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Malte KlingenhägerNachbar Einsam

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Das Buch:

Die in die Jahre gekommene Sängerin Lola staunt nicht schlecht, als der ebenso alte Witwer Bernhard plötzlich vor ihrer Tür steht und ihr vom Verschwinden seines Nachbarn berichtet. Mit Dagobert hatte Lola vor vielen Jahren eine Affäre, und so entschließt sie sich, gemein-sam mit Bernhard sein Verschwinden zu untersuchen. Während sie immer tiefer in dessen abgründige und gefährliche Vergangenheit eintauchen, stellt Lola fest, dass sich auch alte Menschen manchmal noch grundlegend ändern können.

Der Autor:

Malte Klingenhäger wurde 1983 in Herdecke geboren. Er arbeitet seit 2009 bei der macondo publi-shing GmbH, einem Fachverlag aus Münster. Seine Kurzgeschichten und Comics veröffentlicht er seit 2010 zusammen mit anderen Autoren auf seiner Webseite – einige Kurz-geschichten wurden dazu in Antho-

logien veröffentlicht. Bis 2013 war er Mitglied der Münsteraner Autorengruppe kultextur. Auch auf Lesebühnen ist er mit Erfolg unterwegs. Dazu kooperiert er mit seinem Team vom Kulturkater regelmäßig mit verschiedenen Institutionen und Organisationen wie beispielsweise (Mode-)Schulen, Debattierclubs und Theatern, um spannende Kulturprojekte auf die Bühne zu bringen.

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Malte Klingenhäger

Roman

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Nachbar EinsamMalte Klingenhäger

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Kapitel 1

in kraftvolles Aufbrummen des Flugzeugmotors begleitete das Durchstoßen der Wolkendecke. Die kurzzeitig von weißen Schwaden verdeckte Sicht

gab den Blick auf das tiefblaue Panorama des Himmels frei. Bernhard stabilisierte seine Maschine und berauschte sich am Flug über den Wolken. Ab und an durchstob das Flugzeug ihre Zerfaserungen, die wie zerrupfte Watte nach ihm griffen. Ein friedliches Gefühl durchströmte ihn, und er drosselte die Umdrehungen des Propellers auf ein Mini-mum herunter. Er ließ den Steuerknüppel los und schien das Flugzeug allein durch die Kraft seiner Gedanken auf Kurs zu halten.

Nach einer Weile bemerkte er, wie das Brummen des Motors wieder anschwoll, worauf er sich aufmerksam im Cockpit umschaute. Waren das dort vor ihm wirklich Bord-instrumente? Sahen sie nicht verdächtig nach Essbesteck aus?

Nervös geworden wollte er den Steuerknüppel wieder in die Hände nehmen, aber er griff ins Leere. Da auch der Blick nach vorn immer trüber wurde, wandte er sich ab und versuchte, sich durch eines der Seitenfenster Klarheit über seine Situation zu verschaffen. Er wollte sich der unter ihm vorbeiziehenden Wolkendecke versichern, doch diese hatte ihre Farbe mit der des Himmels getauscht und strahlte ihm nun blau entgegen. Auch wirkte sie nicht mehr wolkig, son-dern bildete Wellenmuster. Flog er über Wasser?

Verärgert über diese seltsamen Veränderungen biss er die Zähne zusammen und schloss die Augen.

Stattdessen öffnete er sie.Für einen Augenblick glaubte er sich noch immer in

den blau-weißen Weiten des Himmels, aber es war nur

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seine Bettwäsche, die vor seinen nachttrüben Augen lang-sam Konturen annahm. Der Traum hatte sich verflüchtigt und sowohl Wolken als auch Flugzeug mitgenommen.

Nur das Brummen war geblieben. Bernhard verortete es mit einiger Sicherheit außerhalb seines Schädels und be-schloss, es vorerst zu ignorieren. Er setzte sich in seinem Bett auf, griff eine nahe Sprudelflasche und schickte einen Schluck Wasser auf einen Feldzug gegen die Trockenheit in seinem Mund. Je wacher er wurde, desto mehr Unruhe machte sich in ihm breit. Sein Körper mochte nicht mehr still liegen. Bernhard warf das schweißnasse Laken zurück und suchte nach einem guten Grund, aufzustehen.

Seine Rente hatte sich als sorgenfreie Zeit ohne Ver-pflichtungen angekündigt. In Wahrheit musste er sich ständig selbst verpflichten, und der daraus resultierende Druck war stärker als alles, was er während seines Berufs-lebens je empfunden hatte. Dieser stete Drang nach Sinn bildete nun den Begleiter fast all seiner Gedanken. Immer-hin trieb ihn diese Unruhe jetzt aus dem Bett, oder war da noch etwas anderes?

Er schwenkte seine Beine über den Rand der Matratze und tastete mit den Füßen nach seinen Pantoffeln. Das Brummen schwoll erneut an, doch inzwischen war sein Geist wach genug, und er konnte das Geräusch einordnen.

Es war sein Nachbar auf seinem Aufsitzmäher, mit dem er wie jeden Samstag in nicht enden wollenden Runden über den Rasen kreiste. Bernhard pickte aus seinem rei-chen Schatz an Schimpfwörtern genüsslich ein paar be-sonders gehässige und schleuderte sie in Gedanken durch das Schlafzimmerfenster.

Ihre Häuser lagen weit außerhalb der Stadt am Fuße ei-nes kleinen Hügels. Hinter Bernhards Grundstück begann der Wald, der die Höhe fast ganz bedeckte. Das Haus sei-nes Nachbarn grenzte an ein Feld, das sich noch ein wenig der Steigung mit den Bäumen teilte und in Richtung der

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Stadt über immer flacher werdende Hügelketten erstreck-te. Hier draußen waren sie die einzigen Anwohner, was die Kette der Rücksichtslosigkeiten seines Nachbarn al-lein auf ihn konzentrierte: den Lärm seines jämmerlichen Traktorenabklatsches, der aufgesetzte Chic seines Hauses, der eitle weiße Zopf, der nach hinten über sein giftgrünes Cord-Jackett fiel …

Du musst ihn akzeptieren. Er ist auch bloß ein Mensch, säu-selte es in Bernhards Ohren, doch es war nur seine Häme, die ihm ein Ständchen sang. Er war alt und pensioniert. Er musste gar nichts mehr.

Der Störenfried von nebenan erwartete wahrscheinlich Damenbesuch und sorgte nur noch für den Feinschliff an seinem Rasen – ein letztes Stück Arbeit an der Kom-position, die seinen vermutlich bemitleidenswert geringen Charme bei der Eroberung unterstützen sollte.

Sein Nachbar schien eine ganze Reihe von Frauen zu kennen, die sich regelmäßig bei ihm einstellten. Er würde wohl auch heute wieder mit einer seiner Gespielinnen auf der hölzernen Terrasse sitzen, rauchen, Kaffee trinken und irgendwann in der Hollywoodschaukel neckisch vor sich hin wippend anbieten, der Gast möge doch seine Schuhe ausziehen und mit ihm über den Rasen tollen. Bernhard hatte desgleichen oft beobachtet.

Irgendwann verschwände die verspielte Gesellschaft im Haus. Die Außenlichter würden bis spät in die Nacht in Bernhards Schlafzimmer leuchten, die Dame mitten in der Nacht wieder aufbrechen und er vom Motorgeräusch ihres Wagens geweckt werden, sofern er bei dem Licht in seinem Schlafzimmer überhaupt würde einschlafen kön-nen. Insgeheim fragte er sich, wie sein Nachbar so viele Frauen von sich überzeugen konnte, ohne im Streit mit ihnen auseinanderzugehen.

Er strich sich über seinen Schädel, den die meisten Haa-re bereits aufgegeben hatten. Die verbliebenen Strähnen

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umwirbelten seine Schläfen genauso wild wie die Wolken-strudel aus seinem Traum. So würde ihm der Blick in den Spiegel wenigstens Bruchstücke seiner nächtlichen Visio-nen in den Tag retten. Er stand auf, wankte zum Fenster und zog die schweren Vorhänge beiseite. Sonnenlicht fiel herein. Es war bereits taghell. Sonderlich früh hatte ihn der Rasenmetzler also nicht geweckt.

Trotz des ihm entgegenstrahlenden Frühlingstages meldete sich seine Unruhe wieder. Was war nur los?

Er erinnerte sich daran, am gestrigen Abend den Wecker gestellt zu haben – aber warum? Er konnte doch schlafen, solange er wollte.

Die Erinnerung grub sich erst langsam, dann außer-ordentlich hektisch durch die aus dem Traum noch ver-bliebene Wolkenwatte in seinem Kopf.

Bernhard riss die Augen auf und machte auf dem Absatz kehrt. Er fegte den Wecker mit einem wuchti-gen Handstreich vom Nachttisch und stürmte aus dem Schlafzimmer.

Seine Morgenwäsche wurde aufgrund des Zeitdrucks nur eine Ansammlung von Maßnahmen, um sein ver-schlafenes Aussehen zu kaschieren und halbwegs sozial verträglich aus dem Bad zu treten. Für seine Haarbüschel nahm er sich doch etwas Zeit und kämmte sie ordentlich nach hinten. Zum Abschluss griff er sich ein Hemd, das er erst vorgestern extra für den heutigen Anlass gebügelt hatte.

Dabei war sein einundsiebzigster Geburtstag für ihn genauso belanglos wie seine Geburtstage davor, einmal abgesehen von Erinnerungsfragmenten aus seiner Kind-heit voll überhöhter Erwartungen an Geschenke und Süßigkeiten. Heute verhielt es sich jedoch anders. Übli-cherweise stand der Besuch seines sonst viel beschäftigten Sohnes mitsamt seiner Frau Sarah immer erst am darauf-folgenden Wochenende an. Dieses Mal fielen Geburtstag

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und Wochenende jedoch zusammen, weswegen er jeden Augenblick mit ihrer Ankunft rechnen musste.

Abgesehen von diesen Besuchen hatte er keinen Kon-takt mehr mit seiner Familie, was dieses Zusammenkom-men zumindest aufseiten Bernhards zu einem immens wichtigen Ereignis machte. Weihnachten, Ostern und all die anderen Festtage feierte sein Sohn mit der Familie seiner Frau. Bernhard konnte diese Bande aus blasierten Akademikern nicht ausstehen und hatte schon vor Jahren entschieden, zu besagten Terminen regelmäßig krank zu werden. Andererseits hatte sich die Familie seiner Schwie-gertochter auch schon seit Langem entschieden, ihn nicht mehr einzuladen. Bei ihrem letzten Zusammentreffen war er nämlich noch während des Abendessens aufgestanden, hatte seine Sachen gegriffen und war, ohne sich zu ver-abschieden, nach Hause gefahren. Das hatte ihm sein Sohn ziemlich übel genommen, war aber irgendwann zur Ver-nunft gekommen und hatte die Sache auf sich beruhen lassen.

Bernhard schaltete den Kaffeeautomaten in der Küche ein und schob einen am Vortag gekauften Aufbackkuchen in den Ofen. Dann suchte er aus einer der untersten Kü-chenschubladen die seiner Meinung nach schönsten Un-tersetzer heraus und bereitete das Esszimmer für seine Gäste vor. Da ihm nur dieser eine Tag im Jahr mit seinem Sohn vergönnt war, musste zu diesem Anlass alles perfekt vorbereitet sein.

Er zog die Vorhänge im Wohnzimmer auf und über-prüfte die Dekoration im Sonnenlicht. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass noch kein Wagen in der Auf-fahrt stand, lief er in den Garten hinter seinem Haus und schnitt hastig einige gerade erblühte Frühlingsblumen ab. Beim Gang zurück blickte er kurz missmutig über die hohe Hecke auf das angrenzende Grundstück hinüber. Bernhard sah den Kopf seines Nachbarn mit wackelnden

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Bewegungen vorüberfahren. Der weiße Haarzopf zuckte hin und her wie der Stab eines epileptischen Dirigenten.

Hoffentlich würde der Mensch seine Kür bald abge-schlossen haben, doch anscheinend hatte er einen be-trächtlichen Bereich seines großen Grundstückes noch nicht abgefahren.

Wieder im Haus wären ihm die Blumen beinahe aus der Hand gefallen, als unvermittelt die Türklingel schell-te. Sein Nachbar musste mit seinem Getöse den Wagen seines Sohnes übertönt haben. Hastig suchte Bernhard eine Vase aus dem Schrank und stopfte die Blumen hinein. Dann eilte er in den Eingangsflur und riss die Haustür auf. Er vollzog eine einladende Handbewegung und strahlte dem verunsicherten Gesicht seines Sohnes entgegen. »Phillip! Schön, dich zu sehen, komm herein.«

»Hi Paps«, erwiderte sein Sohn mit einem gequält wirkenden Lächeln und stellte sich ihm in den Weg, als sich Bernhard an seiner Seite vorbeizuschlängeln ver-suchte. »Wo willst du hin?«

»Deine Frau begrüßen und ihr beim Tragen helfen«, antwortete er, doch Phillip hielt ihn am Handgelenk fest, noch bevor er einen Blick in die Einfahrt werfen konnte.

»Warte, Paps«, sagte er und seine Mundwinkel ver-zogen sich wie früher, wenn er ihm etwas zu beichten hatte. »Sarah ist nicht mitgekommen. Es … geht ihr nicht gut, weißt du?«

»Ist es etwas Schlimmes?«, fragte Bernhard, ein wenig misstrauisch geworden.

»Nein, nein, mach dir keine Sorgen«, druckste sein Sohn herum und trat rasch ins Haus.

Bernhard folgte ihm. Zwar war er mit dieser Ant-wort nicht zufriedengestellt, entschied aber, nicht nachzuhaken.

Im Wohnzimmer bot er Phillip einen Platz am Kaffee-tisch an und räumte hektisch das überflüssig gewordene

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dritte Gedeck zusammen. Sein Sohn machte Anstalten, ihm zu helfen, doch Bernhard wiegelte ab und flüchtete unter dem Vorwand, Kaffee und Kuchen zu holen, in die Küche.

Die ersten Minuten dieser Geburtstagsbesuche waren immer mit Unwohlsein verbunden. In dieser Zeitspanne manifestierte sich für gewöhnlich der zeitliche Abstand zwischen ihren Kontakten als eine Hemmung, die er nur schwer überwinden konnte. Dass Sarah nicht mitgekom-men war, machte die Sache umso schwieriger. Über die steten Gespräche zwischen den beiden war es Bernhard meist möglich gewesen, sich nach einiger Zeit in die Plau-derei einzuhaken. Jetzt aber stand er allein mit einer Kaf-feekanne in der linken und einem Teller Aufbackkuchen in der rechten Hand im Wohnzimmer und lächelte seinen Sohn unsicher an.

Das tiefe Brummen außerhalb des Hauses verstumm-te mit einem Mal. Sein Nachbar schien überraschend mit dem Mähen fertig geworden zu sein, und die eingetrete-ne Stille verschärfte Bernhards Nervosität noch.

Mit leicht zittrigen Händen schenkte er ihnen Kaffee ein, versuchte, ein Stück des Kuchens auf Phillips Teller zu laden und schimpfte laut über sich selbst, als es ihm vom Tortenheber kippte.

»Das macht nichts, reg dich nicht auf«, beeilte sich sein Sohn, ihn zu beruhigen. »Erzähl mir lieber, was du im Moment so treibst.«

Er ließ sich seufzend in seinen Sessel plumpsen. »Was soll ich schon groß machen – bin viel im Garten und halte das Haus in Schuss. Da ist einiges zu tun, kann ich dir sagen. Allein das Umgraben der Beete hat zwei Tage in Anspruch genommen. Solange es noch geht, werde ich mich vor der Arbeit nicht scheuen. Die Bewegung hält mich fit.«

»Ein gutes Buch gelesen?«

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»Du weißt, dass ich nicht lese.«Phillip betrachtete das Bücherregal zu seiner Linken.

»Du hast ziemlich viele Bücher im Haus, für jemanden, der nicht liest …«, bemerkte er spitz, schien sich aber noch während dieser Aussage merklich unwohl zu fühlen und wurde immer leiser.

»Ich habe auch diese schäbigen dicken Gardinen noch vor dem Fenster. Gehörte alles deiner Mutter, auch die Bücher. Nur die Gartenzeitschriften, die sind von mir«, er-klärte Bernhard und biss sich auf die Lippe. Er hatte seine Frau nicht erwähnen wollen. Phillip hatte seiner Mutter sehr nahe gestanden und litt auch heute noch unter ihrem Tod, wenngleich sie schon vor etlichen Jahren recht jung gestorben war.

Sein Sohn schien kurz etwas erwidern zu wollen, seufzte dann aber nur und stieß mit der Gabel fest in den Kuchen. »Was ist mit Filmen? Hast du was Gutes gesehen in letzter Zeit?«, versuchte er, das Gespräch an anderer Stelle in Gang zu bringen. Er musste um den Kuchen in seinem Mund herum sprechen.

Bernhard vermied es, ihn diesbezüglich zu ermahnen, das hätte seinen Sohn nur noch mehr genervt. Und genervt schien er bereits zu sein. Das konnte er nur zu gut erken-nen. Leider wusste er beim besten Willen nichts daran zu ändern. Unbarmherzig wurden seine Erwartungen an die-sen Tag mit der Realität konfrontiert. »Ich fahre nicht oft in die Stadt, und ins Kino gehe ich ohnehin nicht. Und ein Fernsehanschluss würde sich für mich nicht mehr lohnen. Außerdem sind Filme nur dazu da, damit der Pöbel brav nach vorn starrt, statt sich umzusehen«, dozierte Bernhard und begann seinem Sohn zu berichten, wie selbst ein Monate zurückliegender Theaterbesuch ihm von einem Sitznachbarn ruiniert worden war, der die gesamte Vor-führung mimisch dauerzuinterpretieren schien.

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Er bemerkte nach einer Weile, dass Phillip ihm nicht mehr richtig zuhörte. Wohlbekannte Frustration stieg in ihm auf. Er versuchte weiterhin, das Gespräch am Leben zu erhalten, und erzählte von einer unmöglichen Kassie-rerin im Supermarkt, von seinem Streit mit der dämlichen Stadtverwaltung und wie sein Vater ihm in seiner Kindheit die Lust auf Bücher geraubt hatte. Bald merkte er, dass er sich wiederholte und schwieg.

»Was machst du abends? Du kannst nicht immer nur im Garten sein oder dich in deine kleinen Fehden hinein-steigern?«, wollte sein Sohn mit einem Achselzucken wis-sen, das seine Neugier substanzlos erscheinen ließ.

Bernhard stürzte sich trotzdem pflichtbewusst auf die Frage. »Ich löse Kreuzworträtsel und nehme mir viel Zeit zum Kochen.« Er verschwieg, dass er sich abends immer früher ins Bett legte, obwohl er meist erst nach Mitternacht einzuschlafen vermochte, und versuchte, das Gespräch schnell von seiner Person abzulenken. »Kocht Sarah auch? Hat sie dafür überhaupt Zeit? Sie war bei ihrer Arbeit doch so ausgelastet. Diesem Elektronikzeug?«

Sein Sohn wollte nicht sofort darauf anspringen und antwortete erst, nachdem sie sich eine ganze Weile ange-starrt hatten. »Sie ist Softwareentwicklerin, Paps. Und ja, sie hat noch immer viel zu tun – viel zu viel.«

Zum ersten Mal während des Besuches schien die Stimme seines Sohnes direkt zu ihm zu sprechen, und was er hörte, gefiel Bernhard nicht. Leider wusste er nichts darauf zu antworten. So schwiegen sie eine Weile und ver-steckten sich hinter ihren Kaffeetassen.

»Ihr solltet mehr Zeit für euch haben, nur ihr beide. Es ist nicht gut für eine Beziehung, wenn die Zeit fehlt. Sie sollte einsehen, dass eure Beziehung unter ihrem Job leidet«, versuchte er es dann doch.

Phillip rümpfte die Nase. Ein Kuchenkrümel fiel ihm aus dem Mundwinkel und verschwand in einer

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Couchritze. »Was weißt du schon, wovon du da …«, setzte er missmutig an, doch ein tiefes Röhren, das vom Nach-bargrundstück herüberschallte, unterbrach ihn im Satz und ließ sie zur Seite aus dem Fenster blicken.

Der Nachbar hatte nur eine Pause eingelegt und schmiss seinen Rasenmäher ein zweites Mal an. Bernhard sprang auf. »Dieser gottverdammte Scheißkerl!«, fluchte er. »Den ganzen Morgen geht das so. Ich gehe gleich rüber und geb ihm eins auf die Fresse!«

»Beruhige dich! So laut ist er doch gar nicht. Schließ einfach das Fenster und setz dich wieder hin. Wie heißt er überhaupt? Kennst du ihn? Er ist doch etwa so alt wie du?«, versuchte Phillip ihn mit einem Sturm von Fragen in das Gespräch zurückzuholen, das ihm bis zu diesem Moment noch merklich unangenehm gewesen war.

Doch Bernhard hörte ihm kaum zu und lief ans Fens-ter. »Ich glaube, er heißt Kleimann. Absolut rücksichtslos! Keine Spur von Altersweisheit«, zischte er.

»Und wie verhält es sich mit der Weisheit in seinem – deinem Alter? Sei nicht so ein Querulant, und setz dich endlich wieder«, wies er Bernhard ungewöhnlich bestim-mend an, doch er ignorierte die Aufforderung, wenngleich ihm die Beleidigung in den Ohren klingelte.

Der Rasenmäher näherte sich wieder lautstark seiner Seite des Grundstückes.

»Das gibt’s nicht! Ich geh gleich rüber!« Bernhard wandte sich zur Tür.

»Nein!«, brüllte Phillip. Er war ebenfalls aufgesprungen und hielt ihn zum zweiten Mal an diesem Tag am Hand-gelenk fest. Dieses Mal jedoch mit einer derartigen Gewalt, dass Bernhard herumgerissen wurde. »Du bleibst hier und beruhigst dich. Ich werde gehen!«, machte Phillip ihm klar.

»Was macht das für einen Unterschied, wer von uns ihm eine aufs Maul gibt?«, protestierte Bernhard und ver-suchte, sich aus dem Griff zu lösen.

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»Du verstehst es nicht. Ich werde fahren. Sonst explo-diere ich auch gleich.«

»Ich versteh dich, mich ärgert der Typ genauso. Des-wegen will ich ja für Ruhe sorg…«, versuchte Bernhard zu erklären.

»Nein, ich rege mich über dich auf! Hast du … Kannst du … Vergiss es, ich fahre!«, rief Phillip und warf seine Arme in die Luft.

Feine Tropfen seiner Spucke sprühten auf Bernhards Wange. Er trat einen erschrockenen Schritt zurück und ver-suchte, seinen Sohn zu beruhigen. »Reg dich doch nicht auf? Okay? Ich setze mich ja wieder hin. Lass uns einfach wei-terreden. Zur Hölle mit diesem Herrn Kleidings«, flehte er, hatte seine Wut auf den Nachbarn augenblicklich vergessen und fand sich in einer ungewohnt beschwichtigenden Rolle wieder. Seine Brust begann zu schmerzen, und seine rechte Schulter pochte unaufhörlich. Es war weitaus stärker als seine gewöhnliche Arthritis und schien sich auszubreiten.

Endlich löste sein Sohn den Griff und er konnte sich mit dem Handrücken über die feuchte Wange wischen.

»Bleib nur hier, ich bitte dich«, flehte Bernhard erneut und mit brüchiger Stimme.

Phillip schüttelte nur den Kopf.Die Situation zerbrach vor Bernhards Augen in un-

zusammenhängende Fragmente und ihm begannen die Ohren zu rauschen.

»Den Teufel werde ich tun«, schimpfte Phillip, der in seiner plötzlichen Wut gefangen und nicht mehr in der Lage war, sich von Bernhards ungewöhnlich emotionaler Bitte berühren zu lassen. Mit einem Ruck riss er sein Ja-ckett vom Kleiderständer und stampfte zur Tür. »Du bist wie ein Scheißhaufen, der der Welt vorhält, sie würde stin-ken!«, grollte er.

Bernhard stand wie betäubt in der Wohnzimmertür und beobachtete Phillip durch den engen Flur, wie er im

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Kästchen neben der Haustür aufgebracht und ununterbro-chen weiterschimpfend nach seinem Autoschlüssel kramte.

»Weißt du, warum Sarah nicht mitgekommen ist? Weil sie schon lange keinen Nerv mehr hat, dich altes Scheusal auch nur einmal im Jahr zu Gesicht zu bekommen. Ich hab sie bislang jedes Mal überreden können, mitzufahren, nur dieses eine Mal nicht, und wir hatten einen Riesenkrach deswegen. Und jetzt?« Phillip hatte die Haustür aufgeris-sen, stand auf ihrer Schwelle und hatte sich mit hochrotem Kopf noch einmal zu ihm umgedreht.

Bernhard machte den Türrahmen zum neuen Anker seiner stotternden Gedanken und versuchte, ihn wankend zu erreichen.

»Jetzt fühl ich mich unglaublich bescheuert, denn sie hatte recht damit, zu Hause bleiben zu wollen. Du bist es echt nicht wert«, vollendete Phillip seine Tirade und stürmte endgültig hinaus.

Als Bernhard die Tür endlich erreichte, hatte sein Sohn bereits den Motor seines Peugeots angeworfen und setzte so schnell zurück, dass die kleinen Kiesel in der Einfahrt davonstoben. Einige flogen bis zu Bernhard und prallten an seinen Beinen ab. Er sah Phillips Wagen am ganzen Körper zitternd nach. Seine Versuche, drohende Tränen zu unterdrücken, ließen seine Nase schmerzen. Auch der Schmerz in seiner Schulter kam zurück, doch die Woge der Wut und Frustration, die durch ihn hin-durchfuhr, bagatellisierte jedes körperliche Empfinden. Er fühlte sich dennoch dermaßen schwach, dass er sich am Holz des Türrahmens festhalten musste. Was war gerade passiert?

Aus der Ferne hörte er den Lärm des Rasenmäher-treckers wieder näher kommen. Er streckte sich und atmete tief durch. Indem er sich nur auf seine Wut kon-zentrierte, bekam er etwas von der Kontrolle über seinen Körper zurück. Seine Beine zitterten noch ein wenig, und

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die Schmerzen in der Schulter blieben bestehen, ließen sich jedoch ertragen.

Mit einem Ruck stieß er sich vom Türrahmen ab und legte den Weg von seiner Haustür zur Gartenpforte seines Nachbarn mit strammen Schritten zurück. Gewaltsam trat er das zierliche Holztor auf und ignorierte das Stechen in seinem Fuß ebenso wie die Blumen, die das Tor durch den starken Schwung köpfte. Umzäunungen, die nicht in der Lage waren, echte Gefahren abzuhalten, sind hirnrissig, tönte eine bissige Stimme in seinem Kopf.

Bernhard lief weiter zur Rückseite des Hauses und hielt direkt auf seinen Nachbarn zu. Dieser stieg gerade von seinem Mäher ab und lächelte Bernhard entgegen.

Er ballte seine Fäuste und stellte sich vor, wie er seine Hände in die sonnengegerbte, ledrige Haut seines Gegen-übers bohrte. Was ihn davon abhielt, war allein die Tat-sache, dass er sich noch nie geprügelt hatte. War er noch nie so wütend gewesen? War diese Wut anders? Hilflos bebend stand er da und wunderte sich, warum er sich al-len Ernstes fragte, wie man eine Prügelei begann, obgleich ihm seine Fantasie instinktiv ein recht deutliches Bild der Abläufe vorzeichnete.

»Guten Tag, Herr Greber«, begann das Ziel seiner Ge-waltfantasien mit einer ruhigen Stimme zu sprechen, die so gar nicht zu Bernhards Erregung passen wollte. »Ich bin überrascht, Sie zu sehen. Seit ich vor Jahren hier her-gezogen bin, haben wir uns nie vorgestellt. Sie sind ja nie an die Tür gegangen. Jetzt kommen Sie mit einem Riesen-getöse in meinen Garten gestiefelt und wollen das nach-holen? Angenehm, mein Name ist Kleinmann, Dagobert Kleinmann.« Herr Kleinmann lachte ihm mit fröhlicher Gelassenheit entgegen. Er nahm seine modische Halbbrille ab und stopfte sie in die ausgebeulte Hemdtasche.

Bernhard stand fassungslos schnaufend vor ihm und starrte auf die zur Begrüßung ausgestreckte Hand. Es

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war nicht nur die freundliche Geste, die ihn verwirrte. Er war auch noch nie auf dieser Seite der Hecke gewesen und hatte noch kein einziges Wort mit seinem Nachbarn gewechselt. Der jedoch kannte sogar seinen Namen und blieb von seinem Zorn unbeeindruckt. Zu allem Überfluss war er auch noch ein wenig größer als Bernhard.

»Ich? Mit Getöse?«, rief Bernhard verdattert und wü-tend zugleich, »Sie mieses Arschloch haben mir gerade erst den Besuch meines Sohnes versaut und jetzt …«, Bern-hard sprach überhastet und stockte dann doch, denn die Worte wollten mit seiner Wut nicht Schritt halten. »Jetzt kotzen Sie mir hier Ihre Unschuld entgegen?«

Herr Kleinmann blieb weiterhin unbeeindruckt, zog aber seine Hand zurück und lehnte sich an den Sitz seines Mähers. »Ihr Sohn war da? Ich habe nicht gewusst, dass Sie Verwandte haben. Sie bekommen so selten Besuch.«

»Es geht Sie einen Scheiß an, wer mich besucht«, rief Bernhard außer sich. Statt wie ein Dammbruch für seine Wut zu wirken, wurden die Worte für Bernhard nur der Beweis für die Unzulänglichkeit seiner Sprache, als Ventil für die fassungslose Wut zu dienen, die ihn durchströmte.

Herr Kleinmann strich sich durch sein weißes Haar und seufzte. »Sicher, da haben Sie recht. Aber wenn ich ihn ver-grault habe, geht es mich eben doch etwas an. Was habe ich denn getan, um diesen gewaltigen Unmut zu verdienen?«

»Das wissen Sie … – dass müssen Sie doch … – dieser verschissene Lärm den ganzen Morgen«, schrie Bernhard.

»Sie haben sich noch nie beschwert, wenn ich meinen Rasen gemäht habe. Sie schauen höchstens mal missmutig über die Hecke. Davon abgesehen ist es Vormittag, und ich habe nicht länger als eine Stunde gebraucht.« Sein Blick forderte eine Erklärung von Bernhard, die er nicht liefern konnte.

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»Sie aufgeblasener …«, begann er, doch wo sonst geist-reiche Grausamkeit in Sturzbächen von Beleidigungen nur so floss, versagten ihm die Worte abermals. Sie wirkten lä-cherlich, winzig, und nicht das kleinste Quäntchen seines Grolls schien an ihnen haften zu bleiben.

Herrn Kleinmann versagte ohnehin jede Reaktion. Er sah ihn nur auffordernd an.

Bernhard spürte Schmerzen in seinem gesamten Brust-korb. Die ganze hilflose Wut drohte ihn zu sprengen. »Ich werde Ihren verdammten, unseligen, blasierten …«, bewies er sich seine sprachliche Hilflosigkeit ungewollt weiter. Die Worte mussten sich ihren Weg regelrecht freikämpfen. Bernhard presste sie mit Gewalt aus seinem Mund. Das Atmen fiel ihm schwer, und durch den Schlei-er seiner Wut konnte er nun doch eine Veränderung im Gesicht seines Gegenübers ausmachen. Herr Kleinmann blickte besorgt.

Bernhards Sicht verschwamm immerzu. Er torkelte ei-nen Schritt nach vorn, fand jedoch keinen Halt. Erst dachte er, er hätte seinen Fuß in ein Loch im Rasen gesetzt, be-merkte dann allerdings das fehlende Gefühl für seine Bei-ne, die ihm, gänzlich taub geworden, keinen Halt mehr zu geben vermochten. Eine Übelkeit aus der Magengegend kroch seinen Oberkörper empor. »Sie Hur…«, stammelte er die letzten Worte, dann versagte sein Körper vollends.

Dass er gestürzt war, spürte er nur als leisen Nachhall von Schmerz, als er mit geöffnetem Mund und einiger Wucht auf den Rasen prallte. Ein dumpfer Schmerz, als ob er das Geschehen für eine andere Person nachempfinden würde. Bernhard biss ins Gras.

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Kapitel 2

er erdige Geschmack in Bernhards Mund wollte nicht zum ihn umgebenden Geruch passen. Es roch seltsam, fast steril und doch unangenehm

bekannt. Noch wagte er es nicht, seine Augen zu öffnen, aber die wenigen Geräusche um ihn ließen sich nicht so leicht ausblenden.

Ein leises Rascheln ab und an war neben weit entfern-ten Stimmen das Einzige, was er vernahm. Still liegend ordnete er seine Gedanken. Befand er sich noch im Garten seines Nachbarn? Das war unwahrscheinlich, denn er war weich auf seinen Rücken gebettet. Hatte sein Nachbar ihn ins Haus gebracht? Er fühlte mehr als nur Kleidung auf seinem Körper, wahrscheinlich eine Decke. Er nahm all seinen Mut zusammen und riskierte einen Blick.

Er lag, wie er bereits vermutet hatte, in einem Bett und stierte jetzt auf eine gegenüberliegende weiße Wand. Sein noch verschwommener Blick fokussierte sich auf einen Fernseher, der an die Decke hängend montiert war. Sol-che Konstruktionen kannte er nur aus – Krankenhäusern! Damit fügte sich die Umgebung auch in seinen Gedanken sinnhaft zusammen. Unter dem Fernseher erblickte er Herrn Kleinmann, der auf einem Besucherstuhl saß und in einer Illustrierten blätterte.

»Hallo«, krächzte Bernhard. Es klang mehr wie eine Frage als wie ein Gruß. Sein Mund war taub und schmeck-te noch immer so, als hätte er den gesamten Garten seines Nachbarn mit seinem Kiefer umgegraben.

Herr Kleinmann schaute auf und nahm seine Halbbril-le ab. Die Bewegung wirkte vertraut, dabei hatte Bernhard sie erst einmal beobachtet.

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»Herzlich willkommen zurück im Leben, Herr Gre-ber«, grüßte ihn Herr Kleinmann mit ruhiger Stimme und legte die Zeitschrift auf den Stuhl neben sich.

»Haben Sie mich hergeführt?«, fragte Bernhard und versuchte, sich in seinem Bett aufzurichten. Auf dem lee-ren Bett neben seinem sah er ein Beatmungsgerät liegen. Es lag wie zufällig dort und gab doch den entscheidenden Hinweis auf das kleine Drama, in dem er trotz Bewusst-losigkeit die Hauptrolle gespielt hatte.

Herr Kleinmann war aufgestanden und reichte ihm ein Glas Wasser. Vorsichtig trank Bernhard einige Schlu-cke. Die Flüssigkeit fühlte sich in seinem Mund gut an, schmeckte aber abgestanden.

»War ich lange weg?«, fragte er.Herr Kleinmann blieb neben dem Bett stehen. »Ich habe

Sie hergefahren«, antwortete er mit gedämpfter Stimme. »Das hielt ich für sinnvoller, als dem Notdienst erst den weiten Weg zu uns hinaus zu erklären. Hab Ihnen dabei ein paar Kratzer beigebracht, da ich Sie bis zu meinem Wa-gen schleifen musste. Insgesamt waren Sie mindestens ein paar Stunden weg.«

»Was ist passiert?«»Mir wurde gesagt, es wäre Ihr Herz gewesen. Ein un-

gewöhnlich starker Infarkt. So lange wie Sie ist man üb-licherweise nicht ohne Bewusstsein. Die Behandlung auf der Intensivstation verlief aber ohne Komplikationen.«

Bernhard sah zur Seite aus dem Fenster. Es war schon dunkel geworden. »Waren Sie die ganze Zeit bei mir?«

Herr Kleinmann lachte. »Ja, die Schwestern halten mich für einen Verwandten. Das, gepaart mit ein wenig Anstand, hat mich wohl verpflichtet, hierzubleiben, denke ich.«

»Verwandt? So? Wir sehen uns aber nicht sehr ähnlich?«»Ich denke, Sie wollten es einfach glauben, da habe

ich nicht widersprochen. Irgendwo ist ein Bus in einen

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Brückenpfeiler gerast, und jetzt haben sie hier alle Hände voll zu tun. Da ist die beste Erklärung die, die dem Per-sonal die meiste Zeit einspart. Ich wurde nicht weiter überprüft, aber das Krankenhaus hat meine Adresse und Telefonnummer aufgenommen.«

Bernhard setzte sich auf und ließ zu, dass Herr Klein-mann ihm half. »Was wird jetzt mit mir?«

»Sie werden den Ärzten ab sofort alle Fragen selbst beantworten können, und wenn ich es richtig verstanden habe, brauchen Sie nur noch ein paar Tage Pflege und Be-obachtung. Die kann aber auch häuslich von einem Ver-wandten übernommen werden.«

Bernhard dachte an Phillip. Plötzlich war ihm der Tag in seinen katastrophalen Einzelheiten wieder präsent. Er schaute betreten zur Seite, aus Angst, seine feuchten Au-gen könnten seine Schwäche verraten.

Herr Kleinmann schien es dennoch bemerkt zu haben. »Ich habe der Ärztin schon gesagt, dass eine Pflege durch Ver-wandte momentan vielleicht schwierig ist. Das hat sie nicht überrascht. Scheint heutzutage der Standardfall zu sein. Sie haben die Option, die nächsten vier Tage hier zu verbringen.«

Bernhard nickte dankbar. Er hatte das unbestimmte Gefühl, an einem neuen Tag aufgewacht zu sein. Alles schien auf einmal weit weg und furchtbar lächerlich, da-bei waren nur wenige Stunden vergangen. Er fühlte sich durch den Abstand zu diesen Erlebnissen aber auch er-leichtert. Allein der Gedanke an seinen Sohn bedrückte ihn. Herr Kleinmann schien indessen zu überlegen, ob er noch etwas vergessen hatte, und schritt dann langsam zur Tür. »Ich mach mich auf den Weg. Ich schicke Ihnen noch eine Schwester vorbei. Gute Besserung.«

»Hatten Sie keinen Frauenbesuch heute?«, fragte Bern-hard, bevor sein Nachbar die Tür erreicht hatte.

Dieser hielt inne und schüttelte den Kopf. Sein Zopf schüttelte sich mit. »Nein, ich habe der Dame abgesagt.«

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Bernhard begann zu glucksen. Er wollte seine Freude gar nicht verbergen, aber für ein echtes Lachen fehlte ihm die Kraft.

»Was ist denn, Herr Greber?«»Ich dachte gerade daran, dass Sie mein Retter mit dem

Pferdeschwanz sind. Das wäre ein schöner Spitzname, finden Sie nicht? Er vereint zwei Ihrer prominentesten Eigenschaften.«

»Ruhen Sie sich besser aus«, empfahl Herr Kleinmann, während sich Bernhard noch ärgerte, nicht früher auf dieses zweideutige Wortspiel gekommen zu sein. Dann schämte er sich ein wenig, weil sein Nachbar, statt auf die Stichelei zu reagieren, weiterhin an der Sorge um sein Wohlbefinden festhielt.

»Warten Sie! Habe ich mich schon bei Ihnen bedankt?« Es war eine rhetorische Frage, doch betrübte ihn Herrn Kleinmanns Aufbruch wirklich. Es erinnerte ihn an die überstürzte Abreise seines Sohnes. Schließlich hatte sein Nachbar ihn nicht nur ins rettende Krankenhaus gebracht, sondern war auch die ganze Zeit über nicht von seiner Sei-te gewichen. Das beeindruckte ihn.

»Kommen Sie mich besuchen, sobald Sie hier heraus sind. Dann können Sie es nachholen. Ich bin fast immer zu Hause. Aber bitte klingeln Sie diesmal einfach an meiner Haustür, ja?«, bat Herr Kleinmann. Dann trat er hinaus in den Flur.

Bernhard schaute noch eine Weile in Richtung der of-fenen Tür, anschließend blickte er zum Fenster. Er ver-misste das Vogelzwitschern aus dem kleinen Wald neben seinem Haus. Immerhin waren die Gardinen im Kranken-haus ähnlich hässlich wie bei ihm daheim. Seufzend legte er sich wieder hin und wartete darauf, dass die von Herrn Kleinmann versprochene Schwester vorbeikam.

Bereits am Ende der Woche wurde Bernhard aus dem Krankenhaus entlassen. Sie hatten ihn nur wenige Tage

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unter Beobachtung gehalten und die üblichen Risikofak-toren überprüft, die zu einem Herzinfarkt führen konnten. Da er weder rauchte, übergewichtig war, noch die Ein-stellung Churchills zu körperlicher Ertüchtigung teilte, erwies sich die Suche nach den Ursachen seines Anfalls als schwierig. Schließlich stellten die Ärzte einen zeitwei-se erhöhten Blutdruck fest, von dem Bernhard allerdings vermutete, dass ihn die hübsche Schwester auslöste, wenn sie die Messungen vornahm. Zusammen mit der Diagnose drückte man ihm abschließend ein Rezept für ein Blut-druckmittel in die Hand und schickte ihn nach Hause. Er sollte sich melden, sofern die Beschwerden wiederkehrten und sich bei seinem Hausarzt einstellen, um einen persön-lich abgestimmten Sportplan zu entwickeln. Da Bernhard so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus verschwin-den wollte, vermied er es, seiner Ärztin mitzuteilen, dass er seinen Hausarzt bereits um drei Jahre überlebt hatte. Eine seiner liebsten Anekdoten, die er sonst nur selten aussparte.

Jetzt stand er am Wohnzimmerfenster und blickte hi-nüber auf Herrn Kleinmanns Domizil. Die hohe Hecke er-laubte nur den Blick auf die obere Etage des Nachbarhau-ses, in deren Fenstern sich seit geraumer Zeit nichts mehr bewegt hatte. Er hatte sich, nachdem er aus dem Hospital zurückgekehrt war, zunächst eine Dusche und frische Be-kleidung gegönnt, war hiernach sofort nach nebenan ge-gangen und hatte mit einer Flasche Scotch in der Hand angeklingelt. Alkohol, ein wohlüberlegtes Gastgeschenk aus seinem Geheimvorrat, das gleichzeitig versöhnen und das Eis brechen sollte. Doch niemand hatte seiner Flasche und ihm geöffnet.

Am darauffolgenden Tag hatte er ein paar Mal über die Hecke gelugt, aber keine Menschenseele gesehen. Er ging immer wieder hinüber, schaute in die Frontfenster, klingelte, rief nach seinem Nachbarn, doch es öffnete ihm

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auch weiterhin niemand, und nach einer Woche gab er schließlich auf.

Ein einziges Mal war er in den frühen Morgenstunden vom Geräusch eines Motors geweckt worden. Ein weißer VW-Kombi, wie ihn Handwerker fuhren, hatte vor Herrn Kleinmanns Haus gestanden und einen großen, leicht dicklichen Kerl ausgespuckt, der nach minutenlangem Klingeln resigniert zu seinem Wagen zurückgetrabt war. Bernhard war von der Ausdauer des Besuchers an seine eigenen Klingelorgien erinnert worden und hatte sich ge-fragt, wer der Mann war und was er wollte. Wahrschein-lich hatte es sich nur um so etwas wie einen Paketdienst gehandelt, der den einsamen Weg nicht noch einmal fahren wollte. Ansonsten hatte niemand seinen Nachbarn besucht: keine Frauen, kein Herumgetolle, kein Licht, das Bernhard nachts in sein Schlafzimmer schien.

Was ihn neben seiner derzeit ungestörten Nachtruhe zusätzlich irritierte, war Herrn Kleinmanns Auto, das nach wie vor unter dem Carport stand. Wenn er sich zu einer überraschenden Reise entschlossen hatte, musste ihn je-mand abgeholt haben. Oder war er den ganzen Feldweg hinuntergelaufen? Vielleicht hatte er sich ein Taxi gerufen, überlegte Bernhard. Er versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, doch seine Gedanken wollten sich nicht von Herrn Kleinmann lösen.

Wo die stete Präsenz seines Nachbarn vor einer Woche noch für einen Eklat und beinahe Bernhards Ableben ge-sorgt hätte, hinterließ ihr Fehlen nun ein ebenso aufreiben-des Gefühl. Zunächst hatte er es für Neugier gehalten, dann ging er davon aus, dass er seine Schuld begleichen wollte, inzwischen war er sich jedoch ziemlich sicher, dass es sich um Einsamkeit handelte. Mit dem vorletzten Samstag wa-ren die letzten Personen aus seinem Leben verschwunden, die noch etwas auf ihn gegeben hatten – einmal abgesehen von der professionellen Fürsorge seiner Ärztin und des

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Krankenhauspersonals. Die Aufmerksamkeit, die er durch seinen Sohn und früher seine Frau Dagmar erfahren hatte, war eine Selbstverständlichkeit gewesen. Dagegen war er von Herrn Kleinmanns Hilfe völlig überrascht worden.

Er wohnte jetzt anscheinend allein hier draußen, gera-de so, wie er es sich gewünscht hatte.

Bernhard wischte diese Überlegungen beim Zuziehen der Gardinen beiseite. Jede Erklärung für seinen Unmut war so gut wie alle anderen. Entweder, sie stimmten alle, oder er war heute bloß besonders gut darin, seine innere Wahrheit vor sich zu verstecken. In jedem Fall bot die mys-teriöse Abwesenheit seines Nachbarn eine Ablenkung von den Geschehnissen der vergangenen Woche. Der Gedanke an seinen Sohn und die stete Gefahr eines erneuten Infark-tes würden sich nicht nur in seinem Kopf festsetzen, son-dern seine restlichen Gedanken mit der Zeit immer weiter bestimmen. Zumindest, wenn es ihm nicht gelänge, sich auf irgendetwas Nützliches zu konzentrieren. Es war aber nicht davon auszugehen, dass sein Garten oder seine Zeit-schriften ihm dafür genügend Ablenkung boten. In die-sem Augenblick beschloss Bernhard, Herrn Kleinmanns Verschwinden auf den Grund zu gehen.

Wie er es sich die unruhige Nacht hindurch immer wieder aufs Neue vorgenommen hatte, stand Bernhard am nächs-ten Morgen abermals vor der Tür des Nachbarhauses. Fest entschlossen, seinen Nachbarn endlich aufzuspüren, drückte er die Klingel besonders eindringlich. Durch den Briefschlitz hörte er sie laut durch das Haus schellen. Der Ton war klassisch schrill und glich einem alten Telefon. Es schien Bernhard unmöglich, dass jemand diesen inferna-len Klang lange zu ignorieren vermochte.

Er erwartete ohnehin nicht, dass jemand öffnete. Ge-nau genommen hoffte er sogar, dass sich niemand rühr-te. So blieb die Spannung konstant und mit ihr der Fokus

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seiner Gedanken erhalten. Außerdem hatte er das Haus am Morgen bereits ganze zwei Stunden lang von seinem Schlafzimmer aus beobachtet. Jede Sekunde hatte er damit gerechnet, einen Blick auf seinen Nachbarn zu erhaschen. Jede Sekunde, die er nicht aus dem Fenster blickte, befürch-tete er, ihn zu verpassen. Erst spät hatte er dem Drängen des Morgenkaffees nachgegeben und war mit schmerzen-der Blase in Richtung Klo getrapst. Beim Klingeln bewies Bernhard nun ein ähnliches Durchhaltevermögen.

Nach einer guten Viertelstunde wurde es ihm doch zu viel, und er stellte den Scotch vor der Haustür ab. Außer seinen knirschenden Schritten auf dem Kies und dem Vogelgezwitscher aus dem Wäldchen war es völlig still, während er betont lässig die Auffahrt ablief. Wen er, außer sich selbst, von der Normalität der Situation überzeugen wollte, war ihm nicht ganz klar. Wahrscheinlich führte er dieses Schauspiel allein für sich auf, denn die Geschich-te, die er für den Fall neugieriger Fragen ersonnen hatte, schien ihm wasserdicht. Er war nur hier, weil er sich Sor-gen machte.

Ansonsten vertraute er auf seine Fähigkeit, jeder Situation mit der lebenslangen Schulung durch Alltags-lügen begegnen zu können. Außerdem hatte ihn Herr Kleinmann eingeladen, oder nicht? Es gab Fragen, auf die er eine Antwort verlangen durfte. Fast wünschte er sich, ertappt zu werden, die Chance zu bekommen, jemandem sein gesamtes Legitimationsgerüst darlegen zu können, wo er schon so viel Zeit darauf verschwendet hatte. Doch er blieb allein.

In diese Gedanken vertieft war Bernhard stehen ge-blieben und starrte vor sich auf den Boden. Erst nach einer Weile nahm er bewusst wahr, was dort seine Aufmerk-samkeit erregt hatte. Die Auffahrten beider Grundstücke waren mit dem gleichen Kies aufgeschüttet worden. Auf dem Boden vor ihm erkannte Bernhard Spuren, die denen

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glichen, die er vor Kurzem mit einem Rechen in seiner ei-genen Auffahrt geglättet hatte. Es waren die Reifen seines Sohnes gewesen, die die kleinen Steinchen bei seinem überstürzten Aufbruch derart aufgewirbelt hatten, dass man den darunterliegenden, sandigen Boden sehen konn-te. Wer seinen Wagen mit normaler Geschwindigkeit in Bewegung setzte, verursachte keine derartigen Kerben. Seltsam nur, dass Herrn Kleinmanns Auto noch unter dem Carport stand und Bernhards Nachbar die Spuren somit wahrscheinlich nicht selbst verursacht hatte. Andererseits stammten sie vielleicht von dem Tag, als ihn sein Nachbar ins Krankenhaus gefahren hatte. Womöglich hatte er im Schrecken der Situation ungewöhnlich viel Gas gegeben.

Bernhard löste den Blick vom Boden und fuhr mit seiner Untersuchung des übrigen Areals fort. Als er weiter nichts Außergewöhnliches fand, nahm er die Flasche Scotch wie-der auf und lief durch das Seitentor in den Garten. Dabei achtete er darauf, genügend Lärm zu verursachen, um nicht einmal jemanden zu überraschen, der das Gehör eines Grei-ses hatte. Er dachte an den häufigen Frauenbesuch seines Nachbarn und formulierte seine Ausrede für den unange-meldeten Besuch in Gedanken schnell zu einer Entschul-digung um. Nur für den Fall, dass er Herrn Kleinmann in flagranti mit einer seiner Freundinnen erwischte.

Zu den vielen Gründen, die er sich als akzeptable Erklärung für die Suche nach dem Pferdeschwanz zu-sammengesucht hatte, gesellte sich, befeuert durch die seltsamen Spuren vor dem Haus, eine stetig wachsende Neugier. Er wusste fast nichts von seinem Nachbarn. Da Bernhard keine Abneigung mehr gegen ihn hegte, blieb es nun neben seiner diffusen Dankbarkeit allein an dieser Neugier, Herrn Kleinmanns Platz in Bernhards kleiner Welt zu definieren.

Stolz über seine gelungene Selbstanalyse beschleunigte er seine Schritte und war fast schon um das Haus herum,

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als ein Fehltritt auf eine herumliegende Harke beinahe eine Kettenreaktion klassischen Slapsticks auslöste. Da er sich gerade noch rechtzeitig zur Seite drehen konnte, prall-te der Stab nur an seiner Schulter ab, anstatt ihm wuchtig ins Gesicht zu schlagen. Bernhard stolperte, konnte sich aber mit Händen und Knien abstützen. Obwohl der Stoß auf seine Handgelenke stark schmerzte, schien er keinen ernsthaften Schaden genommen zu haben.

Sich umsehend richtete er sich mit einem der Situation entsprechendem Maß an Stöhnen auf und klopfte sich Gras und Erde von den Handflächen. Dann warf er die Flasche Scotch über die Hecke auf sein Grundstück, wo sie mit einem dumpfen Stoß auf dem Rasen aufschlug. Auch wenn ihm mit seinem Gastgeschenk ein Teil seiner Befug-nis für seine Erkundungstour fehlen würde, wollte er nach diesem kleinen Malheur seine Hände frei wissen.

Neben dem Aufsitzmäher war die herumliegende Har-ke das zweite Utensil, das scheinbar achtlos im Garten zu-rückgelassen worden war. Das war ungewöhnlich, denn so sorgsam, wie sein Nachbar den Rasen trimmte, be-handelte er sonst auch den Rest des Gartens. Alles wirkte üblicherweise wie eine fein säuberliche Komposition. Eine Bühne für all den frivolen Schabernack, den er so trieb.

Bernhard betrat interessiert den Ort, an dem sich sein Geist und sein Körper vorige Woche entschieden hatten, eine Auszeit voneinander zu nehmen. Im Gras war die Stelle des Sturzes nicht mehr zu erkennen. Viel Eindruck hatte sein Fall also nicht hinterlassen.

Dagegen hatte der nächtliche Regen deutliche Spuren auf dem Sitz des kleinen Mäh-Traktors hinterlassen. Das Leder sah echt aus und hatte durch die Feuchtigkeit be-reits Schaden genommen. Bernhard war sich jetzt sicher, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Seine Ausrede für die Schnüffelei näherte sich gegen seinen Wil-len der Wahrheit an. Er begann, sich Sorgen zu machen.

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Vorsichtig stieg er auf die Terrasse. Die Holzdielen, mit denen sie ausgelegt war, knarzten leise unter seinen Schuhen. Da die Sonne recht hoch stand, musste er seinen Blick durch die Glastür mit den Händen abschirmen. Vor-her klopfte er kurz an, damit er auch hier mit Sicherheit niemanden aufschreckte.

Als eine nervöse Anstandsminute später noch immer keine Reaktion folgte, schaute er vorsichtig hinein. Bei dem Raum auf der anderen Seite schien es sich um das Wohnzimmer zu handeln. Eine Couch, zwei Sessel, ein kleiner Tisch – alles im weichen Stil der 80er Jahre. Bern-hard drückte Gesicht und Hände fester an die Scheibe und wäre beinahe in die Wohnung gefallen, als die Tür nach innen nachgab und mit einem lauten Knarren auf-schwang. Erschrocken wartete er eine weitere Minute. Erst dann trat er vorsichtig ins Haus.

»Hallo?«, rief er laut. Er kramte sein Etui aus der Ge-säßtasche und setzte seine Brille auf. Gründlich begann er, sich im Haus umzusehen. Dabei spürte er die Schübe von Adrenalin, die durch seinen alten Körper pumpten. Der Schmerz in seinen Handgelenken war nebensächlich geworden. Allenfalls die Angst um sein Herz ließ ihn ab und an innehalten und mit geschlossenen Augen lauschen, ob er wirklich allein war.

In der geräumigen Küche stand eine geöffnete Milchfla-sche. Der Geruch, den sie verströmte, und die leicht gelb-liche Haut auf der Flüssigkeit verrieten das überschrittene Haltbarkeitsdatum. Es hätte sich um einen Joghurtpilz handeln können, wie ihn seine Frau früher angesetzt hatte, doch Dagmars Gläser hatten nie so bestialisch gestunken.

Herr Kleinmann schien regelmäßig zu kochen. Die Küche war abgesehen von der verdorbenen Milch or-dentlich aufgeräumt und gut bestückt. Eindeutige Ge-brauchsspuren verrieten die häufige Nutzung und exo-tische Gewürze eine Vorliebe für internationale Gerichte.

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Bernhard wanderte weiter, sorgsam darauf bedacht, nichts anzufassen.

Im Flur standen vertrocknete Blumen, die die Abwesen-heit des Hausherrn mit ihrem Leben bezahlt hatten. Sie er-innerten an kitschige Stillleben und versprühten einen stau-bigen Charme. An die Wand waren bunte Schlüsselhaken in Form von Clowns montiert, denen man die Nase behängen konnte. In den übrigen Räumen waren die dekorativen Ele-mente ähnlich wild zusammengewürfelt, wirkten jedoch nicht übersättigend und waren immer passabel eingesetzt. Der schreckhafte Feng-Shui-Drache aus dem Buch über Gartengestaltung, das Bernhard vor Jahren erworben hat-te, hätte sich allerdings spätestens im Schlafzimmer wim-mernd im Kleiderschrank versteckt und wäre erst wieder hinausgekrochen, hätte jemand das Potpourri an Fotos, kleinen Holzstatuen und Wachsblumen entfernt, mit denen das Zimmer völlig zugestellt war. Auf Bernhard wirkte es jedoch gemütlich. Die Pflanzen hier waren trockenheits-resistenter als ihre Pendants aus dem Eingangsbereich und belebten die sonst verlassene Szenerie des Hauses etwas.

Ein breites Fenster mit zurückgezogenen, dünnen Vor-hängen erlaubte den Blick auf die Felder vor dem Haus. Bernhard konnte über den Carport hinweg die entfernte Stadt sehen. Abends würde man hier den Sonnenunter-gang bewundern können. Bernhard überlegte, ob es sich dabei um einen ähnlich romantisch dekorativen Kniff handelte, wie er ihn dem Rest des Hauses unterstellt hatte. Eine Frauenfalle für einen gelangweilten Rentner, so wie er es immer betrachtet hatte. Aus seinem Schlafzimmer-fenster heraus, das nur einen sehnsüchtigen Blick auf das Nachbarhaus erlaubte.

Vielleicht steckte mehr dahinter. Das Schlafzimmer war deutlich einem ausgeprägten Geschmack angepasst worden. Es spiegelte eine Persönlichkeit wider, in der sich Bernhard wohlfühlte.

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Er schritt zurück zum oberen Flur und betrat das Arbeitszimmer, nachdem er die Tür mit seinem Ellbogen geöffnet hatte. Keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, war ein lächerlich naiver Vorsatz, doch das Intelligenteste, was ihm im Moment einfiel, um seine Schnüffelei zu professionalisieren.

In dem großen Raum fiel ihm neben einem breiten und aufgeräumten Schreibtisch das leuchtende Gelb eines Post-paketes ins Auge. Es lehnte am vorderen von zwei Akten-schränken auf der rechten Seite des Raumes. Zwar wagte er nicht, es aufzuheben, jedoch konnte er den gedruckten Adressaufkleber an seiner Seite gut erkennen. Das Paket war nach Mendoza in Argentinien adressiert. Bernhard versuchte, sich die exotische Adresse einzuprägen, wäh-rend er begann, den Schreibtisch zu untersuchen. Er war aufgeräumt, doch stand eine seiner Schubladen etwas heraus. Ihr Schloss war eindeutig aufgebrochen worden, denn an der Oberkante war das Holz gesplittert, als hätte dort jemand eine Brechstange angesetzt. Bernhards Herz schlug schneller. Waren das die Spuren eines Einbruches? Vorn in der Schublade ließen sich Überweisungsbeschei-nigungen und weitere Adressaufkleber erkennen. Letztere mit der gleichen Adresse beschriftet, die auch auf dem Paket prangte.

Er blieb bei seinem Vorsatz, nichts anzurühren, wenn-gleich seine Neugier ihn fast umbrachte. Er atmete einige Male tief durch und brachte seinen Herzschlag wieder unter Kontrolle.

Durch seinen Fund noch vorsichtiger geworden, schlich er hinüber zum Fenster und besah eine alte und körnige Farbfotografie, die eingerahmt auf der Fenster-bank stand. Er erkannte einen jungen Herrn Kleinmann, der Arm in Arm mit zwei gut gebräunten, älteren Män-nern zusammenstand und in die Kamera lächelte. Um die Gruppe herum wucherten Weinreben. Vielleicht Italien?

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Oder Frankreich? Bernhard schätzte das Alter seines Nach-barn im Moment der Aufnahme auf knapp zwanzig Jahre. Sein Haar war früher blond gewesen. Er hatte es schon damals lang getragen.

Bernhard hatte sich zu der Aufnahme hinuntergebeugt und richtete sich nun wieder auf, um seinen schmerzen-den Rücken durchzudrücken. In der Bewegung sah er aus den Augenwinkeln heraus für einen Moment die silberne Front eines Computers aufblitzen, der unter den Akten-schrank geschoben worden war. Es war eines dieser mo-bilen Geräte, wie es seine Schwiegertochter einmal mit-gebracht hatte, um ihm Urlaubsfotos zu zeigen. Gerade, als er sich zur Bestätigung seines Fundes erneut hinunter-beugen wollte, hörte er aus der unteren Etage ein ihm be-kanntes lautes Knarren.

Jemand hatte das Haus durch die Verandatür betreten.Sofort brach Bernhard der Schweiß aus. Schnell, aber

leise, trat er aus Herrn Kleinmanns Arbeitszimmer und schlich zur Treppe. Von unten glaubte er, gedämpfte Schritte zu vernehmen. Durch den Gedanken an einen möglichen Einbruch besonders achtsam geworden, blick-te er vorsichtig um die Ecke nach unten. Zunächst konnte er niemanden sehen, und er fragte sich, ob ein Tier oder der Wind ihm einen Streich gespielt hatte, als plötzlich ein unbekannter Mann in sein Blickfeld trat, der Herrn Kleinmanns Post in Händen hielt und sie zu untersuchen schien. Der Mann blieb am unteren Ende der Treppe stehen.

Bernhard hielt es zunächst für möglich, dass es sich um einen Freund seines Nachbarn handelte, der sich während seiner Abwesenheit um die Post kümmern sollte. Aller-dings trug der Mann Handschuhe und blickte die Briefe durch, als suchte er etwas Bestimmtes. Dann schüttelte der Fremde den Kopf, warf die Post achtlos beiseite und wandte sich in Bernhards Richtung.

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Er zog den Kopf gerade schnell genug zurück. In-zwischen war er sich sicher, dass es sich nicht um einen Bekannten seines Nachbarn handeln konnte. Bernhard rang seinen alten Beinen einen federnden Lauf ab, der ihn schnell und leise durch die noch offene Tür zurück ins Schlafzimmer brachte. Ebenso rasch zwängte er sich in eine Lücke zwischen Wand und Kleiderschrankseite, von der aus er zwar nur noch Bett und Fenster überbli-cken konnte, sich jedoch auch eigene Unsichtbarkeit ver-sprach. Er hielt den Atem an und wartete. Hoffend, dass ihn der andere Mann nicht gehört hatte.

Die Schritte verstummten vor der Schlafzimmertür, und Bernhard stellte sich vor, wie sich der Fremde durch die offene Tür hindurch im Zimmer umsah. Die Furcht vor seiner Entdeckung multiplizierte sich mit der Angst, sein Herz könnte unter der Belastung erneut versagen. Er kam sich unglaublich bescheuert vor.

Zu seiner Erleichterung hörte er kurz darauf, wie sich die Schritte entfernten und jemand das gegenüber-liegende Arbeitszimmer betrat. Durch die offenen Türen hindurch war zu vernehmen, wie der Fremde hektisch zu suchen begann. Papier raschelte, und immer wieder war ein dumpfes Pochen zu hören. Es klang, als risse der Einbrecher nach und nach die Ordner aus dem Schrank, um sie auf dem Schreibtisch aufzuschlagen oder auf den Boden zu werfen.

Mühsam gelang es Bernhard, seine Atmung wie-der in einen gleichmäßigen Rhythmus zu bringen. Auch wenn die Angst um sein Herz bestehen blieb, so machte er sich inzwischen schon fast mehr Sorgen um seine schmerzenden Knie. Viel länger würde er hier oben nicht eingezwängt stehen können. Zwar hatte ihn die viele Gartenarbeit fit und halbwegs gelenkig ge-halten, aber ganz so jung waren seine Knochen doch nicht mehr. Für einen Moment wünschte er sich die

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drückende Einsamkeit zurück, die ihn gerade noch aus seinem Haus getrieben hatte.

So leise, wie er es vermochte, kniete sich Bernhard auf den Boden und nahm sich damit zumindest die Last der Schmerzen ab. Der Mann im Arbeitszimmer schien um Stille nicht bemüht. Seinem Getöse nach fühlte er sich weiterhin ungestört und schmiss unbedarft mit Papier und Ordnern um sich. Solange er sich derart laut ankün-digte, würde Bernhard im Notfall schnell genug aufste-hen und sich erneut hinter den Schrank pressen können.

Aus dem Nachbarzimmer glaubte er zu hören, wie der Einbrecher etwas zerriss und kurz darauf, wie er abfällig stöhnte und einige Flüche murmelte. Dann raschelte es im gewohnten Takt weiter.

Bernhard wartete eine ganze Viertelstunde, bis die Anspannung seine Beine auch in der Hocke langsam er-müden ließ und er zu zittern begann. Obwohl er seit ge-raumer Zeit keine Kirche mehr von innen gesehen hatte, stieß er ein Gebet in den Himmel. Ungeübt, wie er war, ging er davon aus, dass ein angestrengter Gesichtsaus-druck die Chancen auf eine erfolgreiche Zustellung der Botschaft erhöhte. Sonderlich viel Alternativen bot ihm seine Mimik im Augenblick ohnehin nicht.

Während er konzentriert gedankliche Bitten über all die stillen Kanäle sandte, die er sonst nur für heimliches Fluchen und stumme Beleidigungen genutzt hatte, drang leise ein neues Geräusch an sein Ohr. Vor dem Haus fuhr ein Auto vor.

Aus der Hocke war es Bernhard nicht möglich, aus dem Fenster zu schauen. Neugierig und in der klam-men, da unwahrscheinlichen Hoffnung, dass es sich um seinen Sohn handeln könnte, der möglicherweise von seinem Herzanfall erfahren hatte und nun nach ihm sehen wollte, richtete sich Bernhard auf. Der Lärm im Nebenzimmer hielt unvermindert an. Anscheinend

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hatte der Mann den Wagen überhört oder – schlimmer noch – erwartet.

Bernhard blinzelte durchs Fenster und konnte einen alten Mercedes ausmachen, der abseits vom Haus am Wegesrand geparkt stand. Ihm entstieg eine schick ge-kleidete, ältere Dame, die um den Wagen herumlief, sich einen gelben Hut vom Rücksitz fischte und sich auf den Weg zu Herrn Kleinmanns Haus machte. Bernhard stand steif mit dem Rücken zum Schrank, die rechte Schulter fest an die Wand gepresst. In Gedanken stellte er sich vor, wie das Holz des Schrankes als Resonanzkörper diente und sein Herzrasen wie eine Trommel durchs Haus bol-lern ließ.

Die Dame kam die Einfahrt hoch und verschwand aus seinem Blickfeld. Es musste sich um eine der Frauen-bekanntschaften seines Nachbarn handeln. Das wäre die mit Abstand angenehmste der zahllosen Möglichkeiten, denn dann würde er sich nicht auch noch vor ihr in acht nehmen müssen. Ganz im Gegenteil – die Frau begab sich stattdessen wahrscheinlich selbst in Gefahr.

Bernhard fühlte kalten Schweiß seinen Rücken hinun-terrinnen. Er hatte eine Steigerung der Absurdität seiner momentanen Situation kaum noch für möglich gehalten. Einen Fernsehfilm hätte er spätestens an dieser Stelle abgeschaltet, mit dem Kopf geschüttelt und sich auf den Weg ins Bett gemacht – hätte er denn einen Fernseher be-sessen, geschweige denn ein Interesse an Krimis gehegt.

Schrill schellte die Türklingel durchs Haus. Im Arbeits-zimmer fiel einer der Aktenordner auf den Boden, und Bernhard stemmte sich noch fester gegen den Schrank. Er hörte den Mann aus dem Arbeitszimmer herüberlaufen. Der Fremde betrat das Schlafzimmer und kurz darauf sah Bernhard ihn vor dem Fenster stehend Ausschau halten. Der Mann streckte sich mühsam am Glas empor, konnte die Haustür aber anscheinend nicht einsehen.

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Bernhard schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er war kom-pakt gebaut und hatte ein kantiges Gesicht, dessen Züge ein wenig schief hingen – so, als hätte man ihm von allen Seiten Bretter vor den Kopf geschlagen, um Kinn und Stirnpartie zu formen. Sein Haar war kurz und wirkte feucht. Ob durch Gel oder Schweiß vermochte Bernhard nicht zu sagen.

Unvermindert hielt er seit dem Eintreten des Mannes die Luft an und hoffte, der Fremde würde auf keinen Fall zur Seite blicken, sondern die Flucht ergreifen und durch die Hintertür verschwinden.

Aber der Mann blickte zur Seite. Jedoch nicht in Bernhards Richtung, sondern in die des Bettes. Er kniete nieder, warf einen Blick unter das Holzgestell, zog die Decke auf der zur Tür gerichteten Seite als Sichtschutz hinab und rollte sich darunter. Sein Kopf wies in Bern-hards Richtung, aber der Fremde schien sich allein auf die Zimmertür zu konzentrieren, und solange ihm keine Augen aus dem Hinterkopf wuchsen, bliebe Bernhard für ihn unsichtbar.

Die Türklingel schellte erneut, nun bereits zweimal kurz hintereinander. Die Frau wurde anscheinend un-geduldig. Bernhard biss die Zähne fest zusammen. Zu fest, wie er mit Erschrecken feststellte. Sie rutschten an-einander ab und knirschten.

Der Fremde unter dem Bett blickte abrupt zu ihm auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie sich gegen-seitig an. Sie verharrten in ihren Bewegungen wie das Ensemble eines Theaterstückes, dessen Schlusspointe gerade gezündet hatte und in dem jeden Augenblick der Vorhang fallen würde. Das Zwitschern der Vögel mutierte zum Gelächter des Publikums, und für einen Augenblick hoffte Bernhard, dass sich wirklich ein Vor-hang über das absurde Geschehen legen würde. Doch keine überirdische Macht griff ein. Dafür legte sich ein

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vertrautes Rauschen über sein Gehör und er griff sich unwillkürlich an die Brust.

Der Fremde unter dem Bett starrte ihm verstört und überrascht ins Gesicht. Sie hatten sich gegenseitig ertappt und fragten sich wahrscheinlich mit ähnlicher Intensität: Wobei?

Ein leichter Schmerz breitete sich in Bernhards Schulter aus. Als hätte er auf dieses Stechen gewartet, entschloss er sich in einem wilden Moment, seinem Instinkt die Kon-trolle über sein Handeln anzuvertrauen. Er stieß sich ab-rupt von der Wand ab und stiefelte, ohne sich noch ein-mal umzusehen, aus dem Zimmer, den unter dem Bett liegenden Mann einfach ignorierend. Hektisch lief er die Treppe hinab und bog in den Hausflur ein. Das Rauschen in seinen Ohren ebbte ab, war aber nach wie vor viel zu stark, als dass er aus dem oberen Geschoss etwas hätte ver-nehmen können.

Bernhard wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und zwang sich, ruhiger zu atmen. Tatsäch-lich ließ das Stechen in seinem Brustkorb nach, doch jeden Augenblick erwartete er, von hinten gepackt und gegen die Wand geschleudert zu werden. Sein Blut würde in martialischen Mustern über die Tapete spritzen und kleine Stückchen seines Hirns wie eine makabre Weihnachts-dekoration des Sensenmanns an den dünnen Stängeln der vertrockneten Blumen hängen bleiben.

Hastig versuchte Bernhard, die Haustür zu öffnen, aber er stellte fest, dass sich der Knauf nicht drehen ließ. In aller Eile suchte er die Clown-Haken an der Wand nach dem passenden Hausschlüssel ab. Bereits der zweite, den er herunterfischte, passte, und er riss die Tür auf.

Herrn Kleinmanns Besuch war gerade im Begriff ge-wesen, abzudrehen, und blickte sich überrascht um. Die Dame war nicht so alt, wie ihre Hut- und Kleiderwahl Bernhard hatte vermuten lassen. Vielleicht straffte aber

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auch nur die Verwunderung ihre Züge. Es war offensicht-lich nicht sein Gesicht, das sie erwartet hatte. Er fühlte sich an den Blick erinnert, der ihm vor einer knappen Minute vonseiten des Einbrechers entgegengeworfen worden war. Verwunderung war sehr wahrscheinlich der Hemmstoff, der den Mann davon abgehalten hatte, in einer mit Sicher-heit sehr hässlichen Weise auf Bernhard zu reagieren. Den Gedanken an den Fremden schnell wieder unterdrückend, riss er sich aus seiner Sprachlosigkeit und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, der Dame seinen Auftritt plausi-bel zu erklären.

»Guten Tag, ich bin Bernhard, Herrn Klein… Dago-berts Nachbar«, begann er.

Die Dame musterte ihn kurz und lächelte vorsichtig. »Ich bin Marleen. Ist Dag nicht zu Hause? Wir waren heute verabredet«, fragte sie erstaunt.

»Nein, er ist vor einigen Tagen verreist. Ganz spontan, keine Ahnung, wohin. Er hat mir bloß einen Zettel dage-lassen, damit ich mich um die Blumen kümmere. Wir hel-fen uns immer gegenseitig«, log Bernhard.

»Ah, um diese Blumen dort?«, fragte Marleen skep-tisch und zeigte an Bernhard vorbei auf die Pflanzen im Flur, die Bernhard durch ihre vertrockneten Blüten vor-wurfsvoll anstarrten.

Er trat einen Schritt vor und schloss schnell die Tür hinter sich ab. Weniger, um Marleen die Sicht auf den Blumenfriedhof zu nehmen, vielmehr, um die Schock-starre des Fremden nicht noch weiter zu strapazieren und schnell zu verschwinden. »Ja, ja, ich habe den Zettel zu spät gefunden und wollte gerade den Schaden abschätzen, um ihm bei seiner Rückkehr mit frischen Blumen eine Freu-de zu machen. War gerade auf dem Weg nach draußen. Hätte Ihr Klingeln beinahe nicht mehr gehört. Ich gehe nämlich immer durch die Verandatür. Lassen wir immer füreinander auf«, erzählte Bernhard drauflos, wobei sich

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seine Worte fast überschlugen. Er schob Marleen behut-sam, aber bestimmt, die Einfahrt hinunter und in Richtung seines Hauses. Sein Instinkt trieb ihn an den Ort, der ihm die letzten Jahre bewährte Zuflucht geboten hatte. Festung der Einsamkeit, hatte sein Sohn das Haus einmal genannt und dabei ausgelassen vor sich hingekichert. Bernhard fand es damals wie heute nicht witzig, war sich aber nicht sicher, den Scherz erfasst zu haben.

»Es tut mir leid, ich bin völlig verschwitzt von der Gar-tenarbeit. Warum kommen Sie nicht kurz mit zu mir rü-ber? Ich koche Ihnen einen Kaffee, damit Sie nicht umsonst hier rausgefahren sind«, lud er Marleen ein.

Glücklicherweise überlegte die Dame nicht lange. »Gern, warum nicht? Ich müsste ohnehin einmal Ihre Toi-lette benutzen. Ich habe eine lange Heimreise vor mi…«

»Aber sicher«, unterbrach Bernhard und schob sie wei-ter. Er war sich sicher, dass sich die Blicke des Fremden durch Herrn Kleinmanns Schlafzimmerfenster hindurch in seinen Nacken bohrten. Trotzdem war Bernhard be-müht, sich nicht umzudrehen. Marleens Blick hätte seinem folgen können.

Im Haus angekommen führte er sie die Treppe zum Bad hinauf und rannte schnell wieder hinunter, um die Hintertür abzuschließen. Bernhard schloss alle Fenster und zog die Vorhänge zu, deren hässlicher, schwerer Stoff ihm im Moment nicht hässlich, schwer und dick genug sein konnte.

Hatte Herrn Kleinmanns unverhoffter Besuch sein Geschäft hier erst verrichtet, vielleicht noch einen Kaffee getrunken und ein wenig geschwätzt, wäre er auch schon wieder verschwunden. Das ließe Bernhard allein zurück, oder eben nicht, denn falls der Einbrecher ihn beobachtet hatte, wüsste er, wo er wohnte. Nebenan, wo sonst. Es war zwar nicht sein Haus, in das eingebrochen worden war, aber die Erfahrung hatte ihn stark verängstigt. Sollte er die

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Polizei rufen? Wie sollte er erklären, dass er Marleen nicht eingeweiht, sondern dreist angelogen hatte? War die ganze Geschichte noch glaubhaft zu vermitteln? Wenn sie schon den Menschen überforderte, der sie selbst erlebt hatte, wie würde sie auf einen fantasielosen Polizeibeamten wirken? Wahrscheinlich würde man ihm sehr eindringliche Fragen stellen. Hatte er sich nicht vor Kurzem mit seinem Nach-barn gestritten? Hatten sie Herrn Kleinmanns Personalien nicht im Krankenhaus aufgenommen?

Über sich hörte Bernhard die Klospülung rauschen. Vielleicht war er im Moment nur verwirrt und benötigte Abstand. Nicht nur von seinem Haus, sondern von dieser ganzen, noch ungelösten Situation. Ja, hier erst einmal wegzukommen, war keine schlechte Idee. Auf ein Aben-teuer war er dabei eigentlich nicht aus, aber nach derartig verstörenden Erlebnissen die Nacht allein in seinem Bett zu verbringen, brächte er nicht ohne Nervenzusammen-bruch hinter sich. Mit Sicherheit würde ihn jedes Geräusch aus seinem Schlaf hochfahren lassen und die Glühbirne seines Geistes noch ein Stückchen weiter aus der Fassung drehen.

Hinter Bernhard knarzte eine Diele und er fuhr herum. Marleen war in die Küche getreten. Sie war auf der Treppe nicht zu hören gewesen. Sofern sie die zugezogenen Vor-hänge und seine Nervosität bemerkt hatte, schien sie ent-schieden zu haben, sein seltsames Verhalten zu ignorieren.

Bernhard setzte einen Kaffee auf und bot der Frau ein paar alte Kekse an. Dann entschuldigte er sich unter dem Vorwand, in frische Klamotten schlüpfen zu wollen, und packte im Schlafzimmer einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten zusammen. Er stellte ihn am oberen Ende der Treppe ab, machte sich im Bad frisch und gesellte sich wieder zu seinem Gast.

Marleen saß am Küchentisch. Sie hatte sich inzwischen am Kaffee bedient und blätterte gelangweilt in Bernhards

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Gartenzeitschriften. Wie die Digitaluhr am Herd verriet, war es mittlerweile Mittag. Bernhards Zeitgefühl war völ-lig durcheinander.

Als er sich zu ihr an den Tisch setzte, hob sie den Kopf und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Sie schlürf-ten gemeinsam ihren Kaffee und unterhielten sich nach Austausch des üblichen Geplänkels über ihre jeweiligen Lebenswege. Ein klassisches Thema, dem Bernhard trotz abwesender Gedanken und einem juckenden, dünnen Schweißfilm auf der Stirn gut folgen konnte. Geschichten, die durch die lebenslangen Wiederholungen nur so aus der Portokasse seines Gedächtnisses flossen. Leider ver-band ihn abgesehen vom fortgeschrittenen Alter kaum etwas mit seinem Gegenüber. Im Gegensatz zu ihm war sie ein Kind der Stadt gewesen und hatte lange Zeit als leitende Angestellte bei einer Versicherung gearbeitet.

So flossen ihre Geschichten reibungslos aneinander vorbei, ohne dass einer von ihnen an Kanten der Erzäh-lung hätte Halt fassen und ein echtes Gespräch beginnen können. Dann, nach einer kurzen Schweigeminute, in der Bernhard befürchtete, Marleen würde aufbrechen, griff sie beherzt in ihre kleine Handtasche. Bernhard nutzte die Ablenkung, um zwischen den Vorhängen einen kurzen Blick nach draußen zu erhaschen, konnte jedoch nieman-den sehen.

Marleen legte ein zusammengebundenes Büchlein auf den Tisch, vermutlich Notizen oder ein Kalender. »Hier, das hat Dag bei mir liegen lassen. Ich wollte es ihm mit-bringen. Es war ihm sehr wichtig, dass ich es nicht ver-gesse. Würden Sie es ihm geben? Dann bin ich nicht ganz umsonst hergefahren«, bat sie.

»Sicher, sobald er wieder da ist. Er hat Sie besucht?«, wollte Bernhard wissen. Sein Nachbar fuhr nicht häufig weg, und Bernhard bedauerte, dass er viel zu wenig über ihn wusste, als dass er ihr zumindest eine adäquate Lüge

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über seinen Verbleib hätte anbieten können. Er nahm das Büchlein an sich.

»Wir haben uns über das Internet kennengelernt und uns vorigen Monat getroffen. Wenn ich auf diese Weise jemanden kennenlerne, ist mir für das erste Treffen ein belebter Ort lieber, Sie verstehen?«

Sie wirkte verlegen, was kein Wunder war, wie Bernhard fand. Jetzt hatte dieser enthemmte Computerschwachsinn auch seine Generation erreicht, stöhnte er innerlich, doch zwischen seine trotzigen Gedanken schlich sich die Erinne-rung an den Laptop in Herrn Kleinmanns Arbeitszimmer. »Ja, natürlich. Aber Dagobert ist ein feiner Kerl.« Denn hät-te er seinen Damenbesuch regelmäßig abgemurkst, würde selbst sein ausladendes Grundstück nicht mehr zur Entsor-gung all der Leichen reichen, dachte er boshaft.

»Ja, das fand ich auch. Komisch, dass er mich verges-sen hat. Vielleicht klärt sich ja alles auf. Ich danke Ihnen jedenfalls für den Kaffee und das nette Gespräch.« Mar-leen machte Anstalten, aufzubrechen, und Bernhard erhob sich ebenfalls.

Er rang sich dazu durch, sie zu fragen, ob sie ihn in die Stadt mitnähme. Er wollte vermeiden, sich selbst hinters Steuer klemmen zu müssen. Aufgrund seiner Aufregung zitterten seine Hände ein wenig und er zweifelte an seiner Fahrtüchtigkeit.

»Aber sicher! Sie können mir unterwegs den Weg zur Autobahnauffahrt erklären. Aber wie wollen Sie später zurückkommen?«

»Mein Sohn wird mich fahren, mein Wagen macht Zi-cken«, log er zwei Lügen auf einmal, aber nur eine von ihnen war schmerzhaft. Er wandte sich von seinem Besuch ab und holte seine Sachen. Dagoberts Büchlein ließ er in die Fronttasche des Koffers gleiten.

Als sie kurz darauf im Auto saßen und den langen Feld-weg hinunterfuhren, brach Bernhards Adrenalinspiegel

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endgültig ein. Der Weg zu Marleens Wagen hatte ihn noch einmal mächtig aufgeregt, wenngleich sie weder angegrif-fen worden waren noch jemand gesehen hatten. Nun, in das weiche Polster des Mercedes sackend und in einiger Entfernung von den Häusern, ließ ihn sein Kreislauf lang-sam im Stich. Genau das hatte er befürchtet und war froh, nicht selbst gefahren zu sein. Er zwang sich dennoch, wach zu bleiben, und konzentrierte sich darauf, die von Marleen gewünschte Wegbeschreibung zu liefern.

Während er ihr den einfachsten Weg zur Autobahn-auffahrt einzubläuen versuchte, fuhren sie an einem ein-samen Angler vorbei, der in einem nahen Weiher fischte und zwischen den hohen Sträuchern kaum auszumachen war. Er trug einen militärisch wirkenden Tarnanzug, der ihn aussehen ließ, als ob er nach Vietcong und nicht Fo-rellen fischen wollte. Ob der Mann beobachtet hatte, wer heute den Weg entlanggekommen war? Dafür schien er allerdings zu konzentriert die Angelrute entlangzustarren, denn selbst, als ihr Wagen ihn rumpelnd passierte, blickte er sich nicht um.

»Haben Sie mal versucht, in der Stadt zu wohnen?«, wollte Marleen plötzlich wissen.

»Nein – ja, ein paar Jahre. Hat mir keinen Spaß ge-macht«, antwortete Bernhard schläfrig. Sie ließen den Angler hinter sich.

»Haben Sie wenigstens versucht, Spaß zu haben?«»Ja – nein«, antwortete er wahrheitsgemäß. Er war zu

müde zum Lügen und erinnerte sich schläfrig an die Zeit, die er in der kleinen Stadtwohnung verbracht hatte – an die ständigen Diskussionen, die Dagmar furchtbar auf die Nerven gefallen waren, bis sie zugestimmt hatte, das Haus weit außerhalb der Stadt zu kaufen.

Die Fahrt wurde ruhiger, und er döste ein paar Mal fast ein. Marleen schwieg ebenfalls. Kurz bevor er vollends ein-geschlafen war, kamen sie in der Stadt an, und Bernhard

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bedankte sich durch die Autotür noch einmal herzlich für die spontane Mitfahrgelegenheit.

Marleen hatte ihn mit seinem Koffer am Rand der In-nenstadt abgesetzt und fuhr davon. Zum Abschied drück-te sie kurz auf die Hupe. Bernhard lächelte, winkte ihr nach und beobachtete, wie sie an der nächsten Kreuzung in die völlig falsche Richtung abbog.

Kopfschüttelnd suchte er einen Bankautomaten, hob einen ordentlichen Batzen Geld ab und ließ sich von einem um die Ecke wartenden Taxi zu einem preiswerten Hotel bringen.

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Kapitel 3

ie Brötchen des Frühstücksbüfetts hatten die Konsistenz von Topfschwämmen, die Marme-lade war viel zu süß, und der Kaffee schmeck-

te nach dem Spülwasser der letzten Maschinenreinigung. Bernhard störte sich nicht daran. Schon in der Nacht hatte er trotz eines lauten Zimmernachbarn fest schlafen kön-nen. Dabei hatte der junge Kerl am Empfang ihm beim Ein-checken in dem Glauben, einem älteren Herrn gegenüber besonders höflich sein zu müssen, zunächst ein Zimmer in einem der weniger belebten Trakte zuweisen wollen. Das hatte Bernhard jedoch vehement abgelehnt und war nun, am folgenden Morgen, noch immer froh darüber. Der Lärm hatte ihn nicht im Geringsten gestört. Im Gegenteil, er war in die weichen, frischen Laken gesunken und hatte der allgemeinen Kakofonie um ihn herum zufrieden den berstenden Klang seines Schnarchens beigemischt. Die belebte Atmosphäre versprach ihm Sicherheit. Trotzdem war er abends noch einmal aufgestanden, um die Tür mit einem Keil zusätzlich festzurammen.

Jetzt schlang er, ausgeruht, aber hungrig, die Reste sei-nes billigen Hotelfrühstücks hinunter und machte sich auf, um die Stadt zu erkunden. Ein genaues Ziel hatte er nicht. Er hoffte, dass ihm unterwegs eines über den Weg lief.

Das Wetter war diesig, doch konnte man das matte Leuchten der Sonne durch den Wolkenvorhang gerade noch ausmachen. Dazu war es draußen erstaunlich warm. Bernhard wanderte stadteinwärts und genoss die vielen Menschen um sich herum. Das war ungewöhnlich für ihn. Etwas verunsichert entschloss er sich, doch lieber abseits der Menge zu bleiben und sich vorerst darauf zu

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beschränken, sie aus der Entfernung wohlwollend zu beobachten.

Einige Male spielte ihm seine Fantasie einen Streich, und er glaubte, zwischen den Stadtbesuchern das kantige Gesicht des Einbrechers zu erkennen. Dann hielt er pa-nisch inne und wartete, bis ihm ein zweiter Blick die be-ruhigende Gewissheit verschaffte, dass er sich getäuscht hatte. Er erinnerte sich, was ihm Marleen am Vortag über die beruhigende Wirkung der Öffentlichkeit bei Verabre-dungen erzählt hatte.

Als ihm nach kurzer Zeit die Beine müde wurden, setzte er sich im Stadtpark auf eine Bank und massierte seine Oberschenkel. Die Anstrengungen des Vortages forderten ihren Tribut. Seine Kniegelenke waren gestern stark in Mitleidenschaft gezogen worden, und Bernhard hoffte, dass es sich bloß um einen Muskelkater handelte und nicht die schmerzhafte Ankündigung eines weiteren Klinikaufenthaltes.

Während er so dasaß und über die Geschehnisse des vergangenen Tages nachdachte, passierte eine Kindergar-tengruppe seine Bank. Die Betreuerinnen gingen mit der beiläufigen Aufmerksamkeit von Schäfern in dem lärmen-den Gemenge mit, nahmen sich aber die Zeit, Bernhard freundlich grüßend zuzunicken. Bernhard lächelte zurück und fühlte sich sofort derart im Klischee des gemütlichen Großvaters gefangen, dass er sich hochreißen und weg-laufen wollte, doch er blieb sitzen, und der wuselnde Pulk lief vorüber.

Der Impuls, aufzustehen, war hinter einem Vorhang aus Unschlüssigkeit verschwunden. Zum Hotel zurück-zulaufen, wäre kein Ziel, sondern ein Neustart gewesen. Für die lange Fahrt zu seinem Sohn und eine erneute Kon-frontation mit ihm fühlte er sich nicht stark genug. Die Idee, zur Polizei zu gehen, ängstigte ihn inzwischen mehr als noch am Vortag. Wenn er ehrlich war, musste er sich

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eingestehen, dass ihn im Moment alle Baustellen in seinem Leben einschüchterten.

Ihm fehlte jeder Anschluss an sein Leben, jetzt, wo nicht einmal sein Heim ihm mehr Trost spenden konnte. Zu seiner Verwunderung hatte sich bislang jedoch noch keine Hoffnungslosigkeit in ihm breitgemacht. Selbst, wenn er sich in seinem Haus wieder einnisten könnte, wollte er dorthin zurück? Wie lang war es her, dass er das letzte Mal daheim so gut hatte durchschlafen können wie in dem schmalen und knarzenden Hotelbett?

Das Hotel. Er stand auf und entschied nach einigem Überlegen, dorthin zurückzukehren. Dabei wählte er eine besonders umständliche Route, die ihm jedoch nicht half, zu vergessen, dass er sich auf dem Rückzug befand, und er fühlte sich mit jedem seiner Schritte ein Stückchen armseliger.

Wieder in seinem Hotelzimmer angekommen, warf er seinen Koffer auf das Bett und legte sich entmutigt da-neben. Gelangweilt wühlte er durch seine mitgebrachten Habseligkeiten und hielt immer wieder inne, um abwech-selnd den Blick ziellos umherirren zu lassen oder stur zur Decke hinaufzustarren. Schließlich öffnete er die Vorderta-sche seines Koffers und zog das Büchlein heraus, das ihm Marleen zur Weitergabe an Herrn Kleinmann überreicht hatte. Wenn es ein Notizbuch war, enthielt es vielleicht Adressen und damit Optionen für die Suche nach Herrn Kleinmann. Sein Nachbar würde die Situation bestimmt aufklären können. Das Problem mit dem Einbrecher war schließlich seines, warum sollte sich Bernhard damit he-rumschlagen müssen?

Das Buch hatte einen Einband aus Kunstleder und war durch einen dünnen Faden mit einem komplizierten Kno-ten zusammengebunden. Bernhard war sich sicher, ihn lösen zu können, doch bei genauerer Untersuchung wurde ihm klar, dass er wohl nicht in der Lage wäre, ihn später

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wieder zu rekonstruieren. Sein Nachbar würde wissen, dass er das Buch geöffnet hatte.

Noch während er darüber nachdachte, zog er an der ersten Schlaufe und lockerte den Knoten. Damit war es für Skrupel ohnehin zu spät, und Bernhard zuppelte neugie-rig auch am anderen Ende des Fadens.

Draußen hatte sich inzwischen der Himmel zugezo-gen, und mit vereinzelt pochenden Tropfen an der Fens-terscheibe kündigte sich ein Regenschauer an. Bernhard legte sich auf die Seite, knipste die Nachttischlampe an und schlug das Buch auf.

Es war tatsächlich voller Adressen. In keiner erkenn-baren Weise geordnet, aber in sauberer Schrift, waren die Daten verschiedener Personen eingetragen: ihre Tele-fonnummern sowie analogen und digitalen Anschriften. Bernhard hatte noch nie elektronische Post verschickt, kannte das Symbol jedoch aus den Kontaktanzeigeseiten seiner Zeitschriften, die ihm hin und wieder eine amüsan-te Abendlektüre boten. Für ihn waren es die einzigen Witz-seiten dieser Blättchen, die er verstand.

Er bemerkte ohne große Überraschung, dass es sich bei allen aufgelisteten Personen um Frauen handelte. Vielleicht war es Herrn Kleinmanns Trophäenbuch? Doch was für einen Sinn hatten Trophäen, die man nicht offen zur Schau stellte? Wahrscheinlich war das Adressbüchlein eher eine Antwort auf organisatorische Probleme als ein Äquivalent über die Tür genagelter Schlüpfer. Grinsend stöberte er weiter, bis ihm eine Seite ins Auge stach. Auf ihr war ein schwarzer Filzstift Amok gelaufen und so häufig über das Papier gezogen worden, dass sich die Seite in sei-ner Hand etwas schwerer als die anderen anfühlte. In dem Versuch, der Seite ihr Geheimnis zu entlocken, stierte er so lange auf das Papier, bis er sich in der Schwärze fast völlig verloren hatte. Als er merkte, dass dies seine Stimmung nicht unbedingt aufhellte, blätterte er schließlich weiter.

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Instinktiv suchte Bernhard nach den Adressen, die für ihn am besten zu erreichen waren. Tatsächlich war auf einer der ersten Seiten die Anschrift einer gewissen Birte Dörensen vermerkt, die in dieser Stadt wohnte.

Kurz entschlossen warf er sich sein altes Jackett über, klemmte einen Schirm unter den Arm und lief mit dem Adressbuch in der Hand zur Rezeption, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Der junge Hotelbedienstete erwies sich abermals als zuvorkommend und griff bereits beherzt zum Hörer, um ein Taxi zu rufen, doch Bernhard unter-brach ihn. Er wollte den Weg trotz seiner lahmen Beine zu Fuß laufen. Eine so üppige Rente bezog er nicht, und das Hotel war trotz der Beteuerungen des Taxifahrers nicht das billigste. Dass sich mit der Sparsamkeit wieder ein gewohntes Kriterium in seine Entscheidungsprozesse ein-schaltete, beruhigte ihn. Vielleicht bekam er die Situation langsam in den Griff, dachte er hoffnungsvoll.

Bernhard verabschiedete sich vom Rezeptionisten, trat nach draußen und stiefelte entschlossen los. Ein paar Wölkchen am Himmel waren alles, was vom vorangegan-genen Schauer noch übrig war. Trotzdem entschied er, den Schirm bei sich zu behalten. Man konnte nie wissen.

Nach einer halben Stunde strammen Marsches stand er vor einem Programmkino und versuchte, Schirm und Adressbuch zu balancieren, während er sich zweifelnd seine verbliebenen Haare kratzte. Dem Kino fehlte eine sichtbare Hausnummer, doch es war zwischen einer Tank-stelle und einem Supermarkt die einzige der Adresse entsprechende Option. Vielleicht könnte einer der Kino-angestellten ihm weiterhelfen? Bernhard schritt durch die altmodische Drehtür. Suchend und neugierig zugleich sah er sich im Foyer um. Das letzte Mal hatte er ein Kino betre-ten, um seine Frau abzuholen, die mit ihren Freundinnen einen französischen Filmabend besucht hatte. Das war fast zwölf Jahre her.

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Der Raum war in einem Stil gehalten, der ihn an seine Jugend erinnerte. Er stand auf einem abgewetzten roten Teppich und blickte auf vergilbte Poster uralter Filmklas-siker, die ihm hier und da bekannt vorkamen. Bloß, dass er sich nicht entsinnen konnte, einen dieser Filme je gesehen zu haben. Er reihte sich in die kurze Schlange vor der Kas-se ein und überlegte scherzhaft, ob er für den Besuch eine Karte kaufen musste.

»Guten Abend«, begann er, nachdem sich die Schlange vor ihm aufgelöst hatte. »Ich suche eine Frau Dörensen. Ich habe ihre Adresse hier, konnte das Haus aber nicht finden.«

Die Ticketverkäuferin, eine Frau mittleren Alters mit zerzausten schwarzen Haaren, blickte durch ihre dicken Brillengläser hindurch zu ihm auf und musterte ihn genau eine Sekunde zu lang, als dass sich Bernhard nicht ein we-nig unwohl gefühlt hätte.

»Frau Dörensen heißt Lola und wohnt hier im zweiten Stock«, erklärte die Dame und wandte ihren Blick ab.

Er trat verunsichert zur Seite, denn hinter ihm hatten sich weitere Menschen eingereiht und er fühlte sich mit seinem läppischen Anliegen nicht berechtigt, zahlender Kundschaft im Weg zu stehen. Allerdings konnte er mit der gewonnenen Information über Frau Dörensen – oder Lola – nichts anfangen und zögerte. Hieß sie nicht Birte? Die Ticketverkäuferin schien seine Hilflosigkeit zu be-merken und wies ihm mit einer knappen Fingergeste eine Richtung, bevor sie sich endgültig dem nachfolgenden Pärchen zuwandte.

Bernhard lief ihrer Weisung entsprechend den Gang hinunter, der ihn zu den Kinosälen führte. Plötzlich stellte sich ihm ein Kartenkontrolleur in den Weg und blickte ihn erwartungsvoll an. Bernhard hatte den kleinen Mann dem Kinopersonal zunächst nicht zugeordnet. »Verzeihung«, entschuldigte er sich schnell, »aber ich will nicht ins Kino, ich will zu Frau Dörensen.«

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Der in seiner Routine gestörte Mann legte den Kopf fragend zur Seite.

»Zu Lola«, ergänzte Bernhard und dankte seinem Kurzzeitgedächtnis, denn sofort lächelte der Kontrolleur verstehend.

»Aber natürlich! Die Treppe am Ende des Ganges hoch. Aber Vorsicht! Es geht steil hinauf, und ab der ersten Etage fehlt das Geländer.«

Bernhard bedankte sich für die Information und War-nung. Er stieg die Treppe empor, bis ihn auf der ersten Etage ein Warnschild, das den Bereich als Privat kenn-zeichnete, innehalten ließ. Als Lolas Gast war ein solches Schild für ihn wahrscheinlich mehr Einladung als Hinder-nis, dennoch wollte die Angst, etwas Verbotenes zu tun, erst niedergekämpft werden. Umso entschlossener machte er sich schließlich an den weiteren Aufstieg.

Bei der nächsten Etage handelte es sich zu seiner Über-raschung bereits um das Dachgeschoss. Das Gebäude sah von außen viel höher aus, aber wahrscheinlich waren die Decken überall im Haus der Höhe der Kinosäle angepasst. Das erklärte auch die steilen Treppen, auf denen er gerade balancierte.

Das Treppenstück, auf dem er sich befand, endete abrupt an einer knallrot gestrichenen Holztür, die neben ästhetischen Regeln sicherlich auch einige der städtischen Brandschutzverordnungen verletzte. Weder ein Türschild noch eine Klingel waren auszumachen, also klopfte Bern-hard zaghaft an. Er fühlte sich auf den knirschenden Holz-stufen und ohne jedes Geländer absolut unsicher. Seine Beine waren im Laufe des Tages nicht kräftiger geworden. Deswegen war er froh, dass auf sein Klopfen fast augen-blicklich gedämpfte Schritte folgten und sich die Tür kurz darauf öffnete.

Die Wolkendecke schien sich aufgelöst zu haben, denn die kunterbunt gekleidete Frau im Türrahmen strahlte

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ihm vom warmen Licht der Abendsonne hell umrandet entgegen. Im Kontrast zum gedämpften Licht im Treppen-haus war Bernhard diese Erscheinung allerdings viel zu grell, sodass er jäh geblendet beinahe rücklings die Treppe hinuntergepurzelt wäre. Nur mühsam vermochte er sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Blinzelnd atmete er tief durch.

»Ja, bitte?«, fragte die Frau mit rauchiger Stimme. Sie war in einen farbenfrohen Kimono gekleidet, dessen gold-farbener Saum im Sonnenlicht fast genauso leuchtete wie ihr Haar. An ihren Schultern hingen kleine Glöckchen, die selbst bei leichten Bewegungen zaghaft klimperten. Bern-hard konnte nur vermuten, dass es sich bei der Dame um Frau Dörensen handelte. Für ihn sah es aus, als hätte sie in den Siebzigern ein Früchtemüsli zu viel gefuttert.

»Sie sind ganz schön bunt«, brachte er heraus. Sein auf-richtiger Schreck nahm der Bemerkung ihre Bissigkeit.

Die Frau lachte. »Ja, ich weiß. Suchen Sie mich, oder haben Sie das Gefühl, im falschen Film zu sein?«

»Es ist wie eine Dokumentation, in der Beispiele für Warnfarben in der Tierwelt gezeigt werden«, scherzte Bernhard, der durch den Erfolg seines ungeplanten Hu-mors sicherer geworden war.

Die Frau lachte erneut. Immer noch verwirrt fragte er sie nach ihrem Namen, ohne sich selbst vorgestellt zu haben.

»Nenn mich Lola. Komm herein, Schuhe bitte auszie-hen. Wen darf ich meinem Kater melden?«

Bernhard überlegte, ob sie mit dem Kater ihren Mann meinte. Er stolperte ungelenk aus seinen Schuhen und folgte Frau Dörensen durch den Flur in ein geräumiges Wohnzimmer. Stirnseitig befand sich ein großes, rundes Fenster, durch das die Sonne in die Wohnung strahlte. Das warme Licht hatte Frau Dörensens Haar rötlich funkeln lassen, nun erkannte Bernhard, dass es eigentlich hellgrau

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war. Er schätzte sie mit einem zweiten Blick etwas älter als sich, auch wenn ihre Figur und ihre anmutigen Bewe-gungen sie erstaunlich jung wirken ließen.

»Mein Name ist Greber«, antwortete er endlich auf ihre Frage, während er sich im Zimmer umsah. Es war groß, aber die Dachschrägen schränkten die Fläche etwas ein. Verschiedene Gerüche schwirrten durch die Luft, von denen Bernhard einige Frau Dörensen, andere den Pflanzen, Duftkissen und Räucherkerzen im Zimmer zu-ordnete. Vor dem runden Fenster stand ein kleiner Holz-tisch mit zwei Stühlen. Bernhard wurde der Linke an-geboten. Er setzte sich, während Frau Dörensen derweil das Fenster auf Kipp stellte und in der Schublade eines alten Sekretärs nach Feuerzeug und Tabakmischung kramte. Dann setzte sie sich zu ihm und begann, sich eine Pfeife zu stopfen.

Noch immer hatte sie Bernhard nicht gefragt, was er von ihr wollte. Das verunsicherte ihn. Üblicherwei-se war die Frage nach dem Zweck eines Besuches die erste, die seiner Meinung nach gestellt werden sollte. Schließlich wiesen erst ausgesprochene Erwartungen und Wünsche allen Beteiligten in einer solchen Situati-on ihre Funktion zu.

»Sie sind eine Freundin von Herrn Kleinmann?«, versuchte er, das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken.

»Mhm«, bestätigte Frau Dörensen, während sie sich ihre Pfeife anzündete.

Der Rauch hatte eine süßliche Note, die Bernhard an eine vergangene Zeit erinnerte, die er nur aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.

Sie stieß ein weißes Wölkchen in Richtung des Fens-ters und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Dann griff sie nach hinten und fischte eine Brille hervor. Sie musterte Bernhard noch einmal genauer. »Dich kenne

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ich aber nicht? Bist du ein Freund von Dag? Hat er dich wegen irgendwas hergeschickt?«, fragte sie an der Pfeife paffend.

»Ich bin sein Nachbar. Ich habe sein Notizbuch in der Einfahrt gefunden und wollte es ihm wiederbringen. Aber er scheint schon länger nicht da zu sein. Ich war heute eh in der Stadt und habe mir gedacht, ich laufe mal eine der Adressen ab und frage, wo er stecken könnte.«

»Ach so, ja, tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, wo er hin ist. Wir haben uns seit ewiger Zeit nicht mehr ge-troffen«, erwiderte eine traurig blickende Frau Dörensen mit leicht erweiterten Pupillen. »Ist es denn so wichtig?«

»Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Sonst gibt er mir Bescheid, wenn er verreist, damit ich mich um seine Pflanzen kümmere«, log Bernhard. »Jetzt ist er schon seit mindestens einer Woche weg. Er muss Hals über Kopf abgereist sein.«

»Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Ich finde es wirklich lieb von dir, dass du dich so um ihn sorgst«, lobte Frau Dörensen.

Während sie sprach, versuchte Bernhard, sich alle Berufe ins Gedächtnis zu rufen, die üblicherweise mit einem Künstlernamen einhergingen. Oder war sie nur exzentrisch? Dass sie ihn vom ersten Augenblick an ge-duzt hatte, störte ihn nicht. Es passte zu ihrem gewagten Äußeren, sich auch an andere Förmlichkeiten nicht zu halten.

»Na, da kann man wohl nichts machen. Würden Sie sich bei mir melden, wenn Sie von ihm hören?«, fragte Bernhard. Allerdings wusste er nicht, welche Telefon-nummer er ihr geben sollte. Die des Hotels? Die seines Hausanschlusses?

»Das kann ich gern machen. Möchtest du noch et-was trinken?«, bot sie an und schob ihm Stift und Zettel hinüber.

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Bernhard kritzelte seinen Namen und, um nicht mehr als notwendig erklären zu müssen, nur die Nummer seines Festnetzanschlusses auf das Blatt. Er lehnte das An-gebot eines Getränkes höflich ab und verabschiedete sich.

Frau Dörensen blieb ungerührt sitzen, als er sich lang-sam erhob. Er hatte gehofft, sie würde noch irgendetwas Hilfreiches sagen, doch sie schaute nur gedankenverloren aus dem Fenster und hatte seine Anwesenheit anscheinend schon ausgeblendet. Und so fühlte er sich, noch bevor er die Wohnung verlassen hatte, schon wieder einsam.

Vor dem Kino lehnte sich Bernhard an die Hauswand und blätterte erneut durch Herrn Kleinmanns Notizbuch. Er war auf der Suche nach weiteren Anlaufpunkten, fand aber keine. Alle übrigen Anschriften wiesen andere Städte aus, und da er im Moment keinen Zugriff auf sein Auto hatte, waren sie für ihn unerreichbar. Die Bahn wirkte ihm für solch ein unsicheres Unterfangen zu unflexibel. Er fuhr nicht oft mit dem Zug, und wenn, hatte er sich im Vor-feld immer genau über Umstiegszeiten, Alternativzüge und alle erdenklichen Details informiert. An eine solche Planung war zumindest für heute nicht mehr zu denken.

Er musste sich eingestehen, dass er bereits zu Beginn seiner Suche an einem toten Punkt angelangt war. Einer Suche nach dem Menschen, dem er vor einiger Zeit noch wütend ins Gesicht schlagen wollte. Sollte er in den nächs-ten Tagen das Risiko in Kauf nehmen und spontan einige der anderen Frauen besuchen? Da war es naheliegender, endlich zur Polizei zu gehen oder nach Hannover zu sei-nem Sohn zu fahren, um sich mit einem persönlicheren Problem auseinanderzusetzen.

Bernhard blickte am Kino hinauf. Inzwischen war die Sonne hinter den Häusern verschwunden, und statt Licht einzulassen, leuchtete das runde Fenster von Frau Dören-sens Wohnung nun selbst. Es klang logisch, die Nähe von Menschen zu suchen, wenn man einen anderen Menschen

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finden wollte, dachte er und trat ohne weiteres Nachden-ken abermals durch die Drehtür. Die Kinovorstellungen hatten bereits begonnen, und der Kartenkontrolleur stand nicht mehr an seinem Platz. So hielt ihn niemand auf, als er zum zweiten Mal die Treppen hinaufstieg. Er ging ab-sichtlich langsamer, um die folgende Situation in Gedan-ken schon einmal durchzuspielen. Außerdem war er noch immer schrecklich außer Atem, und der Muskelkater hatte inzwischen den Höhepunkt seiner Intensität erreicht. Von unten drangen leise Fanfaren aus einem der Kinosäle und begleiteten ihn mit einer heroischen Musik, die seinen zweiten Anlauf mit einer sarkastischen Note unterlegten.

Dann hatte er es endlich geschafft. Erschöpft vor der roten Tür stehend, holte Bernhard tief Luft und klopfte ein weiteres Mal an. Frau Dörensen brauchte ein wenig länger als vorhin, und er hoffte, sie nicht gestört zu haben.

Schließlich öffnete sie die Tür doch und sah ihn nicht sonderlich überrascht an. »Haste noch was vergessen?«, fragte sie und blickte sich um.

»Meinen Anstand vielleicht. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber ich war eben nicht aufrichtig zu Ihnen. So komme ich aber nicht weiter. Ich brauche Hilfe.« Es war eine Mischung aus Entschuldigung, Eingeständnis und Bedürftigkeit, die zwar seinen Gefühlen entsprach, ihm aber nicht leicht über die Lippen kam. Dabei war der Sach-verhalt eigentlich simpel. »Darf ich noch mal von vorn an-fangen?«, bat er.

Sofort schien Frau Dörensen wacher zu werden. Bern-hard hatte ihre geistige Abwesenheit bei seinem Abschied noch auf ihren speziellen Tabak geschoben, vielleicht war sie aber nur von seinem belanglosen Anliegen gelangweilt gewesen. Jetzt jedenfalls schaute er in klare und aufmerk-same Augen.

»Na gut, komm rein. Solange du mir nichts verkaufen willst. Aber Vorsicht! Ich hab mein Pfefferspray verlegt,

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aber meine Linke hat ’nen fiesen Charakter!« Durch den rauchigen Klang ihrer Stimme gewann diese vielleicht eher humorvoll gedachte Andeutung durchaus etwas Be-drohliches. Auch deswegen unterdrückte Bernhard eine flapsige Bemerkung.

Frau Dörensen trat zur Seite und machte den Weg frei. Bernhard zog sich abermals die Schuhe aus und setzte sich wieder an den Tisch im Wohnzimmer. Auf dieselbe Sei-te, denselben Stuhl, allerdings unsicherer als beim ersten Mal. Er fühlte sich in einer Wiederholung der Ereignisse gefangen. Die einzige Veränderung in der Situation war ein getigerter Kater, der langsam um ihn herumschlich und sich für ein paar Streicheleinheiten anbot.

»Schau an, Django hat sich schon an dich gewöhnt. Bist ja auch das zweite Mal hier. Sonst kommt er nicht so schnell raus«, bemerkte Frau Dörensen ehrlich verblüfft und setzte sich zu Bernhard.

Der Kater ließ von ihm ab und hüpfte ihr auf den Schoß. Vier eindringlich blickende Augen richteten sich auf ihn, wobei die noch immer geweiteten Pupillen der Frau fast katzenartiger wirkten als die des erwartungsvoll schnurrenden Tieres.

»Leg los!«, forderte Frau Dörensen ihn zur verspro-chenen Erklärung auf, während sie dem Kater den Kopf kraulte. Diesen Anstoß brauchte Bernhard, dann floss die Geschichte unaufhaltsam und ungefiltert aus ihm heraus. Er leistete sich keine Unterbrechungen, aus Angst, der Wortschwall könnte wieder versiegen.

Mitten in seiner Rede fing Frau Dörensen furchtbar an zu lachen und sorgte damit für eine unerwartete Ge-sprächspause, der er nicht entgehen konnte. Ihr Lachen begann mit einer Art Husten und versandete nach einem kurzen hysterischen Anfall in einem Kichern.

»Du versteckst dich hinter dem Schrank wie ein ertapp-ter Ehebrecher, die Frau mit dem Hut klingelt, der fremde

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Mann versteckt sich unter dem Bett wie ein … Ehebrecher, und als ihr euch gegenseitig ertappt, glotzt ihr euch nur verstört an?«, fragte sie ihn, immer noch schmunzelnd.

»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte Bernhard ein wenig pikiert zurück. Auch jetzt fiel ihm noch keine ad-äquate Reaktion auf die zurückliegende Situation ein.

»Lachen?«, schlug Frau Dörensen vor und gab ihm sogleich eine Kostprobe, wie sich eine solche Reaktion an-gehört hätte.

Ihre Fröhlichkeit steckte Bernhard an. Er konnte sich noch zu gut an seine Panik vom Vortag erinnern, doch so, wie sie die Ereignisse zusammenfasste, entbehrte es nicht einer gewissen Komik. Er stimmte in ihr Lachen ein und er-freute sich an dem vollen Klang, der seine Ohren erreichte. Er kicherte noch lange, nachdem sie schon aufgehört und ihnen zwei Gläser mit Wasser gebracht hatte. Der Kater war derweil vor Schreck aufgesprungen und kam erst wieder, nachdem sich auch Bernhard beruhigt hatte.

Er nahm die Erzählung wieder auf und schloss sie einige Zeit später mit der Schilderung seines Einzugs ins Hotel. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem ihm angebo-tenen Wasserglas und lehnte sich zurück. Er war über-raschend schnell heiser geworden. Derartig viel hatte er lange nicht mehr geredet – oder gelacht. Erleichtert und ausgepumpt, wie er war, schien es ihm fast egal, wie Frau Dörensen seinen Bericht aufnahm. »Wo Sie jetzt wissen, zu was ich fähig bin, nennen Sie mich doch Bernhard«, bot er ihr an.

»Gern, aber warum nennst du mich noch immer nicht Lola? Glaubst du, es ist anständiger so?«

»Wie meinen Sie … Wie meinst du das?«»Es ist ein Künstlername, ja, aber ich bin Sängerin, kei-

ne Prostituierte«, erklärte sie.Bernhard blickte betreten zu Boden. »Nein, ich …«, be-

gann er, doch sie unterbrach ihn.

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»Ich mag es so.«Bernhard nickte nur und massierte verlegen seine

Oberschenkel.»Es ist schon spät, willst du hier übernachten?«, fragte

Lola.Das Angebot erwischte ihn kalt, so wie ihn die ganze

Frau überraschte. Vielleicht war das ihre Strategie, und sie funktionierte. Er überraschte sich allerdings auch selbst, denn er spürte eine deutliche Neigung, ihr Angebot an-zunehmen. Die Wohnung mitsamt ihren beiden Bewoh-nern verströmte gemütliche Geborgenheit, und in seiner momentanen geistigen wie körperlichen Verfassung ins Hotel zurückzulaufen, hielt er für keine Alternative. Zu-dem war ihm nach Gesellschaft. Schlussendlich würde es nur eine weitere verrückte Erfahrung in der Kette der zurückliegenden Ereignisse werden, aber wenigstens eine erfreuliche. »Ja, wenn das möglich wäre? Meine Beine bringen mich um. Der Muskelkater ist höllisch. Ich hab richtig Angst vor deiner Treppe«, nahm er das Angebot an, nachdem er ausgiebig darüber nachgedacht hatte.

Lola hatte den Faltenwurf seiner Stirn amüsiert be-obachtet. »Kein Problem«, winkte sie ab. Der Kater schnurrte zustimmend, hopste von ihrem Schoß und lief zu seinem Körbchen im Flur.

»Wo singst du eigentlich und was?«, fragte Bernhard.»Meist alte Chansons. In verschiedenen Kneipen hier

in der Stadt. Früher auch außerhalb, doch das ist lang her. Wirklich erfolgreich war ich nie, aber mein Mann hat mir diesen Loft hier vererbt, und ohne Miete zahlen zu müs-sen, kann ich von Rente und Gage gut leben.«

»Es gefällt mir hier.«»Danke, mir auch. Früher, als das Kino noch inhaber-

geführt war, haben die Besitzer hier oben gewohnt. Die Mannschaft unten lässt mich immer noch kostenlos in die Vorführräume, damit hab ich über den Tag hinweg

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Ablenkung, wenn mir danach ist. Wir könnten uns mor-gen einen Film ansehen. Wenn wir nicht gerade überlegen, wie ich dir bei deiner Suche helfen kann, meine ich.«

»Vielleicht«, erwiderte Bernhard nachdenklich.Django hatte es sich anders überlegt und kam zurück.

Er sprang auf Bernhards Schoß und streckte ihm seinen pelzigen Po entgegen, bevor er sich nach einer halben Dre-hung hinsetzte und neugierig einige rastende Tauben auf den gegenüberliegenden Dächern beobachtete.

»Was kannst du mir über Dagobert erzählen?«, fragte er. Es war die offensichtlichste aller Fragen, und doch fühl-te er sich erst jetzt bereit, sie zu stellen.

»Wir kennen uns recht lange. Er war bei einem meiner ersten Auftritte, keine Ahnung, wo genau. Mein Mann hat damals Elektroinstallationen gemacht und ihn als einen Kunden erkannt, bei dem er einige Leuchten im Garten in-stalliert hatte. Wir haben uns alle drei gut verstanden und er kam häufiger, wenn ich sang. Mir gefällt es ohnehin, wenn ich vor Leuten singe, die ich kenne. Ich fühle mich bei einem Auftritt vor Fremden noch immer wie bei einem Bewerbungsgespräch. Ein einzelnes bekanntes Gesicht reicht, um mich zu beruhigen«, begann sie zu erzählen. Dann blickte sie nachdenklich zur Seite. »Und Dag, er ist ruhig, nett und kultiviert. Ich glaube, er mag Humor, aber er selbst macht selten Witze.«

»Was war er denn von Beruf?«»Keine Ahnung, über so was hat er nicht geredet.«»Hat er vielleicht geerbt? Sein Lebensstil ist nicht der

eines mittellosen Rentners.«»Das kann sein. Dag ist Vollwaise, aber er hat Ver-

wandte in Südamerika, wo er aufgewachsen ist. Die be-sitzen dort Weinberge, glaube ich.«

Bernhard erinnerte sich an die Motive der Bilder aus Dagoberts Haus, die Adresse auf den Paketaufklebern und an die Auswahl seiner Pflanzen.

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»In Argentinien?«, fragte er.»Ja, genau, Argentinien. Vielleicht hat er von dort was

geerbt. Wir sind uns erst vor drei Jahren nähergekommen, da war mein Mann schon zwei Jahre tot«, fuhr sie fort. »Was hat er noch gesagt? Ich glaub, es war: Man hat eine Beziehung erst überwunden, wenn man den mit dem alten Partner gemeinsam erarbeiteten Habitus hinter sich lässt und sich die Anzahl der peinlichen Momente beim po-tenziell neuen Partner dadurch in verträglichen Grenzen hält.« Lola lachte laut auf. »Vielleicht hat er doch ab und an einen Witz gemacht«, fügte sie schmunzelnd hinzu.

Auch Bernhard lächelte, während Lola gähnend die Gläser auf dem Tisch zusammenräumte und in die Küche brachte.

»Es ist schon spät, ich geh an Abenden ohne Auftritt nicht mehr nach elf schlafen. Kommst du?«, fragte Lola und machte sich auf, den Raum zu verlassen.

»Wohin?«, fragte Bernhard und hob Django vorsichtig von seinem Schoß. Das Tier ließ ihn anstandslos gewähren.

»Ins Bett, ich hab nur eins«, erwiderte sie und ver-schwand im Nebenraum.

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Kapitel 4

ie saßen sich am reichlich gedeckten Frühstücks-tisch gegenüber und tauschten ihre Erfahrungen mit Federkernmatratzen aus. Sein Schlaf in dieser

Nacht hatte sogar die zurückliegende Nacht im Hotel übertroffen. Bernhard fühlte sich erholt und verjüngt, auch wenn ihm der Muskelkater beim Aufstehen seine Sterblichkeit eindrücklich ins Gedächtnis gerufen hatte. Wirklich überrascht hatte ihn, wie leicht es ihm gefallen war, sich trotz anfänglicher Nervosität des Nachts wieder an die Anwesenheit eines menschlichen Körpers neben sich zu gewöhnen. Und bei bloßer Anwesenheit war es auch geblieben, fast jedenfalls. Wie schnell hatten sich Auf-regung und Scham am Vorabend abgewechselt, als er Lola in ihrem Nachthemd dabei beobachtet hatte, wie sie sich am Bettrand sitzend die langen Beine eincremte.

Die Aufregung kam, als er bemerkte, dass einige seiner Körperteile noch besser durchblutet waren, als er ver-mutet hätte. Die Scham folgte, als er kurz darauf hoffte, sie würde seine Erregung nicht bemerken. Sie hatte ihn zwar eingeladen, die Nacht in ihrem Bett zu verbringen, aber er war sich sofort darüber im Klaren gewesen, dass sie keine unkeuschen Hintergedanken hegte.

Allerdings war er heute Morgen mit ihrem warmen Kopf an seinem Rücken wach geworden. Das hatte er eine freche Zeit lang genossen, bis ihn der Tatendrang und ein fast körperlicher Wunsch nach Kaffee unruhig werden ließen. Dazu war der Kater zu ihm aufs Bett gesprungen und äußerst aufdringlich geworden.

Bernhard hatte ihn nicht diskret loszuwerden ver-mocht und sich entschieden, Lola lieber durch sanftes

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Anstupsen zu wecken als durch eine Sparringsrunde mit ihrem Stubentiger.

Jetzt goss sie ihm beim gemeinsamen Frühstück einen zweiten Kaffee in seinen Becher, wofür sich Bernhard höf-lich bedankte.

Sie lächelte ihn aus einem noch etwas verschlafenen Gesicht an. »Hast du schon eine Vorstellung, was du ma-chen willst? Zur Polizei gehen?«

»Ich weiß nicht. Ich muss gestehen, dass ich die ganze Angelegenheit sehr aufregend finde. Ich genieße sie rich-tig, aber vielleicht sollte ich wirklich zu den Behörden, be-vor mir endgültig alles über den Kopf wächst. Es drängt mich nur nicht gerade.«

Eine glatte Lüge, denn er verschwieg, dass er sich be-reits gegen die Hilfe der Staatsgewalt entschieden hatte. Was immer es war, das ihn die letzten Nächte gut hatte schlafen lassen, er wollte ihm noch nicht entsagen. Davon abgesehen mochte er ihr nicht auf die Nase binden, wie sehr ihn die Vorstellung ängstigte, zur Polizei zu gehen. Er hatte einige Erklärungsversuche der vergangenen Tage durchdacht, aber sich keine einleuchtende Erklärung für sein Verhalten geben können. So hatte er sich in die Furcht, für Dagoberts Verschwinden und den Einbruch verantwortlich gemacht zu werden, immer weiter hinein-gesteigert. Zwar hatte er für sich befunden, dass ihn die Eigendynamik der Situation von seiner Verantwortung befreite, aber damit konnte er der Polizei nicht kommen. Die sorgte sich nicht um Dynamik, die suchte nach Schul-digen. Seine Sorge war ohnehin lächerlich. Wahrscheinlich war Dagobert nichts passiert.

»Unterschätze nicht, dass du es immerhin bis zu mir ge-schafft hast«, tröstete ihn Lola und streckte sich. Sie gähnte und bückte sich hinunter, um den Kater etwas Quark von ihrem Finger lecken zu lassen. »Also nehmen wir an, du würdest nicht zur Polizei gehen, was dann?«

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»Ich würde gern noch einmal in Dagoberts Wohnung, dann in meine. Ein paar Sachen holen, mich umsehen. Allein werd ich mich allerdings nicht trauen, also ist die ganze Überlegung müßig.«

»Aber du würdest gern?«, fragte sie, biss in ihr Crois-sant und sprach mit vollem Mund weiter. »Immerhin hast du mutige Wünsche. Ich kann nachvollziehen, dass einen ein Einbruch sehr verstört. Ich hätte wahrscheinlich höl-lische Angst, zu dem Haus zurückzukehren.«

»Ach, mir kann nicht mehr viel passieren. Ich bin ei-gentlich schon tot«, erwiderte Bernhard und war sofort be-reit, dieser rätselhaften Andeutung eine wohlüberlegte Er-klärung nachzuliefern. Doch Lola reagierte nicht, sondern widmete sich stattdessen ihrer Zeitung. Das machte Bern-hard zunächst wütend, denn es schien seinen Herzanfall als belanglos abzustempeln. Dann jedoch wies er sich da-rauf hin, dass sie von diesen Geschehnissen nichts wissen konnte, und fühlte Erleichterung, denn die Erklärung, die er sich am Vorabend vor dem Einschlafen überlegt hatte, wirkte inzwischen leer und hoffnungslos pathetisch.

»Wenn du nicht allein zu den Häusern willst, kann ich dir vielleicht eine Begleitung organisieren«, schlug sie vor und holte Bernhard schlagartig aus seiner Gedankenwelt in den Raum der Pfeifengerüche und des schnurrenden Katers zurück.

»Wen hast du im Sinn?«»Hermchen, beziehungsweise Hermann. Das ist der

Hausmeister in einer der größeren Bars, in der ich ab und an Auftritte habe. Ein guter Freund und ein ziemlich harter Bursche. Du wirst ihm seinen Lohn ein wenig aufbessern müssen, aber viel wird’s nicht sein. Dafür kann man sich auf ihn verlassen.«

Bernhard fand nach kurzem Überlegen Gefallen an diesem Vorschlag, und Lola versprach ihm, ihren Freund gegen Mittag anzurufen. Er half ihr nach einem

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ausgedehnten Frühstücksplausch beim Abwasch und konnte sich bei der Gelegenheit davon überzeugen, dass ihm ihr Gesang wirklich gut gefiel. Es war viel Rauch in der Stimme, aber sie hustete den Text nicht – jedenfalls nicht zu Anfang. Während sie nach dem Abwasch gemein-sam das abgetrocknete Geschirr in den Schrank zurück-stellten, summte er ihre Lieder in Gedanken mit.

Danach entschloss er sich, einen Spaziergang zu ma-chen, um Lola nicht zur Last zu fallen. Unterwegs wollte er ein hübsches Geschenk für sie kaufen. Dafür, dass sie ihn so herzlich aufgenommen hatte und unterstützte.

Er sorgte sich, dass die vielen Eindrücke, die er in den letz-ten zwei Tagen gewonnen hatte, den ursprünglichen Zweck seiner Suche überlagern würden. Schließlich hatte ihm diese Suche all diese wunderbaren Erlebnisse geschenkt. Zu sei-nem Haus zurückzukehren, wirkte in diesem Zusammen-hang falsch. Dennoch hatte er die Idee, mit diesem Hermann dorthin zu fahren, ohne längeres Nachdenken angenommen. Irgendwann würde er ohnehin zurückkehren müssen.

Um sich von diesen Gedanken abzulenken, suchte er in der Stadt den erstbesten Tabakladen auf, der auf seinem sonst unbestimmten Weg lag, und kaufte eine hübsche Pfei-fe. Sie war aus hellem Holz und am Griffel mit indischer Kunst verziert. Irgendwie passte sie zu Lolas Wohnung.

Nachdem er in einem der vielen Lokale der Stadt gut-bürgerlich gespeist hatte, holte er seine restlichen Sachen aus dem Hotel und kehrte am frühen Nachmittag zu ihr zurück. Nach dem Überreichen seines Geschenkes er-freute sie ihn ihrerseits mit einer herzlichen Umarmung. Dabei stieg ihm ihr Duft in die Nase, was seinen Verstand ein wenig aus dem Takt schob. Fast war es, als ob sie ihr ganzes Leben lang an ihrem Geruch gewebt hätte, und er wünschte sich, ihn länger in der Nase tragen zu können. Er schien so viel mehr über sie zu verraten als den Inhalt ihres Parfümschränkchens.

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Wie versprochen, hatte sie inzwischen ihren Hausmeis-terfreund angerufen und noch für denselben Abend ein Treffen vereinbart. Von den zurückliegenden Ereignissen noch immer erschöpft und mit nach wie vor schmerzen-den Beinen, legte sich Bernhard einige Stunden schlafen. Anschließend duschte er in Lolas kleinem Badezimmer und bereitete sich auf den Abend vor.

»Du kannst das alte Rasiermesser von meinem Mann nehmen – liegt oben im Spiegelschrank. Ich habe keinen Rasierschaum mehr, vielleicht kannst du dir mit etwas Shampoo behelfen. Mach dich ruhig fein!«, rief sie ihm durch die Tür zu.

Er fand das Lederetui nicht im Spiegelschrank, son-dern im Hängekorb an der Duschkabine und schäumte sich vorsichtig das Kinn ein. Dann führte er das Messer genüsslich, aber bestimmt, über seine Wangen. In geübter Prozedur straffte er mit der anderen Hand seine Falten, um später nicht auch noch Lolas Pflastervorräte plündern zu müssen. Ebenso gekonnt drehte er das Messer über den Rücken um, als er es auf dem Lederriemen abstreifte. Dann wusch er sich das Gesicht ab und zog sich ein fri-sches Hemd über.

Was immer ihn in dieser Bar erwartete, ein gepflegter Auftritt würde nicht schaden.

»Was brauchst du denn so lange? Schminkst du dich?«, fragte Lola laut durch die Badezimmertür.

»Wenn man so schnieke aussieht wie ich, ist man der Ästhetik eben auf ganz besondere Art und Weise ver-pflichtet«, rief Bernhard zurück und erntete ein vergnüg-tes Glucksen. Sein Humor war recht verträglich geworden, seit er ihm die Bissigkeit genommen hatte. Stattdessen un-terfütterte er ihn jetzt mit Selbstironie.

Kaum war er frisch rasiert aus dem Bad getreten, muss-te er einen Motorradhelm auffangen, den ihm Lola beiläu-fig zuwarf.

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»Auf dem Schuhschrank liegen noch Polster. Die wirst du für den Helm brauchen. Mein Mann hatte einen größeren Kopf als du.«

Es war bereits das dritte Mal, dass sie ihren verstorbenen Mann erwähnte. Aber da sie es immer auf eine pragmati-sche Art tat, störte es ihn nicht. Er fand die besagten Polster schließlich im Katzenkorb, wo Django empört über die Ent-wendung seiner Nackenstütze mauzte.

Kurze Zeit später gab Bernhard selbst klagende Geräu-sche von sich, als Lola mit mäßiger Geschwindigkeit, dafür in wilden Schlangenlinien, auf ihrer Vespa und mit ihm auf dem Rücksitz durch den dichten Stadtverkehr rauschte. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als er, und auch wenn es ihm nicht das Geringste ausmachte, sich fest an sie zu klammern, so konnte er die rasante Fahrt über ihren Kopf hinweg viel zu genau beobachten, um die Nähe zu ihr zu genießen. Als sie im Kneipenviertel endlich an ihrem Ziel angelangt waren, war Bernhards eben noch frisches Hemd vor Angst völlig durchgeschwitzt.

Die Kneipe erwies sich als nicht so rauchig, wie er es aus irgendeinem Grund erwartet hatte. Sie war gut ausgeleuchtet und wies mit echten Tischen, gepolsterten Stühlen und einer kleinen, erhöhten Bühne eher die Atmosphäre eines Restau-rants auf. Eine viel zu gepflegt aussehende Band baute gera-de ihre Instrumente auf. Kurz: Es war eine Kneipe für Leute, die sich in einer echten Kneipe unwohl fühlen würden.

Lola lief auf die Musiker zu und setzte der Reihe nach zu einer überschwänglichen Begrüßung an, während Bern-hard noch etwas verloren am Eingang stehen blieb und sich umsah. Die Räumlichkeiten hatten sich zu dieser frühen Abendstunde noch nicht gefüllt, und die meisten Plätze waren leer. Dennoch wirkte der Raum für eine wilde Party bereit.

Nachdem Lola ihre Begrüßungsrunde beendet hatte, kam sie fröhlich zu Bernhard zurückgelaufen. »Die Jungs

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haben mich eingeladen, mitzumachen. Aber erst stellen wir dich deinem neuen Partner vor. Komm!«, forderte sie ihn auf und zog ihn an seinem Ärmel quer durch den Raum.

Sie steuerte auf einen kleinen Nischentisch zu, der Bernhard schon eher an eine Kneipe erinnerte, zumal er im Raucherbereich lag. Der Mann am Tisch hatte jedoch nichts mit Bernhards Vorstellung eines harten Kerls gemein, der ihm gefühlte wie echte Sicherheit würde bieten können. Er war klein, um die vierzig und hatte einen Tom-Selleck-Schnurrbart, der gepflegt aussah, sein Gesicht jedoch trotz markanter Züge stark entschärfte. Jeans und T-Shirt ver-hüllten einen drahtigen Körper. Lustlos schüttelte Bernhard dem Mann die Hand, nachdem Lola ihn zur Begrüßung umarmt hatte.

»Darf ich vorstellen, Hermchen, das ist Bernhard.«Hermann nickte kurz, sagte aber nichts. Anscheinend

war Lola Bernhards unzufriedener Blick nicht entgangen, denn nachdem sie sich alle an den Tisch gesetzt hatten, beugte sie sich zu Hermann vor. »Nur, um Berni zu über-zeugen«, sagte sie in einem verschwörerischen Tonfall. »Was hast du am letzten Freitag alles gemacht?«

Hermann, offenbar kein Freund langer Reden, fasste seinen Tagesablauf knapp zusammen. »Musste morgens zum Zahnarzt, Wurzelbehandlung links oben und unten, dann auf Arbeit, später zum Chiropraktiker wegen meines Rückens und abends noch mit meiner Ollen zum Tango.«

Lola strahlte Bernhard an und klatschte freudig auf den Tisch, als wäre damit alles gesagt und bewiesen. »Hab ich dir zu viel versprochen? Keiner ist so zäh wie Hermann. Ihr könnt euch ja jetzt austauschen, während ich meinen Auf-tritt vorbereite.«

Hermann schüttelte lächelnd den Kopf, während Lola freudestrahlend aufstand und hinüber zur Bühne tänzelte. Bernhard fragte sich, wie sie es schaffte, so gelenkig und anmutig zu bleiben. Sie musste doch noch ein wenig älter

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als er sein. Ob sie auch irgendwo einen Garten hatte, der sie fit hielt?

Beinahe hätte er über seine Gedanken sein Gegen-über vergessen, doch Hermann schien sich nicht daran zu stören. Er blickte abwechselnd zwischen seinem Bier und Bernhard hin und her und wartete ab. Er blieb auch still, als Bernhard, nachdem er sich etwas zu trinken geordert hatte, begann, seine Geschichte zu erzählen. Erst als er zu einem Ende gekommen war, begann Hermann einige simple Fragen zu stellen, deren Knappheit ihre Tragweite jedoch nicht vertuschen konnte.

»Was hast du vor?«, fragte er beispielsweise, und Bern-hard erzählte ihm, wie er seinem und dem Haus seines Nachbarn einen Besuch abstatten wollte, um nach dem Rechten zu sehen und, falls er noch dort lag, den tragbaren Computer aus Dagoberts Haus mitzunehmen.

»Warum?«»Vielleicht enthält er einen Hinweis, wo sich Dagobert

aufhält.«»Nein, ich meine, warum suchst du deinen Nachbarn

selbst? Warum gehst du nicht einfach zur Polizei?«Diese Frage schien sich zu wiederholen. Bernhard über-

legte kurz, welche Antwort am besten zu diesem angeblich toughen Typen vor ihm passen würde und entschied sich schließlich mit »Er hat mir mal das Leben gerettet.« Für eine Art Kriegsfilmzitat.

Hermann schüttelte erneut belustigt den Kopf und sackte zurück in seinen Stuhl. »Hundertfünfzig Euro pro Tag, und ich beteilige mich abgesehen vom Einstieg in die Bude deines Nachbarn an keinen weiteren Rechtsbrüchen. Hast du einen Wagen?«

»Nicht verfügbar. Der steht noch in meiner Garage.«»Kein Problem, wir fahren mit meinem. Macht noch mal

fünfzig Kröten für Sprit und Aufwand. Die Häuser liegen weit draußen und ohne Sichtkontakt zu anderen Grundstücken?«

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»Ganz weit draußen, nur ab und an ein paar Angler auf dem Weg dorthin.«

»Wovor habt ihr euch da versteckt?«Hermanns Fragen verrieten, dass sich für sein wortkar-

ges Auftreten kein einfältiger Geist verantwortlich zeich-nete. Es war eine gute Frage. Warum wohnte Dagobert dort, wo er wohnte? Bernhard schwieg, dachte über sein eigenes Haus und die Gründe, aus denen er dort wohnte, nach, aber Hermann war schon eine Frage weiter.

»Du glaubst also, dass an seinem Verschwinden etwas ungewöhnlich ist? Er kann nicht bloß Urlaub machen und du hast zufällig einen Einbrecher erwischt, der den Bruch in ein unbewohntes Objekt für einen guten Schachzug hielt?«

»Der schon vor dem Einbruch aufgebrochene Schreib-tisch, die Spuren vor dem Haus, all das will mir eine an-dere Geschichte erzählen. Außerdem hat dieser Fremde in dem Arbeitszimmer etwas Bestimmtes gesucht. Vielleicht kriegen wir heraus, was das war.«

»Alle Einbrecher suchen nach etwas Bestimmtem. Sol-che Leute kommen nicht nur, um den Kühlschrank leer zu futtern oder ein Bad zu nehmen. Den Schreibtisch könnte dieser Kleinmann selbst aufgebrochen haben, weil ihm der Schlüssel abhandengekommen ist.«

Es war schwer, sich mit logischen Argumenten von Hermanns ebenso logischer Skepsis zu lösen, also ver-suchte Bernhard es gar nicht erst. Stattdessen verabredete er die gemeinsame Aktion direkt für den folgenden Tag und ließ weitere Fragen ins Leere laufen. In diesem Patt gefangen, schwiegen sie sich eine Weile betreten an, und Bernhard wandte sich irgendwann der Bühne zu, auf der die Band zu spielen begonnen hatte. »Sie singt richtig schön«, bemerkte er mehr für sich selbst, als Lola endlich anfing zu singen.

»Geht so«, murmelte Hermann, blickte aber freundlich.

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Bernhard ärgerte sich, dass ihm am Tisch ein Mann gegenübersaß, den er in der Theorie der Familie seiner Schwiegertochter jederzeit vorgezogen hätte, er aber grandios gescheitert war, eine echte Verbindung zu ihm aufzubauen. Vielleicht würde das morgige Abenteuer die Stimmung etwas lockern.

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