Kate Harrison · Soul Beach Salziger Tod · ich das Kostbarste in meinem Leben verlieren. Die Zeit...

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Kate Harrison · Soul Beach Salziger Tod

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  • Kate Harrison · Soul BeachSalziger Tod

  • Bisher von Kate Harrison im Loewe Verlag erschienen: Soul Beach – Frostiges ParadiesSoul Beach – Schwarzer SandSoul Beach – Salziger Tod

  • Aus dem Englischen übersetzt von Jessika Komina und Sandra Knu# nke

    Kate Harrison

    Salziger Tod

  • Für Amber, weil sie an den Strand geglaubt und mir geholfen

    hat, ihn sogar noch stürmischer zu gestalten …

    ISBN 978-3-7855-7388-41. Au! age 2014

    First published in Great Britain under the title Soul Stormby Indigo, a division of the Orion Publishing Group Ltd.

    Copyright © Kate Harrison 2013All rights reserved.

    © für die deutschsprachige Ausgabe: Loewe Verlag GmbH, Bindlach 2014Aus dem Englischen übersetzt von

    Jessika Komina und Sandra Knu$ nkeUmschlaggestaltung: Franziska Trotzer

    Umschlagfotos: © iStockphoto.com/enjoynz; THE PALMERPrinted in Germany

    www.loewe-verlag.de

  • Einsamkeit ist schlimmer als der Tod.

    Sie lässt einen von innen verrotten, bis man sich schließlich ganz

    aufl öst. Ich meide Spiegel, weil ich fürchte, darin an meiner Stelle

    nur einen leeren Fleck zu sehen. Und wenn ich mich zufällig in ei-

    nem Fenster refl ektiert sehe, bin ich jedes Mal überrascht, wie sta-

    bil ich wirke. Wie »normal«.

    Alles, was mich noch aufrecht hält, ist das Wissen, dass meine

    Einsamkeit bald ein Ende haben wird. Wenn ich mich dem richti-

    gen Menschen anvertraue, werde ich endlich Verständnis fi nden,

    das weiß ich.

    Die Sache mit Meggie betrachte ich mittlerweile als eine Art Ge-

    neralprobe. Ich habe meinen Text vergessen, bin zur falschen Zeit

    von der Bühne abgegangen. Fehler, die dazu geführt haben, dass

    Meggie und ich beide mehr leiden mussten als nötig.

    Und doch habe ich viel von Meggie gelernt, was nun ihrer

    Schwester zugutekommen wird – ist das nicht eine bittersüße

    Wendung?

    Diesmal werde ich alles richtig machen. Ich hoffe nur, dass Alice

    intelligent genug für ihre Rolle ist. Dass sie begreift, wie sehr es in

    ihrem eigenen Interesse liegt, verständnisvoll zu sein.

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    Ich glaube, sie folgt mir. Schon wieder.

    Ich sehe in den Spiegel. Nichts. Setze den Blinker. Fahre an den

    Straßenrand und ziehe die Handbremse fest an.

    Ein weiterer Blick in den Rückspiegel. Wo versteckt sie sich?

    Mein Fahrlehrer lächelt. »Die Prüfung wird ein Kinderspiel, Alice.

    Du hast den Wagen gut unter Kontrolle und dein Gefahrenbewusst-

    sein ist für jemanden in deinem Alter geradezu außergewöhnlich.

    Deine Schwester wirkte in unseren Fahrstunden immer so, als be-

    käme sie vom Rest der Welt gar nichts …«

    Er unterbricht sich und wird rot, sogar seine Glatze läu' dunkel an.

    »Schon in Ordnung«, beruhige ich ihn. »Es macht mir nichts aus,

    über sie zu reden. Wir müssen nicht so tun, als hätte sie nie existiert.«

    Er atmet tief durch. »Du hast recht. Na ja, was ich eigentlich sagen

    wollte, ist: Du hast das Zeug zu einer sehr sicheren Autofahrerin,

    Alice. Souverän, aber trotzdem aufmerksam.«

    Ich sage ihm nicht, dass ich vor allem deshalb so gern fahre, weil

    ich dann Augen im Hinterkopf habe und einen festen, schützenden

    Metallpanzer um mich herum. Und weil ich mit dem Auto schneller

    vom Fleck komme, als ich es mir zu Fuß je erträumen könnte.

    »Danke, Mr Gregory. Also dann bis nächsten Montag um halb

    zwölf. Meine Verabredung mit dem Schicksal.«

    Er nickt. »Machst du dieses Wochenende noch ein paar Übungs-

    fahrten?«

  • 7

    »Ja, mit Freunden.«

    »Achte nur darauf, keine schlechten Angewohnheiten von ihnen

    zu übernehmen. Und ab Montagnachmittag machst du dann hof-

    fentlich schon allein die Straßen unsicher.«

    »Danke.« Ich will gerade aus dem Wagen steigen, als ich etwas im

    Rückspiegel sehe. Selbst für Juli ist es ungewöhnlich heiß und die

    Straßen sind voll von sonnenverbrannten Menschen auf Einkaufs-

    tour, aber ich bin mir sicher, dass sie es war.

    Oder zumindest ziemlich sicher.

    »Alice? Wird Zeit, die Zügel abzugeben.« Er klop' auf das Lenk-

    rad. Ich schnalle mich los und bereite mich mental darauf vor, den

    einzigen Ort zu verlassen, an dem ich das Gefühl habe, alles unter

    Kontrolle zu haben. »Du kannst es wohl gar nicht erwarten, dass der

    Fahrersitz endlich dir gehört, was?«

    Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Als ich aussteige, gibt der wei-

    che Asphalt unter meinen Füßen nach und ich bekomme trotz der

    brennenden Sonne eine Gänsehaut.

    Hier draußen bin ich ihr völlig ausgeliefert. Ich halte Ausschau

    nach ihrem drahtigen Körper, strohblonden Haar und blassen Ge-

    sicht. Wenn sie mir wirklich gefolgt ist, dann hat sie einen Weg ge-

    funden, sich unsichtbar zu machen. Donnerstagnachmittags ist die

    Stadt normalerweise nicht so überlaufen, aber heute will jeder noch

    ein paar letzte Einkäufe vor dem Urlaub erledigen.

    Menschenmengen sind das perfekte Versteck.

    »Achtung!«

    Ein Skateboarder, dem ich mich direkt in den Weg gestellt hatte,

    verfehlt mich nur um Millimeter.

    »Tut mir leid …«

    Aber er ist schon längst außer Hörweite und das Totenkopfsymbol

    auf seinem T-Shirt wird immer kleiner.

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    Ich versuche, meinen Atem zu beruhigen und klar zu denken. Wa-

    rum sollte sie mir folgen? Ich sehe sie doch sowieso am Sonntag; sie

    hat immer schon direkt den nächsten Besuch arrangiert, ob ich mich

    mit ihr tre* en will oder nicht. Also gibt es gar keinen logischen

    Grund, warum sie mir nachspionieren sollte.

    Aber mit Logik lässt sich dieses düstere Gefühl in meinem Inneren

    sowieso nicht erklären. Dasselbe Gefühl, das ich im alten Zimmer

    meiner Schwester im Studentenwohnheim verspürt habe, auf den

    verrauchten Straßen von Barcelona und bei Tims Gerichtsuntersu-

    chung.

    Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern etwas Stärkeres. Instinkt.

    »… bridge o-ver tr-ou-u-bled water …«

    Zwei Mädchen, die ich vage aus der Schule erkenne, stehen an der

    Straßenecke und machen Musik. Sie lächeln mir zu und ich lächele

    zurück. Als ich vorbeigehe, werfen sie einander einen Blick zu. Ich

    weiß, was die anderen sich auf dem Schul! ur über mich zu! üstern.

    Klar, Meggies Tod war eine Tragödie, aber die Leute sind der Mei-

    nung, ich müsste mal so langsam darüber hinwegkommen.

    Wenn die wüssten, wie sehr ich mich bemüht habe, mit meinem

    Leben weiterzumachen. Aber den Besuch am Sonntag habe ich mir

    nicht freiwillig ausgesucht. Ich will mich nicht mit jemandem tre* en,

    den ich verdächtige, zwei Menschen umgebracht zu haben und bei-

    nahe auch noch einen dritten.

    Natürlich ist das, was ich hier tue, möglicherweise gefährlich.

    Dumm. Niemand Vernün' iges würde einer potenziellen Psychopa-

    thin freiwillig so nahe kommen. Aber wie sonst soll ich den Men-

    schen, die ich verloren habe, Gerechtigkeit zuteilwerden lassen? Al-

    len voran meiner Schwester, ermordet auf eine Art und Weise, bei

    der sich die ganze Welt einig ist, dass sie durch Eifersucht oder un-

    erwiderte Liebe motiviert war. Dann ihrem Freund Tim, getötet in

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    einem vorgetäuschten Selbstmord, der alle außer mir und seiner

    engsten Freundin Zoe hinters Licht geführt hat. Tja, und Zoe? Die

    liegt jetzt im Koma, nachdem sie in Barcelona einem »Unfall« zum

    Opfer gefallen ist, bei dem es keine Zeugen gab.

    Die Welt hat akzeptiert, dass sich mit Tims »Selbstmord« alles auf-

    geklärt hat. Dass er der Mörder meiner Schwester ist. Warum also

    kann ich es nicht gut sein lassen?

    Weil mein Bauchgefühl mir sagt, dass meine Stalkerin die Schul-

    dige ist, genauso wie es mich davon überzeugt, dass sie mir jetzt, in

    diesem Moment, au! auert, obwohl sie eigentlich zwanzig Meilen

    entfernt an der Uni sein müsste.

    Es wäre nicht das erste Mal. Letzte Woche, als ich in der Mittags-

    pause ganz allein mit meinem Sandwich am hintersten Ende des

    Sportplatzes saß, hat mich dieselbe eisige Emp+ ndung ergri* en, eine

    Ahnung, dass mich irgendjemand beobachtete. Aber ich habe es als

    Paranoia abgetan, zumindest so lange, bis ich drei Stunden später vor

    dem Schultor fast mit ihr zusammenstieß. Mit hochrotem Kopf hat

    sie mir versichert, sie wäre nur »zufällig« vorbeigekommen.

    Seitdem ist mir klar, dass ich auf meinen Instinkt hören muss. Und

    mein Instinkt sagt mir, dass es nur eine Person gibt, die die Wahrheit

    über den Tod meiner Schwester weiß.

    Sahara.

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    Warmer Regen setzt ein, gerade als es zum Schulschluss klingelt.

    Aber das hält Cara nicht davon ab, auf den Spielplatz zu rennen, sich

    den Pullover vom Leib zu reißen und herumzutanzen wie ein Der-

    wisch.

    »Sieben Wochen FREIHEIT! Sieben Wochen Sonne, süße Typen

    und …« Sie sucht nach einem weiteren Wort mit »S« und schließlich

    erscheint ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht. »Saufen!«

    Ich muss lachen. »Genau. Du kommst wahrscheinlich als mensch-

    gewordene Piña colada aus der Karibik zurück.«

    »Na, ich ho* e doch, ganz so weiß bleibe ich nicht. Vielleicht lieber

    wie ein Rumpunsch.« Caras Mum hat einen Mutter-Tochter-Urlaub

    in einem Wellnesshotel auf den Bermudas gebucht. Ich gebe den bei-

    den zwölf Stunden, bis das Gekeife anfängt. »Du kannst immer noch

    mitkommen, das ist dir klar, oder?«

    »Mum und Dad sind gerade nicht besonders wild darauf, dass ich

    das Land verlasse. Nicht nach dem, was in Barcelona passiert ist.«

    Cara hört auf zu tanzen. Ihre Bluse ist im Regen durchsichtig ge-

    worden und die Typen von der gegenüberliegenden Jungenschule

    zeigen schon mit dem Finger auf sie. »Aber dass du mit diesem Gru-

    selgespann Sahara und Ade rumhängst, + nden sie okay?«

    »Ähm, dür' e ich daran erinnern, dass du Ade vor vier Wochen

    noch für einen Sexgott gehalten hast?«

    »Stimmt doch gar nicht.«

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    »Du solltest wirklich mal untersuchen lassen, ob du nicht unter

    Gedächtnisverlust leidest, Cara.« Bevor wir nach Spanien gefahren

    sind, war sie noch hin und weg von seinem skandinavisch-bleichen

    Look und fest entschlossen, ihn Sahara auszuspannen, obwohl die

    zwei schon seit Jahren zusammen sind.

    Cara lächelt. »Okay, okay. Vielleicht fand ich ihn tatsächlich ein

    kleines bisschen scharf. Aber das war, bevor mir klar geworden ist,

    dass Sahara und er einander absolut verdient haben.«

    Genau wie alle anderen glaubt auch Cara, die Sache mit Zoe in Bar-

    celona wäre ein Unfall gewesen. Allerdings assoziiert sie Ade und

    Sahara nun mit unserer Tortur im Krankenhaus, der Befragung

    durch die Polizei und unserer schrecklichen Begegnung mit Zoes am

    Boden zerstörten Eltern.

    Gott sei Dank. Solange sie sich von Sahara und Ade fernhält, ist sie

    in Sicherheit. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Cara auch noch

    etwas zustoßen würde.

    »Dann werde ich sie am Sonntag mal lieb von dir grüßen, was?«

    Cara stöhnt auf. »Mensch, Alice, wieso gibst du dich denn immer

    noch mit denen ab?«

    »Ich muss fahren üben und sie haben ein Auto.«

    »Ich ja wohl auch.«

    »Ja klar, und drei Punkte wegen zu schnellen Fahrens, obwohl du

    noch nicht mal seit einem Monat deinen Führerschein hast. Ich

    glaube nicht, dass ich ausgerechnet mit dir üben sollte.«

    Sie stößt ein Lachen aus, wird aber sofort wieder ernst. »Versprich

    mir nur eins – wenn du die Prüfung bestehst, tri* st du dich nicht

    mehr mit ihnen, okay?«

    Nichts wäre mir lieber, als nicht mehr auf ihre endlosen Anrufe

    und SMS reagieren zu müssen und unter die Bekanntscha' mit den

    beiden einen Schlussstrich zu ziehen.

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    Aber ich komme der Wahrheit immer näher. Ich muss dafür sor-

    gen, dass die Welt erfährt, was Sahara getan hat. Erst dann ist endlich

    alles vorbei, für immer.

    Genau das ist es, was ich mir mehr als alles andere auf der Welt

    wünsche – auch wenn ich dafür wahrscheinlich einen hohen Preis

    zahlen muss. Denn falls … nein, wenn ich endlich Gerechtigkeit für

    Meggie – und Tim und Zoe – erlangt habe, dann, fürchte ich, werde

    ich das Kostbarste in meinem Leben verlieren. Die Zeit am Soul

    Beach mit meiner Schwester und mit dem Jungen, den ich liebe.

    »Alice?«

    »Es ist bald vorbei«, sage ich. Ich sehne mich danach, mich ihr an-

    zuvertrauen, aber die wenigen Male, bei denen ich ihr meinen Ver-

    dacht angedeutet habe, hat sich sofort dieser besorgte Ausdruck in

    ihren Blick gestohlen.

    Selbst jetzt mustert sie mich angespannt, die Stirn gerunzelt. »Es ist

    schon lange vorbei, Süße. Tims Gerichtsverhandlung hat das ja wohl

    absolut deutlich gemacht. Er hat sich umgebracht, weil er nicht mehr

    mit seinem schlechten Gewissen leben konnte, nachdem er deine

    Schwester getötet hatte. Aber du hast dein ganzes Leben noch vor dir

    und du musst das Beste daraus machen. Besonders nach dem, was

    mit Zoe passiert ist …«

    Ich nicke. »Ich bin bald so weit, es hinter mir zu lassen, im Ernst.«

    Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. Sie glaubt mir nicht. Es

    hat den Anschein, als wollte sie noch etwas hinzufügen, aber dann

    schüttelt sie nur den Kopf und rennt los in Richtung Fluss.

    Ich laufe hinterher. Als wir bei der Bank mit Blick auf die Schleuse

    angekommen sind, grei' sie in ihre Tasche und zieht zwei Piccolo! a-

    schen Sekt hervor, schüttelt sie krä' ig und reicht eine davon mir.

    »Drei, zwei, eins …«, rufen wir, leicht außer Atem. »LOS!«

    Als wir die Korken knallen lassen, spritzt ein Großteil der klebrig-

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    süßen Flüssigkeit ins Ufergras. Cara stöhnt auf, aber ich bin erleich-

    tert; ich muss einen klaren Kopf bewahren.

    Cara stößt mit mir an und trinkt einen Schluck. »Prost, Süße. Hey,

    wann kommt eigentlich Lewis aus San Francisco zurück?«

    »Morgen, glaube ich.«

    »Kann er dir keine Fahrstunden geben?«

    »Nicht auf einer richtigen Straße. Hast du eine Ahnung, wie der

    aus! ippen würde, wenn ich ihm einen Kratzer ins Auto fahre?«

    Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Lewis würde dir alles verzeihen,

    selbst wenn du seinen Schlitten frontal gegen eine Mauer setzen wür-

    dest. Weil er dich nämlich liiiiebt.«

    Ich schüttele den Kopf. »Quatsch. Er ist der große Bruder, den ich

    nie hatte. Er fühlt sich für mich verantwortlich.«

    Cara seufzt. »Wenn du meinst. Zumindest kann ich beruhigt sein,

    dass er auf dich aufpasst, solange ich weg bin. Wenn du nur die bei-

    den Zombies zur Gesellscha' hättest, würde ich den Urlaub sofort

    stornieren.«

    »Und auf Sonne, süße Typen und Saufen verzichten?«

    »Okay, du hast recht, das würde wirklich ein bisschen zu weit ge-

    hen.« Sie legt mir den Arm um die Schultern. »Du kennst mich ein-

    fach zu gut. Ich ho* e bloß, wenn ich zurückkomme, bist du wieder

    die Alice von früher. Mit der Lizenz zum Rumcruisen und bereit für

    einen Sommer voller Spaß.«

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    Am Soul Beach gibt es das ganze Jahr nichts als Spaß.

    Na ja, zumindest für Gäste wie Meggie und Danny. Wenn man wie

    ich nur zu Besuch ist, liegen die Dinge etwas komplizierter.

    Als ich mich einlogge, ist es dort Mittag. Zeit zum Brunchen. Ich

    sehe einen azurblauen Himmel, grüne Vögel mit orangefarbenen

    Flügeln. Die ruhige, türkis glitzernde See.

    Aber wie immer sind es die Toten, die mir am meisten ins Auge

    fallen. Ein halbes Dutzend wunderschöner junger Menschen, die auf

    den Stufen zur Strandbar sitzen und jammen. Glückliche Pärchen

    unter Palmen, die an die raue Rinde gelehnt dasitzen, knutschen und

    einander tief in die Augen sehen, in dem Bewusstsein, dass sie alle

    Zeit der Welt haben. Eiswürfel klirren auf Kristall, als die Gäste Pit-

    cher voller rubinroter und mintgrüner Cocktails zu ihren Freunden

    tragen, um wieder mal einen perfekten Nachmittag im Dämmerzu-

    stand zu verbringen.

    Ein feurig-greller Lichtblitz aus einem metallenen Lauf, der Geruch

    nach Rauch, eine Kugel, die in der hellen Sonne aufschimmert, wäh-

    rend sie auf mich zu# iegt –

    Dann nur noch Dunkelheit.

    »Huch, entschuldige!«

    Als ich die Augen ö* ne, sehe ich das Mädchen, das mich gerade ge-

    strei' hat. Sie hat ein freundliches Gesicht, eine süßlich du' ende Li-

    lienkette um den Hals und dunkle Augen.

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    Bleigrau, wie eine Pistolenkugel.

    Jetzt schlendert sie weiter zu ihrem Freund und lässt mich mit der

    schaurigen Erinnerung an ihre letzten Momente stehen. Sie ist also

    bei einer Schießerei ums Leben gekommen. Jeder Gast hier hat seine

    eigene Tragödie, die meisten davon blutig und alle furchtbar unge-

    recht.

    Das ist auch der Grund, warum der Strand so schön ist: damit sie

    vergessen können.

    Ich hingegen darf niemals vergessen. Als Besucherin fungiere ich

    teils als Vertraute, teils als Detektivin. Die Gäste beichten mir ihre Ge-

    heimnisse und bitten mich, ihnen von meiner Welt aus zu helfen. Sie

    wollen, dass ich ihnen Gerechtigkeit verscha* e oder ihre Hinterbliebe-

    nen vor etwas warne. Und wenn ich es scha* e – wie nun schon zwei-

    mal –, erlange ich neue Privilegien. Zuerst den Tastsinn und jetzt …

    Seit ich meinem Freund Javier geholfen habe, durchlebe ich die

    letzten bewussten Momente der Gäste. Wenn ich sie berühre, dann

    ist es, als würde ich mich kurz in sie verwandeln; ich sehe, was sie

    gesehen haben, und fühle, was sie gefühlt haben, bevor sie gestorben

    sind.

    Vielleicht soll mich diese neue Fähigkeit dazu anhalten, mich für

    noch mehr Gäste um Gerechtigkeit zu bemühen. Aber dieses soge-

    nannte Privileg kommt mir eher vor wie ein Fluch.

    »Florrie!« Meine Schwester kommt durch den Sand auf mich zu

    und ru' mich bei dem albernen Spitznamen, den niemand außer ihr

    benutzen darf. Ihr langes Haar weht hinter ihr in der san' en Meeres-

    brise wie ein seidener Schal. Sie trägt einen kakifarbenen Bikini, der

    den san' en Bronzeton ihrer Haut betont.

    Ich zucke zusammen, bevor sie die Arme um mich schlingt, und

    wappne mich für ihren letzten Moment. Zumindest wird der Ein-

    druck jedes Mal schwächer, so als ließe der E* ekt langsam nach.

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    Vielleicht hat selbst die Geschä' sleitung begri* en, dass eine Endlos-

    schleife von Todesillusionen irgendwann jeden Besucher in den

    Wahnsinn treiben würde.

    Wenn ich nicht sowieso längst verrückt bin und diese ganze virtu-

    elle Realität nicht mehr als ein Gespinst meines trauernden Bewusst-

    seins ist.

    Ich trete einen Schritt zurück, um Zeit zu schinden. »Meggie, hi!

    Du riechst nach Ananas.«

    »Das ist der Tagescocktail. Wodka, frisches Obst und Honig. Der

    Soul Beach Sweetie.«

    Sie drückt mich an sich.

    Ein Paar behandschuhter Hände nähert sich mir. Ein Kissen legt sich

    über meine Augen und verwandelt Licht in Dunkelheit.

    Das ist Meggies Erinnerung, doch es fühlt sich an, als wäre es mir

    selbst passiert. Es ergibt keinen Sinn, aber das tri= auf alles hier zu,

    auch auf die Tatsache, dass ich überhaupt mit meiner großen Schwes-

    ter reden kann.

    Oder dass ich mich in einen Jungen verliebt habe, der seit fast zwei

    Jahren tot ist.

    Dieser Junge hastet jetzt durch die Strandbar auf mich zu, erleich-

    tert lächelnd, als hätte er gefürchtet, mich nicht wiederzusehen. Ganz

    sicher können wir uns beide nie sein.

    »Alice, du bist aber früh dran«, ru' Danny.

    »Heute war der letzte Schultag!«, lache ich.

    Seine moosgrünen Augen strahlen. Wie immer, wenn ich ihm ge-

    genüberstehe, frage ich mich unwillkürlich, warum er sich überhaupt

    mit mir abgibt. Er sieht unglaublich gut aus, aber auf eine zerzauste

    Art, die nichts von dem privilegierten Leben preisgibt, das er geführt

    hat, bevor er an den Strand kam.

    Als wir uns berühren, durchzuckt es mich wie ein elektrischer

  • 17

    Schlag und ein Bild formt sich vor meinem geistigen Auge. So sehr

    ich mich auch auf seine warmen Lippen zu konzentrieren versuche,

    die Kälte seiner letzten Lebenssekunden ergrei' mich stets von

    Neuem. Rostrote Erde rast mit tausend Meilen pro Stunde auf mich

    zu. Jedes Mal ho* e ich, dass es anders ausgeht, dass das Flugzeug

    wieder an Höhe gewinnt und nicht in die Wüste stürzt.

    Doch so kommt es nie.

    Tim wartet mit Meggie im Hintergrund. Eigentlich sind wir das

    perfekte Viererkleeblatt: Danny und ich plus meine Schwester und

    ihre erste große Liebe. Aber obwohl der Strand die Fältchen in Tims

    Gesicht – vom vielen Stirnrunzeln – geglättet und sein Haar von Rot-

    braun zu beinahe Blond ausgeblichen hat, ist er immer noch sehr zu-

    rückhaltend, vor allem mir gegenüber. Gut möglich, dass in seinen

    letzten Augenblicken irgendetwas geschehen ist, von dem er nicht

    will, dass ich es sehe.

    Nein. Tim ist unschuldig, egal, was die Polizei sagt. Ansonsten

    würde meine Schwester das mit Sicherheit spüren und sich von ihm

    fernhalten.

    Danny küsst mich wieder und diesmal ist die rote Erde verschwom-

    mener, weniger bedrohlich.

    »Und, was gibt’s Neues, Alice?«, fragt er.

    »Es ist jetzt richtig Sommer geworden. Cara ! iegt in die Karibik,

    aber ich bleibe zu Hause.«

    Wenn ich hier bin, berichte ich nur von den bedeutungslosen Klei-

    nigkeiten, die meinen langweiligen Tagesablauf bestimmen. Die

    Gäste hören am liebsten etwas über die Schule oder Musik und be-

    sonders die Jahreszeiten: den rauchigen Du' des Herbstes, die knis-

    ternde Kälte des Winters, die ersten Frühlingsblumen.

    Daher überrascht mich Dannys gelangweilte Miene, als ich den

    Sommer erwähne, umso mehr.

  • 18

    Dann jedoch wird mir klar: Warum sollte ihn das interessieren, wo

    am Strand doch jeden Tag Sommer ist?

    »Warum fährst du nicht auch in den Urlaub?« Er versucht, seine

    Erleichterung darüber zu verbergen, aber mich kann er sowieso nicht

    täuschen.

    Ich zucke mit den Schultern. »Dad hat auf der Arbeit zu viel zu tun.

    Meine Eltern wollen lieber zu Weihnachten eine große Reise machen.

    Nach Australien oder Neuseeland.«

    »Wow, da wollte ich schon immer mal hin.« Mit seinen weichen

    blonden Locken und den muskulösen Beinen hätte er den perfekten

    Surfertyp am Bondi Beach abgegeben.

    »Ich werde dir in allen Einzelheiten berichten.« Nur dass es ja fast

    noch ein halbes Jahr ist bis Weihnachten. Wer weiß, was bis dahin

    noch alles passiert?

    »Und, was hast du vor, mit all der freien Zeit anzufangen? Abgese-

    hen davon natürlich, sie mit mir zu verbringen?«

    »Wenn ich nächste Woche meine Führerscheinprüfung bestehe,

    bin ich endlich …« Fast hätte ich »frei« gesagt, aber das wäre einfach

    zu grausam. »… mobil. Na ja, das heißt, ich darf Mums Auto fahren,

    ein eigenes habe ich natürlich nicht. Außerdem überlege ich, mir ei-

    nen Ferienjob zu suchen.«

    »Kommt schon, ihr zwei Turteltäubchen!«, neckt meine Schwester

    und bedeutet uns, ihnen zum Meer zu folgen. Tim hat einen Kühler

    mit kaltem Bier und ein paar Schälchen Eiscreme von der Bar mit-

    gebracht, also löse ich mich von Danny und wir machen uns zu viert

    auf den Weg zum Wasser.

    Als ich mich setze, fühlt sich der Sand unter mir leicht feucht an.

    Kühlend. Ich versuche, nicht allzu sehr zu analysieren, was ich emp-

    + nde, denn es ist auch so schwer genug, nicht ständig meine geistige

    Gesundheit infrage zu stellen.

  • 19

    Zu spät. Die Zweifel potenzieren sich und meine echte Umgebung

    umschließt mich, bunt und gestochen scharf. Die Tagesdecke mit ih-

    rem Retro-Tulpenmuster. Der Stapel Schulbücher in der Ecke, den

    ich bis September keines Blickes mehr würdigen werde. Die Unterla-

    gen für die Fahrprüfung.

    Soul Beach ist nur eine Website. Nichts von dem, was ich spüre, ist

    real.

    »Hey, Florrie-Schätzchen, hör auf zu träumen.«

    Meine Schwester berührt mich am Arm. Diesmal hält das Bild der

    schwarzen Lederhandschuhe, die dem Mörder gehören, nur für ei-

    nen Sekundenbruchteil an, aber immer noch lang genug, um mich

    an meine Verp! ichtung ihr gegenüber zu erinnern.

    Ich konzentriere mich auf Meggies swimmingpoolblaue Augen

    und eine abstehende weiße Strähne in ihrem blonden Haar, die mir

    zuvor noch nie aufgefallen ist. Nachdem er sie getötet hatte, hat der

    Mörder ihr die Haare gebürstet und auf dem Kissen ausgebreitet,

    weswegen Zoe – die sie gefunden hat – meinte, sie habe wie ein Engel

    ausgesehen.

    »Florrie!«

    »Tut mir leid, ich war gerade in Gedanken.«

    »Okay.« Ihr Blick verdunkelt sich. Sie sieht Tim an, der langsam

    nickt. »Vielleicht ist das ja der richtige Zeitpunkt, um zu reden.«

    »Worüber denn?«

    Sie seufzt. Ȇber das alles. Hier. Das ist einfach falsch, ich kann

    nicht von dir erwarten, dass du ständig bei mir bist.«

    Ich schüttele den Kopf. »Nein, ist doch in Ordnung. Ich will ja hier

    sein. Wir sind schließlich Schwestern.«

    Aber Meggies Miene ist immer noch ernst. »Nur weil wir gern zu-

    sammen sein wollen, heißt das noch lange nicht, dass es auch so sein

    sollte. Das hier ist kein guter Ort. Tim + ndet –«

  • 20

    »Was soll das denn heißen?«, unterbreche ich sie.

    »Die Sonne und das Meer verschleiern nur die Realität. Die Düs-

    ternis, die über diesem Strand liegt.«

    Eine Welle bricht sich an der Küste und besprüht mich mit Gischt.

    Ich wende mich Tim zu. »Was hast du ihr denn da eingeredet? Ich

    lasse mich nicht behandeln wie ein Kleinkind. Bevor du hergekom-

    men bist, sind wir prima klargekommen.«

    Er zuckt zurück, als hätte ich ihm eine Ohrfeige versetzt.

    »Gib nicht ihm die Schuld, Alice«, sagt Meggie leise. »Er will doch

    nur das Beste für dich. Ich war einfach zu egoistisch, um zu erken-

    nen, dass, wenn du hier bist … dass es für dich sein muss wie auf ei-

    nem Friedhof oder auf einer Krankenstation voller sterbender Men-

    schen. So was ist doch nichts für ein sechzehnjähriges Mädchen.«

    »Siebzehn«, korrigiere ich sie.

    Meggie wird rot. »Entschuldige. Manchmal verliere ich hier ein-

    fach jedes Zeitgefühl, was vermutlich auch der Sinn der Sache ist.

    Aber genau das ist ja Teil des Problems. So kommst du einfach nicht

    weiter.« Sie holt tief Lu' . »Wir alle nicht.«

    Zuerst begreife ich nicht, was sie meint. Dann tri= es mich wie ein

    Schlag. »Das sagst du alles gar nicht meinetwegen, stimmt’s? Du

    willst bloß mit ihm allein sein.« Ich deute auf Tim.

    »Alice, nein!« An ihrem erschrockenen Gesicht erkenne ich, dass

    ich sie völlig falsch verstanden habe. »Ich hätte dich am liebsten stän-

    dig hier, aber wir tun dir einfach nicht gut.«

    »Falls du es vergessen hattest, ich bin deine einzige Chance auf Ge-

    rechtigkeit, Meggie. Oder ist dir das plötzlich egal?«

    Sie sieht mich eindringlich an. »Es ist mir nicht egal, im Gegenteil.

    Dieser Ort ist ein Gefängnis und ich wünsche mir nichts mehr,

    als den Strand zu verlassen. Frieden zu + nden. Zu wissen, dass die

    richtige Person ihre Strafe bekommen hat, wer auch immer es sein

  • 21

    mag. Aber es gibt eben etwas, was mir noch wichtiger ist: deine Zu-

    kun' .«

    Die Wellen – das allererste Geräusch, das ich vom Strand gehört

    habe – werden lauter und die brennende Sonne bereitet mir Kopf-

    schmerzen. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, was sie mir sagen

    will. Schnell strecke ich die Hand nach Danny aus und ignoriere das

    kurze Schwindelgefühl, als ich abermals »abstürze«. »Was sagst du

    denn dazu?«

    Er windet sich unbehaglich. »Das ist eine schreckliche Situation.

    Ich will dich nicht verlieren, ich liebe dich mehr als alles andere. Aber

    ich kann dir nichts bieten außer dem hier«, er macht eine Geste, die

    den Strand und alles ringsum einschließt, »und das ist nun mal nicht

    genug. Ich würde nie von dir verlangen, dass du dich für ein Leben

    nach dem Tod im Limbus opferst.«

    Warum sieht er bloß so schuldbewusst aus? Mit einem Mal däm-

    mert es mir. »Habt ihr etwa hinter meinem Rücken darüber geredet?

    Und beschlossen, dass es Zeit für die kleine Alice ist, sich wieder auf

    ihr langweiliges Leben in der normalen Welt zu konzentrieren, damit

    ihr in eurem Paradies endlich eure Ruhe habt?«

    Meggie macht einen Schritt auf mich zu. »Du verstehst das total

    falsch. Du bist diejenige, die alle Macht hat, die die Möglichkeit hat,

    uns zu verlassen. Du solltest dein eigenes Leben leben.«

    »Aber ihr habt über mich geredet, oder?«

    Meggies Blick verdüstert sich. »Natürlich. Stundenlang. Und ich

    habe Nacht für Nacht wachgelegen und darüber nachgegrübelt, was

    ich tun soll. Als ich noch am Leben war, hat es mich nicht geküm-

    mert, ob ich mich egoistisch verhalte, aber das hier ist einfach zu

    ernst. Diesmal darf ich keine falsche Entscheidung tre* en.«

    Ich will ihr sagen, dass sie nicht egoistisch ist, dass es mir leidtut,

    sie angeschrien zu haben. Aber zuerst muss ich ihr eine Frage stellen.

  • 22

    »Was ist dir wichtiger, Meggie? Dass ich gehe … oder dass du selbst

    entkommst?«

    Je länger sie schweigt, desto größer wird meine Angst.

    Alles, was ich seit meinem ersten Besuch am Strand unternommen

    habe – der Versuch, seine geheimen Regeln herauszu+ nden, Javier

    und Triti zur Flucht zu verhelfen, mich ständig in Saharas Nähe he-

    rumzudrücken, obwohl sie mir eine Gänsehaut verursacht –, habe

    ich nur für Meggie getan. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich sie

    damit nur noch unglücklicher gemacht haben sollte.

    »Ich will, dass alles wieder so ist wie früher, Florrie. Ich will leben-

    dig sein und dass das hier nur ein böser Traum ist, aus dem wir jeden

    Moment aufwachen werden. Aber das geht nun mal nicht.«

    »Komm mal her, Meggie.« Ich strecke die Arme nach ihr aus und

    wappne mich gegen die vertraute Vision von Kissen und Handschu-

    hen. Aber diese ist mittlerweile so schwach, dass sie bloß noch einer

    Wolke gleicht, die über die Sonne hinwegzieht, als Meggie mir um

    den Hals fällt. »Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber ich kann

    versuchen, alles wieder einzurenken. Dich hier rauszuholen.«

    Deutlicher spreche ich es nicht aus – ich bin schon einmal von der

    Seite verbannt worden, weil ich zu viel gesagt habe. Aber Meggie

    weiß, dass der Schlüssel zu ihrer Flucht aus diesem »Paradies« in der

    Au! ösung ihres Mordfalls liegt.

    »Aber davor habe ich genauso viel Angst, Schwesterchen.«

    Niemand weiß, was danach kommt: ein noch herrlicherer Ort oder

    das Nichts? Triti und Javier haben sich am Ende nur noch danach

    gesehnt, zu vergessen, die letzte Ruhe zu + nden.

    »Vielleicht ist es ja wunderschön«, antworte ich.

    Ein neuer Ausdruck legt sich auf das Gesicht meiner Schwester.

    »Nein, das meinte ich nicht. Was mir Angst macht, ist, dass es viel-

    leicht schiefgehen könnte.«

  • 23

    »Aber wie könnte es denn überhaupt noch schlimmer für dich wer-

    den, Meggie?«

    »Das weißt du wirklich nicht?« Sie stößt ein bitteres Lachen aus.

    »Der Mörder könnte dich auch erwischen, Florrie. Dann würden wir

    beide für immer hier festsitzen. Und es wäre meine Schuld.«

    Ich runzele die Stirn. Ich halte mich bestimmt nicht für unsterblich

    oder so. Wie sollte ich auch? Allein in den letzten zwölf Monaten

    sind zwei Menschen gestorben, die ich kannte. Und ein dritter weilt

    zwar technisch gesehen noch unter uns, ist aber wahrscheinlich für

    jede Hilfe verloren. Das Leben ist ein sehr zerbrechliches Gut.

    »Mir ist klar, dass es gefährlich werden könnte, Meggie, aber ich

    kann jetzt nicht au@ ören.«

    Sie schüttelt den Kopf. »Glaub mir, es ist nicht so, wie du es dir vor-

    stellst. Das Schlimmste ist diese Trostlosigkeit. Und ich mache mir

    nicht nur Sorgen um dich. Sondern auch um Mum und Dad.«

    Ich trete einen Schritt zurück und gerate im weichen Sand ins

    Straucheln. Über unsere Eltern sprechen wir sonst nie. Was soll ich

    sagen? Die Wahrheit – dass ihr Tod unsere Familie in Fetzen gerissen

    hat wie eine Handgranate? Dass Mum immer noch bei diesem Ekel-

    paket Olav in X erapie ist? Dass Dad manchmal wochenlang nur an

    seinem Schreibtisch bei der Arbeit schlafen kann?

    »Meggie, lass uns lieber nicht darüber reden.«

    »Aber das müssen wir, wenn ich dir anscheinend nur so klarma-

    chen kann, was für ein Risiko du eingehst.«

    Tim und Danny halten Abstand zu uns; das hier ist eine Familien-

    angelegenheit.

    »Soll das heißen, du willst mich nicht hier haben? Oder dass ich die

    Jagd nach …« Ich kann mich gerade noch davon abhalten, Saharas

    Namen auszusprechen. »… dem Mörder aufgeben soll?«

    Wieder grei' Meggie nach meiner Hand und ich lasse es zu. »Ich

  • 24

    sage ja nicht, dass du mich jetzt sofort verlassen sollst. Das könnte ich

    gar nicht ertragen. Aber ewig kann es nicht so weitergehen.«

    »Ich glaube, ich bin ganz nah dran, Meggie«, ! üstere ich.

    »Woran?«

    »An der Gewissheit. Den Beweisen, die uns fehlen.«

    Sie schluckt. »Natürlich will ich immer noch wissen, wer mich er-

    mordet hat. Aber deine Sicherheit geht nun mal vor. Als ich noch am

    Leben war, dachte ich immer, die Welt dreht sich nur um mich, aber

    jetzt bin ich klüger. Ich bin Vergangenheit. Ein Reality-Sternchen,

    das niemals zum richtigen Star geworden ist.«

    »Du bist ein Star, immer noch. So viele Menschen erinnern sich an

    deine Musik. Und du hast Gerechtigkeit verdient.«

    Einen Moment lang sagt sie nichts. »Manchmal vergesse ich, wie

    erwachsen du inzwischen geworden bist, wie stark. Aber das macht

    dich nicht unverwundbar. Versprich mir, dass du dich niemals in Ge-

    fahr bringst.«

    Ich zögere. »Ich verspreche, dass ich nichts Verrücktes unter-

    nehme.«

    »Damit muss ich mich wohl zufriedengeben.« Und dann tut sie et-

    was sehr Seltsames: Sie hebt meine Hand an ihre Lippen und drückt

    einen Kuss darauf, als wäre ich die Queen oder so. Tim ! üstert ihr

    etwas ins Ohr und sie wendet sich lächelnd ab und geht langsam,

    aber entschlossen in Richtung Steg, weg von mir. »So, wird Zeit, euch

    zwei Süßen allein zu lassen.«

    Danny steht hinter mir; er legt die Arme um meine Taille und dreht

    mich zu sich um.

    Rostrote Erde rast auf mich zu. Ich fühle mich schwerelos.

    »Du liegst falsch, Danny«, sage ich, als das Bild verblasst. »Mit

    dem, was du gesagt hast. Ich bringe überhaupt kein Opfer, um mit dir

    zusammen zu sein.«

  • 25

    Aber seine Miene ist immer noch düster. »So wirst du vielleicht

    nicht ewig denken. Ich fürchte einfach, dass du deine Zukun' für

    uns wegwirfst. Für mich.«

    »Es ist aber meine Zukun' und die kann ich wegwerfen, wie es mir

    gefällt.«

    »Klar, ich weiß, ich weiß. Bitte sei mir nicht böse, ich will doch nur

    das Beste für dich.«

    »Ich bin dir nicht böse, Danny. Aber ich wünschte wirklich, ihr

    würdet mich nicht alle wie ein Kind behandeln.« Ich versuche, mich

    loszumachen, aber er hält meine Hand fest.

    »Geh nicht. Lass uns das doch alles vergessen und einfach ein biss-

    chen entspannen. Den Surfern zusehen. Den Vögeln lauschen. Du

    hast schließlich Ferien!«

    »Ich würde lieber mit dir knutschen, als den Surfern zuzusehen«,

    sage ich.

    Und das tun wir dann auch.

  • 26

    4

    »Ich weiß wirklich nicht, ob die Welt für eine Ali hinter dem Steuer

    bereit ist.«

    Vielleicht war das nur ein Witz von Lewis. Aber das mit dem Rück-

    wärtseinparken bekomme ich tatsächlich nicht so glatt hin wie sonst.

    Aus irgendeinem Grund fühle ich mich beobachtet, obwohl wir

    beide vollkommen allein auf dem Parkplatz vor einer verlassenen La-

    gerhalle sind. Um Lewis’ schickes Cabrio im richtigen Straßenver-

    kehr zu fahren, bin ich nicht versichert, außerdem bezwei! e ich, dass

    er mir den in schimmerndem Silber lackierten Wagen in dem Fall

    wirklich anvertrauen würde.

    Ich weiß ja selbst nicht, ob das so klug wäre.

    »Normalerweise kann ich das viel besser. Du machst mich nervös«,

    erwidere ich.

    Er fährt sich mit der Hand durch sein dichtes Haar, sodass es wild

    in alle Richtungen absteht: ein Zeichen dafür, dass er gestresst ist.

    »Gleichfalls. Können wir eine Pause machen?«

    Ich drücke auf den Knopf, um den Motor abzustellen. So nobel ist

    diese Karosse nämlich. Sie braucht noch nicht mal einen normalen

    Zündschlüssel.

    »Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Mein Fahrlehrer hat gesagt,

    ich wäre bereit für die Prüfung, aber –«

    »Ich hab dich doch nur auf den Arm genommen. Du machst das

    super. Du hast das Lenkrad beneidenswert gut im Gri* , Rückwärts-

  • 27

    fahren geht zwar langsam, aber sicher. Und dann ist da noch diese

    putzige Sache mit der Zunge – du streckst sie jedes Mal raus, wenn

    du den Gang wechselst. Damit hast du sowieso schon gewonnen!«

    Ich versetze ihm einen Hieb auf den Arm. »Hey, du sollst mir Mut

    machen und mich nicht veräppeln.«

    »Im Ernst, das ist total süß. Wenn dein Fahrprüfer ein Mann ist,

    wickelst du ihn damit locker um den Finger.«

    Ich schnalze missbilligend mit der Zunge. »Nur weil du beim ers-

    ten Versuch bestanden hast, ist das Ganze noch lange keine Lach-

    nummer.«

    »Tja, ich hatte jedenfalls eine Prüferin und die konnte meinem

    Nerd-Charme absolut nicht widerstehen. Ich habe nicht nur lässig

    wie ein Rennfahrer die Gänge gewechselt, sondern ihr nebenbei auch

    noch erklärt, wie ein Motor funktioniert. Sie hat mir eine Eins mit

    Sternchen gegeben. Und mich dann nach meiner Telefonnummer

    gefragt.«

    »Wow!«, sage ich. »Ich wusste gar nicht, dass man Fahrprüfer wer-

    den darf, wenn man so schlecht sieht.«

    Obwohl mir in letzter Zeit immer wieder aufgefallen ist, dass die

    Frauen auf Lewis stehen. Zumindest ein gewisser Schlag Mädchen

    scheint auf Typen wie ihn zu stehen, mit langem, schmalem Körper-

    bau, Haaren wie ein verrückter Wissenscha' ler und Designerbrille

    (von der ich zufällig weiß, dass die Gläser nur aus Fensterglas sind,

    auch wenn Lewis hartnäckig behauptet, sie wäre ihm gegen das grelle

    Licht der Computerbildschirme verschrieben worden).

    Zum Glück habe ich Danny, sonst würde ich mich nachher noch

    selbst in Lewis verknallen. Und damit ein heilloses Chaos in Gang

    setzen.

    »Und, wohin soll die erste Ausfahrt gehen, wenn du bestanden

    hast?«

  • 28

    Ich zucke mit den Schultern. »Weiß noch nicht.«

    Er wir' mir einen Seitenblick zu. »Echt nicht? Also, ich hatte ja

    damals schon alles geplant. Ich bin mitten in der Nacht nach London

    gefahren, einfach so, weil ich’s konnte. Bin um alle Sehenswürdigkei-

    ten rumgekurvt. Um die Westminster Abbey und den Buckingham

    Palace. Am X emseufer entlang. Hab mich gefühlt wie James Bond.«

    »Scheint, als hättest du Glück gehabt, dass sie dich nicht für einen

    Terroristen gehalten und verha' et haben.«

    »Die Polizei hat mich sogar tatsächlich rausgewinkt. Dabei hatte

    ich damals noch mein altes Auto, aber sie wollten einfach nicht glau-

    ben, dass so ein junger Bengel schon einen anständigen fahrbaren

    Untersatz hat.«

    »Angeber.«

    Lewis errötet unter seiner San-Francisco-Bräune. In Wirklichkeit

    ist er alles andere als ein Angeber. Ich nehme ihm ernstha' ab, dass

    er diesen Wagen wegen der tollen Technik gekau' hat und nicht, um

    irgendwen zu beeindrucken.

    »Jedenfalls kann ich gar nicht glauben, dass du noch keine Jung-

    fernfahrt im Polo deiner Mum geplant hast.«

    Mittlerweile bin ich ziemlich gut im Lügen, aber Lewis ist der Ein-

    zige, dem es gelingt, mich zu durchschauen. In Wahrheit weiß ich

    nämlich schon genau, wo ich als Erstes hinfahre, wenn ich bestanden

    habe. Ich weiß aber auch, dass er meine Wahl nicht gutheißen würde.

    »Vielleicht ans Meer.«

    »M-hm.« Er kau' es mir nicht ab.

    Eine Weile sagt niemand von uns etwas.

    »Wie –«

    »Was –«, fangen wir beide gleichzeitig an.

    »Ladies + rst«, sagt er.

    »Ich wollte nur sagen, wie wär’s, wenn ich dich mal einen Tag aus-

  • 29

    führe, falls ich bestehe? Ein kleiner Überraschungstrip«, sage ich,

    »als Dankeschön, weil du so ungeduldig mit mir warst.«

    »Klingt gut. Aber du meintest geduldig, oder?«

    »Nein, nein. Ich springe viel besser auf Drohungen an. Die Vor-

    stellung, jeden Moment aus dem Auto geworfen zu werden und nach

    Hause laufen zu müssen, treibt mich zu Höchstleistungen an.«

    Lewis verzieht das Gesicht. »Tja, wahrscheinlich hast du recht.

    Kommt sicher daher, dass ich als Selbstständiger arbeite – ich kann

    schon ziemlich ungeduldig sein.«

    »So pauschal würde ich das nicht sagen. Zum Beispiel als du …«

    Ich halte inne.

    Er hebt die Augenbrauen. »Als ich was?«

    »Zoes Fotos. Die hast du alle sehr geduldig durchgeguckt. Aber ei-

    gentlich wollte ich gar nichts darüber sagen.«

    »Ah ja, da stecken wir ja mal wieder mitten im heißen Brei, um den

    wir herumzureden versuchen«, sagt er und fährt sich abermals mit

    der Hand durchs Haar. »Ein ganzer Nachmittag, ohne dass der Tod

    seine hässliche Fratze zeigt, wäre vermutlich auch zu viel verlangt ge-

    wesen.«

    »Vielleicht.« Ich gebe mir Mühe, es nicht verletzt klingen zu lassen,

    aber ich bin nicht sicher, ob es mir gelingt.

    »Tut mir leid, Ali. Das kam härter rüber, als es sollte. Manchmal

    ho* e ich eben einfach, dass du mehr willst als nur …«

    »Was soll ich wollen?«

    »Ach, nichts. Du weißt doch, du kannst jederzeit mit mir über

    diese Sache reden.«

    Tatsache ist, dass ich, wenn ich mit Lewis zusammen bin, seltener

    an die »Sache« denke als in Gesellscha' anderer Leute. Und noch

    dazu fühle ich mich nicht so beobachtet. Heute Nachmittag habe ich

    es tatsächlich mal gescha= , nicht jede Millisekunde in den Rück-

  • 30

    spiegel zu sehen. Klar wäre Sahara auf diesem verlassenen Parkplatz

    auch leicht zu entdecken, aber es liegt nicht nur daran.

    Bei Lewis fühle ich mich einfach sicher.

    Er weiß mehr über mich und meine Ängste als irgendjemand sonst.

    Okay, über den Strand habe ich ihm nichts erzählt – gerade er als

    Computergenie würde mich wahrscheinlich für übergeschnappt hal-

    ten. Aber er weiß mehr über meinen Kampf um Gerechtigkeit als

    Cara oder meine Eltern.

    »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass uns die Fotos keine

    neuen Hinweise geliefert haben.«

    »Vielleicht + nde ich ja noch was. Ein paar sind schließlich noch

    übrig.«

    Wir wissen beide, dass er mich nur aufmuntern will. Immerhin ha-

    ben wir schon jedes Pixel der Bilder auf Zoes Computer analysiert.

    Bizarre Bilder, von denen wir sicher sind, dass der Mörder sie ge-

    schossen hat. Tim hatte sie gefunden und an einem sicheren Ort hin-

    terlassen, wo Zoe sie abholen sollte, falls ihm etwas zustieß.

    Fotos von meiner Schwester, als sie noch lebte. Fotos von der Hand

    meiner Schwester, nach ihrem Tod. Ihr Lippensti' abdruck auf einem

    Glas.

    Und dann noch ein weiteres Foto – eine einzelne Nahaufnahme

    von meinen Augen. Der bislang deutlichste Hinweis darauf, dass ich

    die Nächste sein könnte.

    Aber die Polizei wird den Fall nicht wieder aufrollen, egal, was wir

    unternehmen. Sahara ist genauso verschlagen wie tödlich. Nachdem

    wir aus Spanien zurückgekommen waren, habe ich das Stichwort

    »Psychopath« gegoogelt. Die Suchergebnisse fassen ihren Charakter

    gut zusammen:

    erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl

    Wie ihre Au* assung, die ganze Welt wäre hinter ihr her.

  • 31

    pathologisches Lügen

    Wie die Behauptung, sie sei die beste Freundin meiner Schwester

    gewesen, obwohl ich genau weiß, dass die beiden sich vor Meggies

    Tod zerstritten haben.

    betrügerisch-manipulatives Verhalten

    Wie die Tatsache, dass sie alle dazu gebracht hat, zu glauben, je-

    mand anderes hätte Meggie getötet.

    »Okay. Wollen wir dann Feierabend machen und es morgen noch

    mal probieren, Ali?«, bricht Lewis in meine Gedanken ein.

    »Eigentlich gerne, allerdings müsste ich auch mal richtig auf der

    Straße üben und das kann ich von dir und deinem Superschlitten

    nicht verlangen. Aber Ade und Sahara haben es mir angeboten.«

    Seine Oberlippe kräuselt sich. »Wie nett von ihnen, den ganzen

    Weg aus Greenwich herzukommen, um dir zu helfen.« Lewis ist viel-

    leicht nicht so direkt wie Cara, aber er denkt dasselbe wie sie: dass

    mir der Umgang mit den beiden nicht guttut. Obwohl er versteht,

    warum es sein muss.

    »Ja, ist doch wirklich nett, oder?«, erwidere ich.

    Ich ignoriere die Sorge in seinem Blick. Er weiß, dass ich glaube,

    der Mörder meiner Schwester ist noch irgendwo da draußen und

    muss ihr nahegestanden haben. Und er hat mich schon tausendmal

    ange! eht, es gut sein zu lassen.

    Aber er kennt mich auch gut genug, um zu begreifen, dass er mich

    nicht davon abhalten kann, die Sache bis zum bitteren Ende zu füh-

    ren.

  • 32

    5

    »Alice! Pass auf – der Pfosten! Du fährst noch dagegen. Bremsen!

    BREMSEN! Oh Mann, das war knapp!«

    »Tut mir leid, Sahara, ich hab ihn gesehen, aber …« Aber mein

    Fahrstil leidet nun mal ganz erheblich, wenn ich mit der Frau im Auto

    sitze, die ich des Mordes an meiner Schwester verdächtige.

    Ich unterdrücke ein Kichern. Mir ist klar, dass die Situation nicht

    witzig ist, doch wenn Sahara in der Nähe ist, bin ich einfach furcht-

    bar aufgedreht. In höchster Alarmbereitscha' , für den Fall, dass ihr

    etwas herausrutscht, das mich zur Wahrheit führen könnte.

    »Ach was, ist schon gut, Alice«, ! ötet Sahara nun merklich ruhiger.

    »Das ist nur das Lampen+ eber, so kurz bevor es ernst wird, was?«

    Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Ade auf dem Rücksitz nickt.

    »Entspann dich einfach. Du bist eine ausgezeichnete Fahrerin. An-

    sonsten würden wir dir unser Auto ja nicht anvertrauen.«

    Unser Auto. Sie haben es letzten Monat gekau' , ihr Motorrad ge-

    gen einen robusten, schwarzen skandinavischen Kombi eingetauscht.

    Im Sommer wollen sie damit durch Europa reisen. Der Wagen ist so

    groß, dass man Sur\ retter aufs Dach schnallen und eine Matratze

    über die umgeklappten Rücksitze legen kann, aber bislang sind sie

    damit noch nicht weiter gekommen als bis Richmond.

    »Die Karre haben die sich bestimmt nur gekau' , damit sie mit dir

    Fahren üben können«, hat Cara gelästert, als ich es ihr erzählt habe.

    »Die lassen dich so leicht nicht mehr entkommen.«

  • 33

    Die Beziehung der beiden scheint auf jeden Fall ernster zu werden:

    Zuerst das Auto und nächste Woche ziehen sie auch noch zusam-

    men. Genauer gesagt, Sahara scha= ihren Kram in die Wohnung, die

    Ade sich vorher mit Tim geteilt hat. Die Wohnung, in der Tim mit

    einer Plastiktüte über dem Kopf tot aufgefunden wurde.

    »Ich würde sagen, für heute hast du genug geübt«, verkündet Sa-

    hara. »Sollen wir noch was trinken gehen? Dann kannst du uns er-

    zählen, was es sonst noch so Neues gibt.«

    »Wir haben zu Hause ganz guten Ka* ee.« Auf heimischem Terrain

    fühle ich mich sicherer.

    »Prima. Na, dann drück mal auf die Tube, Alice!« Sie versetzt dem

    Lenkrad einen Klaps, wie ein Reiter seinem Pferd, damit es losgalop-

    piert. »Den Weg kennst du ja wohl selbst am besten!«

    Dad ist gerade unterwegs und Mum sonnt sich im Garten, also plat-

    ziere ich meine fürchterlichen Fahrlehrer im Wohnzimmer, während

    ich Ka* ee koche.

    Von der Küche aus kann ich sehen, wie sie miteinander ! üstern,

    verstehe aber nicht, was sie sagen. Sie haben die Köpfe zusammen-

    gesteckt, was nur noch mehr betont, wie wenig sie zueinander pas-

    sen. Ade ist blass, mit zarten Gesichtszügen und feinem blonden

    Haar. Nicht unbedingt mein Typ, aber er ist durchaus attraktiv – an-

    dernfalls hätte Cara nie für ihn geschwärmt.

    Sahara dagegen scheint nur aus maskulinen Ecken und Kanten zu

    bestehen, mit muskulösen Armen und einem ziemlichen Pferdege-

    sicht. In einer Beziehung geht es nicht bloß ums Aussehen, das ist

    mir klar, aber ihre anstrengende Persönlichkeit wirkt auch nicht ge-

    rade anziehend. Früher habe ich ein schlechtes Gewissen gehabt, weil

    ich so hart über sie geurteilt habe. Das ist jetzt vorbei. Ich wünschte,

    ich würde begreifen, warum Ade sich überhaupt mit ihr abgibt.

  • 34

    Als ich mit den Tassen ins Wohnzimmer komme, erstarren sie

    beide. Ades Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten, aber möglicher-

    weise ist es Angst. Vielleicht fürchtet er sich ja davor, sie zu verlassen.

    »Na, wer ist denn hier gestorben?«, witzele ich und sie glotzen mich

    beide an. Solche Sprüche erwarten sie wohl nicht unbedingt von mir.

    »Wie, keine Kekse?«, fragt Ade, und als ich das Tablett abstelle und

    wieder zurück in die Küche gehe, folgt er mir. »Sei bitte etwas rück-

    sichtsvoller mit ihr, Alice.«

    Ich höre auf, im Küchenschrank zu kramen, und drehe mich um.

    »Wie meinst du das?«

    »Ich will nur sagen, sie ist verletzlicher, als du vielleicht denkst.«

    Aber bevor ich ihn näher dazu befragen kann, hat er mir schon die

    Keksschachtel aus der Hand genommen und ist auf dem Weg zurück

    zu seiner Freundin.

    »Lecker«, freut sich Sahara, aber ihr Lächeln wirkt gezwungen.

    Unser Ka* eeklatsch verläu' schleppend. Die beiden reden übers

    Zusammenziehen – anscheinend ist Ade ein Ordnungsfanatiker,

    während Sahara schnarcht wie ein Walross. Nette Vorstellung. Als

    Nächstes regt Sahara sich darüber auf, dass Ade ihr nicht beim Pa-

    cken helfen kann, weil er für ein paar Tage zu seinen Eltern fährt, und

    lässt Anspielungen darauf fallen, dass ich ja superschnell mit dem

    Auto bei ihr wäre, wenn ich meine Fahrprüfung bestehe. Anspielun-

    gen, die ich wohlweislich ignoriere. Irgendwann scheint sie es kapiert

    zu haben und löchert mich stattdessen über meine Unibewerbungen

    und mein Sozialleben – ohne dabei Cara zu erwähnen –, aber letzt-

    endlich geht auch ihr die Puste aus. Was mich nicht überrascht. Au-

    ßer meiner Schwester haben wir absolut nichts gemeinsam.

    Am liebsten würde ich aus voller Kehle schreien: »Hast du sie getö-

    tet?« Aber solange Ade danebensitzt, hat das keinen Zweck. Und er

    weicht ihr kaum eine Sekunde von der Seite.

  • 35

    »Ich gehe mich kurz frisch machen«, sagt sie schließlich.

    Endlich ist meine Chance gekommen, Ade zu fragen, was er gerade

    mit verletzlich gemeint hat.

    Aber er lächelt nur und plaudert drau! os: »Weißt du, du fährst

    wirklich gut, Alice. Viel besser als ich damals in der Fahrschule.

    Wenn du nicht bestehst, dann gibt es wirklich keine Gerechtigkeit

    auf der Welt.«

    Ich starre ihn an. Ich weiß, das ist nur eine hohle Phrase, aber sie

    ebnet mir den Weg. »Tja, ich glaube nur leider nicht an Gerechtig-

    keit, Ade.«

    Er blickt in seine Ka* eetasse. »Das kann ich gut verstehen.«

    Ich ergreife die Gelegenheit. »Bist du … also, hast du dir mal Ge-

    danken über das gemacht, was in Spanien passiert ist?«

    Er verzieht keine Miene. »Was meinst du?«

    »Zoes Unfall. Und alles, was vorher war.« Ich schüttele den Kopf.

    »Tut mir leid, ich drücke mich nicht besonders klar aus. Das, was Zoe

    und Tim und meiner Schwester zugestoßen ist … denkst du, da gibt

    es vielleicht eine Verbindung?«

    Ades Augen liegen fest auf meinen. Noch nie zuvor ist mir ihre un-

    gewöhnliche Farbe aufgefallen: Sie sind fast violett. »Ich verstehe, wie

    du darauf kommst, Alice. Wirklich. Ist ja auch kein Wunder. Ich habe

    selbst endlose Nächte damit zugebracht, mich zu fragen, womit wir

    es wohl verdient haben, dem Tod schon drei Mal so nahe gekommen

    zu sein.«

    »Ich habe das Gefühl, da folgt gleich ein Aber.«

    »Nein. Ich meine, wer weiß? Vielleicht ist an der Sache doch mehr

    dran«, sagt er.

    »Wirklich?« Ich beuge mich vor. Abgesehen von Lewis ist Ade der

    Erste, der nicht verächtlich schnaubt, als ich die Verbindung zwi-

    schen den beiden Todesfällen und Zoe herstelle.

  • 36

    »Die Sache ist nur: Was immer da los war, wir werden es nie erfah-

    ren, stimmt’s? Jegliche Chance darauf ist mit deiner Schwester ge-

    storben, und mit Tim und Zoe.«

    »Zoe ist doch nicht tot.«

    Er wendet den Blick ab. »Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich dich

    nicht beunruhigen wollte, aber ich habe ihnen geschrieben. Zoes El-

    tern. In der Ho* nung, sie hätten vielleicht gute Nachrichten. Aber

    die letzten Tests zeigen wohl sehr wenig Hirnaktivität. Die Ärzte ver-

    muten, dass Zoe bei dem Unfall einen erheblichen Sauersto* mangel

    erlitten hat.«

    »Sauersto* mangel?«

    »Möglicherweise, weil die Menschenmenge so dicht war.«

    »Dann ist sie also fast … erstickt?« Wie meine Schwester und Tim.

    »Könnte man so sagen. Aber Alice, das bedeutet nicht, dass es eine

    Verbindung gibt.«

    »Nicht?«

    »Sei vorsichtig. Ich habe miterlebt, was diese Todesbesessenheit mit

    Sahara angestellt hat. Sie will dich ständig kontaktieren. Taucht aus

    heiterem Himmel in deiner Nähe auf, wie neulich nach der Schule.«

    Darüber weiß er also auch Bescheid? »Meinst du, mit ihr … stimmt

    irgendwas nicht?«

    Er runzelt die Stirn. »So weit würde ich nicht gehen. Aber ich ma-

    che mir Sorgen, was aus ihr wird, wenn du erst mal auf die Uni

    gehst – wie sie die Lücke in ihrem Leben füllen wird.«

    Mir läu' ein Schauder über den Rücken. Lässt sie mich dann in

    Ruhe oder … »Ich bin nicht wie Sahara.«

    Er lächelt traurig. »Das habe ich auch nie behauptet. Es ist für uns

    alle schwer. Vergiss nicht, dass ich es war, der Tims Leiche gefunden

    hat. Ich habe auch eine sehr dunkle Zeit hinter mir. Und weißt du,

    wie ich da wieder rausgekommen bin? Indem ich mir gesagt habe,

  • 37

    dass Tim es nicht gewollt hätte – keiner von ihnen hätte es so gewollt.

    Du solltest dein Leben nicht verschwenden.«

    Ich will ihn gerade anfauchen, dass sie sehr wohl Gerechtigkeit ge-

    wollt hätten, aber ich sehe die Ungeduld in seinem Blick und mir

    wird klar, dass es keinen Zweck hätte. Ich dachte, Ade wäre anders,

    aber er gibt auch nur vor, dass ihm die Sache wichtig wäre.

    »Versuche, dich auf die Zukun' zu konzentrieren, Alice. Morgen

    bekommst du deinen Führerschein. Und bald sicher einen Studien-

    platz. Da draußen liegt eine riesengroße Welt, die nur darauf wartet,

    dass du sie entdeckst.«

    »Und was sagt Sahara –«

    »Was sage ich wozu?«

    Wir fahren herum. Ich weiß nicht, wie ich den Satz beenden soll.

    Aber Ade lächelt nur. »Zu Alice’ Chancen für morgen natürlich.«

    Die Lüge geht ihm mühelos über die Lippen. Vielleicht musste er das

    lernen, um sie zu beruhigen.

    Sahara lacht. »Jetzt hört aber auf. Das scha* st du im Schlaf, Alice.

    So, Adrian, es wird Zeit, dass wir au\ rechen. Wir wollten doch noch

    Blumen für Meggies Grab besorgen. Und der Sonntagsverkehr rüber

    nach Greenwich ist sowieso mör–, ich meine, richtig übel.«

    »Ich muss nur noch kurz ins Bad«, antwortet Ade.

    Er lässt uns allein? Ein Gedanke formt sich in meinem Kopf: Was

    ist die wichtigste Frage, die ich Sahara stellen könnte?

    »Ich will mich noch schnell von deiner Mum verabschieden, bevor

    wir losmüssen, Alice«, sagt Sahara, und ehe ich sie zurückhalten

    kann, ist sie auch schon unterwegs in den Garten. Aber zuvor erha-

    sche ich noch einen Blick auf ihr Gesicht.

    Das gezwungene Lächeln ist vollends verschwunden. Sie wirkt

    ängstlich. Weiß sie, dass ich sie verdächtige?

    Und macht mich das zu ihrem nächsten Ziel?