Juden Im Deutschen Reich Vor Der Nationalsozialistischen Machtübernahme

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Juden im Deutschen Reich vor der nationalsozialistischen Machtübernahme Etwas mehr als eine halbe Million Menschen bekannten sich im Deutschen Reich zum Judentum (0,76% der Gesamtbevölkerung) In einigen Berufen waren die Juden überproportional häufig vertreten: im Handel, bei den Maklern und Bankiers, in den Berufsgruppen der Ärzte und Rechtsanwälte, in künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Berufen. Ein Großteil der deutschen Juden fühlte sich nicht weniger als andere Deutsche in Kultur und Heimatgefühl eingebunden. Die jüdische Minderheit war keinesfalls eine soziologisch und politisch geschlossenen Gruppe mit gleichartigen Überzeugungen und Verhaltensweisen. Auch lebten sie in keiner doppelten Loyalität, nämlich zuerst als Juden, dann als Deutsche. . Antisemitismus Eine feindselige Stimmung gegen die Juden hatte in vielen europäischen Ländern eine lange Tradition. Ursache waren sowohl religiöse und wirtschaftliche Motive als auch eine emotionale Fremdenfeindlichkeit. Mit zunehmender Assimilation der Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts gewann der Antisemitismus an Gewicht. Das Verhältnis zu den Juden wurde in wachsendem Maße als Rassenfrage verstanden. Die Juden wurden für die Schattenseiten der Modernisierung und des Kapitalismus verantwortlich gemacht. Es wurde ihnen außerdem vorgeworfen, dass sie die europäischen Völker kulturell überfremden würden. Einen der schärfsten Angriffe gegen die wirtschaftliche Gesinnung der Juden formulierte 1844 Karl Marx in seinem Aufsatz "Zur Judenfrage". Er sprach davon, dass die Juden weder Religionsgemeinschaft noch Volk seien. Der weltliche Grund des Judentums sei der Eigennutz, ihr weltliches Gut das Geld, ihr wirklicher Gott der Wechsel; der praktische Geist der Juden sei jetzt praktischer Geist der christlichen Völker. Das Judentum war für Marx "der höchste praktische Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung". Für Adolf Hitler war der Kampf zwischen "der jüdischen Rasse" und den anderen Rassen ein beherrschendes Thema der Geschichte. Aber auch unabhängig von den Juden dachte Hitler in der Kategorie des ewigen Rassenkampfes. Die Völker hatten für ihn einen unterschiedlichen Wert. In Reden und Schriften wies er darauf hin, dass die Natur den Sieg des Stärkeren und die Vernichtung und bedingungslose Unterwerfung des Schwächeren wolle. Jedes

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Geschichte

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Juden im Deutschen Reich vor der nationalsozialistischen Machtübernahme

  Etwas mehr als eine halbe Million Menschen bekannten sich im Deutschen Reich zum

Judentum (0,76% der Gesamtbevölkerung)

 

In einigen Berufen waren die Juden überproportional häufig vertreten: im Handel, bei den Maklern und Bankiers, in den Berufsgruppen der Ärzte und Rechtsanwälte, in künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Berufen.

 

Ein Großteil der deutschen Juden fühlte sich nicht weniger als andere Deutsche in Kultur und Heimatgefühl eingebunden.

 Die jüdische Minderheit war keinesfalls eine soziologisch und politisch geschlossenen Gruppe mit gleichartigen Überzeugungen und Verhaltensweisen. Auch lebten sie in keiner doppelten Loyalität, nämlich zuerst als Juden, dann als Deutsche.

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Antisemitismus

 

Eine feindselige Stimmung gegen die Juden hatte in vielen europäischen Ländern eine lange Tradition. Ursache waren sowohl religiöse und wirtschaftliche Motive als auch eine emotionale Fremdenfeindlichkeit. Mit zunehmender Assimilation der Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts gewann der Antisemitismus an Gewicht. Das Verhältnis zu den Juden wurde in wachsendem Maße als Rassenfrage verstanden. Die Juden wurden für die Schattenseiten der Modernisierung und des Kapitalismus verantwortlich gemacht. Es wurde ihnen außerdem vorgeworfen, dass sie die europäischen Völker kulturell überfremden würden.

 

Einen der schärfsten Angriffe gegen die wirtschaftliche Gesinnung der Juden formulierte 1844 Karl Marx in seinem Aufsatz "Zur Judenfrage". Er sprach davon, dass die Juden weder Religionsgemeinschaft noch Volk seien. Der weltliche Grund des Judentums sei der Eigennutz, ihr weltliches Gut das Geld, ihr wirklicher Gott der Wechsel; der praktische Geist der Juden sei jetzt praktischer Geist der christlichen Völker. Das Judentum war für Marx "der höchste praktische Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung".

   

 

Für Adolf Hitler war der Kampf zwischen "der jüdischen Rasse" und den anderen Rassen ein beherrschendes Thema der Geschichte. Aber auch unabhängig von den Juden dachte Hitler in der Kategorie des ewigen Rassenkampfes. Die Völker hatten für ihn einen unterschiedlichen Wert. In Reden und Schriften wies er darauf hin, dass die Natur den Sieg des Stärkeren und die Vernichtung und bedingungslose Unterwerfung des Schwächeren wolle. Jedes Volk, jede Rasse, strebe, so glaubte Hitler, nach Weltherrschaft. Pflicht des Staates war es, so Hitler, verderbliche Rasseneinwirkungen im Deutschen Reich zu verhindern.

 

Die arische Rasse hatte für Hitler den höchsten Rang. Ihr stand die nordische Rasse am nächsten. Den geringsten Wert hatten für ihn die Juden. Hitler wurde nicht müde, den zerstörerischen Charakter der Juden zu beschreiben: Sie waren schuld an der Auflösung der Einheit aller Industrievölker. Die jüdische Presse liefere das Denken dem Judentum aus. Den Höhepunkt des "jüdischen Völkermords" sah Hitler im Bolschewismus erreicht.

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  Schon im ersten Band von Hitler Buch "Mein Kampf", das 1925 erschien, steht eine Bemerkung über die Juden. "Es wäre Pflicht einer besorgten Staatsführung gewesen", so schreibt Hitler, "Verhetzer ... unbarmherzig auszurotten". Im zweiten Band, 1927 erschienen, wird er noch deutlicher. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte er darauf zurück, dass man sich scheute, "zwölf- oder fünfzehntausend dieser

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hebräischen Volksverderber so unter Giftgas zu halten, wie es Hunderttausende an der Front erdulden mussten .... Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätten vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet".

Nationalsozialistische Propaganda und Verschwörungstheorien

 

In Reden und Schriften der Nationalsozialisten wurden die Juden häufig als Ungeziefer, Krankheitskeime, Bazillen oder Viren bezeichnet. Diese Ausdrücke suggerierten insbesondere bei Kleinbürgern und verarmten Angehörigen des Mittelstands die Notwendigkeit der Vernichtung.

 

Dem "Weltjudentum" wurden Machenschaften gegen "die Deutschen" unterstellt. Diese 'Verschwörungstheorie' baute auf dem sozialen Neid der unteren Bevölkerungsschichten gegen die besser situierten Juden auf. Die Wirtschaftskrise des Jahres 1923, während der viele Deutsche verarmten, wurde auf Manipulationen der Juden zurückgeführt.

 

In einem Aufruf zu einer Massenkundgebung in München Ende März 1933 hieß es, der Jude habe "es gewagt, dem deutschen Volke den Krieg zu erklären. Er betreibt in der ganzen Welt mit Hilfe der in seinen Händen befindlichen Presse einen groß angelegten Lügenfeldzug gegen das wieder national gewordene Deutschland".

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Die von der NSDAP veranlasste Boykottaktion jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 ließ die Juden zum ersten Mal tief erschrecken. Viele Juden erkannten in dieser Maßnahme ein Signal, dass die Nationalsozialisten nicht bei ihrem bisher verbal zum Ausdruck gebrachten Antisemitismus stehen bleiben würden.

 

 

Boykottaktion jüdischer Geschäfte im April 1933 in Berlin

Copyright: Bildarchiv preußischer Kulturbesitz (bpk)

     

 Die jüdischen Offiziellen wiesen die "ungeheuerlichen Anschuldigungen, die gegen uns deutsche Juden erhoben werden" nahezu feierlich zurück. Sie verwiesen auf die 12.000 jüdischen Gefallenen im Ersten Weltkrieg.

    Die rechtliche Diskriminierung der Juden

  Der 1. April 1933 wurde auf Anweisung Hitlers zum Tag des "Judenboykotts" aufgerufen. Überall hingen Schilder mit der Aufschrift: "Deutsche, kauft nicht beim Juden!". Vor Läden, Kanzleien und Arztpraxen versuchten SA-Männer, Kunden, Klienten und Patienten am Betreten der Geschäfts- und Büroräume zu hindern. Es war neu und zugleich bedrohlich, dass es der Staat selbst

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war, der den Antisemitismus zur offiziellen Politik erklärte.

 

Die Aktion war kein Erfolg. Aus vielen Städten wurde berichtet, dass die Bevölkerung die Aufforderung missachtet habe. Vielfach wurde ganz demonstrativ bei Juden gekauft, um die Missbilligung der Aktion auszudrücken. Je länger die Nazi-Herrschaft dauerte, desto schwieriger und seltener wurden solcheDemonstrationen der Solidarität mit der unterdrückten jüdischen Minderheit und der Bekundung von Opposition gegen das Regime. Die Mehrheit der Deutschen ließ sich einschüchtern, viele äußerten ihre Abneigung nur noch heimlich, die meisten gewöhnten sich an den Unrechtsstaat, seine Diskriminierungen und Untaten.

   

 

Zwei Monate nach der Machtübernahme erließ die Hitlerregierung im April 1933 das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Das Gesetz sollte die Entfernung politischer Gegner aus dem öffentlichen Dienst ermöglichen. Betroffen waren auch alle Beamten jüdischer Herkunft.

 

Bedeutende Wissenschaftler und Gelehrte gingen gezwungenermaßen ins Ausland, darunter der Physiker Albert Einstein, der Chemiker Fritz Haber und der Psychoanalytiker Erich Fromm. Die Philosophen Theodor W. Adorno und und Max Horkheimer hatten Deutschland schon vor dem April 1933 verlassen. Bedeutende Schriftsteller kehrten bald darauf Deutschland den Rücken: die Gebrüder Mann, Bertold Brecht, Alfred Döblin, Franz Werfel, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky und viele andere.

   

 

Ebenfalls im April 1933 wurde mit dem "Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen" der jüdische Anteil an den Bildungsanstalten begrenzt.

  Im Oktober 1933 wurden die Juden mit Hilfe des "Schriftleitergesetzes" aus den

Presseberufen entfernt.

  Im Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 wurden die Juden vom Wehrdienst,

dem "Ehrendienst am deutschen Volke" ausgeschlossen.

 

Die "Nürnberger Gesetze" vom September 1935 ermöglichten eine weitere Diskriminierung der Juden. Alle erforderlichen Ausführungs- und Verwaltungsvorschriften wurden offen gelassen. Bei dem Entscheidungsprozess zu den Gesetzen hatte Hitler die Ministerialbürokratie fast völlig ausgeschaltet.

 

Das "Reichsbürgergesetz" diente immer wieder aufs neue zur Beschränkung der Rechte der jüdischen Minderheit. Das Gesetz unterschied zwischen'Staatsbürgern' und 'Reichsbürgern'. 'Reichsbürger' konnten nur "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes" sein. Sie allein besaßen die vollen politischen Rechte.

 

Die entscheidende Frage, wer denn nun eigentlich Jude war, wurde im September 1935 noch nicht beantwortet. Da Hitler keine Entscheidung traf, einigten sich das Reichsinnenministerium und die Parteibürokratie auf einen Kompromiss: Als 'Jude' sollten diejenigen Nichtarier gelten, die zwei nicht arische Großeltern besaßen.

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Das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" verbot unter anderem die Eheschließung und den außerehelichen Geschlechtsverkehr  zwischen Juden und "Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes".

  Die Welle "gesetzlicher" Ausschaltungsmaßnahmen ging weiter. Am 21. Dezember 1935 wurden die Juden durch die "Zweite Verordnung zum Reichsbürgergesetz"

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weitgehend von der freien Berufsausübung ausgeschlossen und gesellschaftlich isoliert.

  Ab März 1936 wurde die Beihilfe für kinderreiche jüdische Familien gestrichen.

 

Im Oktober 1936 wurde es jüdischen Lehrern verboten, Privatunterricht an Nichtjuden zu erteilen. Damit verloren die Betroffenen meist die letzte Einnahmequelle, die sie nach dem Berufsverbot im Staatsdienst noch gehabt hatten.

 

Ab April 1937 war es den Juden verwehrt, an den Universitäten den Doktortitel zu erwerben. Im September 1937 verloren alle jüdischen Ärzte die Krankenkassenzulassung, im Juli 1938 die Zulassung zur Berufsausübung. Das gleiche Schicksal traf Rechtsanwälte und andere Berufsgruppen.

 

Die Anzahl der 'Entrechtungsmaßnahmen' gegen die Juden war fast endlos. Sie wurden von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, aus Krankenhäusern, Apotheken und Ausbildungsstätten vertrieben. Dazu wurden sie menschlich geächtet. Durch die Berufsverbote verlor die Mehrheit der deutschen Juden ihre materielle Existenzgrundlage. Eine freiwillige Auswanderung scheiterte meistens an den hohen Kosten.

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Die soziale Diffamierung

 

Eine Vielzahl von Schikanen und Diskriminierungen bestimmte den Alltag der deutschen Juden. Dörfer und Städte setzten alles daran, "judenrein" zu sein.

 

 

Ein Beispiel für die soziale Ausgrenzung der Juden

     

 

Im Juli 1938 wurde eine besondere Kennkarte für Juden eingeführt. Ab Anfang Oktober 1938 wurde ein rotes 'J'  in die Reisepässe der Juden gestempelt.

Ab August 1938 mussten deutsche Juden stigmatisierende Vorname annehmen: Männer mussten "Israel" als zweiten Namen führen, Frauen "Sara". Die "Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen" als auch die "Richtlinien über die Führung von Vornamen" waren wesentliche Schritte zur Ausgrenzung der deutschen Juden, die zusammen mit der parallelen Entrechtung Voraussetzung für die spätere Deportation und den Massenmord waren.

  Ab Mitte November 1938 wurde jüdischen Kindern der Besuch deutscher Schulen

untersagt. - Viele andere Maßnahmen trugen zur sozialen Diffamierung der Juden bei.

Die Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft

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Seit dem Beginn des Jahres 1938 drang die NSDAP auf eine 'Arisierung jüdischer Betriebe'. Die Juden sollten aus der Wirtschaft verdrängt werden. Nicht zuletzt wollte das NS-Regime mit dem Vermögen der Juden die gigantische Aufrüstung finanzieren.

  Im April 1938 wurde die Anmeldepflicht für jüdisches Vermögen verordnet

  Im Mai 1938 wurden die Juden von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen

 

Ab Juni 1938 mussten alle jüdischen Wirtschaftsbetriebe gekennzeichnet sein.

 Bei diesen Maßnahmen sollte es nicht bleiben! Am 14. Oktober 1938 erklärte Göring, "die Judenfrage müsste jetzt mit allen Mitteln angefasst werden, denn sie müssten aus der Wirtschaft raus".

   

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Die "Reichskristallnacht"

 

Aufgrund der Olympischen Spiele 1936 in Deutschland und der Besetzung des Rheinlands hatte sich Hitler selbst lange antijüdischer Ausfälle enthalten. Am 7. November 1938 sollte ein marginaler Anlass eine verhängnisvolle Entwicklung einleiten: Ein siebzehnjähriger  Jude, Herszel Grynszpan, verübte in einem Akt der Rache auf die Nachricht vom grausamen Schicksal seiner Eltern an der deutsch-polnischen Grenze ein Attentat auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath.

 

Die Eltern Herszel Grynszpans gehörten zu den 17.000 Juden, deren Staatgehörigkeit zwischen dem Deutschen Reich und Polen umstritten war. Sie waren von der Gestapo über die polnische Grenze deportiert und nach Polen getrieben worden. Nachdem Polen die Grenzen schloss, irrten die Unglücklichen im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen hin und her. Die Leiden seiner Eltern waren das alleinige Motiv für die Tat Herszel Grynszpans. 

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Das Attentat von Paris war den Nationalsozialisten hoch willkommen, es wurde zur 'Verschwörung des Weltjudentums' empor stilisiert und diente in der Folge der endgültigen Ausgrenzung der Juden aus allen sozialen und ökonomischen Zusammenhängen. Propagandaminister Goebbels benutzte das Attentat zunächst zu einerantisemitischen Pressekampagne. Der 'Völkische Beobachter' schrieb am 8. November 1938 in seinem Leitartikel: "Es ist klar, dass das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgen ziehen wird". Der Artikel gab den radikalen Antisemiten Anlass und Gewissheit, bei ihrem Übergang zu den primitiven Formen physischer Gewalt und Verfolgung im Sinne der Partei und des Führers zu handeln. Noch am Abend des 8. November fanden erste Ausschreitungen statt, die sich am Morgen des nächsten Tages fortsetzten. Sie gingen ausschließlich von örtlichen Parteiorganisationen aus. Genaue Anweisungen der obersten Parteileitung lagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor.

 

 

Antisemitische Pressekampagne am 8.11.1938

       In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es zu einem groß angelegten

Pogrom gegen die jüdischen Mitbürger. In der nationalsozialistischen Propaganda wurde der Angriff auf jüdische Geschäfte, Privathäuser und Synagogen zynisch verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichnet. Es wurden keineswegs nur Fensterscheiben von über 7.500 jüdischen Geschäften und 29 Warenhäusern zerstört (wie der Name "Reichskristallnacht" suggeriert). Weit über 1000 Synagogen und jüdische Gebetshäuser fielen dem Pogrom zum Opfer. Zahlreiche Gebäude waren nach der Gewaltnacht abbruchreif. Jüdische Friedhöfe wurden geschändet. Mindestens 91 Menschen wurden ermordet.

  Die Angriffe auf jüdisches Eigentum hatten am Abend des 9. November immer festere organisatorische Formen angenommen. Es herrscht heute kein Zweifel mehr

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daran, dass der Angriff auf jüdisches Eigentum keinesfalls dem 'entfesselten Volkszorn' entsprang, sondern von staatlichen Stellen auf höchster Ebene inszeniert war.

Am 9. November hatten sich, wie alljährlich, in München die "Alten Kämpfer" getroffen, um des missglückten Putsches vom November 1923 zu gedenken und die Erinnerung an die einstige Niederlage mit einer Demonstration der Macht zu verbinden. Auch Hitler und der Propagandaminister Goebbels waren anwesend. Goebbels stellt nach einem Gespräch mit Hitler in einer Rede klar, dass die Partei Aktionen gegen die Juden zwar nicht organisieren, aber auch nicht verhindern werde, wenn sie spontan erfolgten. Er redete von Vergeltung und Rache und vermittelte so bei den anwesenden Parteiführern den Eindruck, dass die Partei nicht nach außen als Urheber der Angriffe in Erscheinung treten darf, sie aber zu Aktionen aufgerufen seien. Von München aus gingen die Weisungen der  Parteiführer per Telefon an die Gaupropagandaämter und von diesen weiter zu den Kreis- und Ortsgruppenleitungen bzw. zu den SA-Stäben im ganzen Reich. Wenig später brannten die ersten Synagogen, wurden jüdische Menschen gedemütigt und ausgeplündert.

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Die angebliche Demonstration des Volkswillens gab dem nationalsozialistischen Regime Anlass das zu tun, was längst beabsichtigt gewesen war. Die "Reichskristallnacht" sollte den Auftakt zu den systematischen Maßnahmen der Judenverfolgung und -vernichtung  in Deutschland und in den im Verlauf des 2. Weltkrieges eroberten Nachbarlndern bilden.

 

Unmittelbar nach der 'Reichskristallnacht' wurden in ganz Deutschland mehr als 30.000 Juden festgenommen und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gebracht. Hunderte starben an Misshandlungen.

 

Die Juden sollten nicht nur für die Schäden haften, die beim Pogrom angerichtet wurden, es wurde ihnen auch ein "Buße" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt.

 

Für die Wiederherstellung der zerstörten Geschäfte mussten die Juden selbst aufkommen. Der durch den Terror angerichtete Schaden war zwar von den Versicherungsgesellschaften zu tragen, doch wurden deren Erstattungen zugunsten des Reiches beschlagnahmt.

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Die Juden wurden nun systematisch aus dem Wirtschaftsleben verdrängt. Das Ziel war, so Heydrich, "die Juden aus Deutschland herauszubekommen". Die vollständige 'Arisierung' erst aller Einzelhandelsgeschäfte, dann der Fabriken und Beteiligungen waren am 12. November 1938 schon eine beschlossene und von Hitler entschiedene Angelegenheit. In der der Folge wurden jüdische Gewerbebetriebe enteignet; sie wurden von staatlichen Treuhändern unter Wert geschätzt und zum normalen Verkehrswert an Arier weiterverkauft. Der Besitz von Wertpapieren wurde den Juden untersagt.

 

Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden wurden von zahlreichen diskriminierenden Maßnahmen begleitet. So wurde zum Beispiel den Juden der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und Theatern untersagt. Bei der Benutzung der Eisenbahn mussten sie in für sie bestimmten Abteilen Platz nehmen.

Der Weg zur Vertreibung und physischen Vernichtung

  Nach dem Pogrom waren die Juden nicht nur des gesetzlichen Schutzes sondern auch ihres menschlichen Rechtes auf Existenz beraubt. Der Weg zur physischen

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Vernichtung war frei.

 

Göring am 12. November 1938: "Wenn das deutsche Volk in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, dass wir auch in Deutschland in allererster Linie daran denken werden,  eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen".

 

Das SS-Organ "Schwarzer September" sprach drei Wochen nach der Reichskristallnacht das Endziel der Judenpolitik offen aus: Mit Feuer und Schwert müsse man das Parasitenvolk auslöschen.

 

Am 30. Januar 1939 drohte Hitler in einer Reichstagsrede, dass der Untergang der Juden die Folge sein würde, wenn es dem Weltjudentum noch einmal gelingen sollte, die Welt in einen großen Krieg zu stürzen.

 

Die Drohung Hitlers enthielt die klassische Stereotype des Antisemitismus, nämlich die Unterstellung einer internationalen Verschwörung des Judentums. Daneben beschuldigte er die Juden, den Ersten Weltkrieg angezettelt zu haben und sprach davon, die Juden hätten Deutschland den Krieg erklärt.

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Von dem Großteil der Bevölkerung wurden die antisemitischen Gesetze des NS-Regimes und das brutale Vorgehen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 schweigend hingenommen. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Vorgängen und den Methoden der nationalsozialistischen Judenpolitik breitete sich aus. Auch die Furcht, etwas "Unrechtes" zu sagen und dafür bestraft zu werden, war ein Grund für die kritiklose Hinnahme des Vorgehens gegen die Juden.

Die Emigration von Juden bis 1939

 

Das NS-Regime förderte seit 1933 die Auswanderung von Juden nach Palästina. Behindert wurde die Auswanderung in die europäischen Nachbarländer. Fast die Hälfte der rund 500.000 in Deutschland lebenden Juden emigrierte oder floh von 1933 bis 1938 ins Ausland.

 

Zwischen 1933 und 1936 wanderten maximal 29.000 Juden aus Deutschland nach Palästina aus. In den Jahren von 1937 bis 1941 waren es noch rund 18.000.

  Das wichtigste Exilland war 1933/34 Frankreich. Zwischen 1933 und 1938 fanden

30.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland in Frankreich Asyl.

  Bis Herbst 1938 wanderten ca. 11.000 Juden nach Großbritannien aus. Nach der

'Reichskristallnacht' wurden weitere 40.000 Juden aufgenommen.

 

Ursachen für die relativ geringe Auswanderung von Juden in die Vereinigten Staaten (von 1933 bis 1938 waren es ca. 102.000 Emigranten) waren sowohl die Devisenbewirtschaftung in Deutschland als auch die restriktive Politik der amerikanischen Einwanderungsbehörden.

 

Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland waren weitere 183.000 Juden unter deutsche Herrschaft gekommen. Mehr als 85.000 österreichische Juden fanden Zuflucht in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten sowie in Ländern, die später unter Nazi-Herrschaft fielen.

 

Vor und während der Besetzung des sudetendeutschen Teils der Tschechoslowakei im Oktober 1938 durch die Deutschen flohen fast alle 20.000 Bewohner dieser Region in die noch unabhängigen tschechoslowakischen Provinzen Böhmen und Mähren.

 

Als die deutschen Truppen im März 1939 die tschechischen Kernländer Böhmen und Mähren besetzten, versuchten tausende dort wohnender Juden zu entkommen. Bis Ende 1939 hatten es 10.000 der insgesamt 32.000 Juden geschafft, Europa zu verlassen.

 

Im Juli 1938 fand in der Nähe von Genf eine internationale Konferenz statt, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war. Eingeladen hatteUS-Präsident Roosevelt, gekommen waren Vertreter von 32 Staaten und vieler jüdischer Organisationen. Es geschah jedoch wenig, was die Emigrationsmöglichkeiten der Juden aus Hitlers Machtbereich verbessert hätte. Der australische Delegierte erklärte: "Da wir kein Rassenproblem haben, legen wir keinen Wert darauf, eines zu importieren."

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Aufgrund der staatlich verordneten Diskriminierungen verschlechterten sich die Existenzbedingungen für die deutschen Juden im Herbst 1938 drastisch. Die Verdrängung aus der Wirtschaft förderte einerseits den Willen zur Auswanderung, andererseits hemmten die Beschlagnahme des Vermögens und hohe Abgaben die Möglichkeit, in ein anderes Land auszuwandern. Von Seiten des NS-Regimes verstärkte sich Anfang 1939 der Druck zur Emigration.

 

Adolf Eichmann, seit 1934 Judenreferent im Sicherheitsdienst (SD) Heinrich Himmlers, organisierte im August 1938 die 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung' in Wien. Im Januar 1939 wurde in Berlin die 'Reichszentrale für jüdische Auswanderung' gegründet. Sie unterstand dem Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich.

 

Im Jahr 1939 gelang noch 75.000 bis 80.000 Juden die Flucht aus Deutschland. 1940 waren es noch 15.000, 1941 8000. Am 23. Oktober 1941 wurde die Emigration verboten. Zu diesem Zeitpunkt war der Völkermord bereits in Gang.

Widerstand der Bevölkerung gegen die Maßnahmen des NS-Regimes (bis 1939)

 

Die Erkenntnis, dass das nationalsozialistische Regime die Grenzen staatlicher Befugnis überschritt,  sowie die Empörung über die diskriminierende Behandlung von Minderheiten und Randgruppen, zu denen neben den Juden auch Sinti und Roma, Homosexuelle und Behinderte gehörten, führten einzelne Menschen zur Auflehnung gegen das NS-Regime. Die Formen reichten von der Verweigerung von staatlichen Anordnungen bis zu offenem Protest. Außerdem gab es heimliche Hilfe für Juden.

  Die Möglichkeit, Opposition zu leisten, wurde von dem immer perfekter arbeitenden Überwachungssystem der Nationalsozialisten stark eingeschränkt. Jeder Protest gegen das Nazi-Regime war mit hohem Risiko für das eigene Leben verbunden. Es gibt trotzdem viele Beispiele von Widerstand einzelner Personen, die ihrem Gewissen folgten und nicht bereit waren, alles hinzunehmen. Ein solches Beispiel öffentlichen Widerstands ist die Bußtagspredigt, die der evangelische Pfarrer Julius von Jan am 16. November 1938 – also wenige Tage nach der Reichskristallnacht - im württembergischen Oberlenningen hielt.

 

 

 

 

Julius von Jan (*1897, †1964), evangelischer Pfarrer, als "Judenknecht" verschrien, Widerstandskämpfer gegen Hitler

Kirchengemeinde Oberlenningen: Zum Gedenken an Julius von Jan (Bildausschnitt).

 

         Die Predigt Julius von Jans war eine eindrucksvolle und in ihrer

Deutlichkeit einmalige Demonstration gegen den Antisemitismus und gegen den NS-Staat. Hier einige Auszüge aus der Predigt:

  „Wenn nun die einen schweigen müssen und die andern nicht reden wollen, dann haben wir heute wahrlich allen Grund, einen Bußtag zu halten, einen

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Tag der Trauer über unsere und des Volkes Sünden."

 

„Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote Gottes missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört, Männer, die unsrem deutschen Volk treu gedient haben und ihre Pflicht gewissenhaft erfüllt haben, wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer andern Rasse angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden – das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wenn man nicht darüber zu sprechen wagt.“

 

„Ja, es ist eine entsetzliche Saat des Hasses, die jetzt wieder ausgesät worden ist. Welche entsetzliche Ernte wird daraus erwachsen, wenn Gott unsrem Volk und uns nicht Gnade schenkt zu aufrichtiger Buße."

 

„Äußeres Glück, äußere Erfolge führen uns Menschen nur zu leicht in einen Hochmut hinein, der den ganzen göttlichen Segen verderbt und deshalb in tiefem Fall endet.“

 

Am Ende des Gottesdienstes verlas Julius von Jan eine Liste von Pfarrern, die mit Redeverbot oder Landesverweisung bestraft worden waren. Im Schlussgebet bat er, dass Gott „dem Führer und aller Obrigkeit den Geist der Buße schenken möge“.

 

Am 25. November 1938 wurde Julius von Jan von 200 SA-Leuten in Zivil, die mit Lastwagen aus Nürtingen und Kirchheim gekommen waren, vor seinem Pfarrhaus überfallen und schwer misshandelt. Man traktierte ihn, so erzählt er später, mit Fäusten, Stahlruten und Riemen. Anschließend kam er in das Gefängnis in Kirchheim/Teck. Da ihm die dortigen Richter und Wächter sowie die christliche Bevölkerung der Umgebung, wie er selbst in einem Lebensrückblick im Jahr 1960 schreibt, „allzu viel Sympathie bekundeten“, wurde er im Februar 1939 in ein Stuttgarter Gefängnis überführt. Im März geriet er aus dem Gewahrsam der Justiz in Gestapo-Haft.  Mitte April wurde er aus Württemberg ausgewiesen.

 

Am 15. November 1939 wurde von Jan aufgrund des „Heimtückegesetzes“ von einem Stuttgarter Sondergericht zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt. Anfang Juni 1943 wurde der Geistliche zum Kriegsdienst eingezogen. Mitte 1943 schickte man ihn als Artillerist in einer Strafkompanie nach Russland und die Ukraine. Dort erkrankte er schwer. Auch als Soldat stand er, wie er selbst berichtet, bis zum 8. Mai 1945 "unter ständiger Kontrolle der NSDAP".

 

Im September 1945 kehrt Julius von Jan, gesundheitlich schwer angeschlagen, mit seiner Familie nach Oberlenningen zurück. In Stuttgart-Zuffenhausen übernahm er 1949 seine letzte Gemeinde. Ab Januar 1958 ist er arbeitsunfähig. Er stirbt 1964 im Alter von 67 Jahren.