Kerry der Alte Missionar

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M an kann im Nahen Osten schnell zum Terroristen werden, selbst dann, wenn man der Außenminis- ter der USA ist. Tagelang pendelte John Kerry vorvergangene Woche zwischen Kai- ro, Jerusalem und Ramallah, um einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen zu vermitteln. Und dann dies: Ranghohe Politiker in Je- rusalem sähen in Kerrys Vorschlag für ei- nen Waffenstillstand einen „strategischen Terroranschlag“, berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz. Dabei hatte Kerry alles versucht und ei- nen im Grunde sinnvollen Vorschlag vor- gelegt: eine Feuerpause, während der Ver- handlungen über einen langfristigen Waf- fenstillstand geführt werden sollten. Doch zum Dank wurde er mit Häme überschüt- tet. Jerusalem lehnte wütend ab, der Plan enthalte nur Forderungen der Hamas. Kurz darauf wurde es noch schlimmer. Der israelische Sender Channel 1 veröf- fentlichte den angeblichen Wortlaut eines in aggressivem Ton geführten Telefonats zwischen Präsident Barack Obama und Premier Benjamin Netanjahu. Doch das Transkript war gefälscht. Als Kerry Ende vergangener Woche dann doch einen 72-stündigen Waffenstill- stand verkünden konnte, herrschte für kur- ze Zeit Hoffnung. Nicht einmal drei Stun- den später war es damit schon wieder vor- bei: Die Hamas hatte einen israelischen Soldaten entführt, die Kämpfe in Gaza gin- gen vorerst weiter. Die Weltdiplomatie wirkt in diesen Tagen wie ein absurdes Theater, mit John Kerry in der Rolle des tragischen Helden. Er sehe nicht aus wie der Außenminister der Welt- macht, spottete Haaretz, sondern wie ein Außerirdischer, der gerade im Nahen Osten aus seinem Raumschiff gestiegen sei. Als Kerry vorige Woche in Washington über die Anfeindungen sprach, sagte er: „Man muss es einfach immer weiter versuchen.“ Die Hilflosigkeit des wichtigsten Außen- ministers der Welt zeigt, wie wenig Ein- fluss Amerika im Nahen Osten geblieben ist. Und mit jedem Scheitern schwindet auch der Einfluss im Rest der Welt ein biss- chen mehr. In der Ukraine wird geschos- sen, mit Iran gibt es vorerst keine Einigung im Atomstreit, im Irak herrschen islamis- tische Terroristen über weite Teile des Lan- des – und die USA scheinen nicht in der Lage, etwas daran zu ändern. 86 DER SPIEGEL 32 / 2014 Genau zehn Jahre ist es her, dass Kerry als Präsidentschaftskandidat nominiert wur- de. Aber die Amerikaner wählten George W. Bush. Jetzt ist Kerry Außenminister, er ist angetreten, als Vermittler die großen Kon- flikte zu lösen, von Israel bis Iran. Er hat diese Themen mit seiner Person verknüpft, er braucht einen Erfolg, um in die Geschich- te einzugehen. Aber er ist auch Außenmi- nister in einer US-Regierung, die dabei ist, sich aus ihrer Rolle als globaler Hegemon zurückzuziehen. Mit Kerry verbindet sich die Frage, wie Amerikas Rolle im 21. Jahr- hundert aussieht. Wie erfolgreich kann eine amerikanische Außenpolitik sein, die nicht mehr auf Panzer und Flugzeugträger baut, sondern auf die Macht der Worte? Es ist ein Dienstag im Frühjahr, als John Kerry vom Ende des Friedensprozesses im Nahen Osten erzählt. Der Außenminister sitzt vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats in Washington, schwere Brokatvor- hänge halten das Tageslicht fern. Kerry be- schreibt sein Wochenende: Er saß daheim und wartete darauf, dass Israel einige paläs- tinensische Gefangene entlässt, eine verein- barte Geste des guten Willens, die eine Fort- führung der Friedensgespräche ermöglichen sollte. Die Stunden vergingen. Kerry wurde unruhig. Aber die Israelis ließen die Gefan- genen nicht frei, stattdessen kündigten sie den Ausbau von Siedlungen an. „Puff, das war der Augenblick“, sagt er und formt mit den Händen eine imaginäre Explosion. Für einen Moment wirkt Kerry wie ein Kind, dessen Spielzeug kaputtgegangen ist. Der Friedensprozess war sein persön- liches Projekt, er hat Monate in Ramallah und Tel Aviv verbracht, in Katar, Riad und Amman. Er wollte diesen Deal erzwingen und den Nahen Osten neu formen. Und dann hat es puff gemacht. Kerry sieht makellos aus wie immer, ma- rineblauer Nadelstreifenanzug, das silber- graue Haar dicht wie ein Toupet. Nur die Augenringe sind unübersehbar. Neben der Müdigkeit hat er auch einen Husten von einer Auslandsreise mitgebracht. Für Kerry ist der Saal, in dem der Auswärtige Aus- schuss tagt, eine Art politisches Wohnzim- mer. 1971 hat er hier gegen den Vietnam- krieg Stellung bezogen, nachdem er für seinen Dienst als Kommandant eines Pa- trouillenbootes im Mekongdelta mit hohen Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden war. Später führte er vier Jahre lang den Vorsitz des Gremiums. An diesem Diens- Der tapfere Missionar USA John Kerry eilt als Weltaußenminister erfolglos von Krise zu Krise. Sein Scheitern zeigt, was passiert, wenn die einzige Supermacht keine Supermacht mehr sein will. Von Holger Stark Ausland Immigranten loswerden, aus Angst vor Mischehen. Über Menschenrechte wird mittlerweile verächtlich gesprochen. SPIEGEL: Das klingt recht düster. Illouz: Die einzige Antwort darauf wäre der Zusammenschluss derer, die die Demokra- tie verteidigen wollen. Denn es geht nicht mehr allein um rechts oder links, sondern um etwas viel Wichtigeres: um den Erhalt der Demokratie in Israel. Denn die Radi- kalen schämen sich nicht mehr, ihre An- sichten laut zu verbreiten und Andersge- sinnte zu bedrohen. Dabei bedeuten diese rassistischen und faschistischen Elemente eine genauso große Gefahr für Israels Si- cherheit wie seine äußeren Feinde. SPIEGEL: Auch Gegner Israels argumentie- ren, das Land sei nicht demokratisch. Stören Sie diese Angriffe von außen manchmal? Illouz: Trotz all meiner Kritik und meiner Aversion gegen die israelische Arroganz bin ich schon oft verblüfft, dass an Israel immer besondere Maßstäbe angelegt wer- den. Was passiert denn in Syrien, im Irak oder in Nigeria? Warum demonstrieren die Menschen nicht auch dagegen? Selbst die USA haben eine recht verheerende Menschenrechtsbilanz außerhalb der eige- nen Grenzen vorzuweisen. Wo sind all die Intellektuellen, die die USA boykottieren? SPIEGEL: Befürworten Sie denn den Militär- einsatz im Gaza-Streifen? Illouz: Nein, das tue ich nicht. Nicht etwa, weil ich Pazifistin wäre – das bin ich nicht. Manchmal muss man militärische Mittel anwenden. Aber ich bin gegen diese Ope- ration, weil es vorher keinen politischen Prozess gab. Netanjahu hat kein Interesse an einer politischen Einigung. Er hat Pa- lästinenserpräsident Mahmud Abbas ge- schadet, wo er nur konnte. Ich persönlich weigere mich, die Palästinenser als Feinde zu sehen. Ich lehne es ab, sie weiter zu do- minieren, und ich lehne es ab, ihnen ein normales Leben zu verweigern. Israel war nie als Siedlungsunternehmen gedacht; das zionistische Vorhaben wurde total verzerrt. Ein Großteil der Israelis glaubt inzwischen, wir könnten die Palästinenser auf lange Sicht kontrollieren und unterdrücken. SPIEGEL: Ist das die Folge von 47 Jahren Besatzung: dieses Gefühl, keine Zuge- ständnisse mehr machen zu müssen? Illouz: Ja, aber wir Israelis zahlen einen hohen Preis dafür, ohne es zu merken: Wir wissen nicht mehr, wie es sich anfühlt, in einer fried- lichen Gesellschaft zu leben. Wir weigern uns, die Verbindung zu sehen zwischen ei- nem immer schwerer aufrechtzuerhaltenden Lebensstandard und dem Besatzungsregime, das einen Löwenanteil der Steuergelder ver- schlingt. In der Psychologie bezeichnet man das als kognitive Dissonanz. Ein Großteil der israelischen Gesellschaft ist abgestumpft. Nicht nur gegenüber dem Leid der anderen, auch gegenüber dem eigenen Leiden. Interview: Julia Amalia Heyer

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Man kann im Nahen Osten schnellzum Terroristen werden, selbstdann, wenn man der Außenminis-

ter der USA ist. Tagelang pendelte JohnKerry vorvergangene Woche zwischen Kai-ro, Jerusalem und Ramallah, um einenWaffenstillstand zwischen Israel und derHamas im Gaza-Streifen zu vermitteln.Und dann dies: Ranghohe Politiker in Je-rusalem sähen in Kerrys Vorschlag für ei-nen Waffenstillstand einen „strategischenTerroranschlag“, berichtete die israelischeTageszeitung Haaretz.

Dabei hatte Kerry alles versucht und ei-nen im Grunde sinnvollen Vorschlag vor-gelegt: eine Feuerpause, während der Ver-handlungen über einen langfristigen Waf-fenstillstand geführt werden sollten. Dochzum Dank wurde er mit Häme überschüt-tet. Jerusalem lehnte wütend ab, der Planenthalte nur Forderungen der Hamas.

Kurz darauf wurde es noch schlimmer.Der israelische Sender Channel 1 veröf-fentlichte den angeblichen Wortlaut einesin aggressivem Ton geführten Telefonatszwischen Präsident Barack Obama undPremier Benjamin Netanjahu. Doch dasTranskript war gefälscht.

Als Kerry Ende vergangener Wochedann doch einen 72-stündigen Waffenstill-stand verkünden konnte, herrschte für kur-ze Zeit Hoffnung. Nicht einmal drei Stun-den später war es damit schon wieder vor-bei: Die Hamas hatte einen israelischenSoldaten entführt, die Kämpfe in Gaza gin-gen vorerst weiter.

Die Weltdiplomatie wirkt in diesen Tagenwie ein absurdes Theater, mit John Kerryin der Rolle des tragischen Helden. Er sehenicht aus wie der Außenminister der Welt-macht, spottete Haaretz, sondern wie einAußerirdischer, der gerade im Nahen Ostenaus seinem Raumschiff gestiegen sei. AlsKerry vorige Woche in Washington überdie Anfeindungen sprach, sagte er: „Manmuss es einfach immer weiter versuchen.“

Die Hilflosigkeit des wichtigsten Außen-ministers der Welt zeigt, wie wenig Ein-fluss Amerika im Nahen Osten gebliebenist. Und mit jedem Scheitern schwindetauch der Einfluss im Rest der Welt ein biss-chen mehr. In der Ukraine wird geschos-sen, mit Iran gibt es vorerst keine Einigungim Atomstreit, im Irak herrschen islamis-tische Terroristen über weite Teile des Lan-des – und die USA scheinen nicht in derLage, etwas daran zu ändern.

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Genau zehn Jahre ist es her, dass Kerryals Präsidentschaftskandidat nominiert wur-de. Aber die Amerikaner wählten GeorgeW. Bush. Jetzt ist Kerry Außenminister, erist angetreten, als Vermittler die großen Kon-flikte zu lösen, von Israel bis Iran. Er hatdiese Themen mit seiner Person verknüpft,er braucht einen Erfolg, um in die Geschich-te einzugehen. Aber er ist auch Außenmi-nister in einer US-Regierung, die dabei ist,sich aus ihrer Rolle als globaler Hegemonzurückzuziehen. Mit Kerry verbindet sichdie Frage, wie Amerikas Rolle im 21. Jahr-hundert aussieht. Wie erfolgreich kann eineamerikanische Außenpolitik sein, die nichtmehr auf Panzer und Flugzeugträger baut,sondern auf die Macht der Worte?

Es ist ein Dienstag im Frühjahr, als JohnKerry vom Ende des Friedensprozesses imNahen Osten erzählt. Der Außenministersitzt vor dem Auswärtigen Ausschuss desSenats in Washington, schwere Brokatvor-hänge halten das Tageslicht fern. Kerry be-schreibt sein Wochenende: Er saß daheimund wartete darauf, dass Israel einige paläs-tinensische Gefangene entlässt, eine verein-barte Geste des guten Willens, die eine Fort-führung der Friedensgespräche ermöglichensollte. Die Stunden vergingen. Kerry wurdeunruhig. Aber die Israelis ließen die Gefan-genen nicht frei, stattdessen kündigten sieden Ausbau von Siedlungen an. „Puff, daswar der Augenblick“, sagt er und formt mitden Händen eine imaginäre Explosion.

Für einen Moment wirkt Kerry wie einKind, dessen Spielzeug kaputtgegangenist. Der Friedensprozess war sein persön-liches Projekt, er hat Monate in Ramallahund Tel Aviv verbracht, in Katar, Riad undAmman. Er wollte diesen Deal erzwingenund den Nahen Osten neu formen. Unddann hat es puff gemacht.

Kerry sieht makellos aus wie immer, ma-rineblauer Nadelstreifenanzug, das silber-graue Haar dicht wie ein Toupet. Nur dieAugenringe sind unübersehbar. Neben derMüdigkeit hat er auch einen Husten voneiner Auslandsreise mitgebracht. Für Kerryist der Saal, in dem der Auswärtige Aus-schuss tagt, eine Art politisches Wohnzim-mer. 1971 hat er hier gegen den Vietnam-krieg Stellung bezogen, nachdem er fürseinen Dienst als Kommandant eines Pa-trouillenbootes im Mekongdelta mit hohenTapferkeitsorden ausgezeichnet wordenwar. Später führte er vier Jahre lang denVorsitz des Gremiums. An diesem Diens-

Der tapfere MissionarUSA John Kerry eilt als Weltaußenminister erfolglos von Krise zu Krise. Sein Scheitern zeigt, was passiert, wenn die einzige Supermacht keine Supermacht mehr sein will. Von Holger Stark

Ausland

Immigranten loswerden, aus Angst vorMischehen. Über Menschenrechte wirdmittlerweile verächtlich gesprochen. SPIEGEL: Das klingt recht düster.Illouz: Die einzige Antwort darauf wäre derZusammenschluss derer, die die Demokra-tie verteidigen wollen. Denn es geht nichtmehr allein um rechts oder links, sondernum etwas viel Wichtigeres: um den Erhaltder Demokratie in Israel. Denn die Radi-kalen schämen sich nicht mehr, ihre An-sichten laut zu verbreiten und Andersge-sinnte zu bedrohen. Dabei bedeuten dieserassistischen und faschistischen Elementeeine genauso große Gefahr für Israels Si-cherheit wie seine äußeren Feinde. SPIEGEL: Auch Gegner Israels argumentie-ren, das Land sei nicht demokratisch. StörenSie diese Angriffe von außen manchmal?Illouz: Trotz all meiner Kritik und meinerAversion gegen die israelische Arroganzbin ich schon oft verblüfft, dass an Israelimmer besondere Maßstäbe angelegt wer-den. Was passiert denn in Syrien, im Irakoder in Nigeria? Warum demonstrierendie Menschen nicht auch dagegen? Selbstdie USA haben eine recht verheerendeMenschenrechtsbilanz außerhalb der eige-nen Grenzen vorzuweisen. Wo sind all dieIntellektuellen, die die USA boykottieren?SPIEGEL: Befürworten Sie denn den Militär-einsatz im Gaza-Streifen?Illouz: Nein, das tue ich nicht. Nicht etwa,weil ich Pazifistin wäre – das bin ich nicht.Manchmal muss man militärische Mittelanwenden. Aber ich bin gegen diese Ope-ration, weil es vorher keinen politischenProzess gab. Netanjahu hat kein Interessean einer politischen Einigung. Er hat Pa-lästinenserpräsident Mahmud Abbas ge-schadet, wo er nur konnte. Ich persönlichweigere mich, die Palästinenser als Feindezu sehen. Ich lehne es ab, sie weiter zu do-minieren, und ich lehne es ab, ihnen einnormales Leben zu verweigern. Israel warnie als Siedlungsunternehmen gedacht; daszionistische Vorhaben wurde total verzerrt.Ein Großteil der Israelis glaubt inzwischen,wir könnten die Palästinenser auf langeSicht kontrollieren und unterdrücken.SPIEGEL: Ist das die Folge von 47 JahrenBesatzung: dieses Gefühl, keine Zuge-ständnisse mehr machen zu müssen?Illouz: Ja, aber wir Israelis zahlen einen hohenPreis dafür, ohne es zu merken: Wir wissennicht mehr, wie es sich anfühlt, in einer fried-lichen Gesellschaft zu leben. Wir weigernuns, die Verbindung zu sehen zwischen ei-nem immer schwerer aufrechtzuerhaltendenLebensstandard und dem Besatzungsregime,das einen Löwenanteil der Steuergelder ver-schlingt. In der Psycho logie bezeichnet mandas als kognitive Disso nanz. Ein Großteil derisraelischen Gesellschaft ist abgestumpft.Nicht nur gegenüber dem Leid der anderen,auch gegenüber dem eigenen Leiden.

Interview: Julia Amalia Heyer

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tagmorgen setzen die Republikaner Kerryunter Druck.

„Ich habe den Eindruck, dass unsere Au-ßenpolitik außer Kontrolle geraten ist“,sagt ein Abgeordneter aus Idaho.

„Man muss einfach enttäuscht sein vonunserer Tätigkeit“ in Syrien, sagt ein Ab-geordneter aus Tennessee.

Dann meldet sich John McCain zu Wort,der große alte Mann der Republikaner, dereigentlich immer militärisch eingreifenmöchte, egal wo und gegen wen. McCainfordert Waffen für die Ukraine und zitiertPräsident Theodore Roosevelt, der dieUSA Anfang des 20. Jahrhunderts zurWeltmacht erhob. „Sprich sanft und halteeinen großen Knüppel in der Hand“, sagtMcCain. „Sie reden stark daher, aber Sieführen nur einen dünnen Zweig bei sich.“

Die Auseinandersetzung darüber, wohindie Weltmacht Amerika driftet, zählt zuden großen Debatten in Washington. Siewird von Konservativen wie dem Politik-wissenschaftler Robert Kagan betrieben,der unlängst vor dem „Zusammenbruchder Weltordnung“ warnte. Eine Großmachtdürfe nicht in Rente gehen, nur AmerikasÜberlegenheit könne „die Büchse der Pan-dora“ geschlossen halten. Das Magazin Foreign Policy beschreibt in seiner jüngsten

Ausgabe eine „Renaissance des Nationa-len“ in Amerika und stellt die Frage, obdie Nation ihren Zenit überschritten habe.

Die USA sind die einzige Supermacht,aber sie sind auf der Suche nach einer neu-en außenpolitischen Identität. Das Land istzerrissen zwischen einer Stimmung, dieKagan „Weltmüdigkeit“ nennt, und Sehn-sucht nach der einstigen Bedeutung.

Obama ist ein Präsident des „Retrench-ments“, wie die Amerikaner ihren außen-politischen Rückzug nennen. Man kann„Retrenchment“ mit Einschränkung, Ein-sparung oder Abbau übersetzen. Obamahat Syrien nicht bombardiert, Bodentrup-pen im Irak abgelehnt und nicht eingegrif-fen, als Russland die Krim annektierte.„Wir befinden uns nicht länger im KaltenKrieg, es gibt kein ‚großes Spiel‘ mehr, dases zu gewinnen gilt“, sagt Obama, wenner über die US-Außenpolitik spricht. „Dasswir den besten Hammer haben, bedeutetnicht, dass jedes Problem ein Nagel ist.“John Kerrys Auftrag ist es, eine wirksameAußenpolitik ohne Hammer zu entwickeln.

„Der Präsident schätzt Kerrys uner -müdliche Arbeitsethik und seine Bereit-schaft, diplomatische Risiken einzugehen“,sagt Obamas Vize-Sicherheitsberater Ben Rhodes. Diese Qualitäten passten „in eine

Zeit, in der Diplomatie ins Zentrum unse-rer Außenpolitik gerückt ist“.

In den ersten zwölf Monaten seinerAmtszeit ist Kerry über 300 000 Meilenum die Welt geflogen, mehr als jeder an-dere US-Außenminister vor ihm. Er warauf Staatsbesuch in China, dann in Afgha -nistan, um im Streit um den Wahlausgangzu schlichten. Dann flog er am Wochen-ende des WM-Finales von dort weiternach Wien, um über das iranische Atom-programm zu verhandeln und mit demdeutschen Außenminister Frank-WalterSteinmeier über die Spionageaffäre zu dis-kutieren. Wenig später reiste er in denNahen Osten, um das Blutvergießen zubeenden.

Kerry ist jetzt 70 Jahre alt, er hat Häuserin Boston und Washington, ein Anwesenbei Pittsburgh und einen Sommersitz aufNantucket. Seine Frau Teresa Heinz hat ei-nen Teil des Vermögens aus dem Heinz-Ketchup-Imperium geerbt, ihr Besitz wirdauf mindestens eine halbe Milliarde Dollargeschätzt. Das Ehepaar reist in einer eige-nen Gulfstream und wird von einem Kochbegleitet. Kerry könnte mit seinen Enkelnsegeln gehen und das Leben genießen.

Stattdessen hetzt er von einem Krisen-herd zum anderen. Sein Büro vergibt

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Vermittler Kerry auf dem Militärflughafen von Washington, D. C.: Über 300000 Flugmeilen innerhalb von zwölf Monaten

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Termine nur noch spontan. Und trotz die-ses enormen Pensums wirkt Kerry, als hät-te er seine Bestimmung gefunden. „Ichhabe nicht die geringste Ahnung, wie erdas alles schafft“, sagt David McKean.

McKean ist Kerrys Planungschef, seinBüro liegt im siebten Stock des State De-partment. Römische Säulen rahmen dengoldlackierten Fahrstuhl ein. Nach rechtsgeht es durch eine Sicherheitsschleuse inKerrys Flügel, links liegt McKeans Büro.Die beiden kennen sich, seit Kerry ein jun-ger Staatsanwalt in Massachusetts war; seit1987 arbeitet McKean für ihn, als Büroleiterim Senat, dann im Wahlkampfteam.

Kerrys Rolle sei eine andere als die sei-ner Vorgängerin Hillary Clinton, sagtMcKean. Als diese 2009 antrat, habe sichdas Ansehen der USA auf einem histori-schen Tiefpunkt befunden. Clintons Mis-sion sei daher Wiedergutmachung gewe-sen. Kerry, sagt McKean, könne darauf auf-bauen, er stehe für die zweite Phase nachden Bush-Jahren: für den Versuch der Ge-staltung von Weltpolitik mit anderen Mit-teln, ohne militärische Invasionen undWater boarding. „Kerry kennt in fast jedemLand den Regierungschef oder den Außen-minister persönlich“, sagt McKean. „Ermacht sich diese Kontakte zunutze, er istder richtige Mann zur richtigen Zeit.“

Eine Art globaler Missionar zu sein, daswar schon immer Kerrys Selbstverständnis.Als junger Senator flog er nach Manila,

um die Wahlen zu beobachten; in Nicara-gua rang er den Sandinisten Zugeständnis-se ab; später spürte er den Verwicklungendes panamaischen Diktators in den Dro-genhandel nach. Kerry überzeugt Men-schen durch Charme, Hartnäckigkeit undErfahrung, er hält für jeden Gast eineAnekdote bereit und eine Umarmung. „Erglaubt, dass er den Unterschied ausmachenkann“, sagt Douglas Frantz, einer seinerUnterstaatssekretäre.

Deshalb bemüht sich Kerry auch so sehrum Verhandlungen zwischen Israelis undPalästinensern, obwohl Obama daran be-reits vor vier Jahren gescheitert war. DerVersuch zu vermitteln „ist in unserer DNAals Land und in unserer DNA als FreundIsraels“, sagte Kerry zum SPIEGEL, bevorer zu seiner jüngsten Nahostmission auf-brach. Er bereue nicht, es versucht zu ha-ben. „Ich glaube, dass jeder versteht, dassdie Parteien eines Tages, an einem be-stimmten Punkt, zum Friedensprozess zu-rückkehren werden, weil es der einzigeWeg ist, jemals dauerhaft Frieden, Sicher-heit und Stabilität zu erreichen.“

Zu Kerrys Taktiken gehört, dass er sei-nen Gesprächspartnern den Eindruck ver-mittelt, Amerika sei ihr „best friend for -ever“. Aber dieses Konzept funktioniertspätestens seit der NSA-Affäre nicht be-sonders gut, und es reicht erst recht nichtbei so verfahrenen Konflikten wie demzwischen Israel und den Palästinensern.

Ramallah, ein Tag im Mai 2013. Kerryhat mit dem israelischen Premier BenjaminNetanjahu und dem palästinensischen Prä-sidenten Mahmud Abbas gesprochen, esging um die Bedingungen für eine Eini-gung der beiden Seiten im Friedensprozess.Jetzt hat er eine spontane Idee. Er lässtseine Delegation in Ramallah stoppen undstürmt in einen Schawarma-Laden, die Be-dienung eilt heran, große Aufregung. Ker-ry, im dunklen Anzug mit erdbeerroterKrawatte, bestellt ein Truthahn-Schawar-ma, gegrillte Fleischstückchen im Brot.„Mann, ist das gut“, seufzt er beim Essen.

Es ist Kerrys Art, auf Menschen zuzu-gehen, aber das Echo von Ramallah ist un-erwartet. Die Republikaner werfen ihmvor, einseitig Partei zugunsten der Palästi-nenser ergriffen zu haben. Die Israelis rü-gen, Kerry habe sich wie ein Erlöser auf-gespielt. Der Schawarma-Diplomat, sospotten sie seitdem über ihn.

Während der Hochphase der Friedens-verhandlungen im vergangenen Jahr tele-fonierte Kerry beinahe täglich mit seinenGesprächspartnern im Nahen Osten, oftfrühmorgens oder spätabends aus seinerVilla in Georgetown, über eine verschlüs-selte Leitung. Aber wenn Kerry unterwegswar und es schnell gehen sollte, nutzte ermanchmal auch ein normales Telefon.

Ein Großteil dieser Gespräche, die überSatelliten liefen, wurde von mindestenszwei Geheimdiensten abgehört, darunter

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23. Juli, Ramallah: Kerry mit Palästinenserpräsident Abbas 23. Juli, Tel Aviv: Kerry mit Israels Premier Netanjahu

24. Juni, Arbil: Kerry mit Kurdenpräsident Masud Barzani 27. Juni, Dschidda: Kerry mit dem saudi-arabischen König Abdullah

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Ausland

von den Israelis, das bestätigen mehrereQuellen aus Geheimdienstkreisen demSPIEGEL. Wahrscheinlich hörten auch dieRussen und die Chinesen mit. Dadurchwussten die Israelis oft präzise, was Kerrymit der anderen Seite besprochen hatte.Kerry kannte das Risiko, aber er wollteErgebnisse, ihm waren die persönlichenGe spräche wichtiger als die Bedenken derSicherheitsleute. Sowohl Israelis als auchdas State Department wollen sich dazunicht äußern.

Den Israelis halfen die Mitschnitte, Ker-rys diplomatischen Balanceakt zu durch-schauen – und je länger er als Vermittlerwirkte, desto heftiger wurden ihre Atta-cken. Kerry sei „besessen“, er trete aufwie ein Messias, giftete Verteidigungs -minister Mosche Jaalon Anfang dieses Jahres. „Das Einzige, was uns retten kann,ist, wenn Kerry den Friedensnobelpreis gewinnt und uns in Ruhe lässt.“

Effektive Außenpolitik bestehe aus einerklugen Mischung von „soft power“ und„hard power“, sagt Daniel Hamilton vonder Johns Hopkins University in Washing-ton. Bill Clinton habe das in den Neun -zigerjahren meisterhaft vorgeführt. AberKerry lebe im Flugzeug, er verbringe diemeiste Zeit mit der Lösung akuter Krisen.„Was dabei zu kurz kommt, ist eine strate-gische Vision. Und er hat es mit einem Prä-sidenten zu tun, der sich hauptsächlich in-nenpolitischen Themen widmet.“

Kerry ist ein Außenpolitiker alter Schu-le, er sieht Amerikas Rolle als die einesHegemons und globalen Schlichters, imZweifel auch als Weltpolizist. Obamaschaut mit anderen Augen auf die Welt,er will sich nicht überall einmischen, er isteher ein Innenpolitiker.

In der Syrien-Krise wurden diese beidenWeltsichten besonders sichtbar. An einemFreitag Ende August 2013 trat Kerry imState Departement vor die Kameras undhielt eine leidenschaftliche Rede gegen densyrischen Einsatz von Chemiewaffen. Erwisse, dass die Amerikaner kriegsmüde seien, „aber Müdigkeit enthebt uns nichtunserer Verantwortung“, sagte er. Es geheum die Einhaltung des Versprechens, dass„die abscheulichsten Waffen der Welt niewieder gegen die schutzlosesten Menschender Welt eingesetzt werden dürfen“. Es wa-ren die Worte eines Feldherrn, sie klangen,als hätte Kerry soeben den Feuerbefehl fürein paar Mittelstreckenraketen erteilt.

Am Abend lud Obama seine Berater insOval Office und teilte ihnen mit, es werdekeine Luftschläge geben, solange der Kon-gress nicht zustimme. Die Militäroptionwar damit vom Tisch. Kerry sah aus wieeiner, der vorgeprescht und nun von sei-nem Chef zurückgepfiffen worden ist. Be-raten hatte sich Obama mit Kerry nicht,er rief ihn lediglich an, um seine Entschei-dung zu verkünden. Trotzdem verteidigte

Kerry die Entscheidung danach, als wärees seine eigene gewesen.

Die beiden verbinde eine „enge Bezie-hung“, sagt Obamas Berater Ben Rhodes,aber es ist keine Freundschaft. Dabei ken-nen sie sich schon lange. Man kann sogarsagen, dass Kerry Obama entdeckt hat.Als Kerry vor zehn Jahren für das Präsi-dentenamt kandidierte, bat er einen weit-gehend unbekannten demokratischen Poli -tiker aus Illinois, beim Nominierungs -parteitag zu reden. Der Auftritt machte Barack Obama weltberühmt. Doch Kerryverlor die Wahl und durchlitt eine Phaseder Depression, über die David McKeansagt, es sei „eine grobe Untertreibung, sieals tiefe Enttäuschung zu bezeichnen“.

Obama bedankte sich bei Kerry für dieChance, die dieser ihm gegeben hatte, aberer machte Hillary Clinton zu seiner Außen -

ministerin. Ihre Nachfolgerin sollte dannSusan Rice werden. Kerry ist nur Außen-minister, weil Rice irreführende Aussagenüber den Angriff auf das US-Konsulat inLibyen 2012 machte und damit politischangreifbar wurde.

Das Verhältnis der beiden Männer lässtsich mit einer Begegnung aus dem Oktober2012 beschreiben. Es war die Hochphase desPräsidentschaftswahlkampfs, und Obamawollte mit Kerry ein wichtiges Fernsehduellüben. Kerry sollte Mitt Romney darstellen,den republikanischen Herausforderer. DasDuell fand in einem Hotelsaal in Virginiastatt, die Berater hatten Kerry gebeten, Oba-ma möglichst oft beim Reden zu stören.

Kerry argumentierte scharfsinnig, triebden Präsidenten vor sich her und fiel ihmso lange ins Wort, bis Obama fauchte, er

wolle nicht dauernd unterbrochen werden.Schließlich stand Obama auf und verließden Saal. Kerrys Verhalten war anmaßend,das war die Botschaft. Kerry hat für Oba-ma zwar eine Funktion, aber er zählt nichtzu seinem engen Führungskreis.

Angesichts der Krise im Nahen Ostenhat Kerry keine Zeit für ein Treffen, aberer bietet an, schriftlich Fragen zu beant-worten. Eine der Fragen ist, ob es eineWelt geben könne, in der jemand andersAmerikas Rolle übernehme, China etwa.

„Niemals“, antwortet der Außenminis-ter, „und niemand erwartet von den USAetwas anderes, als zu führen.“ Er ver-gleicht die aktuelle Situation mit dem Fallder Berliner Mauer und dem Zusammen-bruch der Sowjetunion, er sagt: „Damalshaben auch viele Menschen gedacht, Ame-rika solle den Frieden genießen und sichzurückziehen.“ Aber es sei ein Momentgewesen, der Amerikas Führung erforderthabe, ähnlich sei es heute, in einer Welt,die „ungemein kompliziert“ sei und „mehrund nicht weniger Engagement erfordert“.

Ob der Verzicht auf militärische GewaltAmerikas internationalen Einfluss gemin-dert habe? Kerry antwortet, die Prämissesei falsch: Die USA würden noch immermit Gewalt drohen, er nennt als Beispieledie Einigung über die syrischen Chemie-waffen und das Bombardement in Libyen,um die Menschen vor dem angedrohtenGemetzel durch das Regime zu schützen.

Amerikanische Politik gleicht einemHollywoodfilm, Geschichte wird vomEnde her geschrieben, immer gibt es einenGewinner und einen Verlierer. Sollte Kerryeine Einigung mit Iran oder zwischen Is-raelis und Palästinensern erreichen, wirder als Held in die Geschichte eingehen.Aber wenn er nichts erreicht, könnte erzu einem Symbol für den außenpolitischenNiedergang der USA werden. Vielleichtist die große Zeit amerikanischer Domi-nanz vorbei, vielleicht beginnt danach einneues Kapitel der Geopolitik. Das kanneine Chance sein, auch wenn die Konser-vativen davor Angst haben.

Bei seinem Auftritt im Auswärtigen Aus-schuss haben die Republikaner den Au-ßenminister eine Stunde lang befragt, aberKerry ist souverän geblieben. Am Endedreht er sich nach rechts und schaut JohnMcCain direkt an. Die beiden kennen sichseit 30 Jahren, beide haben in Vietnam ge-kämpft und sich um das Präsidentenamtbeworben, beide sind gescheitert.

„Ihr Freund Teddy Roosevelt“, sagt Kerry zu McCain, „hat auch gesagt, dassder Lohn denen gehört, die auf dem Spiel-feld etwas zu erreichen versuchen.“

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Politiker Kerry mit Ehefrau Teresa und Enkel

„Man muss es immer weiter versuchen“

Animation: Die Akte

John Kerry

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