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Das Buch Um Schalck-Golodkowski, Jahrgang 1932, ist es ruhig geworden. Auch bis zum Ende der 80er Jahre wusste man nur wenig über ihn. Erst in den 90er Jahren, frühestens seit seiner Flucht aus der DDR am 3. Dezem- ber 1989, war er Dauer- thema in den Medien. Kein DDR-Bürger wurde mit der- art vielen Ermittlungsverfah- ren überzogen wie Schalck- Golodkowski: Es war rund ein halbes Hundert. In eini- gen Fällen wurde er auch verurteilt. Der Bundestag und der Landtag in Bayern richteten Untersuchungsaus- schüsse ein, die sein Leben und vor allem sein Engage- ment für die DDR durch- forsteten. Ob sie auf diese Weise dem Wesen seines Handelns, seiner politischen Überzeugung und seinen Motiven tatsächlich naheka- men, ist zu bezweifeln. Und darum musste dieses Buch geschrieben werden. Die Autoren Frank Schumann, Jahrgang 1951, gründete mit 40 den Verlag edition ost und ver- legte neben anderen Personen der Zeitgeschichte Ulbricht, Honecker und Krenz. Er sprach als einziger deutscher Journalist rund 40 Stunden mit Margot Honecker in Chile. Das Interviewbuch »Zur Volksbildung« wie auch Erich Honeckers »Letzte Auf- zeichnungen. Für Margot« platzierten sich im Frühjahr 2012 in allen wichtigen Bestsellerlisten der BRD. Heinz Wuschech, Jahrgang 1933, Sportmediziner und Chirurg, behandelte nicht nur Schalck-Golodkowski, als dieser steckbrieflich gesucht wurde, sondern ist seit über einem halben Jahr- hundert einer seiner besten Freunde. 2012 berichtete Wuschech über seine Erfah- rungen als Sportmediziner im Buch »Weißkittel und Wunderwaffe« (spotless).

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Das Buch

Um Schalck-Golodkowski,Jahrgang 1932, ist es ruhiggeworden. Auch bis zumEnde der 80er Jahre wussteman nur wenig über ihn.Erst in den 90er Jahren,frühestens seit seiner Fluchtaus der DDR am 3. Dezem-ber 1989, war er Dauer-thema in den Medien. KeinDDR-Bürger wurde mit der-art vielen Ermittlungsverfah-ren überzogen wie Schalck-Golodkowski: Es war rundein halbes Hundert. In eini-gen Fällen wurde er auchverurteilt. Der Bundestagund der Landtag in Bayernrichteten Untersuchungsaus-schüsse ein, die sein Lebenund vor allem sein Engage-ment für die DDR durch-forsteten. Ob sie auf dieseWeise dem Wesen seinesHandelns, seiner politischenÜberzeugung und seinenMotiven tatsächlich naheka-men, ist zu bezweifeln. Unddarum musste dieses Buchgeschrieben werden.

Die Autoren

Frank Schumann, Jahrgang1951, gründete mit 40 denVerlag edition ost und ver-legte neben anderen Personender Zeitgeschichte Ulbricht,Honecker und Krenz. Ersprach als einziger deutscherJournalist rund 40 Stundenmit Margot Honecker inChile. Das Interviewbuch»Zur Volksbildung« wie auchErich Honeckers »Letzte Auf-zeichnungen. Für Margot«platzierten sich im Frühjahr2012 in allen wichtigenBestsellerlisten der BRD.

Heinz Wuschech, Jahrgang1933, Sportmediziner undChirurg, behandelte nichtnur Schalck-Golodkowski,als dieser steckbrieflichgesucht wurde, sondern istseit über einem halben Jahr-hundert einer seiner bestenFreunde. 2012 berichteteWuschech über seine Erfah-rungen als Sportmedizinerim Buch »Weißkittel undWunderwaffe« (spotless).

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Frank Schumann und Heinz Wuschech

Schalck-GolodkowskiDer Mann, der dieDDR retten wollte

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ISBN 978-3-360-01841-0

2. Auflage© 2012 edition ost im Verlag Das Neue Berlin, BerlinUmschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Fotosvon Daniel Biskup: Schalck in Berlin, 2000Illustrationen: Archiv Alexander Schalck-Golodkowski (S. 21, 22, 23, 24, 29,35, 39, 41, 44, 49, 52, 56, 57, 59, 62, 68, 70, 79, 94, 100, 105, 110, 114,121, 124, 129, 130, 133, 140, 144, 149, 159, 163, 169, 191)und Heinz Wuschech (S. 12, 86, 88, 155, 173, 187, 188).© Robert Allertz: S. 14, 46, 75, 76, 80, 84, 85, 87, 90, 190

Die Bucher der edition ost und des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe

www.edition-ost.de

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Inhalt

DDR-Ministerpräsident Schalck-Golodkowski . . . . 7Woher kommt dieser Doppelname? . . . . . . . . . . . . 19Kontinuität und Klassenkampf . . . . . . . . . . . . . . . 27 Schalcks Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Schalck und Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Schalck-Golodkowski und das Sonderkonto 0628 . . 61Der »Schürer-Bericht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Orchideen für Raissa und einen Drops für Schmidt . 73»Bring den Alten auf die Beine« . . . . . . . . . . . . . . . 83OibE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Unterhändler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98Schalck und »die Sicherheit« . . . . . . . . . . . . . . . . 123Schalck und Mittag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126Schalck und Bölling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133Schalck und Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Schalck und Schäuble . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153Schalck und der BND . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165Ruhe um Schalck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

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»Es haben sich«, heißt es in dem 750 Seiten starkenPapier, »keine Hinweise bestätigt«,

dass das Trio KoKo-Millionen beiseite geschafft hätte und noch heute horte. Bis auf Kleinkram,

der in gesonderten Verfahren weiter verfolgt wird, konnten die Ermittler der Arbeitsgruppe Regierungs-

kriminalität nichts strafrechtlich Relevantes entdecken.

Der Spiegel 17/1992 zum Abschluss der Ermittlungenin Sachen »Untreue pp.« gegen den Leiter des Bereichs

Kommerzielle Koordinierung (KoKo), Alexander Schalck-Golodkowski, dessen Ehefrau Sigrid

und seinen Stellvertreter Manfred Seidel

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DDR-MinisterpräsidentSchalck-Golodkowski

Unweit der sowjetischen Botschaft, hinterm Branden-burger Tor, zieht sich die Staatsgrenze der DDR dahin.Vor jener Mauer, mit dem Säulentor im Rücken, erhebtsich ein steinernes Podest. Dort steigen die Staatsgäste derDDR hinauf, wenn sie denn einen Blick nach Westberlinzu werfen wünschen. So es sie drängt, können sie danachihrer Überzeugung freien Lauf lassen und diese im Gäste-buch der Grenztruppen, das in einem der Wachgebäudeam Tor ausliegt, mitteilen. Wie etwa der Führer der So-wjetunion und Oberster Befehlshaber der Streitkräfte desWarschauer Vertrages am 26. April 1986. Michail Serge-jewitsch Gorbatschow notierte dort: »Am BrandenburgerTor kann man sich anschaulich davon überzeugen, wie vielKraft und Heldenmut der Schutz des ersten sozialistischenStaates auf deutschem Boden vor den Anschlägen desKlassenfeindes erfordert. Die Rechnung der Feinde desSozialismus darf nicht aufgehen. Unterpfand dessen sinddas unerschütterliche Bündnis der DDR und der UdSSRsowie das enge Zusammenwirken der Bruderländer imRahmen des Warschauer Vertrages.

Ewiges Andenken an die Grenzsoldaten, die ihr Lebenfür die sozialistische DDR gegeben haben.«

Drei Jahre später nun trifft sich die Führung der so-wjetischen Vertretung täglich zur Lagebesprechung. Der70-jährige Botschafter Wjatscheslaw I. Kotschemassowpflegt enge Beziehungen zu Gorbatschow und Außenmi-

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nister Schewardnadse, engere jedenfalls, als Diplomatengemeinhin zu ihren Chefs unterhalten. Und auch seinVerhältnis zu den DDR-Spitzenpolitikern ist gut. Aufdiese Weise und auch über andere Kanäle ist man imHaus Unter den Linden (und damit auch in Moskau)bestens über die Lage im Lande informiert. Und diesespitzt sich seit Monaten dramatisch zu, worüber sich dieSowjetdiplomaten jeden Morgen hinter geschlossenenBotschaftstüren austauschen.

Es gibt objektive und subjektive Probleme, und dassan den objektiven Moskau nicht schuldlos ist, macht bei-spielsweise ein Gespräch von Dr. Herbert Krolikowskideutlich, welches dieser am 12. August 1989 führt. DerStaatssekretär im DDR-Außenministerium fragt zubemerkenswert historisch früher Stunde den Pressechefdes Moskauer Außenministeriums Gennadij I. Gerassi-mow, was Moskau im Schilde führe. »Wir bitten ledig-lich um eines – uns deutlich zu sagen, welche AbsichtenSie uns gegenüber haben.

Heute gibt es das sozialistische Deutschland. Die Fra-ge ist, soll man es erhalten wie z. B. Österreich, oder aufden Moment warten, wo man sich der DDR entledigenkann? Die DDR ist unser Staat, wir haben ihn aufgebautund lieben ihn. Unser westlicher Partner ist weder derdümmste noch der schwächste. Man sollte ihm das Errei-chen seines Zieles, das nicht in einer Stärkung der DDRbesteht, nicht erleichtern.

Wenn Sie uns jedoch sagen, dass Sie uns nicht mehrbrauchen, dass Sie den Frieden in Europa auch ohne unssichern können, so werden wir uns bemühen, einen Aus-weg aus der neuen Situation zu finden. Wir werden diefrühere Konzeption der Konföderation in Deutschlandwiederbeleben, Verhandlungen mit Bonn zu dieser Frage

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aufnehmen und um maximal günstige Bedingungen fürdie hier lebenden Menschen ringen.

Sagen Sie uns offen, worin besteht Ihr Ziel, und wirwerden dementsprechend handeln. Wir dramatisierennicht, gedenken nicht in Weltschmerz zu verfallen. Aberman muss Schritte unternehmen, über die nächste unddie weiteren Etappen nachdenken.«

Diesem sehr offenen Gespräch, das keinerlei Zweifelam begründeten Zweifel über die Verlässlichkeit Moskauslässt, wohnt der zweite Mann hinter Botschafter Kot-schemassow bei. Er notiert, was er hört. Auch die tägli-chen Lagebesprechungen im kleinen Kreis. Igor F. Maxi-mytschew wird sie zehn Jahre später in Moskau unterdem Titel publizieren: »Das Volk wird uns nicht verzei-hen … Die letzten Monate der DDR. Tagebuch desGesandten der Botschaft der UdSSR in Berlin«.

Es gibt nicht wenige Zeitgenossen, die die Glaubwür-digkeit des Zeitzeugen Maximytschew grundsätzlich inFrage stellen. Und auch konkreter Widerspruch wirdangemeldet. Egon Krenz, der an jenem 12. August 1989als Honeckers Stellvertreter amtierte, beruft sich auf denihm täglich von Herbert Krolikowski gelieferten außen-politischen Lagebericht. »Vor November 1989 wusstenalle führenden Leute bei uns, dass damals ein Konföde-rationsgedanke illusorisch gewesen ist. Er tauchte zumersten Mal – nach Ulbricht – bei Falin auf, als wir unsam 24. November 1989 in der Botschaft trafen. Aller-dings stelle ich auch fest, dass gelegentlich Konföderationmit Kooperation verwechselt wird.«

Konföderation oder Kooperation, Dichtung oderWahrheit: Die Quelle Maximytschew kann offenkundignur mit Vorsicht und nicht ohne kritische Einlassungzitiert werden. So auch bei den von ihm repetierten

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Überlegungen, welche man angeblich Unter den Lindenüber erwartete personelle Veränderungen an der Spitzeder DDR angestellt habe. Diese korrespondieren zweifel-los mit den Gedankenspielen in Moskau, im Wesen ver-halten sich die Sowjetbotschaft und der Kreml wie kom-munizierende Röhren. Die Meinungen gleichen sichwechselseitig aus und an, der Pegel ist stets identisch. Wasin Moskau gesagt und gedacht wird, ist Meinung in Ber-lin – und umgekehrt. So wolle man laut Maximytschewdenn zu einem sehr frühen Zeitpunkt als Nachfolger desMinisterpräsidenten Willi Stoph einen Staatssekretär ausdem Ministerium für Außenhandel ausgemacht haben.Als jahrzehntelanger Unterhändler der DDR verfügt die-ser wie kein zweiter Politiker über beste Kontakte zuführenden Persönlichkeiten in der Bundesrepublik. Erhat bei ihnen einen guten Leumund, gilt als verlässlichund berechenbar.

Diesem Alexander Schalck-Golodkowski vertraut manim Westen, und auch Moskau tut es: Er ist schließlich einhalber Russe. Sein leiblicher Vater war Rittmeister untermZaren. Er floh vor den Bolschewiki und bekam erst zuBeginn des Krieges gegen die Sowjetunion die deutscheStaatsbürgerschaft. Als Hauptmann der Wehrmacht leitetePjotr Golodkowski in Berlin eine Schule für Militärdol-metscher, im Sommer 1945 geriet er in sowjetische Kriegs-gefangenschaft, danach galt er als verschollen. Politisch hatder Genosse Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkow-ski zwar nichts mit seinem Vater am Hut, wohl aber vieleslawische Elemente in sich: selbst die Neigung, ordentlichzu feiern. Was unschwer auch an seinem Habit auszuma-chen ist. Da wirkt er so barock wie sein im Vorjahr ver-storbener Spezi Franz Josef Strauß, mit dem er – was in derPolitik selten vorkommt, erst recht nicht, wenn man in

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politisch befeindeten Lagern steht – nahezu befreundetwar. Das Haus der Familie Strauß stand und steht ihmjederzeit offen, hatten die erstaunten Geheimdienste aufbeiden Seiten in Erfahrung gebracht.

Für Moskau ist darum Alexander Schalck-Golodkow-ski als künftiger Ministerpräsident der DDR nicht nur beiBotschafter Kotschemassow, wie Maximytschew meint,eine gesetzte Größe. Allerdings weiß man auch, dass dieser– bei aller politischen Zuverlässigkeit – ein sehr kreativerKaufmann ist. So erinnert man sich in Moskau etwa an1982, als Staatssekretär Schalck-Golodkowski im Außen-handelsministerium um Erdöl verhandelte. Gemeinsammit dem Generaldirektor der Intrac, der größten Han-delsgesellschaft im Bereich Kommerzielle Koordinierung(KoKo), wollte er damals eine bestimmte Menge sofortbeziehen und erst nach Jahresfrist den vereinbarten Preiszahlen. Das Öl sollte auf dem Weltmarkt gegen Devisenverkauft werden, damit die DDR wieder »flüssig« war.Doch das Politbüro der KPdSU bewilligte nicht 365 TageZahlungsaufschub, sondern nur neunzig. Offensichtlichhatte man Schalcks Absicht durchschaut. Auf der anderenSeite konnte man auch aus anderen Gründen nicht nach-geben. Erst wenige Monate zuvor hatte ZK-Sekretär Rus-sakow in einem Gespräch mit Honecker in Berlin nebulösvon einem »großen Unglück« gesprochen, das die Sowjet-union heimgesucht habe. Und er hatte die DDR aufgefor-dert, »die Folgen dieses Unglücks mit uns gemeinsam zutragen«. Das sah dann so aus, dass die vertraglich zugesagteLieferung von 19 Millionen Tonnen Erdöl um zwei Mil-lionen gekürzt worden war …

Allerdings widersprechen nicht wenige auch dieser Dar-stellung von Maximytschew. Schalck genoss in Moskaukeineswegs hohes Ansehen, im Gegenteil: Nicht wenige

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sollen ihn wegen seiner nachweislichen kaufmännischenund politischen Erfolge im Westen gehasst haben, und eswird auch in Abrede gestellt, dass der Kreml ihn als Minis-terpräsidenten ausgeguckt habe. Die Idee wurde zuerst inkleiner Runde in Berlin geboren, erst danach habe KrenzKotschemassow diese Überlegung wissen lassen. »Er kenntsich in der Ökonomie aus und im Umgang mit der BRD.Beides brauchen wir.«

Als die DDR-Volkskammer am 13. November 1989jedoch nicht Schalck-Golodkowski, sondern Modrow zumMinisterpräsidenten wählt und mit der Regierungsbildungbeauftragt, schreibt Maximytschew über die Reaktion sei-nes Chefs Kotschemassow: »Die Wahl Hans Modrowsüberraschte ihn, wie übrigens die meisten Beobachter.«

Auch darin scheint Maximytschew zu irren. »Dass fürihn die Wahl Modrows zum Ministerpräsidenten überra-schend kam, wundert mich«, sagt Krenz. »Auch darüberhatte ich mit Kotschemassow gesprochen.«

Diese »Überraschung« wurzelt vielleicht auch in derUnkenntnis über eine eigene Geheimdienstoperation, dieunter der Bezeichnung »Lutsch« seit einigen Jahren überAnatoli Nowikow läuft. Der Leiter der Außenstelle desKGB in Berlin-Karlshorst war unter Gorbatschow indiese Funktion gekommen und beauftragt, sogenannteEinflussagenten zu rekrutieren, also Persönlichkeiten ausverschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu gewinnen,die die DDR im Sinne Moskaus beeinflussen sollten.

Die Langzeitoperation »Lutsch« begann schon vorJahrzehnten, 1974 war die dafür zuständige KGB-Abtei-lung in Karlshorst in den Rang einer Direktion erhobenworden. Ihr Augenmerk galt vornehmlich den Stimmun-gen im Lande, in der SED, den inoffiziellen und priva-ten Verbindungen in die Bundesrepublik. Erst als in der

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Sowjetunion der von Gorbatschow losgetretene Um- undAbbruch von der Honecker-Führung zunehmend kriti-scher gesehen wurde und erkennbar war, dass Berlin dieGefolgschaft verweigerte, begann Karlshorst konspirativmit »Lutsch« aktiv zu werden. In späteren Veröffentli-chungen wurden Namen genannt wie Markus Wolf,Hans Modrow, Klaus Höpcke und André Brie, die aberausnahmlos den Darstellungen widersprachen. Sie seienweder diesbezüglich kontaktiert noch informiert worden.Hans Modrow schreibt in seinen Erinnerungen (»Ichwollte ein neues Deutschland«, 1999), dass es sich umeine Ente handele, die von zwei namentlich bekanntenWest-Journalisten in die Welt gesetzt worden sei. LautReuth und Böhnke sei am 18. Juni 1987 im Beisein desVize-Chefs des KGB, Wladimir Krjutschkow, bei Man-fred von Ardenne mit Hans Modrow und Markus Wolfin Dresden ein Komplott zum Sturz Honeckers ge-schmiedet worden. Diese Lüge sei später von anderenkolportiert worden, insbesondere Schabowski habe zuderen Verbreitung maßgeblich beigetragen, so Modrow.

Krenz pflichtet ihm diesbezüglich bei: Es stimme zwar,dass Krjutschkow 1987 in Dresden gewesen sei, »abererstens nicht mit Markus Wolf, sondern mit WernerGroßmann, und zweitens waren sie nicht bei Hans Mo-drow, sondern bei Manfred von Ardenne.« Da nämlichder 1. Sekretär des Bezirksleitung der SED, Hans Mo-drow, nicht im Dienst gewesen wäre, sei der KGB-Mannvom 2. Sekretär empfangen worden.

Aus der Tatsache nun, dass Generaloberst a. D. MarkusWolf im Juli 1989 in Moskau nicht nur Gespräche mithochrangigen KGB-Mitarbeitern, sondern auch mit Spit-zenfunktionären der KPdSU wie Portugalow, Koptelzewund Falin führte, leiteten später manche den spekulativen

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Schluss ab, dass Wolf nicht nur für »Lutsch« gewonnen,sondern in der Nachfolge Honeckers gar Generalsekretärwerden sollte. Wolf wies solche Spekulationen in einemInterview mit dem Neuen Deutschland am 10. Juli 1990zurück, er sei nie von einer Gruppe »Lutsch« angesprochenworden. »Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich binnie direkt in irgendeiner Weise ermutigt worden, als Gor-batschow-Mann eine innere Opposition zu bilden.«

Es gibt Äußerungen, die sowohl bestätigen als auchdementieren, dass Wolf Honecker habe beerben sollen. Soheißt es, dass die Politbüromitglieder Werner Krolikowskiund Willi Stoph wiederholt bei Gorbatschow auf eineAblösung Honeckers gedrungen hätten, doch laut IwanKusmin, von 1984 bis 1991 Leiter der Informationsabtei-lung des KGB in Berlin, habe Gorbatschow auf solcheAnsinnen nie reagiert. Als Politbüromitglied Werner Kro-likowski beispielsweise Ende 1986 einen solchen Vorstoßbei Kotschemassow führte und Moskau aufforderte, diegesamte Führung der SED auszuwechseln, entgegnete die-ser: »Die Zeiten sind vorbei, als wir Generalsekretäre ab-setzten und ernannten.« (vgl. Kotschemassow, »Meineletzte Mission«, 1994)

Nicht nur Egon Krenz sieht das alles ein wenig anders,ihm ist ohnehin zuviel Verschwörungstheorie und Ge-heimdienstwichtigtuerei bei den Darstellungen dieserVorgänge im Spiel. Natürlich sei selbst unter Gorbat-schow die Souveränität der SED und der DDR unverän-dert eine sehr kontrollierte, um nicht zu sagen einge-schränkte gewesen.

Auch Generalleutnant a. D. Pawel A. Sudoplatow,einst Vize-Chef der sowjetischen Auslandsaufklärung,bestätigte, dass Gorbatschow 1989 durchaus die Absichtgehabt hätte, Honecker die Macht zu entziehen in der

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Annahme, auf diese Weise den Sozialismus in der DDRzu stärken.

Wie auch immer: Manches lief 1989 in den Geheim-dienstkulissen, und viele Köche waren daran beteiligt. DieRegeln der Konspiration verhinderten, dass die einen vonden anderen wussten, und die Frage, wer von den erkenn-bar agierenden Personen eigen- und wer fremdbestimmthandelte, ist heute so wenig zu beantworten wie damals,zumal nicht wenige der Beteiligten inzwischen verstorbensind und die Akten der westlichen Dienste, die ja an die-sem großen Spiel mitbeteiligt waren, ebenso verschlossensind wie die des KGB.

Egon Krenz hatten die sowjetischen Geheimdienst-Genossen offenkundig nicht auf ihrem Zettel. Seine Wahlzum Generalsekretär am 18. Oktober 1989 brachte die»Lutsch«-Linie, sofern überhaupt existent und keine Erfin-dung von Journalisten, ein wenig durcheinander. Den Restbesorgte die Demonstration am 4. November auf demBerliner Alexanderplatz, wo Markus Wolf eine gellendeAbfuhr erhielt. Spätestens dort wurde den Karlshorsterkonspirativen Strippenziehern bewusst: Das läuft ausdem Ruder, einen SED-Generalsekretär Markus Wolfwürde es nie geben – sofern, noch einmal, diese Überle-gung überhaupt bestand.

Mit der Wahl von Hans Modrow zum Ministerpräsi-denten Mitte November erledigt sich nicht nur Schalckspolitischer Aufstieg, es beginnt sein Absturz. Keine dreiWochen später wird er mit Haftbefehl gesucht, er fliehtHals über Kopf aus der DDR, die dem Untergang ge-weiht ist. Nur Gorbatschow sieht das nicht so.

In einem Schreiben an die drei westlichen Staats- undRegierungschefs der sogenannten Vier Mächte, die seit1945 unverändert Macht in Deutschland ausüben, lässt er

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diese am 25. November wissen (und beantwortet damitauch die Herbert Krolikowski von Maximytschew in denMund gelegte Frage zum künftigen Platz der DDR in dersowjetischen Außenpolitik): »Die Entwicklung in der DDRhat zahlreiche Spekulationen über die ›deutsche Frage‹, überdie Aussichten einer Vereinigung Deutschlands in die Weltgesetzt. Wir sind fest überzeugt, dass die Existenz und Ent-wicklung der DDR über all diese Jahre die wichtigsteGarantie des europäischen Friedens, des Gleichgewichtsund der Stabilität war und bleibt. Die DDR als ein souve-räner Staat, als Mitglied des Warschauer Vertrags ist nachwie vor unser strategischer Verbündeter in Europa.«

Kotschemassow teilt diese Überzeugung. »Unsere Le-bensinteressen sind mit der DDR mehr verbunden alsmit irgendeinem anderen europäischen Land. Die Wie-dervereinigung kann unmöglich zugelassen werden«,zitiert ihn Maximytschew unter dem 30. November 1989.

Noch am 4. Dezember 1989 schärft Gorbatschow demDDR-Ministerpräsidenten Modrow ein: »Keine Wieder-vereinigung, keine Konföderation, unter keinem Vorwand!Genug von Rückzügen! Ihr habt die Macht, gebraucht sie!«Und Botschafter Kotschemassow fügt gleichsam warnendan, als er davon hört, dass das Ministerium für Staatssi-cherheit aufgelöst und in ein Amt für Nationale Sicherheitverwandelt werden soll: »Die Demontage der MfS-Organeist sehr gefährlich.«

Da jedoch ist Schalck-Golodkowski, MfS-Offizier imbesonderen Einsatz im Range eines Oberst, bereits ausdem Dienst entlassen, entpflichtet sozusagen, was derDDR-Staatssekretär a. D. Schalck-Golodkowski als Ver-rat an ihm empfindet. Seine Vorgesetzten hätten ihn fal-len lassen, als sei er eine heiße Kartoffel. Aus Angst umsein Leben und das seiner Frau Sigrid flüchtet er sich am

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Abend des 6. Dezember 1989 in die JVA Berlin-Moabit.Im Knast des Klassenfeinds wähnt er sich sicher.

Danach überzieht ihn dessen Justiz mit etwa einemhalben Hundert Ermittlungsverfahren, keinem anderenDDR-Bürger versucht die BRD-Justiz soviel am Zeug zuflicken wie ihm. Die meisten Ermittlungsverfahren wer-den eingestellt, 1999 ist auch die letzte Sache ausgestan-den. Danach, kurz vor der Jahrtausendwende also, offen-bart er seine ungebrochene Liebe zu jener Stadt, wo er imSommer 1932 zur Welt kam. »Irgendwann gehen meineFrau und ich vielleicht zurück nach Berlin.«

Sigrid und Alexander Schalck-Golodkowski wohnennoch immer in Rottach-Egern am Südufer des Tegern-sees. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Irgendwanngeben wird, scheint gering.

Unverändert aber kursieren Gerüchte über diesenMann. Wenn sein Name in den Medien genannt wird,dann stets mit dem Zusatz »Devisenbeschaffer«. Dieharmloseste Form seiner Diffamierung ist die Distanzie-rung, die gebräuchlichste seine Verteufelung. In seinerPerson konzentriert sich in der Wahrnehmung durch dieschlichteren Gemüter, die in diesem Lande offenbar dieMehrheit stellen, alles vermeintlich Schlechte, was dieseDDR hervorgebracht hat. Nicht einer stellt sich dieFrage, was beispielsweise Franz Josef Strauß, der bekannt-lich kein Dummkopf war, an diesem Manne geschätzthat – und warum? Wenn er jener Schuft und Ganovewar, als der Schalck-Golodkowski den meisten hierzu-lande gilt, dann dürfte sich der CSU-Vorsitzende undMinisterpräsident Bayerns kaum so intensiv mit ihmbeschäftigt haben wie er es tat. Vielleicht trifft es ja zu,dass Stockkonservative im Umgang mit Menschen, auchwenn sie ihre Feinde sind, sich mitunter doch so verhal-

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ten, wie es ihnen ihr christlicher Glauben aufträgt: denNächsten zu lieben wie sich selbst. Auch wenn dieser einKommunist ist wie Schalck-Golodkowski. Aber vermut-lich war Strauß auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme.Die Regel ist: Die meisten Politiker haben nicht sein For-mat. Oder eben das von Schalck, der sich allerdings nieals Politiker, immer nur als Ökonom sah.

Es ist lange überfällig, einmal sachlich zu berichtenüber diese Person der Zeitgeschichte, die die Medien zueiner einzigartigen Hassfigur stilisierten, welche in dernationalen Ablehnung aktuell allenfalls noch übertroffenwird von Margot Honecker. Die Korrektur soll mit die-sem Buch versucht werden. Auch wenn die beiden Auto-ren trotz ihrer ziemlich guten Kontakte zu AlexanderSchalck-Golodkowski die Antworten auf die beiden Fra-gen schuldig bleiben, die viele unverändert bewegen:Warum ist er in den Westen geflüchtet, und weshalb hater mit dem BND gesprochen?

Zudem sind sie sich der Gefahr bewusst, dass mancheÜberlegung neuerliche Spekulationen provozieren wird.Doch Schalck hat, im Unterschied zu anderen, nichtsmehr zu verbergen, ihm kann es egal sein.

Aber vielleicht finden sich manche Auskünfte auchzwischen den Zeilen. Die zu lesen die Ostdeutschen trai-nierter sind als etwa ihre westdeutschen Landsleute, zudenen sich Schalck niemals rechnete, auch wenn er einhalbes Jahr früher als seine Weggefährten im Ostenzwangsweise wie diese Bundesbürger wurde.

Frank Schumann und Heinz WuschechBerlin, im Frühjahr 2012

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Woher kommt dieser Doppelname?

Der Bindestrichname verdankt seine Herkunft den Vor-fahren und ihren den Zeitläuften geschuldeten Biogra-fien. Deren Umtriebigkeit und Professionen scheinensich vererbt zu haben, sind also angeboren.

Der Großvater väterlicherseits, Iwan Golodkowski,war ein höherer Finanzbeamter des russischen Zaren inGomel. Aus dessen Ehe mit einer Landadeligen, von dernur der Vorname bekannt ist – sie hieß Olga – gingendrei Söhne hervor. Einer hieß Pjotr. Er sollte mit 37 Jah-ren in Berlin Vater von Alexander werden.

Pjotr Golodkowski stieg während des Ersten Welt-krieges zum Ordonnanzoffizier im Armeestab an der rus-sisch-österreichischen Front auf, wurde trotz seines ver-gleichsweise jungen Alters vielfach ausgezeichnet undwäre gewiss beim Militär geblieben, wenn denn nicht dieOktoberrevolution 1917 einen Strich durch seine Le-bensplanung gemacht hätte. Rittmeister Pjotr Golod-kowski floh wie manch anderer russischer Zeitgenosse inswestliche Ausland, zunächst nach Danzig.

Dort kam er beim Großhändler Wolkow unter, der inFischwaren machte. Seine Buchhalterin hieß Agnes Eue,eine Deutsche, die aber gleichfalls aus Russland kam.Deren Vorfahren, Kaufleute aus dem Harz, hatten sicheinst in St. Petersburg niedergelassen. Ihr GroßvaterAugust betrieb dort eine Streichholzfabrik. Otto Eue,sein Sohn, kehrte jedoch nach Deutschland zurück, hei-

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ratete in Hamburg und bekam zwei Kinder – Agnes undErnst. Die Firma Stinnes trug ihm die Führung ihrer Nie-derlassung in St. Petersburg an, weshalb Eues neuerlichan die Newa zogen. In St. Petersburg kamen weitere dreiKinder hinzu.

Ernst Eue heiratete Anastasia, eine Russin, und Agnesden Leonid, einen höheren Beamten aus der zaristischenMünze. Was aus den anderen Verwandten wurde, ist weit-gehend unbekannt. Überliefert ist lediglich, dass nach derOktoberrevolution Ernst Eue mit seiner Familie nachBerlin flüchtete, und Agnes, die 1919 Slawa zur Weltgebracht hatte, nach Danzig ging, wo sie – wie schonerwähnt – beim Großhändler Wolkow unterkam. DerVater ihres Sohnes, Leonid, hatte sich der Roten Armeeangeschlossen, was in mancher Darstellung so klingt, alshabe er seine Angetraute Agnes und den Säugling sitzen-lassen und hätte es vorgezogen, das Kommando über einKanonenboot der Roten auf dem Dnepr zu übernehmenstatt seine Familie zu ernähren. Merke: Kommunistensind nicht nur vaterlandslose Gesellen, sie haben auchkeinen Familiensinn.

In Danzig kamen sich unter dem Dach des Fischhänd-lers Wolkow Pjotr Golodkowski und Agnes Eue näher,doch eines Tages tauchte der verschollene Leonid in derFreien Stadt auf und berief sich auf die heiligen Sakra-mente der kirchlich geschlossene Ehe in Russland. DieScheidung zog sich lange hin, 1929 aber konnten Agnesund – jetzt – Peter Golodkowski heiraten.

Die Weltwirtschaftskrise erreichte irgendwann auchDanzig, die Firma Wolkow musste schließen. So zog 1930das junge Glück weiter nach Berlin, wie seinerzeit viele rus-sische Emigranten. Schwager Ernst Eue, inzwischen zueinem Direktor der Siemens-Schuckert-Werke aufgestie-

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gen, mit Villa im noblen Westend und Mietshaus in Trep-tow, griff den Verwandten aus dem Osten unter die Arme.Er überließ ihnen eine Wohnung in seinem Mietshaus undhalf wohl auch bei der Übernahme eines Feinkostladens inMoabit. Doch den Berlinern stand in der Krise nicht derSinn nach Hummer und russischem Kaviar, weshalb dasGeschäft bald pleite ging. Daraufhin schlug sich PeterGolodkowski als Taxifahrer durch, seine Frau verdienteetwas als selbständige Masseuse.

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Die Eltern Pjotr Golodkowski und Agnes, geborene Eue, inDanzig, 1929

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In jener schweren Zeit, am 3. Juli 1932, einem Sonn-tag, kam Alexander Golodkowski zur Welt, »Schura«, wieer von den Eltern genannt wurde.

In jenem Jahr, das gemeinhin als das letzte der Wei-marer Republik bezeichnet wird, zählte Deutschlandmehr als sechs Millionen Arbeitslose, wurde der Öster-reicher Adolf Hitler deutscher Staatsbürger und der Reak-tionär Paul von Hindenburg Reichspräsident, vor demdie KPD treffend, aber folgenlos warnte: Wer Hinden-burg wählt, wählt Hitler. Und wer Hitler wählt, wähltden Krieg. In jenem verhängnisvollen Jahr wechselten dieReichskanzler in rascher Folge. Nach Brüning, von Papenund von Schleicher wurde schließlich am 30. Januar 1933

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Familienglück in Berlin-Treptow, Winter 1932/33

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dem Naziführer die Macht übergeben. Die einen mein-ten, er werde rasch abwirtschaften wie seine Vorgänger,man solle ihn darum gewähren lassen. Die anderen, unddeshalb halfen sie ihm auch in den Sattel, hofften aufSteigerung ihrer Profite oder, im Falle der Militärs, aufBefreiung ihrer seit Versailles andauernden Untätigkeit.

Und die Masse der Deutschen, die dem Nazipack am5. März 1933 die Stimme gab – 43,9 Prozent wähltenNSDAP – hofften auf bessere Zeiten.

Diese brachen auch für die Golodkowskis an. Aber erst nach Kriegsbeginn, insbesondere nach dem

Überfall auf die Sowjetunion im Sommer ’41, verbessertesich die soziale Lage der Familie deutlich. Inzwischenzum Seifenvertreter heruntergekommen, rief die Wehr-macht auch Peter G. zu den Waffen. Der Ex-Offizier desErsten Weltkrieges wurde als Dolmetscher gebraucht undgleich als Hauptmann in die Uniform gesteckt. Damit

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Links vorn: Alexander, genannt »Schura«, beim Weihnachtsfest mit Verwandten und Freunden, 1938

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schien der Mittvierziger seine eigentliche Erfüllunggefunden zu haben, denn es wird berichtet, dass er sehrschneidig auftrat und auch sonst eine »gute Figur« in derdeutschen Uniform machte. Das hing wohl auch damitzusammen, dass ihm – dem bisher Staatenlosen – end-

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»Big Alex« bei der Einschulung, 1938

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lich wieder eine Staatsangehörigkeit zuerkannt wordenwar. Seine bis dahin unternommenen Versuche, einendeutschen Pass zu bekommen, waren nämlich aus-nahmslos gescheitert.

Selbst der Weg über eine Adoption durch ein kinder-loses deutsches Ehepaar hatte nicht zum erhofften Erfolggeführt. Aber die Familie kam so zu ihrem Doppelna-men. Entfernte Verwandte von Agnes G., nämlich Annaund Friedrich Schalck, übernahmen die Vormundschaftüber alle drei Golodkowskis.

Allerdings erst als Hitlerdeutschland Kanonenfutterbrauchte, bürgerte man Staatenlose wie Peter Golodkow-ski und Alexanders Bruder Slawa in die deutsche Volks-gemeinschaft ein.

Hauptmann Peter Schalck-Golodkowski leitete bis zuderen Auflösung bei Kriegsende die russische Dolmet-scherschule der Wehrmacht in Berlin-Moabit.

Die Schalck-Golodkowskis führten ein offenes, gast-freundliches Haus, was angesichts ihrer russischen Her-kunft nicht überrascht. Obgleich nie viel in der Haus-haltskasse war, wurde gern im großen Kreis gegessen,getrunken, gesungen und getanzt. Nicht zufällig warendie meisten Gäste Emigranten aus dem Osten wie sie.Daheim in Treptow sprach man grundsätzlich nur rus-sisch miteinander, den Sohn rief man nur »Schura«, daswar die russische Koseform von Alexander.

Das alles hat zweifellos Alexander Schalck-Golodkow-ski erheblich geprägt.

Etliche lesen aus diesem biografischen Hintergrundein großbürgerliches Leben heraus und verweisen auf dietraditionsreiche, weltläufige Kaufmannsfamilie der Mut-ter und auf die russische Aristokratenlinie des Vaters.Wohl wahr, ein proletarischer Stammbaum sieht anders

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