Körperwahrnehmung bei tiefer Hirnstimulation und Organtransplantation; Bodily perception in deep...

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Z Epileptol 2013 · 27:60–64 DOI 10.1007/s10309-013-0348-9 Online publiziert: 21. Dezember 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 F. Krause · O. Müller Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Freiburg Körperwahrnehmung bei  tiefer Hirnstimulation und  Organtransplantation Leibphänomenologie als Zugang zum Selbst In der Medizin angewendete Neuro- technologien wie die tiefe Hirnstimu- lation (THS) dienen dazu, Krankheits- symptome, wie sie etwa bei Epilepsie oder der Parkinson-Krankheit auftre- ten, zu verbessern bzw. zu unterdrü- cken. Diese Technologie wird von vie- len Patienten als große therapeuti- sche Chance wahrgenommen, gera- de weil sie in der Regel nur dann an- gewendet wird, wenn die entspre- chenden Medikamente nicht mehr helfen. Gleichzeitig löst die Methode aber auch Unbehagen aus, da sie in das Organ eingreift, das mit der Iden- tität von Personen verbunden wird. Hintergrund Die Philosophie versteht sich als eine Dis- ziplin, die Zugänge zum Wissen über die Welt reflektiert und verschiedene Wis- sensformen gegeneinander abwägt. Da- bei versucht sie auch zu klären, wie sich spezifische Wissensformen in Hand- lungsmuster und Praktiken transformie- ren. Auf diese Weise kann die Philosophie für Wissensformen sensibilisieren, die in anderen Wissenschaften aufgrund ande- rer methodischer Ausrichtungen oft nicht (mehr) zum Thema gemacht werden. Die Philosophie kann gerade mit den Neuro- wissenschaften und der Neuromedizin in einen fruchtbaren Dialog treten, da hier Wissensformen und technische Prakti- ken generiert werden, die immer in ir- gendeiner Weise mit dem zu tun haben, was wir „Selbst“, „Person“ und „Identität“ nennen. Im Folgenden wird gezeigt, dass und wie philosophisch begründete und mit philosophischen Methoden erschlos- sene Wissensformen für das Verständnis aktueller Neurotechnologien produktiv gemacht werden können. Die THS dient dazu, Krankheitssymp- tome, wie sie etwa bei Epilepsie oder der Parkinson-Krankheit auftreten, zu ver- bessern bzw. zu unterdrücken. Mögliche Nebenwirkungen der Operation umfas- sen viele Bereiche der personalen Iden- tität, u. a. das Sprachvermögen und die Leistungen des Gedächtnisses. Aber auch Manien, Depressionen, gesteigerte Libido und Aggressivität können Begleiterschei- nungen der THS sein [4]. Derartige Be- gleiterscheinungen und Nebenwirkungen können mit neurologischen Methoden erfasst werden. Doch ist bei diesen Ein- griffen immer auch die subjektive Sphä- re betroffen, die nur mit einem Perspek- tivwechsel beschrieben werden kann. Die philosophische Reflexion kann dazu bei- tragen, diese Perspektive zu explizieren, für diese Perspektive eine Sprache zu fin- den. Die Integration der subjektiven Er- fahrung in die Betrachtung und Einschät- zung von THS [1, 7, 10] ist für die ethi- sche Bewertung dieser Technologie von Bedeutung. Oftmals werden in Bezug auf die THS Entfremdungsphänomene beschrie- ben [14, 17]. Gleichzeitig kann aber auch ein vormals durch die Erkrankung als „fremd“ gefühlter Körper wieder als „eigen“ wahrgenommen werden [8], da die erst „fremde“ Technik „inkorporiert“, einverleibt wird und damit Teil der (neu- en) Identität des Patienten werden kann. Wie man diesen Prozess der Einverlei- bung von etwas Fremdem verstehen und was er für die Identität von Personen be- deuten kann, wird im Folgenden syste- matisch untersucht. Ansatzpunkt ist eine leibphilosophi- sche Perspektive, die sowohl generell die Besonderheiten der leiblichen Erfahrung als auch die Frage nach dem Begriff des (technischen) Fremden im eigenen Kör- per in den Blick zu nehmen versucht. Dass die leibphilosophische Untersu- chung der THS von Relevanz ist, betont der Phänomenologe Waldenfels [16], in- dem er diese als ein Desiderat aktuel- ler leibphilosophischer Forschung be- schreibt. Um eine leibphilosophische Perspekti- ve auf das neurotechnologisch veränder- te „Selbst“ einnehmen zu können, sind Selbstbeschreibungen nötig, mit denen die subjektive Sphäre der Wahrnehmung des eigenen Körpers erfasst wird. Über die auch einer größeren Öffentlichkeit bekannten Bücher von Dubiel [5], der sei- ne Erfahrungen mit der THS beschreibt, und Nancy [11], der seine Herztransplan- tation mit phänomenologischen Mit- teln zu verarbeiten sucht, stehen wichti- ge Quellen zu Verfügung, um Identitäts- bildungen und Brüche der Identität zu beschreiben. Während THS und Organ- transplantation die Tatsache gemeinsam haben, dass sie invasive Eingriffe sind, die erhebliche Wirkung auf das Selbst- und Persönlichkeitsbild der Patienten haben 60 | Zeitschrift für Epileptologie 1 · 2014 Leitthema

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Z Epileptol 2013 · 27:60–64DOI 10.1007/s10309-013-0348-9Online publiziert: 21. Dezember 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

F. Krause · O. MüllerInstitut für Ethik und Geschichte der Medizin, Freiburg

Körperwahrnehmung bei tiefer Hirnstimulation und OrgantransplantationLeibphänomenologie als Zugang zum Selbst

In der Medizin angewendete Neuro-technologien wie die tiefe Hirnstimu-lation (THS) dienen dazu, Krankheits-symptome, wie sie etwa bei Epilepsie oder der Parkinson-Krankheit auftre-ten, zu verbessern bzw. zu unterdrü-cken. Diese Technologie wird von vie-len Patienten als große therapeuti-sche Chance wahrgenommen, gera-de weil sie in der Regel nur dann an-gewendet wird, wenn die entspre-chenden Medikamente nicht mehr helfen. Gleichzeitig löst die Methode aber auch Unbehagen aus, da sie in das Organ eingreift, das mit der Iden-tität von Personen verbunden wird.

Hintergrund

Die Philosophie versteht sich als eine Dis-ziplin, die Zugänge zum Wissen über die Welt reflektiert und verschiedene Wis-sensformen gegeneinander abwägt. Da-bei versucht sie auch zu klären, wie sich spezifische Wissensformen in Hand-lungsmuster und Praktiken transformie-ren. Auf diese Weise kann die Philosophie für Wissensformen sensibilisieren, die in anderen Wissenschaften aufgrund ande-rer methodischer Ausrichtungen oft nicht (mehr) zum Thema gemacht werden. Die Philosophie kann gerade mit den Neuro-wissenschaften und der Neuromedizin in einen fruchtbaren Dialog treten, da hier Wissensformen und technische Prakti-ken generiert werden, die immer in ir-gendeiner Weise mit dem zu tun haben, was wir „Selbst“, „Person“ und „Identität“

nennen. Im Folgenden wird gezeigt, dass und wie philosophisch begründete und mit philosophischen Methoden erschlos-sene Wissensformen für das Verständnis aktueller Neurotechnologien produktiv gemacht werden können.

Die THS dient dazu, Krankheitssymp-tome, wie sie etwa bei Epilepsie oder der Parkinson-Krankheit auftreten, zu ver-bessern bzw. zu unterdrücken. Mögliche Nebenwirkungen der Operation umfas-sen viele Bereiche der personalen Iden-tität, u. a. das Sprachvermögen und die Leistungen des Gedächtnisses. Aber auch Manien, Depressionen, gesteigerte Libido und Aggressivität können Begleiterschei-nungen der THS sein [4]. Derartige Be-gleiterscheinungen und Nebenwirkungen können mit neurologischen Methoden erfasst werden. Doch ist bei diesen Ein-griffen immer auch die subjektive Sphä-re betroffen, die nur mit einem Perspek-tivwechsel beschrieben werden kann. Die philosophische Reflexion kann dazu bei-tragen, diese Perspektive zu explizieren, für diese Perspektive eine Sprache zu fin-den. Die Integration der subjektiven Er-fahrung in die Betrachtung und Einschät-zung von THS [1, 7, 10] ist für die ethi-sche Bewertung dieser Technologie von Bedeutung.

Oftmals werden in Bezug auf die THS Entfremdungsphänomene beschrie-ben [14, 17]. Gleichzeitig kann aber auch ein vormals durch die Erkrankung als „fremd“ gefühlter Körper wieder als „eigen“ wahrgenommen werden [8], da die erst „fremde“ Technik „inkorporiert“,

einverleibt wird und damit Teil der (neu-en) Identität des Patienten werden kann. Wie man diesen Prozess der Einverlei-bung von etwas Fremdem verstehen und was er für die Identität von Personen be-deuten kann, wird im Folgenden syste-matisch untersucht.

Ansatzpunkt ist eine leibphilosophi-sche Perspektive, die sowohl generell die Besonderheiten der leiblichen Erfahrung als auch die Frage nach dem Begriff des (technischen) Fremden im eigenen Kör-per in den Blick zu nehmen versucht. Dass die leibphilosophische Untersu-chung der THS von Relevanz ist, betont der Phänomenologe Waldenfels [16], in-dem er diese als ein Desiderat aktuel-ler leibphilosophischer Forschung be-schreibt.

Um eine leibphilosophische Perspekti-ve auf das neurotechnologisch veränder-te „Selbst“ einnehmen zu können, sind Selbstbeschreibungen nötig, mit denen die subjektive Sphäre der Wahrnehmung des eigenen Körpers erfasst wird. Über die auch einer größeren Öffentlichkeit bekannten Bücher von Dubiel [5], der sei-ne Erfahrungen mit der THS beschreibt, und Nancy [11], der seine Herztransplan-tation mit phänomenologischen Mit-teln zu verarbeiten sucht, stehen wichti-ge Quellen zu Verfügung, um Identitäts-bildungen und Brüche der Identität zu beschreiben. Während THS und Organ-transplantation die Tatsache gemeinsam haben, dass sie invasive Eingriffe sind, die erhebliche Wirkung auf das Selbst- und Persönlichkeitsbild der Patienten haben

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Leitthema

können, unterscheiden sie sich jedoch in Funktion, Ort und Art des Implantats.

Mit dem Ziel, zum besseren Verständ-nis der THS beizutragen, werden im Fol-genden zunächst die in diesem Zusam-menhang wichtigen Begriffe der Leibphä-nomenologie erläutert. Dabei wird auf das Phänomen der Inkorporierung von etwas „Fremden“ in den eigenen Leib ein Schwerpunkt gelegt, um dann in einem zweiten Schritt die THS und die Herz-transplantation anhand der genannten Selbsterfahrungsberichte näher zu unter-suchen.

Leibphänomenologie als Zugang zum „körperlichen Selbst“

Als Menschen haben wir einen Körper, der aus anthropologisch-phänomenolo-gischer Sicht zweifach beschrieben wer-den kann. Wir sind Körper, d. h., wir be-wegen uns durch ihn in Raum und Zeit, nehmen Kontakt zu unserer Umwelt auf und sind in unserem Sein an den Körper gebunden. Und zugleich haben wir einen Körper. Damit wird das Phänomen er-fasst, dass wir uns von uns selbst distan-zieren können, uns selbst zum Objekt der Beobachtung machen können. Wir kön-nen uns aus uns selbst „heraus denken“ (etwa an andere Orte und andere Zeiten). Nach Plessner ([12], S. 45) ist die mensch-liche Existenz „als Leib im Körper“ zu verstehen: Während der Körper als etwas betrachtet werden kann, das wir distan-ziert „vergegenständlichen“ können, das auch naturwissenschaftlich objektivier-bar ist, erfassen wir das, was die Phäno-menologen „Leib“ nennen, in subjektiver Selbsterfahrung. Leib und Körper sind dabei nicht als verschiedene Substan-zen zu verstehen; ihre Unterscheidung ist vielmehr eine Frage des Gesichts-punkts ([15], S. 249). Körperliches Tun und leibliche Erfahrung verlaufen par-allel. So geht beispielsweise der Akt der Umarmung mit der Erfahrung von leibli-cher Freude oder Nervosität einher ([6], S. 154).

Das Leibverständnis ist zum einen im Spannungsfeld der Auseinandersetzung mit der Umwelt und gesellschaftlicher Normvorstellungen zu verstehen. Wir betrachten unseren Leib immer im Ho-

rizont kultureller Deutungsmuster. Zum anderen bietet uns die Reflexion über den Leib auch eine Auseinandersetzung mit dem, was wir unser „Selbst“ nennen. Hierbei ist gerade die Differenz zwischen dem kulturell und gesellschaftlich „be-stimmten“ Leib und dem realen Vorhan-densein des Körpers identitätsrelevant ([9], S. 56). Es ist der Bruch mit den Mus-tern des „Normalen“, das Abweichen, das man als Integrationsleistung für die eige-ne Identität begreifen kann. Der Körper wird erfahrbar; er macht sich überhaupt erst bemerkbar durch Krankheit, Behin-derung oder technische Eingriffe in die Integrität des Körpers.

Eingriffe in den Körper, sei es das Hin-zufügen eines technischen Apparats wie bei der THS oder eines organischen Ma-terials wie bei der Herztransplantation, verändern das Körper- und Selbstbild bzw. lösen eine Auseinandersetzung mit demselben aus. Derartige Eingriffe zwin-gen den Menschen gewissermaßen da-zu, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen, sich selbst und sein Tätigsein zum Gegenstand des Reflektierens zu machen. Und da die Differenz zwischen Leib und Körper, die Differenz zwischen der sub-jektiven (Selbst-)Wahrnehmungsdimen-sion („Leib“) und der objektivierbaren Perspektive auf den Körper eine identi-tätsbildende Funktion für Personen be-sitzt, kann die Frage gestellt werden, wie sich die genannten medizinischen Ein-griffe in den Körper auf das Selbstver-hältnis von Personen auswirken.

Ein Zugang zu diesem Selbstverhältnis kann durch das ermöglicht werden, was man in der Philosophie „narrative Iden-tität“ nennt. Das Konzept der narrativen Identität trägt der Tatsache Rechnung, dass Personen sich über die Geschich-ten, die sie über sich erzählen, konstituie-ren: „Die Identität einer Person erwächst aus der Geschichte, die sie selbst erzählt, immer wieder reformuliert und auf-grund neuer Erfahrungen neu gestaltet“ ([2], S. 129). Man kann in Ricoeurs Sinn auch vom „narrativen Selbst“ sprechen, das sich selbst im Handeln erschließt und auslegt. Essenziell ist dafür, dass das Selbst nicht auf ein reines „ich denke“ zu-rückgeht, sondern im Austausch mit an-deren und der Umwelt zu sich selbst fin-det [13].

Technik im eigenen Körper und die Erfahrung von „fremd“ und „eigen“

Um die Erfahrung von „fremd“ und „eigen“ bei der THS näher zu beschrei-ben, werden die Inkorporation einer Elektrode in das Gehirn und die Inkor-poration eines „fremden“ Herzens bei einer Transplantation miteinander ver-glichen. Waldenfels spricht in Bezug auf die Erfahrungen, die Nancy [11] nach sei-ner Herztransplantation in Der Eindring-ling beschreibt, von der „invasiv-evasiven Fremdheit“ ([16], S. 193). Damit bezeich-net er eine Fremdheit, die durch ein ein-dringliches Ereignis hervorgerufen wird, „das sich selbst entgleitet“ ([16], S. 193) und das Selbst von sich distanzieren lässt. Der Eingriff in den Körper verändert das Selbstbild. Vor diesem Hintergrund kon-statiert Waldenfels die Bedeutung von Technik im Zusammenhang mit medizi-nischen Eingriffen: „Doch das ‚Unheim-liche‘ der Technik reicht tiefer, sofern die-se subjektlose Leistungen vollbringt, die bisher dem Subjekt vorbehalten schie-nen“ ([16], S. 376). Das Leibempfinden und das Selbstverhältnis ändern sich da-mit grundlegend, da der Leib nicht mehr als naturhaft empfunden wird, sondern sich die Grenzen zwischen Natur und Ar-tefakt verschieben.

Auch wenn die Herztransplantation das Vorstellungsvermögen herausfor-dert und sogar übersteigen kann ([11], S. 27), bleibt die intensive Auseinander-setzung mit dieser Erfahrung nicht aus. Dieses „Entgleiten“ des vertrauten Kör-pers als Folge des Eingriffs in den Kör-per und die damit verbundene „invasiv-evasive Fremdheit“, finden sich bei Du-biel wieder, der seine nachoperativen Einschränkungen folgendermaßen be-schreibt: „Ich spreche zu leise, zu unarti-kuliert und verwaschen … Ich kann kei-nen einzigen Buchstaben mehr mit der Hand schreiben. Ich falle oft, zum Glück immer nur treppauf. Meine Geruchs- und Geschmackempfindungen sind fast völlig verschwunden“ ([5], S. 101). Es sind u. a. diese körperlichen Probleme, die bei Dubiel zu einer Depression führen, wie sie nicht selten bei Organtransplantier-ten und THS-Patienten vorzufinden sind ([3, 5]). Dubiels Selbstbeschreibung ver-

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deutlicht: Der Körper ist mehr als nur ein Fortbewegungsorgan; er ist Ausdruck sei-ner Selbst und Kommunikationsorgan mit der Umwelt: „Der Mensch ist mehr als nur eine beseelte Maschine, er kom-muniziert nicht nur kraft seiner Sprache, sondern mit dem gesamten Körper“ ([5], S. 14). Die Einschränkungen seiner Kom-munikationsfähigkeit und sein dadurch bedingter veränderter Umgang mit an-deren Menschen, die sich in seinem Fall nach dem Einsatz des Implantats verstär-ken, sind für Dubiel Indikatoren eines „gestörten“ Selbstbezugs. Es sind die de-fizitären Körperfunktionen in Kombina-tion mit Reaktionen seiner Umwelt auf diese Dysfunktionen, die ihm die Verän-derung seiner Identität schmerzlich vor Augen führen: sei es der Verlust einer erotischen Liebesbeziehung aufgrund der M.-Parkinson-Diagnose, die Angst, mit den Folgen nicht umgehen zu kön-nen ([5], S. 45) oder die Isolation von den Mitarbeitern seines Instituts.

Nach dem bisher Gesagten dürf-te deutlich geworden sein, dass es nicht nur, aber auch Körper- und Leiberfah-rungen sind, die ihm aus den Reaktionen seines Umfelds z. T. erst bewusst werden, und die Dubiel in seiner Selbstwahrneh-mung irritieren und sein Selbstbild er-schüttern. Dubiels Text verdeutlicht, dass sich unsere Identität ganz wesentlich auf der Basis der Leib-Körper-Differenz in Kombination mit der konstitutiven Aus-richtung unseres Selbst auf andere Men-schen herausbildet, weil sich das Bild und Verständnis unseres eigenen Körpers im „Spiegel des Anderen“ zeigen.

Für Nancy ist es in erster Linie das Im-plantat selbst, das den Selbstbezug hin-dert: „Sich zu sich selber zu verhalten, ist zu einem Problem geworden, zu etwas Schwierigem und Undurchsichtigem. Es geschieht durch Schmerz, Leiden oder Angst hindurch, und ist nichts Unmittel-bares mehr“ ([11], S. 43). Die Auseinan-dersetzung mit dem Implantat verursacht Ermüdungsentscheidungen, da Nancy unentwegt damit ringt, zu sich selbst zu finden. Dies wird durch den Umstand er-schwert, dass das Selbst nicht auf die Ein-heit des Körpers rekurrieren kann, son-dern den Körper in verschiedenen Tei-len wahrnimmt: „Mein Herz ist 20 Jah-re jünger als ich, der Rest meines Körpers

Zusammenfassung · Abstract

Z Epileptol 2013 · 27:60–64 DOI 10.1007/s10309-013-0348-9© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

F. Krause · O. MüllerKörperwahrnehmung bei tiefer Hirnstimulation und Organ-transplantation. Leibphänomenologie als Zugang zum Selbst

ZusammenfassungHintergrund. Die tiefe Hirnstimulation (THS) ist mittlerweile eine gängige Therapieform, um die Symptome von Patienten mit M. Par-kinson oder Epilepsie zu verbessern bzw. zu unterdrücken. Aus philosophischer Sicht sind Verfahren wie die THS interessant, weil die möglichen Nebenwirkungen des mit ihr ein-hergehenden Eingriffs in Verbindung mit Grundsatzfragen der Philosophie und der Ethik stehen, etwa mit Fragen nach der „Iden-tität von Personen“ oder dem „Selbst“. Wäh-rend der Aspekt der persönlichkeitsverän-dernden Effekte der THS kein Novum in der neuroethischen Diskussion darstellt, wird die Rolle des Körpers oder der Körperwahrneh-mung als Zugang zum Selbst bislang nicht hinreichend verhandelt.Ziel der Arbeit. In diesem Beitrag wird die Frage untersucht, inwiefern sich die Körper- bzw. Leibwahrnehmung durch THS verän-dern. Um das Spezifische des technischen Im-plantats im Körper herauszuarbeiten, wird die THS mit der Inkorporation eines organi-schen Transplantats verglichen.Material und Methoden. Anhand der Selbstbeschreibungen von Dubiel (THS nach

M.-Parkinson-Diagnose) und Nancy (Herz-transplantation) wird die spezifische Körper- bzw. Leibwahrnehmung herausgearbeitet, um sie in den Bezug zum Selbstbild von Per-sonen zu setzen, die mit einer Elektrode oder einem Transplantat etwas „Fremdes“ in ihren Körper zu integrieren haben.Ergebnisse und Schlussfolgerung. Die THS und die Herztransplantation unterschei-den sich v. a. in den Aspekten der Reversibi-lität und Steuerbarkeit, die sich auch auf die Leibwahrnehmung von Personen auswirken. Es kann gezeigt werden, dass und inwiefern phänomenologische sowie narrative Zugän-ge zum Selbst und seiner leiblichen Verfasst-heit ein über neurologische und psychologi-sche Untersuchungen hinausgehendes Ver-ständnis für die subjektive Perspektive der Patienten sowie die entsprechenden Selbst-verhältnisse und Leiddimensionen bieten.

SchlüsselwörterEpilepsie · Morbus Parkinson · Herztransplantation · Selbst · Entfremdung

Bodily perception in deep brain stimulation and organ transplantation. Body-phenomenology as access to the self

AbstractBackground. Deep brain stimulation (DBS) is nowadays a standard therapy applied to suppress or alleviate the symptoms of Par-kinson’s disease or epilepsy. As neurotechno-logical interventions, such as DBS touch on questions of “personal identity” and the “self”, these interventions become interesting for a philosophical investigation, because these topics have a distinct philosophical tradition. In the neuroethical discourse the effects of DBS for personal identity are well discussed; however, the integration of the perception of bodily changes in patient self-relation and self-constitution is underexposed in the cur-rent ethical debate on DBS.Aim. This study aimed to consider the ques-tion how far bodily perception is changed by DBS. In order to elucidate the specificities of the technical aspects of the implant, a com-parison with an organ transplant is drawn.

Materials and methods. By analyzing the narratives of Helmut Dubiel (DBS after the di-agnosis of Parkinson’s disease) and Jean-Luc Nancy (heart transplantation) this article il-lustrates the interconnections between the different body perceptions and the self-per-ception.Results and conclusion. The DBS meth-od and heart transplantation differ in terms of reversibility and controllability and this in turn has an impact on the variation between bodily and self-perception. It can be dem-onstrated how narrative approaches to the bodily self offer a deeper understanding of patient subjective perspective and patient suffering.

KeywordsEpilepsy · Parkinson’s disease · Heart transplantation · Self · Alienation

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Leitthema

ist (mindestens) ein dutzend Jahre älter“ ([11], S. 45).

Während bei der THS ein techni-sches Gerät in das Gehirn implantiert wird, das jederzeit wieder entnommen werden kann, stellt die Organtransplan-tation einen Eingriff dar, der irreversi-bel ist. Entnimmt man das Transplan-tat wieder, hat dies in der Regel den Tod des Organempfängers zur Folge. Nancy beschreibt, dass der „Eindringling“, das „fremde“ Herz, sich beharrlich behaup-tet, es in ihn, wie er sagt, „einbricht“ ([11], S. 9). Das „Fremde“ wird essenzieller Be-standteil seines Lebens, zur Bedingung seines Lebens. Für Dubiel ist der „Hirn-schrittmacher“ dagegen nicht eine Frage des Überlebens, sondern vielmehr eine Frage nach der Art und Weise zu leben: Nachdem die Medikamente nicht mehr ihre volle Wirkung erzielen, wählt er mit der THS eine neue Weise, mit dem eige-nen Körper umzugehen, Defizite wie das Zittern zu kontrollieren. Die THS gilt ihm als eine Option, sich den eigenen Körper nach Bedarf gefügiger zu machen – und dies ist für ihn v. a. in dem Moment von entscheidender Bedeutung, als er an die Grenzen des Lebens als öffentliche Per-son gerät ([5], S. 83–84).

Es ist Dubiel möglich, sein Implan-tat zu steuern und sich auf diese Weise in verschiedene „Modi“ seines „Selbst“ zu versetzen. Während er unter dem Ein-fluss der THS zwar wieder besser gehen, sich „flüssiger“ bewegen kann, sind seine sprachlichen Fähigkeiten deutlich einge-schränkt. Dagegen hat das Abstellen des „Hirnschrittmachers“ die Wirkung, dass „nicht nur das Sprechen im technischen Sinne wieder funktionierte, sondern auch meine Verstandestätigkeit und die kog-nitiven Funktionen“ ([5], S. 15). Dubiel lernt, von dieser „Umschaltfunktion“ zwi-schen Bewegung und Denken Gebrauch zu machen. Er kann das Fremde in sei-nem Körper kontrollieren, es aus- und anschalten. Eine Herztransplantation, wie sie Nancy erlebte, ist jedoch der di-rekten Steuerung entzogen. Hier existiert kein technisches System, an das man sich ggf. schrittweise gewöhnen bzw. das man sich einverleiben kann, sondern die Herz-transplantation fordert die absolute Aus-einandersetzung mit dem Fremden im eignen Körper.

Es darf jedoch nicht vergessen wer-den, dass das Fremdheitsgefühl nicht erst oder nur durch das Im- oder Trans-plantat hervorgerufen wird. Die Betroffe-nen erfahren Formen der Selbstentfrem-dung schon mit der Krankheit. Nancy bemerkt, dass die Fremdheitserfahrung durch die Schwächung der körperlichen Vitalität hervorgerufen wird: „Bislang war das Herz fremd, weil es nicht einmal wahr- und aufgenommen werden konn-te, weil es nicht einmal gegenwärtig war. Von jetzt an lässt es nach, wird es schwä-cher. Diese Fremdheit bringt mich zu mir, macht mein Verhältnis zu mir selber aus“ ([11], S. 17). Und Dubiel hat die Er-fahrung, „sich selbst immer wieder neu zu erfinden“ ([5], S. 61) als Krise in seiner Selbstwahrnehmung beschrieben. Hier-bei bilden v. a. die Einschränkungen sei-ner sprachlichen Kompetenz und körper-lichen Kontrolle den Ausschlag für ihn, die Parkinson-Krankheit als etwas zu be-schreiben, das der „Logik des geringsten Widerstands“ folgt ([5], S. 61) und nicht mehr der „Logik des Selbst“, das sich auch gegen Widerstände erheben kann.

Auseinandersetzung mit dem Fremden als Form des Umgangs mit THS

Wir haben gesehen, dass wir über die Leibphänomenologie eine Möglich-keit haben, Selbstverhältnisse von Per-sonen zu beschreiben, die damit umge-hen müssen, dass sie etwas „Fremdes“ inkorporiert haben. Auf der Grundla-ge der Selbsterfahrungsberichte von Du-biel und Nancy konnten einige Unter-schiede in der Leib- und Selbsterfahrung bei THS und Organtransplantation her-ausgearbeitet werden. Dabei war es nicht das Ziel des Beitrags, die subjektiven Be-schreibungen von Dubiel und Nancy zu quantifizieren. Es sollten auf der Ba-sis dieser Beschreibungen vielmehr die-jenigen Selbstverhältnisse von Personen in den Blick kommen, die von der Inkor-porierung von etwas „Fremden“ betroffen oder dadurch verändert sind. Auch wenn derartige Phänomene z. T. psychologisch messbar sein mögen, ging es darum, eine philosophische Perspektive auf das „kör-perliche Selbst“ für das Verständnis von THS zu explizieren, die psychologische

und neurologische Zugänge nicht erset-zen soll, sondern ergänzen kann.

Dabei konnte auch gezeigt werden, dass die Fremdheitserfahrungen und das „Entgleiten“ des eigenen Körpers über den phänomenologischen sowie narrati-ven Zugang entmystifiziert werden kön-nen. Die Auseinandersetzung mit „Frem-dem“ im eigenen Körper führt zu Integ-rations- und Inkorporationsleistungen, die zwar die Identität von Personen än-dern – doch diese Personen erfahren ge-rade in derartigen Identitätsänderungen, wie das „Fremde“ zum „Eigenen“ wer-den kann bzw. wie sie das Verhältnis von „fremd“ und „eigen“ in ein produktives Selbstverhältnis transformieren können. Das Fremde ist nämlich für Personen das, „worin wir uns noch nicht wiedererken-nen“ ([16], S. 187).

Fazit

FDie Integration des Fremden in das Selbst ist möglich, da der Mensch die Fähigkeit besitzt, auf sich selbst Be-zug zu nehmen, auf Veränderungen zu antworten.

FLeibphänomenologische Perspek-tiven erweitern das Spektrum klas-sischer ethischer Bewertungen von Neurotechnologien, indem sie die subjektive Erfahrung körperlicher und psychischer Veränderungen zum Thema machen.

FDie für die betroffenen Personen ty-pische Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ wird für den spezifischen Umgang mit der THS als das „Fremde“ im eigenen Kör-per fruchtbar. Auf diese Weise kann eine philosophisch generierte Wis-sensform über das eigene „Selbst“ zum besseren Verständnis dazu bei-tragen, welche Herausforderun-gen die THS für Betroffene bedeuten kann.

Korrespondenzadresse

F. KrauseInstitut für Ethik und Geschichte der MedizinStefan-Meier-Str. 26, 79104 Freiburg [email protected]

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Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. F. Krause und O. Müller geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen einer Förderung durch das Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools der Universität Freiburg (EXC 1086).

Der Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.

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Leitthema