an-gefangen, Patriciazu suchen. Ich habenie geheiratet.Denn ich habe ge-spürt, dass ich sienicht hätte gehenlassen sollen. Erstnach einem Jahrbin ich im Internetauf den Text einesStudenten gesto-ßen, der darin vonseiner wundervol-len Gesangstrai-nerin an der Uni-versität von Phila-delphia schwärmte.Dann habe ich ihreine E-Mail ge-schrieben. FünfTage später bekamich eine Antwortvon ihr. Ein halbesJahr später hat sie mich in Deutsch-land besucht. Ich hatte Glück, weil sieauch noch nicht verheiratet war. 2008haben wir in den USA geheiratet.

Warumwurde die German Society2009umstrukturiert?

Hardy von Auenmueller hat die Ger-man Society als ihr Präsident von 2004bis 2009 finanziell konsolidiert. Ichhabe dann gesehen, dass es damit al-lein nicht getan ist, dass wir auchwieder etwas entwickeln müssen.

Wenn das nicht gelingt, wird die Ger-man Society die nächsten 249 Jahrenicht überstehen. Denn der eigentli-che Grund für unsere Existenz istnicht mehr da: Wir müssen uns nichtmehr um Einwanderer aus Deutsch-land kümmern. Die brauchen unsnicht mehr. Die meisten Fragen, dieman hat, bekommt man über Googlebeantwortet. Ich habe mir 2007 einenRechtsanwalt genommen, um meineEinwanderung abzuwickeln. Auchder andere Grund – die Erhaltung undBewahrung der kulturellen Identitätvor allem durch unsere Bibliothek – istnicht mehr so wichtig. Wer heuteKontakt nach Deutschland haltenwill, geht ins Internet. Der dritte Be-reich – die German Society als Be-gegnungsstätte von 900 Mitgliedern –trägt auf lange Sicht auch nicht.

Warum?Menschen wollen sich nicht mehr zuetwas verpflichten. Das ist in den USAnicht anders. Eine Mitgliedschaftbringt Dir nur den Mitgliedsbeitrag.Geld allein macht eine solche Orga-nisation nicht überlebensfähig. Des-halb habe ich gleich zu Beginn meinerAmtszeit ein „Mission and visionstatement“ – eine Zielvorgabe für2015 und 2050 – geschrieben. Dennwir brauchen eine langfristige Vision.

Wie sieht diese Vision aus?Ich sehe den wichtigsten Auftrag derGerman Society darin, unsere Kultur

im Ausland zu re-präsentieren. Wirmüssen Strategienentwickeln, um dieSociety wieder fürjüngere Einwan-derer interessantzu machen.

Wie könnten die-se Strategienaussehen?

Die jungen Ein-wanderer kommennicht mehr auto-matisch zur Ger-man Society, weilsie sich stattdessenüber soziale Medi-en wie Facebookvernetzen. Dieletzte große Ein-wanderungsgrup-pe kam in den 50er-

und 60er-Jahren in die USA. DieseDeutschen besuchen uns, sie sterbenaber langsam aus. Und sie pflegenhier die Kultur ihrer Jugend. Sie wa-ren hier – wie in Deutschland – bei-spielsweise landsmannschaftlich or-ganisiert. Das ist heute nicht mehr re-levant. Ihre Kinder und die neuenEinwanderer besuchen uns allerdingskaum noch, weil ihre Kultur hier nichtstattfindet. Unser Ratskeller etwa istfür mich der Albtraum meiner Kind-heit. So beschreibe ich ihn, wenn ich

Führungen durch das Haus mache.Das ist das Deutschland der Nach-kriegszeit, das Deutschland, das ichnicht mag. Aber du erfüllst damit dieErwartungshaltung der Amerikaner,die früher in Deutschland stationiertwaren. Die Stichworte lauten: Bier,Bratwurst, Oktoberfest, Humtata. Daskann man auch nutzen, weil es weiterein Teil der deutschen Kultur ist. Aberdas ausschließlich zu zeigen, ist einriesiger Fehler, weil es die Jungen

vertreibt. Deshalb müssen wir unsereZielgruppe erweitern. Und das hatFolgen für das Programm. Wir könneneine klassische Konzertserie anbie-ten. Aber die Musik meiner Genera-tion, der Menschen um die 50, findetnicht statt. Ganz zu schweigen vonder Musik und Kultur der Jüngeren.

Wie lässt sich das ändern?Erstens durch mehr Marketing: Ichhabe uns eine Präsenz auf Facebookund Twitter eingerichtet. Die Werbe-maßnahmen wurden erweitert, etwamit Plakaten in der Nachbarschaft.Denn die German Society war in die-sem Stadtteil relativ stark isoliert – einletztes Relikt in einer nicht mehrdeutschen Nachbarschaft. Es musssich aber auch der Inhalt ändern.

Inwiefern?Ich möchte dieses Haus zum erstenGebäude aus dem 19. Jahrhundert inPhiladelphia machen, das in fünf bissieben Jahren energieunabhängig ist.Erstens weil es sich rechnet und zwei-tens weil es das neue Deutschlandsymbolisiert. Deshalb versuche ich,deutsche Firmen dafür zu interessie-ren. Sie könnten damit zeigen, was

Tony Michels, Geschäftsfüh-rer der German Society inPhiladelphia, hat große Plä-ne für die Zukunft: Er willdas Gebäude der ältestendeutschen Gesellschaft inden USA energieunabhängigmachen und einen deutsch-amerikanischen Kindergar-ten gründen. All das soll dasBild der Deutschen in denUSA verändern.

Ausblick

German Society – was nun?

330 Jahre nachdem die erstenDeutschen nach Amerika kamen,sind ihre Nachfahren auf der Su-che nach ihrer Identität. Was istihr Beitrag zur US-Gesellschaft?

deutsche Technologie kann. Deutsch-land hat unheimlich viel zum Aufstiegder USA beigetragen. Aber derzeitjammern viele Deutsche in den USAnur darüber, dass dies nicht ausrei-chend gewürdigt wird. Die Deutschen,die hier als Immigranten herkamen,haben aber auch gezielt versucht,Amerikaner zu werden. Sie wollten ih-re nationale Identität nicht so stark be-halten wie Italiener oder Polen. Des-halb bringen die Amerikaner nur we-nige Namen mit Deutschland in Ver-bindung, oft nur Menschen wie derRaketenforscher Wernher von Braun.Deshalb hat die Society auf einemSchild eine Liste von Deutschen zu-sammengestellt, die wichtig für dieEntwicklung Amerikas waren.

Es geht also auch darum, denBegriffDeutschland anders zu besetzen?

Ja. Wir möchten zeigen, dass Deutsch-land ein interessantes und politischfortschrittliches Land ist. Es geht unsdarum, das Deutschlandbild zu verän-dern. Die Amerikaner sind oft über-rascht, was es in Deutschland alles gibt.

Was soll sich inhaltlich noch ändern?Wir müssen das Programm für die zeit-genössische Kultur öffnen. Das istdeutlich schwieriger, als das Gebäudeumweltverträglicher zu gestalten. Wirhaben 2008 eine Theatergruppe ausKrefeld hierher geholt – finanziert überden Deutschen Bundestag. Im Sep-tember hatten wir zwei Konzerte mitMusik von Arnold Schönberg. Das isteine schwierige Musik, und es kamenleider nur 50 Gäste. Aber die Musikzeigt ein anderes Bild von Deutschland.

Dochwoher soll das Geld für diese zu-sätzliche Kultur kommen?

Man beschafft sich das Geld. MeinZehnjahresplan ist es, genügend Geldzu erwirtschaften, um 15 000 Dollarim Jahr für Kultur aus Deutschlandausgeben zu können. Dafür müssenwir unser Angebot so erweitern, dasswir einerseits mehr Geld einnehmen

können und andererseits das Interes-se an deutscher Sprache und Kulturnachhaltig fördern. Mein großerTraum ist ein zweisprachiger deutsch-amerikanischer Kindergarten.

Warum?Wenn Amerikaner etwas anDeutschland mögen, dann ist es Ord-nung, Disziplin, Pünktlichkeit undeine gute Organisation. Ein Kinder-garten könnte die positive Seite dieserTugenden transportieren. Er soll nachmeinen Vorstellungen innerhalb dernächsten fünf Jahre in einem neuenGebäude direkt nebenan entstehen.Ich glaube, dass sich das Projekt selbsttragen kann. Vor allem hoffe ich, dasssich das Interesse an deutscher Kulturund Sprache verstärkt. Und die Kin-der, die hier zweisprachig aufwach-sen, könnten dann in 20 Jahren aktiveMitglieder der German Society wer-den und die Gesellschaft auch kultu-rell nach vorn bringen.

Dochwie kann es der German Societygelingen, die heute 20- bis 40-Jähri-gen für sich zu begeistern?

Das könnte uns beispielsweise durchKooperationen mit Gruppen wie demNetzwerk Philadelphia gelingen – ei-ne lose Internetgruppe von Deut-schen in Philadelphia. Wir haben einFrühstück mit ihnen veranstaltet. DieGerman Society hat es in den 90er-Jahren versäumt, eine solche Strukturzu schaffen.

Was ist Ihr größtes Ziel?Ich möchte, dass die German Societyauch in 25 Jahren noch eine Existenz-berechtigung hat. Sie sollte nicht zueinem bloßen Museum verkommen.Denn im Wesentlichen zeigen diemeisten Museen nur das, was frühereinmal war. Ich wünsche mir aber,dass wir als Deutsche in Amerika nichtnur in die Vergangenheit, sondern vorallem auch nach vorn blicken.

CHRISTIAN KUNST

8 20. April 2013 AuswandererJournalJournal

Ein neues Bild von Deutschland Aus der Not ins Ungewisse

„Tränen hab ich viele, viele vergossen, dass ichscheiden muss von hier. Doch mein lieber Vater hates beschlossen, aus der Heimat wandern wir. Ausder Heimat wandern wir. Heut auf ewig von dir.Drum ade so lebet wohl.“Das Auswandererlied, das die Kinder der Volksschule Pünderich gesungen haben

20. April 2013 Rhein-Zeitung

230 000 Euro JahresetatBiografie Der 59-jährige Krefelder Anton „Tony“ Mi-chels ist seit 2009 Geschäftsführer (Executive Vice Presi-dent) der German Society, Präsident ist Ernest Weiler.

900 zahlende Mitglieder hat die German Society, rech-net man nur die Familien, dann sind es 600, sagt Aufsichts-ratschef (Chairman of the board) Hardy von Auenmueller.Die Society wurde am 26. Dezember 1764 gegründet undhat einen Jahresetat von 230 000 Euro. Die Einnahmen vonmehr als 430 000 Euro kommen zur Hälfte aus Spenden undFörderungen von der Regierung oder Stiftungen.

Ein Video sehen Sie unter www.ku-rz.de/germansocietyEin Video mit Jim Niessen auf dem Friedhof in Manayunksehen Sie unter www.ku-rz-de/manayunk

Zur Person

Will in den USAstärker das Bildeines fortschritt-lichen Deutsch-lands transpor-tieren: der Ge-schäftsführer derGerman Societyin Philadelphia,Tony Michels.Foto: Kunst

„Ich wünsche mir, dass wir alsDeutsche in Amerika vor allem auchnach vorn blicken.“

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