Konservatismus - Jens Hacke

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Sammelrez: Konservatismus: Idee,Parteien und MilieusRezensiert von: Jens Hacke, Institut für Sozialwissenschaften,Humboldt-Universität zuBerlin

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Sammelrez: Konservatismus: Idee, Parteien und Milieus 2004-2-056

Sammelrez: Konservatismus: Idee,Parteien und MilieusGreen, Ewen H. H.: Ideologies of Conservatism.Conservative political Ideas in the Twentieth Cen-tury. Oxford: Oxford University Press 2002.ISBN: 0-19-820593-7; 309 S.

Alexander, Matthias: Die Freikonservative Par-tei 1890-1918. Gemässigter Konservatismus inder konstitutionellen Monarchie. Düsseldorf:Droste Verlag 2000. ISBN: 3-7700-5227-7;421 S.

Mannheim, Karl; Stehr, Nico; Kettler, David;Meja, Volker (Hg.): Konservatismus. Ein Beitragzur Soziologie des Wissens. Frankfurt am Main:Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2003. ISBN:3-518-28078-3; 288 S.

Geppert, Dominik: Thatchers konservative Re-volution. Der Richtungswandel der britischen To-ries 1975-1979. München: Oldenbourg Wis-senschaftsverlag 2002. ISBN: 3-486-56661-X;463 S.

Bösch, Frank: Die Adenauer-CDU. Gründung,Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969.Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2001.ISBN: 3-421-05438-X; 575 S.

Bösch, Frank: Macht und Machtverlust. Die Ge-schichte der CDU. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002. ISBN: 3-421-05601-3; 312 S.

Bösch, Frank: Das konservative Milieu. Ver-einskultur und lokale Sammlungspolitik (1900-1960). Göttingen: Wallstein Verlag 2002. ISBN:3-89244-501-X; 266 S.

Gauland, Alexander: Anleitung zum Konser-vativsein. München: Deutsche Verlags-Anstalt2002. ISBN: 3-421-05649-8; 131 S.

Rezensiert von: Jens Hacke, Institut für So-zialwissenschaften, Humboldt-Universität zuBerlin

Die politischen Bewegungen der Moderne,ob Liberalismus, Nationalismus oder Sozia-lismus, aber auch die Ideologien des Faschis-mus und Nationalsozialismus, sind eingrenz-bare Bereiche ideengeschichtlicher und poli-

tiktheoretischer Forschung. Nicht nur sind ih-re Vordenker und der kanonische Bestand derLehre beschreibbar, zudem lassen sich die-se Ideengebäude – mit etwas Mühe, zuge-geben – inhaltlich auf den Begriff bringen:Freiheit, Nation, Gleichheit, Macht, Rasse,das sind (oder waren) jeweilige Kernelemen-te und Ausgangspunkte politischen Denkens.Quer dazu steht der Konservatismus. Noch je-der Ideenhistoriker, der sich daran versucht,die materialen Gehalte konservativen Den-kens zu fixieren, scheiterte an diesem schwie-rigen Unterfangen. Schnell bricht sich die Er-kenntnis Bahn, dass der Konservatismus alsreaktives Phänomen zur steten Anpassung,zur Transformation verdammt ist. Allenfallshabituelle Präferenzen des Konservativen, diesich in der Hochschätzung von Heimat, Fami-lie, Tradition und Religion ausdrücken kön-nen, lassen sich in aller Vagheit ausmachen.Mit Blick auf das Politische hingegen ver-schwimmen die Konturen, denn zu oft hatsich das ideelle Bezugssystem des Konserva-tiven gewandelt. Der dem Mittelalter nach-hängende Romantiker, der preußische Büro-krat, der alldeutsche Monarchist, der nationa-le Extremist – sie alle wurden binnen einesJahrhunderts in Deutschland mit dem Attri-but konservativ versehen.

Schon für die Epoche des Vormärz verließden Wissenssoziologen Karl Mannheim dasVertrauen, mit seiner Unterscheidung zwi-schen vorreflexivem Traditionalismus undnachaufklärerischem Konservatismus weiter-zuarbeiten. Das Kapitel über Hegel und denKonservatismus schrieb er bekanntlich nicht,zu sehr irritierte ihn Hegels Methodik, Seinund Sollen zusammenzudenken und die Ideein der vorhandenen Wirklichkeit zu entde-cken und dabei gleichzeitig einem konser-vativen Denkstil zu folgen. Trotzdem lehrtdie Wiederauflage von Mannheims einfluss-reicher Konservatismus-Schrift immer noch,dass der Konservatismus entgegen seines Be-harrens auf Geschichte und Tradition erstdurch die nachträgliche Reflexion und Ratio-nalisierung von akut gefährdeten Werten ent-steht.

Wie allgemein der Konservatismusbegriffheute politisch verwendet wird, belegt derDefinitionsversuch des letzten Kanzlerkandi-daten der Union, Edmund Stoiber: „Konser-

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vativ bedeutet für mich auch, die Wirklich-keit als Wirklichkeit anzuerkennen. Wir müs-sen bereit sein, die Menschen so zu nehmen,wie sie sind, und müssen aufhören, sie ver-formen zu wollen.“ Daran sieht man: Konser-vatismusvorwürfe wie noch vor 20-30 Jahrenvermögen nicht mehr zu mobilisieren. Im Ge-genteil, nun wird einerseits der SPD vorge-worfen, zu strukturkonservativ zu sein, ande-rerseits wird der CDU/CSU geraten sich aufkonservative Werte zu besinnen, um – wie FJSes unnachahmlich auf den Punkt brachte – alskonservative Kraft „an der Spitze des Fort-schritts zu marschieren“. Schon daraus lässtsich ersehen, dass es sich beim Konservatis-mus um einen stets wandlungsfähigen Begriffder politisch-sozialen Sprache handelt, der –unerlässlich zur Ordnung des politischen Fel-des – hart umkämpft, wirkungsvoll zu beset-zen, aber doch wesentlich relational zu verste-hen ist.

Setzt man diese Eigenschaft des Relatio-nalen voraus, zeigt sich schnell, wie schwerdie Erträge einer Konservatismusforschungzu bündeln sind. Die altbundesrepublikani-schen Konservatismusdeutungen soziallibe-ral orientierter Politologen wie Helga Gre-bing, Martin Greiffenhagen oder Kurt Lenkwirken – bei allen interpretatorischen Ver-diensten im Einzelnen – aus heutiger Sichtleicht antiquiert, war doch ihre Motivationin erster Linie politisch.1 Sie teilen diesel-ben Prämissen: Zunächst unterstellen sie ei-ne erkennbare Kontinuität des Konservatis-mus, die sich im Denkstil und in der antide-mokratischen Ausrichtung nachweisen lässt;gesucht wird nach einer über die Zeiten gül-

1 Grebing, Helga, Konservative gegen die Demokratie.Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundes-republik nach 1945, Frankfurt am Main 1971; Greiffen-hagen, Martin, Das Dilemma des Konservatismus inDeutschland. Mit einem neuen Text: „Post-histoire?“Bemerkungen zur Situation des „Neokonservatismus“aus Anlaß der Taschenbuchausgabe 1986, Frankfurtam Main 1986; Lenk, Kurt, Deutscher Konservatismus,Frankfurt am Main 1989. Für eine Erweiterung die-ser Perspektive sorgt die (allerdings für die Bundes-republik sehr knapp ausgefallene) ausgewogene Über-blicksdarstellung von Schildt, Axel, Konservatismus inDeutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert biszur Gegenwart, München 1998. Abschied von bis da-to vorherrschenden Deutungen des bundesrepublika-nischen Konservatismus/Neokonservatismus nimmtauch Nolte, Paul, Konservatismus in Deutschland. Ge-schichte – und Zukunft?, in: Merkur 55 (2001), S. 559-571.

tigen Konservatismus-Definition. Daraus er-gibt sich eine Geschichte des Konservatismusals Maskerade und permanente Verpuppungdes antiaufklärerischen Bösen. Weil sie dieGeschichte des Konservatismus bis in die un-mittelbare Gegenwart fortschreiben, ist es nurkonsequent, dass sie implizit die fortwähren-de Bedrohung des Konservatismus für die li-berale Demokratie zu belegen suchen. Voneinem „verfassungspatriotischen Normalkon-servatismus“ wollten diese Untersuchungennoch nichts wissen, denn das Erkenntnisin-teresse lag damals – freilich nicht unbegrün-det – vor allem darin, die Traditionslinien derpolitischen Rechten bis in die Bundesrepublikhinein zu verdeutlichen.

Die Gefahr des technokratischen Konserva-tismus im Design eines Ernst Forsthoff, Ar-nold Gehlen oder Helmut Schelsky, die Ein-flüsse Carl Schmitts und Hans Freyers, alleszeitweilige Sympathisanten des NS-Staates,bedurften damals ideengeschichtlich einerKritik, wurden aber tendenziell übertriebenbzw. in ihrer politischen Wirksamkeit weitüberschätzt. Dies zeigt sich insbesondere inder die 1970er und 1980er-Jahre andauerndenDebatte um den Neokonservatismus, die sichauf eben genannte Exponenten konzentrier-te, auch nach deren Ableben. Mit ihnen fielenandere, liberal ausgerichtete Philosophen undPolitologen, die gegen den Zeitgeist der Neu-en Linken opponierten wie Hermann Lübbe,Robert Spaemann, Wilhelm Hennis oder KurtSontheimer, unter das Verdikt, „ein intellektu-ell unerhebliches Reaktionsphänomen“ (Ha-bermas) zu repräsentieren. Diese ideenpoli-tische Seite des Konservatismus bedarf wei-terer Ausleuchtung, muss sie sich doch vomeinseitigen Bezug auf das kontaminierte Ge-lände der politischen Rechten lösen. ErsteSchritte zur Historisierung leitete diese liberalgrundierte Spielart des Konservatismus be-reits selbst ein. Die mittlerweile auf die 80 Jah-re zugehenden Schüler des Münsteraner Phi-losophen Joachim Ritter (neben Lübbe undSpaemann vor allem Odo Marquard, MartinKriele, Ernst-Wolfgang Böckenförde) pochennachdrücklich auf ihre staatstragende Funk-tion in der alten Bundesrepublik. Die Stabili-sierung des „Modernitätstraditionalismus zu-gunsten der liberalen Demokratie“, das warfür Marquard „eine der wichtigsten Aufga-

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ben“ seiner Generation.2

Der wesentliche Bezugspunkt für die Po-litisierung der Ritter-Schüler bildet die Stu-dentenrevolution und, wie Odo Marquardanlässlich des 100. Geburtstags seines Leh-rers schrieb, „die sehr ähnlich absolvierte Re-plik auf die durch das Jahr 1968 symbolisier-te Infragestellung der demokratischen Struk-tur der Bundesrepublik“.3 Darauf antwor-tet eine Philosophie der Bürgerlichkeit, diedie staatlichen Institutionen und die Verfas-sung geschützt sehen wollte sowie für Prag-matismus und Augenmaß plädierte: Verant-wortung gegen Gesinnung, institutionalisier-te Dezision gegen herrschaftsfreien Diskurs,Tradition und Sittlichkeit versus idealisier-te Vernunft und Moralität. Die Beweislastträgt der Reformer, der beschleunigte Fort-schritt verlangt kulturell nach Kompensatio-nen, Ideologien aller Art ist mit Skepsis zubegegnen, so lauten die Glaubenssätze. Mar-quard, Kriele und Lübbe haben in den letztenJahren wieder an das liberalkonservative Ge-gengewicht zum (so empfundenen) neomar-xistischen Zeitgeist der bleiernen 1970er-Jahreerinnert. „Die Bundesrepublik ist keine ver-säumte Revolution, sondern eine gelungeneDemokratie“, so das von Marquard oft vari-ierte Credo derjenigen, die in bundesrepubli-kanischer Perspektive zu Neokonservativenerklärt wurden. Nüchtern besehen findet sichbei diesen so genannten Neokonservativen je-

2 „Ich bin ein Weigerungsverweigerer“. Ein Gesprächmit Odo Marquard, in: Ästhetik & Kommunikation 34(2003), Heft 122/123 (Winter 2003), S. 77-81, hier S. 80;Zu den Grundschriften dieses Liberalkonservatismussind vor allem zu zählen: Spaemann, Robert, Zur Kri-tik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Phi-losophie, Stuttgart 1977; Lübbe, Hermann, Philosophienach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragma-tischer Vernunft, Düsseldorf 1980; Ders., Fortschrittsre-aktionen. Über konservative und destruktive Moderni-tät, Graz 1987; Kriele, Martin, Einführung in die Staats-lehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen desdemokratischen Verfassungsstaates, Opladen 1994, 5.Aufl. – Als Überblick vgl. auch Hacke, Jens, Skep-sis und Kompensation. Rückblick auf eine liberalkon-servative Intellektuellengeneration in der Bundesrepu-blik, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Ge-sellschaftspolitik, Bd. 156, 40. Jg., Heft 4, Dezember2001, S. 18-27.

3 Marquard, Odo, Positivierte Entzweiung. Joachim Rit-ters Philosophie der bürgerlichen Welt, in: Ritter, Joa-chim, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristotelesund Hegel. Erweiterte Neuausgabe. Mit einem Nach-wort von Odo Marquard, Frankfurt am Main 2003, S.442-456, hier S. 456.

doch viel mehr Übereinstimmung mit den an-titotalitären cold war liberals vom Schlage ei-nes Raymond Aron, aber keinerlei Kontaktzur konservativen Staatstheorie der Roman-tik, zum preußischen Etatismus oder gar zurKonservativen Revolution. Konservativ blieballein die Gegnerfixierung, die zu Zeiten derbipolaren Welt, der studentischen Kulturre-volution, des Terrorismus und der jeweili-gen Sympathisanten keine Orientierungspro-bleme bereitete. Insofern – wenn man denKonservatismus als Relationsbegriff bewah-ren will – stellt sich die Frage: Was ist heute„konservativ“, nach dem Sieg der cold war-riors über den ideologischen Gegner?

Der Publizist und Herausgeber der Märki-schen Allgemeinen Zeitung Alexander Gau-land versucht in seiner „Anleitung zum Kon-servativsein“ eine Gegenwartsbestimmungkonservativen Denkens. Ein kulturkritischerGestus durchzieht seinen kurzweiligen Essay,in dem er den Geltungsverlust von Wer-ten, Ideen und Traditionen beklagt. Denim Kern optimistischen Modernitätstraditio-nalisten der gar nicht mehr so „skepti-schen Generation“ hält er in altkonservati-ver Weise entgegen: „Nicht Kompensationallein kann die gesellschaftlichen Fliehkräf-te bändigen, die Veränderungsgeschwindig-keit selbst muss vermindert werden.“ (S. 85)Hier spielt Gauland noch in altbewährter Wei-se die Rolle des Aufhalters. Gauland variiertin seiner Schrift alle gängigen konservativenLeitartikler-Topoi und setzt mit seinem Plä-doyer für den historischen Sinn und die Be-hutsamkeit im Umgang mit Religion und Tra-dition keine überraschenden Duftmarken. In-des, da alles allgemein bleibt, wird auch sel-ten klar, worin die Aufgabe des Konservati-ven heute liegen könnte. Mit Blick auf die Au-ßenpolitik plädiert Gauland in der üblichenWeise für Realismus und nationale Interes-sen, den Rekurs auf Markt und Menschen-rechte hält er für eine „intellektuelle Rebarba-risierung“, weil damit die „historischen Kräf-te hinter blutigen Konflikten“ geleugnet wür-den (S. 49f.). Nicht ganz klar wird dem Leser,worin der konservative Reanimateur das Kri-senlösungspotential vorgeblich konservativerPolitik sieht, wenn denn die Geschichtsmäch-te enttarnt sind. „Das Konservative ist nichtein Hängen an dem, was gestern war, sondern

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ein Leben aus dem, was immer gilt“ (S. 130),so echot die Konservative Revolution durchden Text – für eine „Anleitung zum Konser-vativsein“ ist das ein wenig blass.

Als trauernder Konservativer gibt sichGauland zu erkennen, wenn er die techno-kratische Akzeptanz der demokratischen In-dustriegesellschaft in der Bundesrepublik vonder Inkaufnahme hoher kultureller Verlustebegleitet sieht. Dafür verantwortlich ist auchdie CDU, die nur noch insofern konservativist, „als sie die nach 1949 im Westen Deutsch-lands entstandene Ordnung bewahren will“.In dem Maße, in dem die Hegelsche Staats-mystik dem Funktionalismus des daseins-vorsorgenden Wohlfahrtsstaates gewichen ist,wurde der Rückzug in die technische Ratio-nalität und die Ökonomisierung der Gesell-schaft befördert. Damit wird die weitgehendsäkularisierte CDU zur Wegbereiterin neoli-beraler gesellschaftlicher Desintegration, ge-gen die der Konservative vergeblich den My-thos, die Geschichte und die kulturellen Mög-lichkeiten von Identität in Stellung bringenmuss. In seinem Kampf gegen die Globalisie-rung findet sich der wahre Konservative, soGaulands Suggestion, Seite an Seite mit attac,nicht aber in der CDU eines Friedrich Merz.

Zur Christlich Demokratischen Union hatder Bochumer Historiker Frank Bösch gleichzwei Bände bei der DVA vorgelegt: seine Dis-sertationsschrift „Die Adenauer-CDU“ sowieeine bis in die Gegenwart der Merkel-CDUreichende, übersichtliche Gesamtgeschichteder Partei „Macht und Machtverlust“ – einTitel, der noch die Krise der spendenskan-dalgeplagten CDU zur Zeit der Veröffentli-chung (vor der Wahl 2002) reflektiert. Zwarsieht auch Bösch die heutige CDU vor einemprogrammatisch-ideologischen Problem, weilsich die Integrationsformeln des Antikommu-nismus, der sozialen Marktwirtschaft und derbürgerliche Mitte zusehends abgenutzt unddas „C“ rasant an Bedeutung verloren hätten.Insgesamt jedoch betont er die demokratisie-rende und gesellschaftsstabilisierende Kraft,die sie als „interkonfessionelle Sammlungs-partei“ entfaltete. Sie war und ist ein „Er-folgsmodell“, dessen Geschichte, wie Böschzu Recht bemerkt, bislang eher nebenbei er-zählt worden ist, im Schatten des Wirtschafts-wunders, der Westintegration und des über-

mächtigen Lenkers Konrad Adenauer. Die-se Lücke ist nun durch die quellengesättig-ten, hervorragend geschriebenen und gut in-formierten Bände geschlossen worden. Aufeinen ideologiebehafteten Konservatismusbe-griff alter Prägung kann Bösch in seinen Un-tersuchungen zur CDU weitgehend verzich-ten; er spricht lediglich im allgemeinen Sinnevon „konservativer Modernisierung“ und be-legt einmal mehr, dass die Granden der CDUnoch bis einschließlich Kiesinger die Etikettie-rung „konservativ“ auffallend mieden.

In Böschs Geschichtsschreibung der CDUspielen – tendenziell wahrscheinlich zu Recht– Intellektuelle und konservative Vordenkerkeine Rolle; die Partei bewegt sich inmit-ten der Gesellschaft, in ihren Verbänden undVereinen, in der Kirche. Gezielt, aber kei-nesfalls konfliktfrei gelang es der Partei un-ter Adenauer, den konfessionellen Gegensatzauszugleichen und die zahlreichen bürgerli-chen, aber auch rechtsextremen Splitterpartei-en zu absorbieren. Der Aufbau eines verdeck-ten Spendensystems ermöglichte – wie Böschbelegt – nicht nur eine fortschreitende media-le Professionalisierung der CDU-Kampagnen.Er ging Hand in Hand mit großzügigenWahlgeschenken aus Regierungsmitteln, umWählerklientele gezielt einzubinden. Macht-mechanik und Machttechnik stehen für Böschim Zentrum der Untersuchung von Partei-führung und Parteiorganisation, die wesent-lich durch die Vorsitzenden geprägt wurden.Der Erfolg der Partei bemisst sich dann ausder Fähigkeit, gesellschaftliche Strömungenaufzunehmen, auf Trends zu reagieren, mo-dern und flexibel zu sein, vor allem aber, ei-gene Mehrheiten in den Parteigremien zu or-ganisieren. Bösch erinnert noch einmal nach-drücklich daran, wie sehr dies Helmut Kohlin der Rolle des Reformers in den 1970er-Jahren gelungen ist. Unter anderem durchihn erlebte die CDU etwas verspätet ihr ei-genes „1968“: Kohl erkannte frühzeitig, dasssich die Partei gesellschaftlich öffnen und denSchritt vom Honoratiorenverein zur lebendigdiskutierenden Volkspartei vollziehen muss-te, als er mit programmatischen Köpfen wieBiedenkopf und Geißler eine transparente, or-ganisierte Parteiführung etablierte, die sozia-le Frage thematisierte und auf Basismobili-sierung setzte. Wie einschneidend der Kohl-

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Effekt war, wird daran deutlich, dass noch biszu Adenauers Tod innerparteiliche Wahlenebenso unbekannt waren wie Parteiprogram-me.

Der versierte Machtanalytiker Bösch ver-mag in seinen Forschungen ausführlich zu be-legen, wie sich die mit den Erfordernissen in-nerparteilicher Demokratisierung begründe-ten Reformvorhaben von Kohl sehr früh zurBefestigung von dessen eigener Machtposi-tion instrumentalisieren ließen, ja ihrerseitsweniger von Idealen, sondern von pragmati-schen Interessen getragen wurden – mit demmittlerweile bekannten Ergebnis, dass die vonihm vorgetragene Kritik an Adenauer 30 Jah-re später in Gestalt „junger Wilder“ struktur-gleich wiederkehrte. Dass dies kein alleini-ges Problem der Union ist, kann man schonbei Robert Michels lernen, dessen klassische„Soziologie des Parteiwesens“ die Heraus-bildung von basisfernen Führungseliten als„ehernes Gesetz der Oligarchie“ beschrieb.

Gilt für die politische Landschaft derBundesrepublik, dass die Union im Schat-ten der NS-Herrschaft ein gebrochenes Ver-hältnis zum politisch konnotierten Kon-servatismusbegriff hatte, so lässt sich dervorpolitisch-lebensweltliche Raum nahezueinschränkungslos mit dem Label „konser-vativ“ versehen. Das bestätigt ein weiteresBuch des staunenswert produktiven Histori-kers Bösch über „Das konservative Milieu“vom Kaiserreich bis ins geteilte Nachkriegs-deutschland. Die erste Schwierigkeit ist frei-lich, dieses konservative Milieu erst einmalgenauer einzugrenzen. Bösch tut dies, indemer sich von den ideengeschichtlichen Begriffs-bestimmungen distanziert und eine „gesell-schaftliche Großgruppe“ ausmacht, „deren,soziale Praxis’ durchaus sinnvoll als ,konser-vativ’ definiert werden kann“. Diese „sozia-le Praxis“ schließt ein: 1. die „Hochschätzungchristlich geprägter Werte und Bräuche“, 2.die „Verbundenheit mit der engeren und wei-teren Heimat“ und 3. einen „Gesellschaftsent-wurf, der eine harmonisch-berufständischeund eher elitär geführte Gemeinschaft be-vorzugt“. Bösch erkennt das Dilemma, dasssich diese Werte wandeln und „in verschie-denen historischen Konstellationen mit ande-ren konkreten Inhalten“ füllen können: „DieKonservatismus-Definition umfasst folglich

sowohl Menschen, die 1920 etwa für die Mon-archie, die Bekenntnisschule und großdeut-sche Ziele eintraten, als auch diejenigen, diefünfzig Jahre später für einen starken Kanzler,obligatorischen Religionsunterricht und denAnschluss der ehemals deutschen Ostgebie-te plädierten.“ (S. 15) Wenn wir schließlichnoch der Prämisse eines – aufgrund der „frag-mentierten Lebenswelt“ des konservativ den-kenden Menschen – „weichen“ Milieubegriffsfolgen, dann wird klar, dass abseits der or-ganisierten Arbeiterbewegung alles in BöschsKonzept eingepasst werden kann.

Die stets wünschenswerte klare Begriffsbe-stimmung, die Bösch in sozialhistorischer Ma-nier anstrebt, muss somit scheitern, denn an-gesichts der Erosion der Sozialmilieus spätes-tens in den 1960er-Jahren, als die „zerrisse-ne Welt des Sozialen“ (Honneth) immer un-übersichtlicher geriet, lassen sich nur noch„Reststrukturen“ erkennen. Böschs abschlie-ßendes Plädoyer für „einen völlig neuen Mi-lieubegriff“ dürfte sich daher als Quadraturdes Kreises entpuppen – eine unlösbare Auf-gabe (S. 227).

Allerdings tut der überzogene theoreti-sche Rahmen dem Erkenntnisgewinn die-ser Arbeit keinen Abbruch. Zwar scheint esproblematisch, in den „konservativen Mi-lieus“ die Vermittlung und Verfestigung ei-nes großen „Weltanschauungsgebäudes“ zusehen (S. 217) – bleibt doch die Frage, obes das als solches jemals gab. Aber BöschsQuellenstudien zur lokalen Sammlungspoli-tik schärfen den Sinn für die Aporien derModernisierung und für die Janusgesichtig-keit des (wie auch immer definierten) Kon-servatismus. Jenseits der Höhenkammdiskur-se der Ideen- und Intellektuellengeschichtewerden hier Politisierungsmuster beschrie-ben, die in der unmittelbar erfahrbaren re-gionalen Lebenswelt stattfanden, wie dort aufgesamtgesellschaftlichen Wandel reagiert unddieser teilweise selbst befördert wurde. Ei-ne Quintessenz der Untersuchung ist auch,dass man vom Verständnis eines normati-ven Modernisierungsprozesses, dem sich tra-ditionale, rückwärtsgewandte, voraufkläreri-sche Strömungen behindernd entgegenstell-ten, Abstand nehmen muss. Böschs Blick aufKontinuität und Gleichschaltung des kon-servativen Milieus im NS unterstreicht die-

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se Ambivalenz. Einerseits hatte die nach1918 einsetzende rechtskonservative Mobili-sierung gegen die Republik das bürgerlich-liberale Moment auf lokaler Ebene nachhal-tig geschwächt und damit den Staat destabi-lisiert. Andererseits erwies sich das konserva-tive Milieu in seinem Traditionsbewusstseinvielfach als Bollwerk gegen die Ansprücheder NSDAP, deren Mitglieder Mühe hatten, inseinen Institutionen und Vereinen Fuß zu fas-sen. Das täuscht nicht darüber hinweg, dasssich die NSDAP so eng an das konservativeMilieu anlehnte, „dass sie als eine der ver-schiedenen Schwesterparteien des stets frag-mentierten konservativen Milieu erschien“ (S.132). Nach der Gleichschaltung dienten dieVereine „zugleich als konservative Nischenund als wesentliche Träger des Nationalsozia-lismus“ (S. 160). Diese Zwiespältigkeit verbie-tet Pauschalisierungen.

Konzentriert man sich auf das Sozialmilieu,so wird deutlich, dass die für den parteipo-litischen und intellektuellen Konservatismusentscheidende Zäsur von 1945 auf der Mi-lieuebene viel weniger Bedeutung hat. Sozial-und mentalitätshistorisch kann man die „Ge-sellschaft in Unsicherheit“ (Herbert) von 1900bis 1960 als Einheit betrachten und muss denausschlaggebenden Modernisierungsschub inden „dynamischen Zeiten“ der 1960er-Jahreverorten. Seit dem Ende dieses Jahrzehn-tes kam es dann auch zur merklichen Li-beralisierung eines Konservatismus, der sichnicht mehr in erster Linie lokal auf seinetraditionellen sozialen Trägergruppen stützenkonnte, sondern sich im Angesicht der Neu-en Linken als Grundgesetzpartei verstand.Dann hieß es nicht mehr „Konservative gegendie Demokratie“ (Grebing), sondern Liberal-konservative für die liberale Verfassungsord-nung.

Weniger ein Beitrag zur Ideen- oder So-zialgeschichte des Konservatismus als viel-mehr eine Untersuchung zur wilhelminischenWahl- und Parlamentskultur liefert Matthi-as Alexanders akribisch aus den Quellengearbeitete Geschichte über „Die Freikon-servative Partei 1890-1918“. Detailliert be-schreibt Alexander den Abstieg der bismarck-treuen Freikonservativen, nachdem der Lot-se von Bord gegangen war, und rührt da-mit am Dilemma eines pragmatisch auf Regie-

rungsunterstützung bedachten Konservatis-mus. „Unter den freikonservativen Parlamen-tariern befand sich niemand mit theoretisch-philosophischen Ambitionen, sie hielten –darin also gut konservativ – auf Theorie-ferne“ (S. 33), konstatiert Alexander. Es do-minierte das Ideal der Realpolitik. Dement-sprechend steht die Analyse der Machtme-chanik des elitendominierten Parlamentsall-tags mitsamt der Vorabsprachen und Kom-promissaushandlungen im Zentrum der Un-tersuchung. Diese Perspektive muss insge-samt unbefriedigend bleiben, fehlt ihr dochdie Rückbindung an gesellschaftliche Prozes-se und Diskussionen ebenso wie an diejeni-gen Interessen, die durch die sozialen Trä-gerschichten der Freikonservativen artikuliertwurden, bevor es zu Kompromissen kam.Deshalb vermisst man in Alexanders über-wiegend auf die handelnden Parlamentarierkonzentrierten Darstellung Aspekte, die manvon einer Parteiengeschichte erwartet hätte,respektive das reziproke Verhältnis zwischenPartei und Wahlvolk – oder es hätte einerProblematisierung dieses fehlenden Verhält-nisses bedurft, um den Niedergang der Par-tei abseits von funktionalen Argumenten zuerklären. Angesichts dieser eingeschränktenPerspektive hält sich für diejenigen der Lek-türespaß in Grenzen, die nicht unmittelbareForschungsinteressen mit den Parlamentsde-batten um die Einkommenssteuerreform von1890/91 (S. 198-213, 230-240), die Berggesetz-novelle von 1905 (S. 292-299) oder um die ge-scheiterte preußische Wahlrechtsreform von1910 (S. 348-355) verbinden.

Abschließend noch ein Blick auf neuereArbeiten über den angelsächsischen Konser-vatismus, dessen Entwicklung in mancher-lei Hinsicht den Vergleich mit den deut-schen Verhältnisse lohnt. Dominik Gepperterforscht in seiner Dissertationsschrift dieFormierungsphase für „Thatchers konserva-tive Revolution“, nämlich ihren Aufstieg zurkonservativen Parteichefin und die Heraus-bildung ihrer „Weltanschauung“ bis zur Wahlins Amt der Premierministerin 1979. Damitgibt sich der Baring-Schüler explizit als In-tentionalist (S. 22) zu erkennen: In einer Mi-schung aus Politik- und Ideengeschichte ver-folgt er Thatchers Aufstieg zur charisma-tischen und führungsstarken Staatslenkerin

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und beschreibt ihre Durchsetzungskraft aufdem Weg nach oben in einer männerdomi-nierten Welt. In Thatchers „Kampfzeit“ wur-de also das „intellektuelle Fundament ge-legt, auf dem die spätere Politik ruhte“, und„die Grundgedanken der Programmatik erar-beitet“, so Gepperts Sicht auf die Frau, dieden Sozialismus „mit Stumpf und Stiel aus-zurotten“ bestrebt war (S. 418f.). Fast schonberuhigt nimmt man zur Kenntnis, dass essich bei Thatchers „konservativer Revoluti-on“ um „keinen plötzlichen Putsch“ handel-te (S. 19). Gepperts personenzentrierte undoft unverhohlen sympathisierende Perspek-tive will provozieren, und nicht umsonsthat der Autor in jüngster Zeit Thatchers„Rosskur“ essayistisch als Allheilmittel zurKurierung des bundesrepublikanischen Re-formstaus anempfohlen.4 Sich daran störenhieße, die Vorzüge dieser mit Elan geschriebe-nen und gleichzeitig auf solider Quellenbasisberuhenden Studie zu verkennen, die hervor-ragend über das geistige Klima im Englandder 1970er-Jahre informiert.

Woraus setzt sich Thatchers „politische Phi-losophie“ zusammen? Welche Einflüsse be-stimmten ihr politisches Handeln? Wer wieThatcher Hayeks „Constitution of Liberty“mit den Worten „This is what we believe!“auf den Tisch knallt und als Studentin des-sen „Road to Serfdom“ zu den intellektuellenInitiationserlebnissen zählte, lässt eigentlichwenig Raum für Spekulation. Trotzdem, eslohnt sich, die geistigen Wurzeln des Thatche-rism, der auch für Geppert mehr war als dieÜberzeugungen seiner Protagonistin, zu re-konstruieren und zum britischen Konservatis-mus ins Verhältnis zu setzen. Dann wird deut-lich, auf welche geschickte Weise die That-cherites die wirtschaftsliberalen und indivi-dualistischen Strömungen mit einem Sinn fürKonvention, Tradition, Autorität, aber auchNationalbewusstsein und Gemeinschaftsstre-ben verbunden haben. Die Tories unter Marg-ret Thatcher reagierten mit ihrer entschlosse-nen Gegnerschaft zum Keynesianischen Kon-sens der englischen Nachkriegsgesellschaftauf die absehbare Überdehnung des Wohl-fahrtsstaates und predigten eine schonungs-lose Umkehr zum Liberalismus des 19. Jahr-

4 Geppert, Dominik, „Maggie Thatchers Rosskur“. EinRezept für Deutschland, Berlin 2003.

hunderts.Der neoliberale Ansatz vermischte sich bei

Thatcher mit dem Glauben an eine zutiefstprotestantische Ethik des Kapitalismus. DiePrägungen ihrer methodistischen Religiosi-tät ebenso wie ein britisches Sendungsbe-wusstsein ermöglichten ihr, die eigenen poli-tischen Ziele glaubwürdig und engagiert zukommunizieren. Darin liegt auch der Un-terschied zum monetaristischen Neoliberalis-mus: Thatcher knüpfte an konservatives Ge-meinschaftsdenken an und war keineswegsnur eine leidenschaftslose Handtaschenträge-rin. So ist Thatchers Ausspruch „who is so-ciety? there is no such thing“ oft als einseiti-ges Bekenntnis zum Neoliberalismus fehlin-terpretiert worden. Der Mensch verwirklichtsich zwar nicht in einer abstrakten, auf dis-tributiver Gerechtigkeit beruhenden Arbeits-gesellschaft, aber – wie Thatcher nicht mü-de wurde, zu predigen – benötigt durchausdie unmittelbaren sozialen Bindungen in Fa-milie, Gemeinde und Verein, um persönlicheErfüllung zu finden. Der Staat hatte also diepositive Aufgabe, „die Initiativkräfte der In-dividuen“ zu fördern und damit „die natür-lichen Energien der Bürger“ freizusetzen (S.127), gleichzeitig jedoch das Feld des Sozialenvor Politisierung zu schützen.

Entgegen der verbreiteten konservativenTheoriefeindschaft erkannte Thatcher – demZeitgeist durchaus entsprechend – die Not-wendigkeit, den „battle of ideas“ gegen dieLinke zu bestehen: „We must have an ideo-logy. The other side has got an ideology theycan test their policies against. We must haveone as well.“ (S. 293) Geppert zieht sich in-sofern elegant aus der Affäre, als er diesenTest nicht mehr vornimmt. Dabei offenbarensich nämlich die inhärenten Widersprüche ei-nes politischen Programms, das den starkenStaat in Sachen innerer Sicherheit mit einemRückzug des Staates aus der Ökonomie zuvereinbaren sucht, das bereits erodierte Tra-ditionsbestände als Leitwerte postuliert, ohneeinen Sinn für soziale Gerechtigkeit und dasGemeinwohl zu entwickeln. Thatchers Politikgegen den wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegs-konsens ließ das Pendel denn auch nach zehnJahren deutlich in die andere Richtung aus-schlagen und mündete in neue Krisen. Ih-re Regierungszeit etablierte eine soziale Käl-

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te, die sich in einer neuen Massenarmut nie-derschlug und durch die erschreckende Zahlvon 370.000 Obdachlosen im Jahr 1989 doku-mentiert wurde. In dieser Hinsicht weist That-chers „Rosskur“ keinen Königsweg. Geppertscheint zu bedauern, dass innerhalb des po-litischen Koordinatensystems der Bundesre-publik eine „radikale Abkehr von den politi-schen Rezepten der Vergangenheit“, die lan-ge Zeit nicht notwendig schien, heute nicht zurealisieren ist (S. 432).

Von intentional realisierten politischenWeltanschauungen würde der differenziertargumentierende Oxforder Historiker E.H.H.Green nichts wissen wollen. Gleichwohl istGreen mit seinem deutschen Kollegen Gep-pert einer Meinung, dass die ideologischeBedeutung von Thatchers Aufstieg in derbisherigen Forschung unterschätzt wordenist (S. 214f.). Allerdings legt Green ein stär-keres Gewicht auf die situativ angemessenetaktische Prävalenz von unterschiedlichenIdeologemen, aus denen die Tories sichbedienten. Aus seiner notwendig pluralischbetitelten Essaysammlung „Ideologies ofConservatism“ ist zu lernen, dass die ökono-mischen Denkrichtungen für den englischenKonservatismus ebenso wichtig sind wie einePräferenz für die „civil society“ gegenüberdem Staat. Thatchers Angriff auf den wohl-fahrtsstaatlichen Nachkriegskonsens wardeshalb keineswegs besonders innovativ, siebaute damit auf nie verloren gegangenenkonservativen Leitmotiven auf. „Set thepeople free“ tönten die Tories auch schon1950/51, während das pragmatische Arran-gement mit dem Wohlfahrtsstaat und der„mixed economy“ oberflächlich blieb. Beideswollte man nur so lange erhalten, wie manes sich leisten konnte – von emphatischemGlauben war eine solche Verbindung niegetragen. Aus dieser Perspektive ist auch dervorgebliche innerkonservative Kampf umIdeen, der Thatchers Aufstieg vermeintlichbegleitet habe, zu relativieren: „Thatcherismexisted long before Margret Thatcher becameleader of the Conservative party.“ (S. 238)

Green verdeutlicht die Wechselbeziehun-gen, die libertäre und paternalistische Impul-se im englischen Konservatismus miteinandereingehen, wenn um das Verhältnis von Frei-heit und Ordnung gerungen wird. Es scheint

deshalb schwierig, das politische Feld binärzu codieren. Was im Hinblick auf die deut-schen Konservativen von jeher galt – nämlichihre politische Programmatik hinsichtlich ih-res Gesellschaftsbildes und ihrer kulturellenVorstellungen zu analysieren –, dafür wirbtGreen, der jenseits der eigentlich auf denNeoliberalismus zielenden Alternative zwi-schen Markt und Staat die „weicheren“ The-men zu Analysekategorien erheben möchte.Eben weil auch Konservative bestimmte ge-sellschaftliche Zielvorstellungen besaßen, ka-men sie nicht umhin, auf Teilgebieten eben-so für staatliche Planung einzutreten wie dieLabour Party. So kommt der Schutz des Ei-gentums und die Förderung von Eigenhei-men, wie Green belegt, nicht um staatlicheSubventionspolitik herum und steht damit imWiderspruch zum vielfach geforderten Rück-zug des Staates. „Free economy and strongState“ bleibt als konservativer Glaubenssatzzutiefst widersprüchlich, gerade dann, wennman – wie Thatcher – vom festen Glaubenan die „agencies of civil society as fulcrumof social life“ erfüllt ist (S. 278). Das Problemliegt allein darin, dass Glaube allein auf dieDauer nichts zu nützen scheint. Wie der Staatdie Voraussetzungen, von denen er lebt, wennnicht garantieren, so doch lebendig erhaltenkann, das wiederum ist nicht nur ein konser-vatives Problem.

Mit der Erosion traditioneller und religiöserOrientierungshilfen, die nicht wiedererwecktwerden können, stellt sich – wie noch bei jederArbeit zum Konservatismus (die ja stets vonseiner Krise ausgehen) – die Frage nach derZukunft des Konservatismus. Einer der pro-fundesten konservativen Denker des 20. Jahr-hunderts, Michael Oakeshott, gab die langevorherrschende britische Antwort auf diesesProblem: Der Konservatismus sei eben keineWeltanschauung oder Doktrin, sondern eineVeranlagung. Diese gleichsam anthropologi-sche Wendung umriss er als eine „Politik derSkepsis“; sie ist sich stets ihres vorläufigenCharakters bewusst, repräsentiert durch ihreBeharrungskraft aber das notwendige Gegen-gewicht zu einer dynamischen Politik der Zu-versicht.5 Green meint nun, dass diese skepti-sche, auf den britischen Traditionen des Com-

5 Vgl. Oakeshott, Michael, Zuversicht und Skepsis. ZweiPrinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000.

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Sammelrez: Konservatismus: Idee, Parteien und Milieus 2004-2-056

mon law (rechtlich) und des Common sen-se (ethisch) beruhende Position dem Zerstö-rungswerk Thatchers zum Opfer gefallen ist:„As the Conservative Century came to an end,it seemed that even if the Conservative Partyhad survived, Conservatism had not.“ (S. 290)

Dieser ideengeschichtliche Befund magdramatisiert sein. Er weist aber zumindest aufdas gegenwärtige Bedürfnis hin, auch in derliberalen Demokratie zwischen klaren politi-schen Alternativen wählen zu können. Sol-che sind augenblicklich weder in Deutsch-land noch in Großbritannien klar zu erken-nen, denn parallel zur Liberalisierung desKonservatismus ließe sich generell auch dieGeschichte der liberalen Durchdringung derSozialdemokratie erzählen. Trotzdem – unddies führt zur Ausgangsüberlegung zurück –kann man die Prognose wagen, dass der Kon-servatismus als Relationsbegriff überlebt, so-lange in den Parlamenten links und rechtsPlatz genommen wird. Oft totgesagt, hat derKonservatismus viele Comebacks erlebt, so-bald Bewegung in politische Debatten kam.In dem Maße, in dem der Konservatismus-begriff ein Bestandteil der politisch-sozialenSprache bleibt, der bei Politikern und bei Bür-gern auf ein gewisses Vorverständnis trifftund der Kommunikation dient, verlangt erstets neue Justierung, neue Klärung seines Be-deutungsgehalts. In der ideengeschichtlichenForschung heißt dies aber auch, dass Kon-tinuität und Wandel gleichermaßen in denBlick geraten müssen. Weder hilft die ein-seitige Fixierung auf vermutete antidemokra-tische konservative Traditionen, die man inder Gegenwart zu enttarnen hofft, noch istes möglich, geschichtslose Analysen jeweili-ger neuer rechter Bewegungen vorzunehmen.Für den Ideenhistoriker scheint es nur dieWahl zu geben, entweder aus den tagespo-litischen Debatten einen Begriff des Konser-vativen zu konstruieren, der Momentaufnah-me bleibt, oder dekonstruktivistisch über dasPotential der vorgefundenen ideenpolitischenVerknüpfungen Aufschluss zu geben, ohnesich je festzulegen zu können.

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