Kongenitale Facialisparese und „neurogener“ Fuß ... · über linken unterem Abdomen und lumbal...

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Einleitung: Die Neurofibromatose Typ 2 (NF2) ist eine seltene autosomal dominante Erkrankung, verursacht durch eine Mutation des Tumor- Suppressor-Gens (Chr. 22q11.2), das für das Protein Merlin kodiert. Sie galt typischerweise als eine Erkrankung des Erwachsenen- alters. Demgegenüber deuten jüngere Fallserien daraufhin, dass ein hoher Anteil der NF2-Fälle unerkannt bereits im Kindes- und Jugendalter manifest wurde (Ruggieri et al. 2005). Wir beschreiben hier den Fall eines 15-jährigen Jungen mit frühmanifester NF2. Falldarstellung Anamnese : 15-jähriger Patient, aktiver Sportler, stellt sich vor, weil er zunehmend Probleme habe mit dem linkem Fuß zu springen. Zusätzlich bestehen Schmerzen im linken Fuß bei längeren Geh-Distanzen. Seine Mutter beobachtete eine “eigenartige” Fußhaltung links (Abb. 1). Anamnestisch wird berichtet, dass bereits im Säuglingsalter ein inkompletter Augenschluss rechts beobachtet wurde. Im Alter von einem Jahr Diagnose einer peripheren Facialisparese. Wegen eines Strabismus convergens und einer später diagnostizierten Amblyopie rechts wurden seit dem Säuglingsalter zahlreiche augenärztliche Untersuchungen durchgeführt, die eine ätiologisch nicht geklärte “Retinanarbe” zeigten. Untersuchungsbefund : Periphere Facialisparese rechts, Strabismus convergens und Amblyopie rechts. Generalisierte Schwäche des linken Unterschenkels mit Atrophie der interdigitalen Fuß-Muskeln sowie “Krallenhaltung” des linken Fußes (Abb.2 ). Sensorik unauffällig. Ein Café-au-lait Fleck auf der rechten Schulter (Abb. 3). Zwei Neurofibrome (?) über linken unterem Abdomen und lumbal median (Abb. 3). Cerebrales und spinales MRT: Bilaterale Akustikusneurinome sowie zusätzliche intramedulläre spinale Tumoren. Dabei kein Hinweis auf kausalem Zusammenhang zur peripheren Ausfallssymptomatik. Eletrophysiolgisch: Periphere, axonale Neuropathie des linken Unterschenkels. Augenarzt: Anomalie der Retzhaut im Bereich der Makula rechts (DD: „epiretinale Gliose“) (Abb.5). Pädaudiologie: BERA: verlängerte Interpeaklatenzen I-V als Hinweis auf eine Hörverarbeitungsstörung bei normaler Hörschwelle. Ebenso zeigten sich latente vestibuläre Störungen. Komplikationen der NF2 Tinnitus, Vertigo, Hörverlust, beidseits möglich. Therapie: Versuch der hörerhaltenden VS-Chirurgie. Hörgeräte, Cochlea-Implantat, Hirnstamm-Implantat. Katarakt, retinale Anomalien, Opticusatrophie. Therapie: variabel Tumore (Schwannome, Menigeome, Gliome). Zentral, spinal, peripher. Therapie: ggf. Neurochirurgie. Periphere Neuropathie. Therapie: ? Revised diagnostic criteria for neurofibromatosis type 2 A) Bilateral vestibular schwannomas (VS) B) First-degree relative with NF2 and unilateral VS or any two of the following: meningioma, schwannoma, glioma, neurofibroma, posterior sub- capsular lenticular opacities C) Unilateral VS and any two of the following: meningioma, schwannoma, glioma, neurofibroma, posterior sub- capsular lenticular opacities D) Multiple meningiomas (two or more) and unilateral VS or any two of the following: schwannoma, glioma, neurofibroma, cataract Diskussion 2: Diskussion 2: Erstsymptome sind bei Kindern sehr variabel und umfassen ein Spektrum von Hirnnervenparesen (selten! N.vestibulochlearis), okuläre Symptome (Katarakt, Strabismus, Amblyopia, retinale Pathologien, Opticusatrophie), Hauttumoren, und/oder Krampfanfälle. Besonders NF2- typische ophthalmologische Auffälligkeiten könnten in vielen Fällen eine Frühdiagnose ermöglichen (Bosch et al. 2006). Bisherige Diagnosekriterien erlauben in den seltensten Fällen eine Diagnosestellung im Kindesalter und sollten daher für diese Population überdacht werden. Außergewöhnlich ist in unserem Fall die, zumindest anamnestisch, kongenitale Facialisparese und eine frühe Multiorganbeteiligung. Dabei ist besonders die Pathophysiologie der Facialisparese und der peripheren Neuropathie nicht abschließend geklärt. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass bei bis zu 66% von NF2-Patienten eine mindestens elektrophysiologisch eindeutige periphere Mono- oder auch Polyneuropathie feststellt werden konnte (Snerfeld et al. 2002) . Dieses bisher wenig beachtete Phänomen verdient sicher weitere wissenschaftliche Untersuchungen. Therapeutisch stehen präventive und rehabilitative Maßnahmen im Vordergrund. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurologen, Augenärzten, Audiologen, Neurochirurgen und ggf. Orthopäden ist zwingend erforderlich. Insbesondere in Hinblick auf Lebensplanung (insbes. Berufswunsch) ist eine frühzeitige offene Kommunikation über die möglichen schwerwiegenden Komplikationen von großer Bedeutung. Kongenitale Facialisparese und „neurogener“ Fuß. Primärmanifestationen einer Neurofibromatose Typ 2 D. Tibussek 1 , M. Schroeter², S. Hübsch³, K. Berger 4 , J. Schaper 5 , E.Mayatepek 1 1 Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin, Klinik für Allgemeine Pädiatrie Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin, Klinik für Allgemeine Pädiatrie (Direktor: Prof. Dr. med. E. Mayatepek) (Direktor: Prof. Dr. med. E. Mayatepek) 2 Neurologische Klinik, ³Augenklinik, Neurologische Klinik, ³Augenklinik, 4 Pädaudiologie, Pädaudiologie, 5 Institut für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf Institut für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf 1 1 2 2 Lit. beim Verfasser: Lit. beim Verfasser: e-mail: [email protected] e-mail: [email protected] Abbildung 5: ZNS-Manifestation Abbildung 5: ZNS-Manifestation Abbildung 5: Augen-Manifestation Abbildung 5: Augen-Manifestation Abbildung 2: Periphere Neuropathie Abbildung 2: Periphere Neuropathie links links Abbildung 3: Hautmanifestation Abbildung 3: Hautmanifestation Diskussion 1: Diskussion 1: Das klinische Bild unseres Patienten illustriert eindrucksvoll die Komplexität der NF2 in der Pädiatrie. Die Symptomatik umfasst Hautsymptome, peripher und zentralnervöse Pathologien sowie ophthalmologisch und pädaudiologische Manifestationen. Wichtiger noch, die Manifestation bereits im Säuglingsalter (Facialisparese, Amblyopie bei Netzhautschaden) zeigt, dass eine sehr frühe Manifestation möglich ist. Unter Berücksichtigung jüngerer Publikationen muss davon ausgegangen werden, dass dies mindestens 18% der Fälle betrifft. Das mittlere Alter bei Manifestation wurde im Rahmen retrospektiv Studien mit 5-7 Jahren angegeben. Wichtig ist hierbei zu beachten, dass pädiatrische Fälle selten durch Hörstörungen oder Schwindel auffällig werden, wie dies für Erwachsenen gilt.

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Einleitung:

Die Neurofibromatose Typ 2 (NF2) ist eine seltene autosomal dominante Erkrankung, verursacht durch eine Mutation des Tumor-Suppressor-Gens (Chr. 22q11.2), das für das Protein Merlin kodiert.Sie galt typischerweise als eine Erkrankung des Erwachsenen-alters. Demgegenüber deuten jüngere Fallserien daraufhin, dass ein hoher Anteil der NF2-Fälle unerkannt bereits im Kindes- und Jugendalter manifest wurde (Ruggieri et al. 2005). Wir beschreiben hier den Fall eines 15-jährigen Jungen mit frühmanifester NF2.

FalldarstellungAnamnese: 15-jähriger Patient, aktiver Sportler, stellt sich vor, weil er zunehmend Probleme habe mit dem linkem Fuß zu springen. Zusätzlich bestehen Schmerzen im linken Fuß bei längeren Geh-Distanzen. Seine Mutter beobachtete eine “eigenartige” Fußhaltung links (Abb. 1). Anamnestisch wird berichtet, dass bereits im Säuglingsalter ein inkompletter Augenschluss rechts beobachtet wurde. Im Alter von einem Jahr Diagnose einer peripheren Facialisparese. Wegen eines Strabismus convergens und einer später diagnostizierten Amblyopie rechts wurden seit dem Säuglingsalter zahlreiche augenärztliche Untersuchungen durchgeführt, die eine ätiologisch nicht geklärte “Retinanarbe” zeigten. Untersuchungsbefund: Periphere Facialisparese rechts, Strabismus convergens und Amblyopie rechts. Generalisierte Schwäche des linken Unterschenkels mit Atrophie der interdigitalen Fuß-Muskeln sowie “Krallenhaltung” des linken Fußes (Abb.2 ). Sensorik unauffällig. Ein Café-au-lait Fleck auf der rechten Schulter (Abb. 3). Zwei Neurofibrome (?) über linken unterem Abdomen und lumbal median (Abb. 3). Cerebrales und spinales MRT: Bilaterale Akustikusneurinome sowie zusätzliche intramedulläre spinale Tumoren. Dabei kein Hinweis auf kausalem Zusammenhang zur peripheren Ausfallssymptomatik. Eletrophysiolgisch: Periphere, axonale Neuropathie des linken Unterschenkels. Augenarzt: Anomalie der Retzhaut im Bereich der Makula rechts (DD: „epiretinale Gliose“) (Abb.5). Pädaudiologie: BERA: verlängerte Interpeaklatenzen I-V als Hinweis auf eine Hörverarbeitungsstörung bei normaler Hörschwelle. Ebenso zeigten sich latente vestibuläre Störungen.

Komplikationen der NF2

• Tinnitus, Vertigo, Hörverlust, beidseits möglich.Therapie: Versuch der hörerhaltenden VS-Chirurgie. Hörgeräte, Cochlea-Implantat, Hirnstamm-Implantat.

• Katarakt, retinale Anomalien, Opticusatrophie.Therapie: variabel

• Tumore (Schwannome, Menigeome, Gliome). Zentral, spinal, peripher.Therapie: ggf. Neurochirurgie.

• Periphere Neuropathie.Therapie: ?

Revised diagnostic criteria for neurofibromatosis type 2

A)Bilateral vestibular schwannomas (VS)B)

First-degree relative with NF2 and

unilateral VS or any two of thefollowing: meningioma, schwannoma, glioma, neurofibroma, posterior sub- capsular lenticular opacities

C)Unilateral VS

and any two of the following: meningioma, schwannoma, glioma, neurofibroma, posterior sub- capsular lenticular opacities

D)Multiple meningiomas (two or more)

and unilateral VS or any two of the following: schwannoma, glioma, neurofibroma, cataract

Diskussion 2:Diskussion 2:Erstsymptome sind bei Kindern sehr variabel und umfassen ein Spektrum von Hirnnervenparesen (selten! N.vestibulochlearis), okuläre Symptome (Katarakt, Strabismus, Amblyopia, retinale Pathologien, Opticusatrophie), Hauttumoren, und/oder Krampfanfälle. Besonders NF2-typische ophthalmologische Auffälligkeiten könnten in vielen Fällen eine Frühdiagnose ermöglichen (Bosch et al. 2006). Bisherige Diagnosekriterien erlauben in den seltensten Fällen eine Diagnosestellung im Kindesalter und sollten daher für diese Population überdacht werden.Außergewöhnlich ist in unserem Fall die, zumindest anamnestisch, kongenitale Facialisparese und eine frühe Multiorganbeteiligung. Dabei ist besonders die Pathophysiologie der Facialisparese und der peripheren Neuropathie nicht abschließend geklärt. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass bei bis zu 66% von NF2-Patienten eine mindestens elektrophysiologisch eindeutige periphere Mono- oder auch Polyneuropathie feststellt werden konnte (Snerfeld et al. 2002) . Dieses bisher wenig beachtete Phänomen verdient sicher weitere wissenschaftliche Untersuchungen.Therapeutisch stehen präventive und rehabilitative Maßnahmen im Vordergrund. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurologen, Augenärzten, Audiologen, Neurochirurgen und ggf. Orthopäden ist zwingend erforderlich. Insbesondere in Hinblick auf Lebensplanung (insbes. Berufswunsch) ist eine frühzeitige offene Kommunikation über die möglichen schwerwiegenden Komplikationen von großer Bedeutung.

Kongenitale Facialisparese und „neurogener“ Fuß. Primärmanifestationen einer Neurofibromatose Typ 2

D. Tibussek1, M. Schroeter², S. Hübsch³, K. Berger4, J. Schaper5, E.Mayatepek1

11Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin, Klinik für Allgemeine Pädiatrie Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin, Klinik für Allgemeine Pädiatrie (Direktor: Prof. Dr. med. E. Mayatepek)(Direktor: Prof. Dr. med. E. Mayatepek)

22Neurologische Klinik, ³Augenklinik, Neurologische Klinik, ³Augenklinik, 44Pädaudiologie, Pädaudiologie, 55 Institut für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf Institut für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf

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Lit. beim Verfasser: Lit. beim Verfasser: e-mail: [email protected]: [email protected]

Abbildung 5: ZNS-ManifestationAbbildung 5: ZNS-Manifestation

Abbildung 5: Augen-ManifestationAbbildung 5: Augen-Manifestation

Abbildung 2: Periphere Neuropathie Abbildung 2: Periphere Neuropathie linkslinks

Abbildung 3: HautmanifestationAbbildung 3: Hautmanifestation

Diskussion 1:Diskussion 1:

Das klinische Bild unseres Patienten illustriert eindrucksvoll die Komplexität der NF2 in der Pädiatrie. Die Symptomatik umfasst Hautsymptome, peripher und zentralnervöse Pathologien sowie ophthalmologisch und pädaudiologische Manifestationen. Wichtiger noch, die Manifestation bereits im Säuglingsalter (Facialisparese, Amblyopie bei Netzhautschaden) zeigt, dass eine sehr frühe Manifestation möglich ist. Unter Berücksichtigung jüngerer Publikationen muss davon ausgegangen werden, dass dies mindestens 18% der Fälle betrifft. Das mittlere Alter bei Manifestation wurde im Rahmen retrospektiv Studien mit 5-7 Jahren angegeben. Wichtig ist hierbei zu beachten, dass pädiatrische Fälle selten durch Hörstörungen oder Schwindel auffällig werden, wie dies für Erwachsenen gilt.