Krieg und Frieden in Kurdistan -...

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  • Die Lsung, die ich der Gesellschaft der Trkei anbiete, ist einfach. Wir fordern eine demokratische Nation. Wir haben nichts gegen den unitren Staat und die Republik. Wir akzeptieren die Republik, ihre unitre Staatsstruktur und den Laizismus. Aber wir glauben, dass der demokratische Staat neu definiert werden muss, in dem die Vlker, Kulturen und brgerlichen Rechte geachtet werden. Auf Grundlage dieser Rechte muss den Kurden eine demokratische Organisie-rung mglich sein, die den Raum fr kultu-relle, sprachliche, wirtschaftliche und ko-logische Entfaltung bietet. Auf dieser Basis knnen sich Kurden, Trken und andere Kulturen unter dem Dach einer Demokra-tischen Nation Trkei versammeln. Dies ist jedoch nur mglich, wenn ihr ein demokra-tischer Nationenbegriff, eine demokratische Verfassung und eine fortschrittliche, multi-kulturelle Rechtsordnung zugrunde liegt.

    Abdullah calan

    Krieg und Frieden in Kurdistan

    Internationale Initiative

  • Abdullah calan:Krieg und Frieden in Kurdistan Perspektiven fr eine politische Lsung in Kurdistan1. Auflage 2008 Abdullah calan, 2008

    bersetzung: Internationale Initiative

    Herausgeber:Internationale InitiativeFreiheit fr Abdullah calan Frieden in KurdistanPostfach 10051150445 Klnwww.freedom-for-ocalan.com

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    Krieg und Frieden in Kurdistan

    Perspektiven fr eine politische Lsung in Kurdistan

    Abdullah calan

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    Inhalt

    Vorwort 7Etymologische Bedeutung der Begriffe Kurde und Kurdistan 9Kurdisches Siedlungsgebiet und kurdische Sprache 10Kurzer Abriss der kurdischen Geschichte 11Verteilungskmpfe, Krieg und Staatsterror in Kurdistan 14Der europische Kolonialismus und das kurdische Dilemma 17Ideologische Grundlage kolonialer Unterdrckung und Machtpolitik in Kurdistan 19

    Verleugnung und Selbstverleugnung 20Assimilation 21Religion und Nationalismus 22Brgerlicher Nationalismus 23

    Kurdische Selbstfindung und kurdischer Widerstand 26Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 28

    Kurzer Abriss der Entstehungsgeschichte der PKK 28Zentrale Kritikpunkte 31

    Neue strategische, philosophische und politische Anstze der kurdischen Befreiungsbewegung 33Aktuelle Situation und Lsungsvorschlge 40

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    Vorwort

    Zahlreiche Konflikte beherrschen den Alltag im Mittleren Os-ten. Oftmals werden diese in der westlichen Welt mit Befrem-den aufgenommen, da sie sich augenscheinlich dem klassischen westlichen Verstndnis von Ratio und Logos entziehen. So auch die kurdische Frage. Sie gehrt zu den komplexesten und blutigs-ten Konfliktfeldern des Mittleren Ostens. Immer noch harrt sie ihrer Lsung. Solange nicht alle Dimensionen dieses Konfliktes gleichermaen thematisiert werden, wird dieser auch in Zukunft weiter bestehen bzw. sich noch weiter verschrfen, was wieder-um zu neuen weitreichenden Problemen fhrt. Die historische, wirtschaftliche und politische Dimension der kurdischen Frage bersteigt bei Weitem die des arabisch-israelischen Konflikts, der im Gegensatz zur kurdischen Frage im Fokus internationaler Aufmerksamkeit steht. Das begrenzte Wissen ber diesen Kon-flikt, der sich sowohl in demografischer als auch geostrategischer Hinsicht in einer der zentralsten Regionen des Mittleren Ostens abspielt, fhrt oftmals zu einseitigen und oberflchlichen Analy-sen dieses vielschichtigen Problems.

    Da sich das Siedlungsgebiet der Kurden auf die heutigen Terri-torien der Araber, Perser und Trken erstreckt, hat die kurdische Frage schon allein aufgrund dieses Umstandes einen regionsber-greifenden Charakter. Eine Lsung in einem Teil Kurdistans hat Auswirkungen auch auf andere Teile Kurdistans und benachbarte Lnder. Umgekehrt kann sich die destruktive Haltung von Ak-teuren in einem Land negativ auf die Lsung der kurdischen Fra-

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    ge in einem der anderen Lnder auswirken. So ist die schroffe Landschaft Kurdistans fr den bewaffneten Kampf wie geschaf-fen, mit dem sich die Kurden seit jeher den Kolonisations- und Unterwerfungsbestrebungen fremder Mchte erwehren. Wider-stand ist zu einem Bestandteil ihrer Lebenskultur geworden.

    Am Anfang eines jeden Lsungsprozesses steht die Anerken-nung und Definition der Ursachen eines Konfliktes. Im Hinblick auf die kurdische Frage kommt einer realistischen Definition des kurdischen Phnomens deshalb eine wichtige Bedeutung zu. Doch schon hier besteht weitgehend Uneinigkeit. Die Araber be-zeichnen die Kurden als Araber aus dem Yemen, die Trken hingegen als Bergtrken und die Perser sehen die Kurden sogar als ihr Ebenbild. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ihre politische Haltung in der kurdischen Frage durch solche Defini-tionen bestimmt ist.

    Die kurdische Frage ist nicht von allein entstanden. Sie ist das Produkt eines langen historischen Prozesses. Sie hat nicht viel mit vergleichbaren Fragen in anderen Erdteilen gemein, sondern un-terscheidet sich aufgrund zahlreicher Eigenheiten grundlegend. Notwendig fr eine Lsung sind sowohl die Feststellung von Gemeinsamkeiten als auch die Definition der Unterschiede. Eine Politik, die allein auf augenscheinliche Gemeinsamkeiten auf-baut, fhrt zu schier unlsbaren Problemen. Fr eine lsungsori-entierte Politik ist jedoch die realistische Analyse des Phnomens eine grundlegende Voraussetzung, die sowohl die nationalen, politischen und gesellschaftlichen Hintergrnde als auch alle am Konflikt beteiligten Seiten gleichermaen einbeziehen muss. Die Anerkennung der Existenz des kurdischen Phnomens ist hierfr unabdingbar. Ohne die Kenntnis seiner geschichtlichen Hinter-grnde ist dies jedoch nicht mglich.

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    Etymologische Bedeutung der Begriffe Kurde und Kurdistan

    Der Begriff Kurdistan geht auf das sumerische Wort Kur zu-rck, das vor mehr als 5.000 Jahren soviel wie Berg bedeute-te. Die Endung ti kennzeichnete die Zugehrigkeit. Das Wort Kurti bedeutete soviel wie Bergvolk oder Bergmenschen. Die Luwier, ein vor 3.000 Jahren im Westen Anatoliens beheimatetes Volk, bezeichneten Kurdistan als Gondwana, was in ihrer Spra-che Land der Drfer bedeutete. Gond ist im Kurdischen auch heute noch der gelufige Begriff fr Dorf. In Zeiten assyrischer Herrschaft wurden die Kurden als Nairi bezeichnet, was soviel wie Volk am Fluss bedeutete.

    Im Mittelalter, unter der Herrschaft der arabischen Sultanate, wurden die kurdischen Gebiete als Beled-Ekrat bezeichnet. Die Persisch sprechenden Sultane der Seldschuken waren die ersten staatlichen Herrscher, die das Wort Kurdistan, was soviel wie Land der Kurden bedeutet, im damaligen offiziellen Sprachge-brauch benutzten. Auch die osmanischen Sultane bezeichneten das Siedlungsgebiet der Kurden als Kurdistan. Bis in die 1920er Jahre war dieser Begriff gebruchlich. Nach 1925 wurde die Exis-tenz der Kurden vor allem in der Trkei verleugnet.

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    Kurdisches Siedlungsgebiet und kurdische Sprache

    Dennoch ist ihre Existenz eine Realitt. Kurdistan ist ein 450.000 km umfassendes geografisches Gebiet, das von den Siedlungsgebieten der Perser, Aserbaidschaner, Araber und ana-tolischer Trken umgeben ist. Das Gebiet ist eine der gebirgigs-ten, wald- und wasserreichsten Regionen des Mittleren Ostens, die von zahlreichen fruchtbaren Ebenen durchzogen wird. Seit Jahrtausenden wird dort Viehzucht- und Ackerbau betrieben. Die neolithische Revolution, die mit Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht 11.000 v. Chr. eingeleitet wurde, nahm in diesem Gebiet ihren Anfang. Daher wird die Region auch als Wiege der Zivilisation bezeichnet. Ihrer geostrategischen Lage ist es geschul-det, dass die Kurden bisher als Ethnie ihre Existenz schtzen konnten. Anderseits weckte die exponierte Lage des kurdischen Siedlungsgebietes oftmals Begehrlichkeiten uerer Mchte, die das Land mit Eroberungen und Raubzgen berzogen. Die Ein-flsse kurdischer Kultur und Sprache spiegelten sich mageblich in der neolithischen Revolution wider, deren Ausgangspunkt in der Region des Zagros- und Taurusgebirge verortet wird. Die kurdische Sprache gehrt der indogermanischen Sprachgruppe an.

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    Kurzer Abriss der kurdischen Geschichte

    Mit hoher Wahrscheinlichkeit entwickelten sich Kultur und Sprache der ethnischen Gruppe der Kurden whrend der vierten Eiszeit (20.000 bis 15.000 v. Chr.). Sie sind eine der ltesten au-tochthonen Bevlkerungsgruppen in der Region. 6.000 v. Chr. bildeten sich weitere Aufgliederungen heraus. In der Geschichts-schreibung wir die ethnische Gruppe der Kurden erstmals im Zusammenhang mit den Hurritern (3.000 bis 2.000 v. Chr.) er-whnt. So wird angenommen, dass die Vorfahren der Kurden, die Hurriter (2.500 bis 1.5009 v. Chr.), die von den Hurritern abstammenden Mitannier (1.500 bis 1.250 v. Chr.), die Nairi (1.200 bis 900 v. Chr.), die Urarter (900 bis 600 v. Chr.) und die Meder (700 bis 550 v. Chr.) in konfderalen Stammes- und Knigsreichverbnden lebten, die rudimentre Staatsstrukturen aufwiesen. Zu dieser Zeit waren patriarchale Gesellschaftstruk-turen nur geringfgig ausgeprgt. Sowohl in den neolithischen Ackerbaugesellschaften als auch in den kurdischen Gesellschafts-strukturen hatte die Frau eine herausragende Stellung inne, wel-che sich in der neolithischen Revolution manifestierte.

    Der Zoroastrismus vernderte in der Zeit von 700 bis 550 v. Chr. das kurdische Denken nachhaltig. Der Zoroastrismus kul-tivierte eine Lebensanschauung, die von der Feldarbeit geprgt war, in der Frauen und Mnner gleichgestellt waren, Tierliebe ei-nen herausragenden Stellenwert hatte und Freiheit ein hohes mo-ralisches Gut darstellte. Die zoroastrische Kultur beeinflusste die stliche und westliche Zivilisation gleichermaen, da Perser und

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    Hellenen viele dieser kulturellen Einflsse bernahmen. Die per-sische Zivilisation wurde hingegen von den Medern begrndet, die als Vorfahren der Kurden gelten. In den Schilderungen des Heredot finden sich zahlreiche Hinweise fr die Machtteilung zwischen den beiden ethnischen Gruppen im persischen Reich. Gleiches gilt fr das sptere Reich der Sassaniden.

    Im klassischen Altertum der stlichen Hemisphre hinterlie die hellenistische ra tiefe Spuren. Das Frstentum Abgar zu Urfa, das Frstentum Komagene, dessen Zentrum bei Adiyaman-Samsat lag, und das im heutigen Syrien gelegene Knigreich Pal-myra standen mageblich unter hellenischen Einfluss. Anders ausgedrckt entstand dort die erste Synthese von orientalen und okzidentalen Kultureinflssen. Diese besondere Form kultureller Begegnung dauerte bis zur rmischen Eroberung fort (Palmyra fiel 269 n. Chr. an das Rmische Reich), die sich nachhaltig auf die weitere Entwicklung der gesamten Region auswirkte.

    Auch das Entstehen des Sassanidenreichs im 3. Jahrhundert n. Chr. beendete nicht den kurdischen Einfluss. Es wird ange-nommen, dass sich in dieser Zeit (216 bis 651 n. Chr.) die feuda-len kurdischen Gesellschaftsstrukturen herausbildeten.

    Mit dem Aufkommen des Feudalismus setzte der Zerfall des ethnischen Zusammenhalts ein. Innerhalb der kurdischen Gesell-schaft entwickelten sich zunehmend feudal geprgte Bindungen. Dieser Entwicklungsverlauf der feudalen Zivilisation trug viel zur islamischen Revolution bei. Der Islam richtete sich gegen die Sklavenhalterstrukturen und unterzog die ethnischen Bindungen im Rahmen der Verstdterung einem Wandel. Gleichzeitig sorgte er fr eine mentale Revolution in den feudalen Gesellschaften, fr die er den ideologischen Unterbau lieferte.

    Mit dem Niedergang des Sassanidenreichs im 7. Jahrhundert schuf der Islam auch eine kurdische feudale Aristokratie, die un-ter dem starken Einfluss der Arabisierung stand. Sie wurde zu einer der strksten sozialen und politischen Gruppierungen ihrer

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    Zeit. Das kurdische Herrscherhaus der Ayyubiten (1175 bis 1250 n. Chr.) entwickelte sich zu einer der potentesten Dynastien im Mittleren Osten, die auf die Kurden einen groen Einfluss aus-bte.

    Anderseits pflegten die Kurden eine enge Beziehung zum seldschukischen Sultanat, das 1055 n. Chr. die Herrschaft von den Abbasiden bernahm. Kurdischstmmige Herrscherhuser, wie die Schaddadiden, Buyiden und Marwaniden (990 1090 n. Chr.) entwickelten sich zu feudalen Kleinstaaten. Andere Frs-tentmer folgten. Im Osmanischen Reich genoss die Fhrungs-schicht der Kurden weitgehende Autonomie.

    Das 19. Jahrhundert hielt fr die Kurden tiefe Einschnitte be-reit. Im Zuge der sich verschlechternden Beziehungen zu den Osmanen kam es zu kurdischen Aufstnden. Englische und fran-zsische Missionare trugen das Gedankengut des Separatismus in die armenische und aramische Kirche, was zu einer chaotischen Situation beitrug. Es kam des Weiteren zu einer merklichen Ver-schlechterung in den Beziehungen zwischen den Armeniern, As-syrern und Kurden. Dieser unheilvolle Prozess endete 1918 nach dem Ersten Weltkrieg in der weitgehend physischen und kultu-rellen Vernichtung der Armenier und Aramer, die Trger einer Jahrtausende alten Kultur waren.

    Obwohl die Beziehungen zwischen Kurden und Trken ernst-haft Schaden genommen hatten, kam es gleichzeitig nicht zum Bruch zwischen den Kurden einerseits und den Armeniern und Aramern andererseits.

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    Verteilungskmpfe, Krieg und Staatsterror in Kurdistan

    Der geostrategischen Lage Kurdistan weckte in der Vergangenheit Begehrlichkeiten, die das Land zum Spielball von Umverteilungs-kmpfen, Krieg und Staatsterror werden lie. Das ist heute nicht anders. Dieser Zeitraum begrenzt sich nicht nur auf die vergan-genen zweihundert Jahre, sondern reicht weit bis zur frhen Ge-schichte zurck, in der Kurdistan bereits den Plnderungen und Eroberungen fremder Mchte ausgesetzt war. Das Terrorregime der assyrischen und skythischen Reiche zwischen 1000 bis 1300 v. Chr. und der Eroberungsfeldzug von Alexander dem Groen sind die bekanntesten Beispiele. Der arabischen Eroberung folgte die Islamisierung Kurdistans.

    So sehr sich der Islam auch als Friedensreligion begreift, ist er im Grunde immer eine kriegerische Ideologie der arabischen Nation gewesen, die in Kurdistan rasche Verbreitung fand. Der Islam gelangte bis zu den Auslufern des Taurus- und Zagrosge-birge. Stmme, die sich der Islamisierung widersetzen, wurden ausgelscht. 1000 n. Chr. war der Islam an seinen Hhepunkt angelangt.

    Im 13. und 14. Jahrhundert fielen die Mongolen in Kurdistan ein. Flucht und Vertreibung waren die Folge. Nach der Schlacht von Tschaldiran im Jahre 1514, aus der das Osmanische Reich sieg-reich hervorging, verschob sich die Ostgrenze des Reiches weiter gegen Osten. Mit dem Vertrag von Qasr-e Schirin im Jahre 1639 wurden die iranischen und trkischen Grenzen offiziell festgelegt und die bis heute fortdauernde Teilung Kurdistans besiegelt. Me-

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    sopotamien und die Kurden fanden sich grtenteils innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches wieder. Bis 1800 herrsch-te zwischen den Osmanen und den kurdischen Frstentmern ein relativer Frieden. Die gemeinsame Grundlage hierfr bot die sunnitische Glaubensrichtung, die im Islam vorherrschend ist. Die widerspenstigen alevitischen und zoroastrischen Kurden sa-hen sich jedoch zum Widerstand gentigt, aufgrund dessen sie sich in die Berge zurckzogen.

    Von 1800 an bis zum Niedergang des Osmanischen Reiches wurde Kurdistan durch zahlreiche Aufstnde erschttert, die meist blutig niedergeschlagen wurden.

    Nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches wurde die Teilung Kurdistans weiter zementiert, was die Atmosphre der Gewalt noch weiter verschrfte. Die aufstrebenden neuen impe-rialistischen Mchte England und Frankreich zogen die Grenzen im Mittleren Osten neu, wodurch sie Kurdistan der Herrschaft der trkischen Republik, dem iranischen Pfauenthron, der ira-kischen Monarchie und dem syrisch-franzsischen Regime ber-antworteten.

    Unter dem Eindruck des Verlustes eines Groteils ihrer fr-heren Territorien ging die Trkei in Kurdistan zu einer strikten Assimilationspolitik ber, mit deren Hilfe der Zusammenhalt der verbliebenen Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches erzwun-gen werden sollte. Alle Anzeichen einer anderen Kultur als der trkischen sollten ausgemerzt werden. Sogar der Gebrauch der kurdischen Sprache wurde verboten.

    Das Vorgehen des aufstrebenden iranischen Herrscherhauses der Pehlevi unterschied sich von dem der Trkei nicht im Ge-ringsten. Der Aufstand des kurdischen Stammesfhrers Simko Schikak aus Urmiye und die Emanzipationsbestrebungen der kur-dischen Republik von Mahabad wurden blutig unterdrckt. Der Schah errichtete ein Terrorregime, das ganz dem nationalistisch-faschistischen Geist zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach.

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    Im irakischen und syrischen Teil Kurdistans unterdrckten Eng-land und Frankreich mithilfe der arabischen Herrscherhuser die kurdischen Emanzipationsbestrebungen. Auch hier wurde ein blutiges Kolonialregime errichtet.

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    Der europische Kolonialismus und das kurdische Dilemma

    Angetrieben von geostrategischen Vormachtinteressen und gren-zenloser Gier, trug die Interventionspolitik Europas im Mittleren Osten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend kolonialisti-sche Zge. Oberstes Ziel war die Unterwerfung und Kontrolle des Mittleren Osten. Den frheren Formen der Kolonialisierung, denen die Kurden im Laufe der Geschichte ausgesetzt waren, fgte sich eine neue Form hinzu. Dieses Dilemma hat eine lange Geschichte, die sich bis zu den Sumerern zurckverfolgen lsst. Doch mit dem westlichen Kapitalismus nahm der Kolonialismus ungeahnte Dimensionen an. Fr die Kurden bedeutete dies eine weitere Konfrontation mit weiteren kolonialistischen Akteuren, was eine Lsung der kurdischen Frage weiter verkomplizierte.

    Im Hinblick auf ihre Interessen erschien es den neuen imperi-alen Krften vorteilhafter, die Kooperation mit dem Sultan und der Administration des Reichs zu suchen, um diese an sich zu binden, statt das Osmanischen Reich vllig zu zerschlagen, was unabsehbare Folgen mit sich gebracht htte. Mit diesem Vor-gehen sollte die Kontrolle ber die Region und die ansssigen Vlker erleichtert werden. Diese Methode, die auch als Politik des Teile und Herrsche Eingang in die Geschichtsbcher fand, wurde insbesondere vom britischen Empire angewandt. Auf diese Weise wurde die Herrschaft der Osmanen um weitere hundert Jahre verlngert.

    Die Politik Frankreichs und Deutschlands unterschied sich von diesem Vorgehen nicht wesentlich. Ihre Unstimmigkeiten

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    berhrten nicht das Krftegleichgewicht im Mittleren Osten. Ein weiterer Fokus imperialer Machtsicherung waren die

    christlichen Volksgruppen. Einerseits gab der westliche Koloni-alismus vor, die anatolischen Griechen, Armenier und Aramer schtzen zu wollen, andererseits brachte er diese gegen die Zent-ralmacht auf, die mit einem massiven repressiven Vorgehen ant-wortete. Dem folgenden Vernichtungsfeldzug schauten die west-lichen Mchte tatenlos zu. Letztendlich brachte diese Politik die Vlker des Mittleren Osten gegeneinander auf.

    In diesem Szenario waren die Kurden der Spielball fremder In-teressen. In der Vergangenheit kollaborierte die kurdische Aris-tokratie mit den Herrscherhusern der Araber und Trken. Nun lie sie sich fr die kolonialistischen Intrigen der neuen fremden Mchte instrumentalisieren. Indem die Englnder die Kurden fr eine Zusammenarbeit gewannen, gelang es ihnen, die besorgten trkischen und arabischen Machthaber im Sinne ihrer Interessen an sich zu binden. Anderseits konnten auch das armenische und aramische Volk weiter an die Kolonialmchte gebunden werden, die ihrerseits von den kurdischen feudalen Kollaborateuren be-drngt wurden. Der trkische Sultan, der persische Schah und die arabischen Herrscher waren jedoch nicht nur Opfer dieser Politik. Sie selbst betrieben ein hnliches Spiel, mit dem sie ihre Macht sicherten und den kolonialistischen Begehrlichkeiten der Westmchte entgegensteuerten. Die Leidtragenden waren die Vlker.

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    Ideologische Grundlage kolonialer Unterdrckung und Machtpolitik in Kurdistan

    Sowohl die Teilung Kurdistans als auch die Herrschaftsformen des arabischen, persischen und trkischen Regimes warfen die Kurden in den jeweiligen Teilen Kurdistans gesellschaftlich zu-rck. Die heutige gesellschaftliche Rckstndigkeit der Kurden, die weitgehend immer noch in feudalen Strukturen verharren, ist ein Produkt dieser Herrschaftsverhltnisse. Der Einzug kapi-talistischer Verhltnisse, von denen die Kurden weitgehend aus-geschlossen waren, vergrerte den Abstand zu den arabischen, trkischen und persischen Hegemonialgesellschaften weiter. Die Machtstrukturen feudaler Herrschaft vermischten sich mit brgerlich-kapitalistischen Machtstrukturen, durch die sich die Vorherrschaft der eigenen Nation aufrecht erhalten lie. Auch wenn diese Strukturen vom Imperialismus abhngig waren, ver-mochten sie eine eigene nationale konomie aufzubauen, die ei-gene Kultur weiterzuentwickeln und eine Festigung des eigenen Staatsaufbaus zu erreichen. In den Bereichen Wissenschaft und Technik wuchs eine nationale Elite heran. Das Primat der eige-nen Sprache wurde den anderen Vlkern aufgezwungen, die auf dem eigenen Territorium lebten. Mittels einer nationalistischen Innen- und Auenpolitik wurde eine nationale Fhrungsschicht geschaffen, die sich als Hegemonialmacht im Widerspruch zu den anderen Volksgruppen begriff. Um den Widerstand der Vl-ker zu brechen, wurde der Ausbau der Polizei- und Militrkrfte forciert. Die Kurden hatten dem nichts entgegenzusetzen, da sie immer noch an den Auswirkungen der imperialistischen Intrigen

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    schwer zu tragen hatten. Sie sahen sich einem aggressiven Na-tionalchauvinismus der Staaten gegenber, die in Kurdistan die Macht ausbten. Die Legitimitt dieser Macht wurde mit aben-teuerlichen ideologischen Konstrukten begrndet.

    Verleugnung und SelbstverleugnungDie Hegemonialmchte sprachen den Kurden ihren ethnischen Bezug ab. Die Existenz einer kurdischen Ethnie wurde schlicht-weg abgestritten. In einem solchen Umfeld war es mit groen Risiken verbunden, sich auf seine eigenen kurdischen Wurzeln zu beziehen. Wer dies dennoch offen tat, konnte nicht mit der Untersttzung der eigenen ethnischen Gruppe rechnen. Fr vie-le Kurden bedeutete das Bekenntnis zur eigenen Herkunft und Kultur, aus smtlichen wirtschaftlichen und sozialen Beziehun-gen ausgeschlossen zu werden. Dies fhrte dazu, dass viele Kur-den ihren ethnischen Bezug leugneten oder verschwiegen, was systematisch durch die jeweiligen Regime forciert wurde.

    Die Leugnung der kurdischen Existenz trieb viele seltsame Blten. Fr die arabischen Regime existierte die kurdische Fra-ge nicht. Fr sie war diese mit der Zwangsislamisierung beseitigt worden. Die einzige Nation war der Islam. Und der war ihrer Auffassung nach arabisch.

    Die Perser gingen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Kurden als ethnische Untergruppe der Perser deklarierten, womit ihnen alle Rechte auf natrliche Weise gewhrt seien. Kurden, die dennoch ihre Rechte einforderten und an ihrer eth-nischen Identitt festhielten, wurden als Nestbeschmutzer begrif-fen und dementsprechend behandelt.

    Das trkische Regime leitet hingegen seinen Herrschaftsan-spruch ber die Kurden aus seinen vermeintlichen Eroberungs-feldzgen in Anatolien vor tausend Jahren ab. Andere Vlker habe es dort nicht gegeben. Demzufolge sind die Begriffe Kurde und Kurdistan Unwrter, die es nach offizieller Ideologie nicht

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    gibt bzw. nicht geben darf. Der Gebrauch dieser Begriffe kommt einem terroristischen Akt gleich, der dementsprechend geahn-det wird.

    Allen ideologischen Konstrukten zum Trotz: Die Kurden sind eine der ltesten autochthonen Volksgruppen der Region.

    AssimilationOftmals setzen Hegemonialmchte das Instrument der Assimi-lation ein, wenn diese mit widerspenstigen ethnischen Gruppen konfrontiert sind. Sprache und Kultur sind auch immer Trger eines Widerstandspotenzials, das mittels Assimilation ausge-trocknet werden soll. Das Verbot der eigenen Muttersprache und der Zwang zum Gebrauch der Fremdsprache sind mit die effektivsten Instrumente. Denn wer nicht mehr seine Sprache zu sprechen imstande ist, dem bleiben die Eigenarten der Sprache verborgen, welche von ethnischen, geografischen und kulturellen Faktoren bestimmt sind. Ohne das einende Element der Sprache geht auch das einende Moment des kollektiven Denkens ver-loren. Ohne diese gemeinsame Grundlage kommt es zum Ver-lust des kollektiven Bezugs zur eigenen Ethnie, in dessen Folge die Hegemonialsprache und Hegemonialkultur im eroberten sprachlichen und ethnischen Umfeld Fu fassen knnen. Der er-zwungene Gebrauch der offiziellen Hegemonialsprache lsst die eigene Muttersprache verkmmern, bis diese keine Rolle mehr spielt. Dieser Prozess geht noch schneller vonstatten, wenn die betreffende Sprache keine Schriftsprache ist, wie das Kurdische. Die Strategie der Assimilation beschrnkt sich nicht allein auf den Gebrauch der Sprache. Sie kommt in allen gesellschaftlichen und ffentlichen Bereichen zur Anwendung, in denen der Staat seine Macht ausbt.

    Kurdistan war oftmals Schauplatz von kulturellen Assimila-tionsbestrebungen durch fremde Hegemonialmchte. Die letz-ten hundert Jahre seiner Geschichte waren jedoch die zerstre-

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    rischsten. Der Aufbau moderner nationalstaatlicher Strukturen in den Hegemonialstaaten und die Errichtung eines kolonialen Herrschaftssystems in Kurdistan verschrften die Assimilations-bestrebungen gegenber der kurdischen Sprache und Kultur. Wie schon Arabisch und Persisch wurde auch Trkisch unter Zwang zur Hegemonialsprache. Whrend sich die Kurden im frhen und spten Altertum noch ihre Kultur und Sprache be-wahren konnten, wurde diese von den drei genannten offiziellen Hegemonialsprachen und Hegemonialkulturen zurckgedrngt, die sich smtlicher moderner Kommunikationsmittel bedienen konnten. Kurdisches Lied- und Schriftgut wurde verboten, Zu-widerhandlung mit schweren Strafen belegt. Dadurch durchlebte die kurdische Sprache und Kultur, die im Mittelalter noch viele literarische Werke hervorgebracht hatte, eine existenzbedrohende Ausdnnung. Die kurdische Kultur und Sprache wurde zum sub-versiven Element deklariert. Muttersprachlicher Unterricht war verboten. Die Hegemonialsprachen wurden zur einzigen Ausbil-dungssprache, in der die Errungenschaften der Moderne gelehrt wurden.

    Die trkischen, persischen und arabischen Nationalstaaten ver-folgten mit unterschiedlichen repressiven Mitteln institutionell wie auch gesellschaftlich eine systematische Politik der Assimi-lation, die der kurdischen Kultur und Sprache jede Legitimation absprach. Nur die hegemoniale Kultur und Sprache sollte brig bleiben.

    Religion und NationalismusWeitere Instrumente hegemonialer Machtsicherung in Kurdistan sind Religion und Nationalismus. In allen Teilen Kurdistans wird der Islam als Staatsreligion der Hegemonialmchte zur Kontrol-le der Bevlkerung instrumentalisiert. Mgen sich die jeweiligen Regime noch so sehr zum Skularismus bekennen, die Verqui-ckung von politischen und religisen Organen ist offensichtlich.

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    Whrend im Iran ein offen theokratisches Regime an der Macht ist, wird die Instrumentalisierung der Religion fr politische In-teressen in den anderen Hegemonialstaaten verdeckt vollzogen. So beschftigt die staatliche Religionsbehrde der Trkei Hun-derttausende Imame. Vielleicht verfgt selbst der Iran nicht ber ein derartiges Heer von religisen Fhrern. Die Religionsschulen unterstehen der direkten staatlichen Kontrolle. In den Koran-schulen, theologischen Instituten und Fakultten sind annhernd eine halbe Million Menschen beschftigt. Der postulierte Skula-rismus wird ab absurdum gefhrt und ist allenfalls ein Placebo.

    Dort wo dieses Gedankengut auf die aktive Politik trifft, ent-stehen chaotische Zustnde. In der Regierungszeit der Demo-kratischen Partei (DP) und Gerechtigkeitspartei (AP) wurde die Politisierung der Religion in offenerer Form betrieben. Im Zuge der Militrputsche vom 12. Mrz 1971 und 12. September 1980 gab sich die Trkei ein modifiziertes ideologisches Gewand, in-dem sie die Rolle der Religion neu definierte. Dies leitete die Re-Islamisierung der trkischen Republik ein, die im Iran nach der Machtergreifung Chomeinis 1979 in radikalerer Form vonstatten ging. Mit der Partei fr Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gelangten 2003 islamische Ideologen erstmals an die Macht. Die-ser Wahlsieg war kein Zufall, sondern das Produkt einer langfris-tigen Religionspolitik des trkischen Staates.

    Brgerlicher NationalismusEin weiteres ideologisches Instrument der Hegemonialmchte ist der brgerliche Nationalismus. Diese vor allem im 19. und 20. Jahrhundert bestimmende ideologische Strmung wurde zur offiziellen Staatsideologie der Nationalstaaten, auf deren Grund-lage die brgerlichen Klassen gegen die kollektiven Interessen der Werkttigen und der real-sozialistischen Strmungen vorgingen. Der Nationalismus war letztendlich das logische Produkt des Na-tionalstaates, der Zge einer zeitgenssischen Religion trug.

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    Der in der Trkei in den 1840er Jahren aufkommende Natio-nalismus versuchte, den sich abzeichnenden Zerfall des Osmani-schen Reiches zu verhindern. Die trkischen Nationalisten der ersten Stunde waren anfnglich legalistisch ausgerichtet. Spter wandten sie sich gegen das Sultanat Abdulhamits II. und radika-lisierten sich zunehmend. Der Nationalismus der Bewegung der Jungtrken fand im Komitee fr Einheit und Fortschritt seinen Ausdruck, das auf eine konstitutionelle Staatsreform hinarbeitete und nach der politischen Macht im Reich strebte. Ein weiteres erklrtes Ziel war die Strkung des auenpolitisch geschwchten und innenpolitisch vom Zerfall bedrohten Reiches durch syste-matische politische, militrische und wirtschaftliche Moderni-sierung. Die ffnung der deutschen Politik hin zum Mittleren Osten und zu Zentralasien, fgte dem trkischen Nationalismus noch die Komponente des Rassismus hinzu. Der Vlkermord an den Armeniern, anatolischen Griechen, Aramern und an den Kurden war die Folge.

    Die junge trkische Republik fhrte auf der Basis eines aggres-siven Nationalismus und einem strengen Verstndnis von Natio-nalstaatlichkeit ein eisernes Regiment. Die Parole eine Sprache, eine Nation, ein Staat wurde zum Glaubensgrundsatz erhoben. Diesem klassenlosen und fraternistischen Nationalstaatsverstnd-nis fehlte es jedoch an Instrumenten zur Umsetzung. Seine Ab-straktheit trug die Gefahr des ideologischen Fanatismus in sich. Der Nationalismus verkam zu einem Instrument der Herrschen-den, mit dem die eigenen Schwchen kaschiert wurden. Unter dem Banner eines erhabenen Trkentums wurde die Gesell-schaft auf einen aggressiven Nationalismus eingeschworen.

    Der Krieg in Kurdistan und das staatsterroristische Vorgehen der Trkei schufen einen eigenen Machtblock. Wie auch in ande-ren Systemen, in denen bestimmte Machtblcke, gesttzt auf ihr militrisches Potenzial, ihre Existenzberechtigung auf den Krieg grnden, wurde die trkische Gesellschaft entsprechend geformt.

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    Diesem Umstand ist es unter anderem geschuldet, dass dem Sys-tem die Fhigkeit zur Konfliktlsung abhandengekommen ist. Es entstand ein durch Krieg und Staatsterror geformtes System, in dem nicht mehr klar ist, welche Machtzentren welchen Interes-sen und Zielen dienen. Dessen katastrophalen Auswirkungen be-treffen die trkische und kurdische Gesellschaft gleichermaen.

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    Kurdische Selbstfindung und kurdischer Widerstand

    Die Selbstfindung der Kurden als Nation und Volk erfolgte relativ spt. Auch wenn in den kurdischen Aufstnden des 19. Jahrhunderts ein Bekenntnis zum Kurdentum erkennbar war, ging dieses Bekenntnis nicht ber die Opposition zum Sultanat und zur Herrschaft des Schahs hinaus. Es existierten keine Vor-stellungen ber alternative Lebensformen. Ein Bekenntnis zum Kurdentum implizierte die Errichtung eines eigenen kurdischen Knigreiches, das sich am Sultanat des Mittelalters orientierte. Lange waren die Kurden von einer Selbstfindung als Nation und Volk weit entfernt.

    Erst in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich im Rahmen intellektueller Diskussionen eine Vorstellung von kurdischer Identitt. Diese Strmung ging weitgehend aus der trkischen Linken hervor. Sie hatte jedoch nicht das intel-lektuelle Potenzial, um die vom Stammeswesen und Scheichtum geprgten Vorstellungen von kurdischer Identitt zu berwin-den. Sowohl die vom real existierenden Sozialismus beeinflussten kommunistischen Parteien als auch die brgerlichen und feuda-len Parteien waren von einer Definition des Begriffs einer kur-dischen Nation respektive dem Begriff eines kurdischen Volkes weit entfernt. Erst die linksgerichtete Studentenbewegung in den 1970er Jahren trug mageblich zu einem Bewusstsein ber die kurdische Identitt bei.

    Die Selbstfindung als kurdisches Volk entwickelte sich im Spannungsverhltnis zum trkischen chauvinistischen National-

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    verstndnis einerseits und zum kurdischen Nationalismus feuda-ler Prgung anderseits. Auf der einen Seite stand die Konfronta-tion mit der ideologischen Hegemonie des Systems, die oftmals im linksgerichteten Gewand daher kam, auf der anderen Seite die Konfrontation mit der kurdischen Aristokratie, die traditi-onsgem mit dem System paktierte. Die Befreiung aus diesen gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Zwngen verlief nicht ohne Komplikationen. Sie erforderte sowohl intellektuelles Potenzial als auch praktische Organisierung. Diese fhrte wiede-rum geradewegs zum Widerstand.

    Seit den frhen 1970er Jahren, als die kurdischen Emanzipati-onsbestrebungen noch in den Kinderschuhen steckten, sind mehr als fnfunddreiig Jahre vergangen. Diese Zeit brachte nicht nur die kurdische Aufklrung hinsichtlich der eigenen Identitt und Anstze einer Lsung der kurdischen Frage hervor. Vielmehr wurde der Beweis angetreten, dass sich die Emanzipationsbestre-bungen des kurdischen Volkes nicht mit Gewalt niederhalten las-sen bzw. kein System auf Dauer berleben kann, das mit Gewalt gesellschaftliche Widersprche zu transformieren sucht. Anderer-seits haben diese Emanzipationsbestrebungen gezeigt, dass sich kein Volk entwickeln kann, wenn es sich nicht seine gesellschaft-liche Wrde zurckerobert.

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    Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)

    Kurzer Abriss der Entstehungsgeschichte der PKKIm April 1973 fand sich eine sechskpfige Gruppe mit dem Ziel zusammen, eine eigenstndige kurdische politische Formation zu grnden. Sie ging davon aus, dass Kurdistan eine klassische Ko-lonie sei, in der es der Bevlkerung gewaltsam verwehrt ist, die eigenen Geschicke zu lenken. Dies zu ndern war ihr oberstes Ziel. Jene Zusammenkunft kann auch als Geburtsstunde einer neuen kurdischen Bewegung bezeichnet werden.

    ber Jahre hinweg gewann diese Gruppierung immer neue Anhnger hinzu, mit deren Hilfe sie ihre berzeugungen in der lndlichen Bevlkerung Kurdistans verbreitete. Immer fter kam es zu Auseinandersetzungen mit trkischen Sicherheitskrften, bewaffneten Stammesangehrigen der kurdischen Aristokratie und konkurrierenden politischen Gruppen, die gewaltsam gegen die noch junge Bewegung vorgingen.

    Am 27. November 1978 grndete sich die Arbeiterpartei Kur-distans (PKK) in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Diyarbakir. An der Grndungsversammlung nahmen zweiundzwanzig fh-rende Mitglieder der Bewegung mit dem Ziel teil, ihr professio-nellere Strukturen zu geben. In den Stdten wre die noch junge Bewegung untergegangen, weshalb sich die Aktivitten auf die lndlichen Regionen Kurdistans konzentrierten.

    Der trkische Staat reagierte harsch auf die Propagandabem-hungen der PKK. Verhaftungen und bewaffnete Auseinanderset-zungen waren die Folge, bei denen es auf beiden Seiten zu Ver-

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    lusten kam. Doch auch in der Trkei spitzte sich die Situation zu. Erste Anzeichen fr einen Militrputsch waren schon 1979 erkennbar. Die PKK reagierte und zog ihre Krfte aus der Trkei zurck. Ein Teil ging in die Berge, ein anderer Teil setzte sich in die Lnder des Mittleren Ostens ab. Ein weiterer kleiner Teil verblieb in der Trkei. Mit diesem Schritt sicherte die PKK ihr berleben. Am 12. September 1980 putschte das trkische Mili-tr und riss die Macht an sich. Viele der in der Trkei verblieben PKK-Mitglieder gerieten unter der Militrjunta in Gefangen-schaft.

    In dieser Situation musste sich die PKK entscheiden, ob sie den Weg zu einer Exilorganisation oder zu einer modernen nationa-len Befreiungsbewegung einschlgt. Nach einer kurzen Phase der Reorganisation kehrte der Groteil der PKK-Mitglieder wieder nach Kurdistan zurck, um den bewaffneten Widerstandskampf gegen die faschistische Junta aufzunehmen. Mit den Angriffen vom 15. August 1984 auf militrische Einrichtungen in Eruh und Semdinli wurde die Aufnahme des bewaffneten Widerstands-kampfes offiziell proklamiert. Wenn auch mit Fehlern behaftet, wurde dennoch der Schritt zu einer nationalen Befreiungsbewe-gung vollzogen.

    Anfangs versuchte der Staat Turgut zal war erst kurz zuvor zum Ministerprsidenten gewhlt worden den Vorfall herun-terzuspielen. In der staatlichen Propaganda wurde die Guerilla als eine Handvoll von Banditen bezeichnet, was viel ber die Denkweise der Verantwortlichen in Ankara aussagte. Ein politi-scher Umgang mit dem Konflikt war nicht erkennbar. Die Aus-einandersetzungen wuchsen sich zum Krieg aus, der auf beiden Seiten zahlreiche Opfer forderte.

    Erst in den 1990er Jahren kam Bewegung in die festgefahrene Situation, als staatlicherseits eine Bereitschaft zur politischen L-sung erkennbar wurde. uerungen von Turgut zal und Sley-man Demirel, dem damaligen Staatsprsidenten, denen zufolge

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    man sich eine Anerkennung der kurdischen Identitt vorstellen knne, weckten Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Kon-fliktes. Mit ihrem Waffenstillstand von 1993 versuchte die PKK diesen Prozess zu vertiefen. Mit dem pltzlichen Tod von Turgut zal verlor dieser Prozess einen seiner wichtigsten Protagonisten. Aber auch die Haltung einiger weniger Hardliner in der kurdi-schen Befreiungsbewegung, die am bewaffneten Kampf festhiel-ten, so wie die komplizierte interne Situation der Fhrungselite des trkischen Staates, die zerrissen von miteinander konkurrie-renden Interessen war, sowie das Verhalten der nordirakischen Kurdenfhrer Talabani und Barzani trugen nicht zu einer weite-ren Vertiefung des eingeschlagenen Friedensprozesses bei. Die bis dahin grte Chance auf eine friedliche Lsung der kurdischen Frage war vertan.

    Infolgedessen eskalierte der Konflikt. Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch. Doch auch der eskalierende Krieg nderte nichts an der Pattsituation. Die Kriegsjahre zwischen 1994 und 1998 waren verlorene Jahre. Trotz mehrerer einseitiger Waffen-stillstnde der PKK beharrte der trkische Staat auf einer milit-rischen Lsung. Auch der Waffenstillstand von 1998 blieb seitens des Staates unbeantwortet. Vielmehr schrte er die militrische Konfrontation, die die Trkei und Syrien an den Rand eines Krieges brachte.

    1998 ging ich nach Europa, um in meiner Funktion als PKK-Vorsitzender fr eine politische Lsung zu werben. Der weitere Verlauf dieser Odyssee ist bekannt. Nach dem ich vlkerrechts-widrig aus Kenia in die Trkei verschleppt wurde, untersttzt von einem staatlich gelenkten Bndnis von Geheimdiensten, schien fr Auenstehende alles auf eine weitere Eskalation des Konflik-tes hinzudeuten. Doch der Prozess auf der trkischen Gefngnis-insel Imrali markierte eine politische Kehrtwende im Konflikt, die neue Mglichkeiten fr eine politische Lsung bot. Gleich-zeitig bedeutete diese Kehrtwende fr die PKK eine ideologische

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    und politische Umorientierung, an der ich schon vor meiner Ver-schleppung gearbeitet hatte. Eine wahrlich ideologische und poli-tische Zsur. Was waren also die wirklichen Beweggrnde?

    Zentrale KritikpunkteZweifellos war meine Verschleppung ein herber Schlag fr die PKK. Dennoch war sie nicht der Grund fr ihre ideologische und politische Zsur. Die PKK war als Partei konzipiert gewesen, die, wie auch andere Parteien, einen staatshnlichen hierarchischen Aufbau hatte. Eine derartige Struktur steht jedoch im dialekti-schen Widerspruch zu Demokratisierung, Freiheit und Gleich-heit. Ein prinzipieller Widerspruch, mit dem sich alle Parteien, egal welcher Weltanschauung, konfrontiert sehen. Obwohl die PKK freiheitliche Anschauungen vertrat, hatte sie sich dennoch nicht von einem hierarchischen Denken befreien knnen.

    Ein anderer Hauptwiderspruch war das Streben der PKK nach institutioneller politischer Macht, das die Partei dementspre-chend formte und ausrichtete. Eine an institutioneller Macht orientierte Struktur steht jedoch der Demokratisierung der Ge-sellschaft entgegen, welche sich die PKK erklrtermaen auf die Fahnen geschrieben hatte.

    Mitglieder einer solchen Partei orientieren sich deshalb weni-ger an der Gesellschaft als an Autoritten bzw. streben danach, selbst zu Autoritten zu werden. Alle drei groen ideologischen Strmungen, die sich emanzipatorische Gesellschaftskonzepte zur Grundlage gemacht hatten, waren mit dem oben genannten Widerspruch konfrontiert.

    Sowohl der Realsozialismus als auch die Sozialdemokratie und die nationalen Befreiungsbewegungen, die alle Gesellschaftskon-zepte jenseits des Kapitalismus umzusetzen versuchten, konnten sich nicht aus den ideologischen Sachzwngen des kapitalisti-schen Systems befreien. Sie wurden schon sehr frh zu Sttzen des kapitalistischen Systems, indem sie allein nach institutioneller

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    politischer Macht strebten, anstatt sich auf die Demokratisierung der Gesellschaft zu konzentrieren.

    Ein weiterer Hauptwiderspruch war der Stellenwert des Krie-ges im ideologischen und politischen Denken der PKK. Das Mittel des Krieges wurde als Fortsetzung der Politik mit ande-ren Mitteln begriffen und somit zu einem strategischen Inst-rument verklrt. Diese Auffassung stand jedoch im eklatanten Widerspruch zur eigenen Auffassung von einer fr gesellschaft-liche Befreiung streitenden Bewegung. Demnach ist der Einsatz kriegerischer Mittel allenfalls durch eine notgedrungene Selbst-verteidigung gerechtfertigt. Alles darber Hinausgehende wider-spricht dem gesellschaftlich emanzipatorischen Ansatz, dem sich die PKK verpflichtet sieht, da smtliche Unterdrckerregime in der Geschichte auf Krieg aufbauten bzw. sich deren Institutio-nen und Gesellschaften an der Logik des Krieges entsprechend ausrichteten. So glaubte die PKK, allein mit dem erfolgreichen Einsatz kriegerischer Mittel alle Rechte erstreiten zu knnen, die dem kurdischen Volk vorenthalten wurden. Eine solche deter-ministische Auffassung vom Kriege ist weder sozialistisch noch demokratisch, obwohl sich die PKK so verstand. Eine wirklich sozialistische Partei orientiert sich weder an einem staatshnli-chen hierarchischen Aufbau noch strebt sie nach institutioneller politischer Macht, deren Grundlage die Macht- und Interessensi-cherung mit kriegerischen Mitteln ist.

    Die vermeintliche Niederlage der PKK, die der trkische Staat mit meiner Verschleppung in die Trkei verband, gab den end-gltigen Anlass, sich kritisch und offen mit den genannten Wi-dersprchen umfassend auseinanderzusetzen, welche letztendlich ein Weiterkommen der kurdischen Freiheitsbewegung verhinder-ten. Mit der ideologischen und politischen Zsur, der sich die PKK unterzog, wurde aus der vermeintlichen Niederlage ein Auf-bruch zu neuen Ufern.

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    Neue strategische, philosophische und politische Anstze der kurdischen Befreiungsbewegung

    Eine umfassende Darstellung der zentralen strategischen, ideolo-gischen, philosophischen und politischen Elemente, die diesem Wandlungsprozess zugrunde liegen, ist in diesem Rahmen nur schwer mglich. Dennoch lassen sie sich unter den folgenden Eckpunkten zusammenfassen:

    Diephilosophischen,politischenundethischenAnstze,andenen sich die neu ausgerichtete PKK orientiert, finden im Be-griff demokratischer Sozialismus ihren adquaten Ausdruck. DiePKKleitetausdemSelbstbestimmungsrechtderVlkernicht die Grndung eines eigenen kurdischen Nationalstaates ab, sondern sieht in diesem Recht die Grundlage fr die Errichtung von Basisdemokratien, ohne neue politische Grenzen anzustre-ben. Es ist die Aufgabe der PKK, die Gesellschaft Kurdistans von dieser Auffassung zu berzeugen. Gleiches gilt fr den Dialog mit den Hegemonialstaaten, die in Kurdistan die Macht ausben, auf dessen Grundlage die Lsung bestehender Fragen erreicht wer-den soll. DiebestehendenStaatenbedrfenrealerdemokratischerRe-formen, die ber reine Lippenbekenntnisse zur Demokratie hin-ausgehen. Eine umgehende Abschaffung des Staates anzustreben ist unrealistisch, was jedoch nicht bedeutet, seine jetzige Form hinzunehmen. Der klassische Staat mit seinem despotischen Machtgebaren ist inakzeptabel. Die Institution des Staates ist ei-nem demokratischen Wandel zu unterziehen, an dessen Ende ein

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    schlanker Staat als politische Institution steht, die lediglich Auf-gaben zum Schutze der inneren und ueren Sicherheit und zur Versorgung sozialer Sicherungssysteme wahrnimmt. Ein solches Staatsverstndnis hat nichts mehr mit dem autoritren Charakter des klassischen Staates gemein, sondern entsprche dem Charak-ter einer gesellschaftlichen Autoritt. DiekurdischeBefreiungsbewegungstrebtinKurdistaneinSystem der demokratischen Selbstorganisierung der Gesellschaft mit konfderalem Charakter an. Der demokratische Konf-deralismus begreift sich als Koordinationsmodell einer demo-kratischen Nation, in dessen Rahmen sich u. a. Minderheiten, Religionsgemeinschaften, kulturelle Gruppen und geschlechts-spezifische Gruppierungen bzw. anderweitige gesellschaftliche Gruppen autonom organisieren. Dieses Modell kann auch als Organisationsform demokratischer Nationen und Kulturen be-zeichnet werden. Denn der Demokratisierungsprozess in Kurdi-stan beschrnkt sich nicht allein auf formale Fragen, sondern ist vielmehr ein breit gefchertes gesellschaftliches Projekt, das die wirtschaftliche, soziale und politische Souvernitt aller gesell-schaftlichen Schichten anstrebt, den Aufbau der hierfr erfor-derlichen Organe und Institutionen frdert und die Schaffung von Instrumenten fr eine demokratische Selbstverwaltung und Kontrolle forciert. Dieser permanente Prozess ist langfristiger Na-tur. Wahlen sind in diesem Zusammenhang nicht das alleinige Mittel. Vielmehr bedarf dieser dynamische politische Prozess der direkten Intervention des Souverns, d. h. des Volks, in gesell-schaftlichen Fragen, also seiner unmittelbaren Einbeziehung in gesellschaftliche Entscheidungsfindungsprozesse. Dieses Projekt baut auf der kommunalen Selbstverwaltung auf, die sich in Form von Brgerversammlungen, Kommunen, Gemeinden, Kommu-nalparlamenten und Volkskongressen organisiert. Nicht staatliche Behrden sind der Trger dieser Selbstverwaltung, sondern die Brger selbst. Den Perspektiven der fderalen Selbstverwaltung

  • 35

    sind keine Grenzen gesetzt. Sie kann ber die Grenzen hinweg fortgesetzt werden, um multinationale demokratische Strukturen zu schaffen. Der demokratische Konfderalismus orientiert sich an flachen Hierarchien, in denen Entscheidungsprozesse und Be-schlussfassung aufseiten der Community liegen. DasobenbeschriebeneModelllsstsichauchalsautonomedemokratische Selbstverwaltung umschreiben, in dem der Staat nur noch begrenzte Hoheitsrechte ausbt. In einem solchen Modell werden grundlegende Werte wie Freiheit und Gleichheit adquater als in anderen Verwaltungsmodellen umsetzbar sein. Die Anwendung dieses Modells muss nicht nur auf die Trkei begrenzt bleiben, sondern ist auch auf die anderen Teile Kurdi-stans und die Staaten der dortigen Hegemonialmchte anwend-bar. Gleichzeitig ist dieses Modell geeignet, um fderale Verwal-tungsstrukturen fr die gesamten kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien, in der Trkei, im Iran und Irak aufzubauen. Somit ist es mglich, konfderale Strukturen zwischen allen Landesteilen Kurdistans aufzubauen, ohne bestehende Grenzen infrage zu stel-len bzw. aufzuheben. DerNiedergangdesRealsozialismuslagauchindemMacht-verstndnis der betreffenden Staaten und in ihrem Verhltnis zum Einsatz kriegerischer Mittel sowie in der verkannten gesamt-gesellschaftlichen Rolle der Frauenfrage begrndet. Insbesondere Frauen und Macht sind einander sehr widersprchliche Kategori-en. Im real existierenden Sozialismus galt die Frauenfrage als eine eher untergeordnete Problematik, die nur im Zuge der Lsung von konomischen und gesamtgesellschaftlichen Problemstellun-gen fr lsbar erachtet wurde. Frauen sind jedoch eher als unter-drckte Klasse und Nation respektive unterdrcktes Geschlecht zu begreifen. Solange die Freiheit und Gleichstellung der Frau nicht im historischen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet wird, d. h., solange keine entsprechende Theorie entworfen wird, so lange wird sich keine adquate Praxis umsetzen lassen. Somit

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    nimmt die Befreiung der Frau eine zentrale strategische Rolle im demokratischen Freiheitskampf Kurdistans ein. HeuteistdieDemokratisierungderPolitikeinederdring-lichsten Aufgaben gesellschaftlicher Artikulation. Fr eine de-mokratische Politik bedarf es jedoch demokratischer Parteien. Solange es keine Parteien und parteinahe Institutionen gibt, die gesellschaftlichen Interessen verpflichtet sind, statt sich zum Er-fllungsgehilfen des Staates zu machen, wird eine Demokrati-sierung des politischen Lebens nur schwer mglich sein. In der Trkei sind die Parteien jedoch nichts anderes als Propaganda-instrument des Staates und Nutznieer staatlicher Alimentierun-gen. Ihre Transformation zu Parteien, die sich ausschlielich ge-sellschaftlichen Interessen verpflichtet sehen, und die Schaffung dementsprechender gesetzlicher Grundlagen wre ein wichtiger Bestandteil einer politischen Reform. Grndungen von Parteien, die den Begriff Kurdistan in ihren Namen tragen, sind immer noch ein strafbarer Akt. Vom Staat unabhngige Parteien werden in vielerlei Hinsicht in ihrer Arbeit behindert. Kurdistanbezogene Parteien oder Koalitionen sind der Demokratisierung dienlich, solange sie nicht dem Separatismus das Wort reden oder Gewalt anwenden. DasweitverbreiteteindividuelleundinstitutionelleUnterta-nentum, welches eines der grten Hindernisse fr die Demo-kratisierung darstellt, wird nur mit der Schaffung eines demokra-tischen Bewusstseins in allen Teilen der Gesellschaft berwunden werden knnen. Die Bereitschaft zum aktiven Engagement der Brger ist strukturell zu frdern. Das bedeutet fr die Kurden, eigene demokratische Strukturen in allen Landesteilen Kurdi-stans aufzubauen bzw. dort, wo kurdische Communities leben, welche die aktive Partizipation am politischen gesellschaftlichen Geschehen frdern. Dabei mssen auch die in Kurdistan leben-den Minderheiten einbezogen werden. Die Entwicklung basis-demokratischer Strukturen und eines basisdemokratischen Akti-

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    onsverstndnisses hat dabei oberste Prioritt. Die Verbindlichkeit basisdemokratischer Strukturen hat auch unter Bedingungen zu gelten, die rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien zu-widerlaufen, wie dies im gesamten Mittleren Osten der Fall ist. DiePolitikbedarfderExistenzunabhngigerMedien.Ohneunabhngige Medien wird der Staat keine Sensibilisierung in Fragen der Demokratie entwickeln. Auch die Demokratisierung der Politik wird ohne sie nicht umsetzbar sein. Das Recht auf freie Information in Kurdistan ist nicht allein ein individuelles, sondern ein kollektives Recht. Eine sprachliche Diskriminierung darf nicht stattfinden. Feudale Institutionen wie Stammeswesen, Scheichtum,Aghatum und Sektentum Relikte des Mittelalters stellen wie die Institutionen des klassischen Nationalstaates ein Hindernis fr die Demokratie dar, weshalb sie mit angemessenen Methoden zu einem demokratischen Wandel bewegt werden mssen. Die berwindung dieser parasitren Institutionen hat oberste Priori-tt. DasRechtaufmuttersprachlichenUnterrichtmussgewhr-leistet sein. Selbst wenn dieser nicht vom Staat gefrdert wird, drfen die zivilgesellschaftlichen Bemhungen zum Aufbau von Bildungsinstitutionen zwecks Pflege der kurdischen Sprache und Kultur nicht behindert werden. Das Gesundheitswesen muss staatlicherseits und zivivilgesellschaftlicherseits gewhrleistet sein. EinkologischesGesellschaftsmodellistimWesentlichenso-zialistisch. Nur mit dem bergang von einer entfremdeten sowie auf Gewaltherrschaft basierenden Klassengesellschaft zu einer so-zialistischen Gesellschaft wird die Errichtung eines kologischen Gleichgewichtes in Natur und Gesellschaft gelingen. Es wre eine Illusion zu glauben, dass in einem kapitalistischen System die Umwelt bewahrt werden kann, da dieses System an der Zer-strung der Umwelt den grten Anteil hat. Der Umweltschutz

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    muss deshalb einen breiten Raum im gesellschaftlichen Wand-lungsprozess einnehmen. DieLsungderkurdischenFragewird imRahmeneinerDemokratisierung der Hegemonialstaaten stattfinden. Konkret bedeutet dies fr die Trkei, dass der Staat Aufgaben der sozialen und der allgemeinen Sicherheit bernimmt, whrend Kurdistan einen Pol der Demokratie bildet. Dieser Prozess erstreckt sich ber die Trkei hinaus auf den gesamten Mittleren Osten. Die Freiheit Kurdistans ist mit der Demokratisierung des Mittleren Ostens verknpft. Ein freies Kurdistan ist somit in erster Linie ein demokratisches Kurdistan. DieMeinungs-undEntscheidungsfreiheitdesIndividuumsist unantastbar. Kein Land, kein Staat und keine Gesellschaft sind zur Beschneidung dieses Rechts berechtigt, egal welche Grnde hierfr angefhrt werden. Denn ohne individuelle Freiheit wird es keine gesellschaftliche Freiheit geben, wie auch die individuelle Freiheit ohne gesellschaftliche Freiheit nicht mglich ist. DiegerechteUmverteilungderwirtschaftlichenReichtmer,die sich derzeit im Besitz des Staates befinden, ist fr den Be-freiungsprozess der Gesellschaft von herausragender Bedeutung. Die wirtschaftliche Versorgung darf nicht von Staats wegen als Druckmittel gegen die Gesellschaft eingesetzt werden. Nicht dem Staat gehren die wirtschaftlichen Reichtmer, sondern der Gesellschaft. Eine volksnahe Wirtschaft sollte deshalb auf Umverteilung und Nutzorientierung beruhen, statt sich ausschlielich an der Anhufung und am Raub von Mehrwert und Mehrprodukt zu orientieren. Die hiesigen Wirtschaftsstrukturen schaden nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Natur. Einer der Haupt-grnde fr den gesellschaftlichen Verfall sind die Auswirkungen der hiesigen Finanzwirtschaft. Die knstliche Erzeugung von Be-drfnissen, die immer abenteuerlichere Suche nach neuen Ab-satzmrkten und die malose Gier nach immer gigantischeren

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    Gewinnen lsst die Kluft zischen Arm und Reich immer weiter wachsen und das Heer derer grer werden, die an der Armuts-grenze leben bzw. vor Hunger sterben. Eine solche Wirtschafts-politik ist fr die Menschheit nicht mehr tragbar. Die grte Auf-gabe sozialistischer Politik liegt deshalb in der Umsetzung einer alternativen Wirtschaftspolitik, die sich nicht ausschlielich am Gewinn, sondern an der gerechten Umverteilung der Reichtmer und Befriedigung von natrlichen Bedrfnissen orientiert. Obwohl inKurdistander InstitutionderFamilieeinho-her Wert beigemessen wird, ist diese ein Hort von Unfreiheit. Fehlende finanzielle Mglichkeiten, mangelnde Bildung und mangelhafte Gesundheitsversorgung lassen nur wenig Entwick-lungsmglichkeiten zu. Die Lage der Frauen und Kinder ist kata-strophal. Die sogenannten Ehrenmorde an weiblichen Famili-enmitgliedern sind ein symbolischer Ausdruck dieser Misere. An ihnen entladen sich die Folgen eines archaischen Ehrbegriffs, der die Degeneration der gesamten Gesellschaft widerspiegelt. Die mnnliche Frustration ber die bestehenden Verhltnisse richtet sich gegen die vermeintlich schwchsten Mitglieder der Gesell-schaft: die Frauen. Die Familie befindet sich als gesellschaftliche Institution in der Krise. Eine Lsung ist allenfalls im Rahmen einer gesellschaftlichen Demokratisierung denkbar.

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    Aktuelle Situation und Lsungsvorschlge

    Den trkisch-kurdischen Beziehungen in der Trkei kommt in Hinblick einer Lsung der kurdischen Frage eine Schlsselrolle zu. Das Potenzial der Kurden im Irak, im Iran und in Syrien fr eine Lsung ist nur begrenzt und kann allenfalls eine unterstt-zende Wirkung hinsichtlich einer Gesamtlsung entfalten. Die kurdische Frage im Irak ist hierfr das beste Beispiel. Das semi-staatliche Gebilde der kurdischen Autonomiebehrde im Irak ist ein indirektes Ergebnis der weltweiten Bemhungen der trki-schen Republik, den Vereinigten Staaten von Amerika und ihren Verbndeten, die PKK als ein terroristische Organisation zu brandmarken. Ohne die Zustimmung der trkischen Republik wre eine solche Lsung nicht mglich gewesen. Es liegt auf der Hand, dass damit ein Chaos verbunden und unabsehbarem Ausgang geschaffen wurde. Auch ist nicht absehbar, wohin sich die feudal-brgerlich ausgerichtete kurdische Autonomiebehrde im Irak langfristig entwickeln wird und welche Auswirkungen das auf den Iran, fr Syrien und fr die Trkei haben wird. Da-bei besteht die Gefahr einer regionalen Ausweitung des Konflikts, dessen Konstellationen der des palstinensisch-israelischen Kon-fliktes nahekommen knnten. Ein Aufflammen des kurdischen Nationalismus wrde den persischen, arabischen und trkischen Nationalismus noch weiter radikalisieren, was eine Lsung der Probleme weiter erschwert.

    Dem muss ein Lsungsmodell gegenbergestellt werden, das frei von nationalistischen Begehren ist und die bestehenden Lan-

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    desgrenzen anerkennt, im Gegenzug aber den Status der Kur-den in den jeweiligen Verfassungen gesetzlich regelt, auf deren Grundlage ihre kulturellen, sprachlichen und politischen Rech-te garantiert werden. Ein solches Lsungsmodell entsprche am ehesten den historischen und gesellschaftlichen Realitten der Region.

    So gesehen ist ein Frieden mit den Kurden unausweichlich. Es ist undenkbar, dass der derzeitige Krieg bzw. dass zuknfti-ge Kriege etwas anderes als Pyrrhussiege hervorbringen knnen. Daher muss dieser Krieg, der schon zu lange andauert, endlich beendet werden. Es liegt im Interesse aller Staaten der Region, dem Vorbild vieler zeitgenssischer Staaten zu folgen und ent-sprechende Schritte einzuleiten.

    Die Kurden fordern lediglich Respekt vor ihrer Existenz, Frei-heit fr ihre Kultur und ein vollstndig demokratisches System. Eine humanere und bescheidenere Lsung ist nicht denkbar. Die Lsungsmodelle in Sdafrika, Palstina-Israel, England-Wales, Nordirland, Schottland und Korsika zeigen nicht nur, wie ver-schiedene moderne Staaten hnliche Probleme in ihrer Geschich-te gehandhabt und gelst haben. Darber hinaus helfen uns Vergleiche mit den dortigen Erfahrungen, die eigenen Probleme objektiver zu betrachten.

    Die Abkehr von der Gewalt als Mittel zur Lsung der kurdi-schen Frage und die teilweise berwindung der repressiven Poli-tik der Verleugnung hngen eng mit der Aufrechterhaltung einer demokratischen Option zusammen. Das Lehr- und Sendeverbot fr die kurdische Sprache und Kultur ist selbst eine Form von Terror und ldt gewissermaen zur Gegengewalt ein. Gewalt ist von beiden Seiten unkontrolliert und in einem Mae angewandt worden, das die legitime Selbstverteidigung bei Weitem ber-steigt.

    Viele Bewegungen greifen heute zu noch extremeren Metho-den. Wir hingegen haben mehrfach einseitige Waffenstillstnde

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    ausgerufen und den Groteil unserer Krfte fr mehrere Jahre auf Territorien auerhalb der Trkei zurckgezogen, wo sie de-fensiv ausgerichtet stationiert wurden, was den Vorwurf des Ter-rorismus widerlegt. Unsere langjhrigen Friedensbemhungen wurden jedoch stets ignoriert. Keine unserer Initiativen fand Wi-derhall. Selbst eine Gruppe von kurdischen Politikern, die wir als Botschafter des Friedens entsandt hatten, wurde verhaftet und zu langjhrigen Gefngnisstrafen verurteilt. Unsere Friedensbem-hungen wurden uns stets, flschlicher Weise, als Schwche ausge-legt. Anders sind die Aussagen wie die PKK und calan seien so gut wie am Ende oder solche Initiativen seien nur taktischer Na-tur nicht zu erklren. Es bruchte nur noch ein hrteres Vorge-hen gegen die PKK, so der Tenor dieser Aussagen, dann werde sie zerfallen. Dementsprechend wurde vorgegangen, die Angriffe auf die kurdische Befreiungsbewegung wurden verstrkt. Niemand fragt sich jedoch, warum der gewnschte Erfolg ausbleibt. Denn es ist nicht mglich, die kurdische Frage mit Gewalt zu lsen.

    Die oben beschriebe Haltung hatte auch groen Anteil am Scheitern des Waffenstillstands, der am 1. Oktober 2006 in Kraft trat. Auch dieser Waffenstillstand, zu dem ich die PKK aufrief, nach dem Intellektuelle und einige Nichtregierungsorganisatio-nen diesen einforderten, wurde nicht ernst genommen. Stattdes-sen wurde der Rassismus und Chauvinismus in der Gesellschaft weiter geschrt und ein Klima der Konfrontation erzeugt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die AKP von ihren eigenen Pro-blemen mit der kemalistischen Machtelite abzulenken versucht, indem sie mit der Armee Kompromisse schliet und auf eine Verschrfung des trkisch-kurdischen Konflikts spekuliert. Die Regierung beschrnkt sich derzeit auf halbherzige Manahmen, um der EU Zugestndnisse abzuringen. Mit den im Zuge des EU-Beitrittsprozesses verabschiedeten Harmonisierungsgesetzen soll Zeit gewonnen werden. In der Praxis bleiben die vermeintli-chen Reformen reine Makulatur.

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    Der sich weiter verschrfende Konflikt gibt Anlass zur Sorge. Dennoch habe ich die Hoffnung auf einen gerechten Frieden nicht verloren. Ein Friedensprozess ist jederzeit mglich.

    Die Lsung, die ich der Gesellschaft der Trkei anbiete, ist ein-fach. Wir fordern eine demokratische Nation. Wir haben nichts gegen den unitren Staat und die Republik. Wir akzeptieren die Republik, ihre unitre Staatsstruktur und den Laizismus. Aber wir glauben, dass der demokratische Staat neu definiert werden muss, in dem die Vlker, Kulturen und brgerlichen Rechte ge-achtet werden. Auf Grundlage dieser Rechte muss den Kurden eine demokratische Organisierung mglich sein, die den Raum fr kulturelle, sprachliche, wirtschaftliche und kologische Ent-faltung bietet. Auf dieser Basis knnen sich Kurden, Trken und andere Kulturen unter dem Dach einer Demokratischen Nation Trkei versammeln. Dies ist jedoch nur mglich, wenn ihr ein demokratischer Nationenbegriff, eine demokratische Verfassung und eine fortschrittliche, multikulturelle Rechtsordnung zugrun-de liegt.

    Fr unser Verstndnis einer demokratischen Nation stellen Flaggen und Grenzen kein Problem dar. Unsere Auffassung von einer demokratischen Nation beinhaltet das Modell einer Nation, die auf der Demokratie aufbaut, statt einer Nation, die sich al-lein ber den Staat und eine Ethnie definiert. Die Nation Trkei muss als Nation definiert werden, die alle ethnischen Gruppen umfasst. Gemeint ist damit ein Nationenmodell, das nicht auf einen trkisch-ethnischen Bezug, auch nicht auf Religion oder Rasse, sondern auf den Menschenrechten beruht. Wir gehen vom Begriff einer demokratischen Nation aus, der alle Ethnien und Kulturen umfasst.

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    Vor diesem Hintergrund formuliere ich nochmals die Eckpunkte einer Lsung:

    DiekurdischeFragemussalsgrundlegendeFragederDe-mokratisierung behandelt werden, die kurdische Identitt muss gesetzlich und verfassungsmig garantiert werden. Ein Artikel in der neuen Verfassung mit dem Wortlaut Die Verfassung der trkischen Republik erkennt die Existenz und den Ausdruck al-ler Kulturen auf demokratische Weise an wrde diese Forderung bereits erfllen. Sprachliche und kulturelle Rechte mssen gesetzlichen Schutz erhalten. Es darf keine Beschrnkungen fr Radio, Fernsehen und Presse geben. Kurdische und anderssprachige Sendungen sollten denselben Regeln und Institutionen unter-liegen wie trkische Radio- und Fernsehsendungen. Auch fr kulturelle Aktivitten mssen die gleichen Gesetze und Proze-duren gelten. Kurdisch sollte als Unterrichtsprache in Grundschulen Verwendung finden. Jeder, der dies mchte, sollte sein Kind auf solchen Schulen einschulen knnen. Auf Gymnasien soll-ten Unterrichtseinheiten ber kurdische Kultur, Sprache und Literatur als Wahlfach angeboten werden. An Universitten hingegen muss der Aufbau von Instituten fr kurdische Spra-che, Literatur, Kultur und Geschichte gestattet werden. DieMeinungs- undOrganisationsfreiheit darf in keinerForm eingeschrnkt werden. Eine freie politische Bettigung muss gewhrleistet sein und darf nicht staatlicher Reglementie-rung unterliegen. Auch bei Themen, die die kurdische Frage be-rhren, mssen diese Freiheiten ohne Einschrnkungen gelten. DieParteien-undWahlgesetzemsseneinerdemokratischenReform unterzogen werden. Die Partizipation des kurdischen Volks und aller demokratischen Krfte an der demokratischen Willensbildung muss gewhrleistet sein.

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    EindemokratischesKommunalverwaltungsgesetzmussver-abschiedet werden, das die Demokratie strkt. DasDorfschtzersystemunddie illegalenNetzwerke,diesich im Staat gebildet haben, mssen aufgelst werden. DieRckkehrderimKrieggewaltsamvertriebenenBevlke-rung darf nicht behindert werden. Hierfr sind die notwendigen administrativen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ma-nahmen zu treffen. Daneben muss ein Aufbauprogramm fr die wirtschaftliche Entwicklung auf den Weg gebracht werden, um der kurdischen Bevlkerung ein Auskommen zu sichern und ihr Lebenshaltungsniveau zu verbessern. DieVerabschiedungeinesGesetzesfrdengesellschaftlichenFrieden und fr eine demokratische Partizipation ist ntig, um den Mitgliedern der Guerilla, den Inhaftierten und allen, die ins Exil gehen mussten, ohne Vorbedingungen die Teilnahme am de-mokratischen, politischen Leben zu ermglichen.

    Darber hinaus mssen wir ber sofortige Manahmen auf dem Weg zu einer Lsung sprechen. Ein demokratischer Aktionsplan muss formuliert und auf den Weg gebracht werden. Die Einrich-tung von Wahrheits- und Gerechtigkeitskommissionen ist fr den gesellschaftlichen Ausgleich von zentraler Bedeutung. Die Fehler beider Seiten mssen offen und die Wahrheit herausge-funden werden. Nur so lsst sich eine gesellschaftliche Verstndi-gung erreichen.

    In Momenten, wo Staaten und Organisationen nicht weiter-kommen, knnen Intellektuelle eine Mittlerrolle bernehmen. Vergleichbare Erfahrungen gibt es auch in anderen Lndern wie in Sdafrika, Nordirland und Sierra Leone. Sie knnen eine Schiedsfunktion bernehmen, mit deren Hilfe sich beide Seiten zu einem gerechten Frieden bewegen lassen. In solchen Kommis-sionen knnen Intellektuelle, Experten von Anwalts- und rzte-kammern und Wissenschaftler vertreten sein. Wenn wir eines Ta-

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    ges zum Punkt der Waffenniederlegung gelangen, werden wir die Waffen nur einer solchen Kommission bergeben. Voraussetzung ist jedoch, dass eine solche Kommission fr Gerechtigkeit sorgt.Denn warum sollten wir die Waffen abgeben, wenn es keine Ge-rechtigkeit gibt? Der Beginn eines solchen Prozesses hngt auch vom guten Willen und vom Dialog ab. Sollte es einen Dialog geben, knnen wir einen Prozess einleiten, der dem vorherigen unbefristeten Waffenstillstand hnlich ist.

    In diesem Zusammenhang bin ich weiterhin bereit, das Mei-nige zu tun. Die Regierung steht dagegen vor der Aufgabe, ihren Willen zum Frieden unter Beweis zu stellen und die Initiative zu ergreifen. Sollte sie nicht das Ihrige tun, wird sie allein fr die Konsequenzen verantwortlich zu machen sein.

    Sollten die Bemhungen um eine friedliche Lsung scheitern und die Friedensbemhungen der Tagespolitik, den Machtkmp-fen und dem Profitstreben geopfert werden, wird sich der jetzige Konflikt weiter verschrfen, dessen Ausgang nicht mehr absehbar ist. In dem daraus erwachsenden Chaos wird es keine Gewinner geben.

    Die Trkei muss endlich die Fhigkeit aufbringen, ihre eige-ne Realitt, die kurdische Realitt und die globalen Dynamiken anzuerkennen. Jeder Staat, der sich der Realitt verweigert, wird unweigerlich in eine existenzielle Krise geraten. Entscheidend ist letztlich, ob die Schritte unternommen werden, die dieses Land erfolgreich in einen dauerhaften Frieden fhren.

    Abdullah calanEinpersonengefngnis Imrali

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  • Hrsg:Internationale InitiativeFreiheit fr Abdullah calan Frieden in Kurdistan