KARL KERENYI (1897-1973)

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THOMAS KÖVES-ZULAUF KARL KERENYI (1897-1973) 1. Häufig spricht man heutzutage von der Notwendigkeit, die Arbeit des Klas- sischen Philologen in interdisziplinäre Zusammenhänge einzubetten. Ja man ver- langt von ihm einen Beweis der Aktualität, eine Rechtfertigung seiner Wissen- schaft vor dem Richterstuhl des Zeitgeistes. Das Phänomen der Präsenz der An- tike im Bewußtsein der Öffentlichkeit wird sogar im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft besonders erforscht. Wenn ich von solchen Forderungen und Bestrebungen höre, so tauchen in mir immer Erinnerungen an Karl Kerenyi, einen meiner Lehrer, auf, der zu seiner Zeit mit staunenswertem Erfolg Verbindungslinien zwischen seiner Wissenschaft und kulturellen Höchstleistungen der Epoche herstellte, auf das kulturelle Leben eines ganzen Landes nachhaltig prägend wirkte, zu einem seither unvergleichlichen Ansehen der Antike in kulturell interessierten Kreisen beitrug: er «verändert(e) ... die Atmosphäre der Zeit» (Willy Haas). Meine Blicke wandern dann zu meinem Bücherregal, in dem ein Exemplar der 1971er Ausgabe seiner 'Antiken Religion' steht, mit persönlicher Widmung nicht lange vor seinem Tode. Die unsicheren Schriftzüge eines alt gewordenen Mannes liest man nicht ohne Rührung. Schon in seinem im Jahre 1930 in der Budapester Philologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag 'Unsere Klassische Philologie und die nationalen Wissen- schaften' definierte Kerenyi die Klassische Philologie als «die Wissenschaft der Parousien». Eine solche verstärkte Präsenz der Antike wurde in der Tat für das kulturelle Leben Budapests in den dreißiger und vierziger Jahren charakteristisch: Verlage brachten zweisprachige Klassikerausgaben für das große Publikum her- aus, zum erheblichen Teil von Kerenyi selber oder von seinem Schüler- und Freundes- kreis initiiert, übersetzt, mit Vorworten versehen. Dichter schrieben Verse nach antikem Vorbild, in antiken Maßen, nannten sie «Eklogen», so z.B. die acht Eklogen des seitdem zum Klassiker gewordenen, wegen seiner Abstammung verfolgten und mit neugedichteten Versen in der Tasche ermordet aufgefundenen M. Radnöti. Ein dichtender Schüler Kerenyis faßte den Plan zur ungarischen Übersetzung von Ilias und Odyssee in Hexametern; erst Anfang der fünfziger Jahre erschienen, gelten heute beide Übersetzungen als Meisterwerke. Doch auch im Kreise der politisch engagierten neuen Schriftsteller, der sogenannten «Volksschriftsteller», beachtete und achtete man Kerenyis Werke. Ein namhafter ungarischer Literatur-

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THOMAS KÖVES-ZULAUF

KARL KERENYI (1897-1973)

1.

Häufig spricht man heutzutage von der Notwendigkeit, die Arbeit des Klas­sischen Philologen in interdisziplinäre Zusammenhänge einzubetten. Ja man ver­langt von ihm einen Beweis der Aktualität, eine Rechtfertigung seiner Wissen­schaft vor dem Richterstuhl des Zeitgeistes. Das Phänomen der Präsenz der An­tike im Bewußtsein der Öffentlichkeit wird sogar im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft besonders erforscht.

Wenn ich von solchen Forderungen und Bestrebungen höre, so tauchen in mir immer Erinnerungen an Karl Kerenyi, einen meiner Lehrer, auf, der zu seiner Zeit mit staunenswertem Erfolg Verbindungslinien zwischen seiner Wissenschaft und kulturellen Höchstleistungen der Epoche herstellte, auf das kulturelle Leben eines ganzen Landes nachhaltig prägend wirkte, zu einem seither unvergleichlichen Ansehen der Antike in kulturell interessierten Kreisen beitrug: er «verändert(e) ... die Atmosphäre der Zeit» (Willy Haas).

Meine Blicke wandern dann zu meinem Bücherregal, in dem ein Exemplar der 1971er Ausgabe seiner 'Antiken Religion' steht, mit persönlicher Widmung nicht lange vor seinem Tode. Die unsicheren Schriftzüge eines alt gewordenen Mannes liest man nicht ohne Rührung.

Schon in seinem im Jahre 1930 in der Budapester Philologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag 'Unsere Klassische Philologie und die nationalen Wissen­schaften' definierte Kerenyi die Klassische Philologie als «die Wissenschaft der Parousien». Eine solche verstärkte Präsenz der Antike wurde in der Tat für das kulturelle Leben Budapests in den dreißiger und vierziger Jahren charakteristisch: Verlage brachten zweisprachige Klassikerausgaben für das große Publikum her­aus, zum erheblichen Teil von Kerenyi selber oder von seinem Schüler- und Freundes­kreis initiiert, übersetzt, mit Vorworten versehen. Dichter schrieben Verse nach antikem Vorbild, in antiken Maßen, nannten sie «Eklogen», so z.B. die acht Eklogen des seitdem zum Klassiker gewordenen, wegen seiner Abstammung verfolgten und mit neugedichteten Versen in der Tasche ermordet aufgefundenen M. Radnöti. Ein dichtender Schüler Kerenyis faßte den Plan zur ungarischen Übersetzung von Ilias und Odyssee in Hexametern; erst Anfang der fünfziger Jahre erschienen, gelten heute beide Übersetzungen als Meisterwerke. Doch auch im Kreise der politisch engagierten neuen Schriftsteller, der sogenannten «Volksschriftsteller», beachtete und achtete man Kerenyis Werke. Ein namhafter ungarischer Literatur-

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Wissenschaftler der Zeit verfaßte einen Schlüsselroman über Kerenyi und seine in- und ausländischen Geistesverwandten unter dem beziehungsvollen Titel 'Der Reisende und das Mondlicht', in dem Franz Altheim z.B. unter dem Namen Rudi Waldheim erscheint.

Dabei ging es Kerenyi keineswegs um eine Anbiederung an den Zeitgeist, sondern im Gegenteil um eine Einflußnahme der Altertumswissenschaft und eine bestimmende Gestaltung der Kultur der Allgemeinheit, gemäß seinem schon im erwähnten frühen Vortrag formulierten Grundprinzip.

Sein Wirkungsradius beschränkte sich nicht auf ein einziges Land. Er sah die Klassische Philologie von Anfang an in internationalem, gesamteuropäischem Rah­men. Er gehörte zu den Mitarbeitern der Zeitschrift «Die Antike». Er hielt 1934 den Festvortrag zu Walter F. Ottos sechzigstem Geburtstag in Frankfurt am Main, lernte bei diesem Anlaß Leo Frobenius näher kennen und stand danach in engster Berührung mit ihm und seiner Kulturmorphologie. Seine Auffassung vom Wesen des Festes gewann entscheidende Konturen in einem Gespräch mit J. Huizinga (1936), der in der deutschen Ausgabe seines 'Homo ludens' (1939) dieses Ge­spräch verwertete. Seine Studien über 'Das göttliche Kind' und 'Das göttliche Mädchen' (1940/41) veröffentlichte Kerenyi zusammen mit CG. Jung, diesem widmete er seine "Labyrinth-Studien' (1941) als Zeichen immer enger werdender Kooperation. Thomas Mann diente er als kundiger Berater in Fragen der Mythologie und Mythosforschung, wie davon der Briefwechsel mit Thomas Mann (1945) Zeugnis ablegt. Georg Lukäcs würdigte Kerenyi seiner beharrlichen Feindschaft: Er sah in Kerenyi nicht nur einen Zeugen für die Ansicht, daß Thomas Mann die Gestalt Naphtas im Zauberberg nach dem Vorbild von Lukäcs geformt hat, son­dern hielt den großen Altertumsforscher generell für einen typischen Vertreter der 'Zerstörung der Vernunft'.

2.

Kerenyi begegnete ich das erste Mal im Herbst 1941 als junger Student der Klassischen Philologie an der Universität Budapest und Hörer seiner zweistündigen Vorlesung 'Antike Religion', der im nächsten Semester ein Kolleg über 'Die religiösen Wurzeln des griechischen Dramas' folgte. Kerenyi war zu der Zeit Professor für Griechische Philologie an der Universität Szeged, hielt aber regel­mäßig eine Vorlesung auch an der Budapester Universität. Er war damals schon als Verfasser berühmt gewordener Werke bekannt, ein großer Name auch in stu­dentischen Kreisen, der auch viele Nichtfachstudenten anzog. Es umgab ihn ge­wissermaßen eine sokratische Aura, da es dem studentischen Publikum nicht ganz unbekannt blieb, daß manche Fachkollegen Kerenyi für einen Verderber der Ju­gend hielten. Die Vorlesungen fanden Freitag abend von 6 bis 8 statt, was auch vielen NichtStudenten die Teilnahme ermöglichte. Die Zuhörerschaft war in der Tat vielfarbig, junge Menschen neben reifen Erwachsenen, elegante Damen neben sehr ärmlich gekleideten Männern, ein Kreis miteinander wohlbekannter Studen-

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ten neben einsam dasitzenden Unbekannten. Viele Teilnehmer gehörten unver­kennbar zu den Benachteiligten, Verfolgten und Erniedrigten des Lebens, was in den damaligen schweren Zeitläuften den besonderen Charakter dieser Veranstal­tung mitprägte. Nichts jedoch war von einer irgendwie gearteten unsachlich schwärmerischen Atmosphäre zu spüren, deren Gefahr in solchen Fällen nicht immer ganz fernliegt. Es herrschte vielmehr generell die Erwartung strenger Wissenschaftlichkeit.

Vom Wintersemester 1942/43 an taucht der Name Kerenyis in meinem Studien­buch nicht mehr auf: Kerenyi verließ Ungarn, um sich in der Schweiz aufzuhalten, wie es damals hieß, für ein Jahr. Dieser Aufenthalt wurde allgemein im Rahmen der Versuche der damaligen ungarischen Regierung gesehen, sich einen Spiel­raum der Umorientierung auf die demokratischen Länder der anderen kriegführenden Seite zu schaffen. Der Auslandsaufenthalt international renommierter Wissen­schaftler immitten des Krieges sollte mithelfen, eine dem erwähnten Zweck dienliche kulturelle Atmosphäre zu erzeugen.

Kerenyi habe ich jedoch fünf Jahre lang nicht wiedergesehen. Er betrat erst Jahre nach Kriegsende erneut ungarischen Boden, und dies nur für kurze Zeit. Trotzdem gab es eine Episode in diesen Jahren, die mich viel über ihn lernen ließ. Nach der Verhaftung und Verschleppung einer der Töchter Kerenyis, einer Studien­kollegin, in ein Konzentrationslager, bat mich der Sohn eines Freundes von Kerenyi, des Dionys Kövendi, dem 'Der große Daimon des Symposion' gewidmet ist, bei der Rettung von Kerenyis Bibliothek behilflich zu sein. Bei dieser Gelegenheit konnte ich die große Spannweite der wissenschaftlichen Interessen dieses außer­ordentlich gelehrten Mannes an Hand der Bücher bestaunen und bewundern. An den genauen Zeitpunkt kann ich mich nicht mehr erinnern: vielleicht noch kurz vor der Belagerung von Budapest im Spätherbst 1944 oder kurz nach Kriegsende im Frühjahr 1945.

Im Jahre 1947 studierte ich mit einem Schweizer Stipendium an den Univer­sitäten Zürich und Lausanne. Im Lesesaal der Universitätsbibliothek Zürich sah ich Kerenyi fast täglich; sein Charakterkopf mit dem schneeweißen Haar gehörte für mich fast zur Ausstattung der Bibliothek, eine lebendige imago maioris sozu­sagen. Er hatte nichts von seiner - auch optischen - Ausstrahlungskraft verloren.

Das letzte Mal begegnete ich ihm Ende 1947 in Budapest. Ich erblickte Kerenyi für einen Augenblick im Vorzimmer des Außenministers. Es hieß damals, es seien Verhandlungen über die Ernennung auf einen Lehrstuhl in Budapest im Gange gewesen; sie seien jedoch an der Einstellung von Georg Lukäcs gescheitert, der damals in Ungarn auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kultur das entscheidende Wort hatte.

3.

Am nachhaltigsten habe ich Kerenyi in seinen Vorlesungen erlebt. Mit diesen hängt auch ein Vorfall zusammen, der sich im Laufe der Jahre immer mehr als ein

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Schlüsselerlebnis entpuppt hat, ein Sinnbild von Kerenyis Person und Wissen­schaft in den Augen der Erinnerung. Ein Bild, das ich als einem Manne durchaus adäquat empfinde, der von sich einmal bekannte, daß «ich mich lieber in einem konkreten Bilde als in abstrakten Begriffen bewegte» ('Die antike Religion' 9).

Es war im kalten Winter 1941/42. Kerenyi redete schon, ohne Manuskript und ohne Pause zu machen, seit mehr als einer Stunde, von den olympischen Göttern, vom Wesen des Festes, von der Mythologie als einer Gattung von primä­rer Selbständigkeit. Es sprach ein Mensch, der kein abstraktes System der Erklä­rung des griechischen Mythos, sondern diesen Mythos selbst darbot, indem er es erlebbar machte, was es für die Antike geheißen haben mag, in dem Mythos zu leben. Der Stil einer ganzen Kultur wurde dadurch plötzlich einsichtig. Das Pu­blikum verharrte regungslos im Zustand der Ergriffenheit, umfangen von dem Paideuma der griechischen Welt. In diesem Augenblick trat der Heizer in den Raum, der ohne Zentralheizung war und von einem großen Kachelofen erwärmt wurde. Es war etwa halb acht, sehr kalt und ein Nachfüllen des Ofens notwendig. Der Heizer stockte für einen Augenblick, als ob er an der fast physisch spürbaren geschlossenen Atmosphäre höherer Geistigkeit zurückprallen würde, ging dann mit schuldbewußtem Blick und einige Entschuldigungsworte stammelnd pflicht­gemäß an seine unvermeidliche Arbeit. Der Vortragende verharrte in Schweigen, während der Heizer das Feuer schürte und nur das häßlich kratzende Geräusch des Schürhakens in der Stille der Betroffenheit vernehmbar war, versuchte dann, nachdem die Tür hinter dem Mann zugegangen war, weiterzureden. Dies gelang ihm nicht: das Fluidum der Kommunikation war zerstört. Mit den Worten: «Die Vorlesung ist für heute beendet» stand er auf und ging aus dem Raum.

Die Szene ist für mich mit den Jahren zu einem archetypischen, zu einem 'mythischen' Bild geworden, zu einem Bild von Kerenyis Größe und zugleich von den Zweifeln an dieser Größe. Es ist auch ein tragisches Bild, das Bild eines Menschen, den sein edelstes Streben gerade dorthin geführt hat, wo er keineswegs hingelangen wollte: Sein Bemühen, der Klassischen Philologie ihre einstige große allgemeine Bedeutung zu erhalten, zu erneuern und zu mehren, ließ ihn zum Schluß an den Rand, ja außerhalb der Fachwissenschaft geraten.

Vogelsbergstraße 15 PROF. DR. THOMAS KÖVES-ZULAUF

D(W)-3550 Marburg/Lahn (geb. 1923)