Kritische Lebensereignisse

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Kritische Lebensereignisse Karl-Heinz Ladwig Aus der Sicht der Sozial- und Ent- wicklungspsychologie versteht man unter einem kritischen Lebensereignis ein ,,distinktes Geschehnis‘‘, das mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe des Lebens eines jeden Menschen auf- treten kann, dabei eine qualitativ- strukturelle Anpassungsleistung erfor- dert und eine nachhaltige emotionale Reaktion auslo ¨sen kann. Als ,,kri- tisch‘‘ wird ein Ereignis dann einge- scha ¨tzt, wenn durch das Erleben eines solchen Geschehens perso ¨ nliche Ziele und Werte infrage gestellt werden, die U ¨ bernahme einer neuen Rolle not- wendig oder der Erwerb neuer Fa ¨hig- keiten erforderlich werden ko ¨nnen. Allerdings muss ein solches Ereignis aus der Sicht der Sozial- und Entwick- lungspsychologie keineswegs eine aversive Valenz besitzen. Im Gegen- teil: ein solches Geschehnis kann durchaus positiv sein, wie z.B. die Geburt eines eigenen Kindes, eine Heirat oder ein Lottogewinn. Kriti- sche Lebensereignisse ko ¨nnen aber auch eine eindeutig negative Bedeu- tung haben (wie z.B. Scheidung der Eltern, schwerwiegende Erkrankun- gen, Arbeitsplatzverlust). Kritische Lebensereignisse sind demnach auf mehreren Dimensionen beschreibbar wie: Valenz (positiv vs. negativ), An- passungsaufwand, Intensita ¨t, Vorher- sehbarkeit, Normativita ¨t (d.h. u ¨bli- cherweise im Laufe des Lebens auftretend) und perso ¨nlicher Verant- wortung (durch eigenes Handeln be- dingt versus unabha ¨ngig vom eigenen Handeln) (Hermann, 2013). Die gesundheitlichen Folgen von kri- tischen Lebensereignissen wurden zu- na ¨chst unter dem Begriff ,,Life-Event- Forschung‘‘ vorangetrieben. Bahn- brechend war die von C.M. Parkes und Mitarbeitern (Parkes et al., 1969) als ,,Broken Heart Study‘‘ pub- lizierte Untersuchung, die empirisch an Hand einer systematischen Analyse von Sterbedaten zeigen konnte, dass der Tod der Partnerin in langandauern- den Paarbeziehungen ein bedeutsamer Risikofaktor fu ¨r den Witwer war, in- nerhalb weniger Wochen nach dem Tod der Partnerin selbst an einem aku- ten Koronarereignis zu versterben. Das mit hoher Wahrscheinlichkeit schmerzhafteste Ereignis, das Men- schen widerfahren kann, ist der Tod des eigenen Kindes. Li et al. (2002) analysierten in einem populationsbe- zogenen Datensatz mit rund 300.000 eingeschlossenen Eltern das koronare Erkrankungsrisiko von fast 20.000 El- tern, die ein Kind im Alter unter 18 Jahren verloren hatten und fanden ein durchschnittliches relatives Risiko von 1.28 fu ¨r to ¨dliche und nichtto ¨dli- che Infarkte. Aber auch positive Le- bensereignisse ko ¨nnen schwerwiegen- de Krankheitsfolgen nach sich ziehen – so wurden Fa ¨lle von akuter Stress- Myopathie bei einem Lottogewinn o. a ¨. beschrieben (Wittstein et al., 2005). Ein kritisches Lebensereignis aus der Sicht der medizinischen Psychologie und Psychosomatik ist ein eindeutig negatives Geschehen, das nicht nur eine qualitativ-strukturelle Anpas- sungsleistung erfordert, sondern das Potenzial zur Krankheitsauslo ¨sung hat, wenn dem Individuum eine nor- male Anpassungsleistung nicht ge- lingt oder sogar nicht gelingen kann. Die Anpassungssto ¨ rungen sind (Fehl-) Reaktionen auf kritische Lebensereig- nisse, die einen allta ¨glichen, aber kon- flikthaften Charakter besitzen und da- her bei mangelnder Bewa ¨ltigungsfa ¨- higkeit zu einer Belastung werden. Dagegen gilt als Definition fu ¨r ein Trauma ein Ereignis von außerge- wo ¨ hnlicher Bedrohung oder katastro- phalem Ausmaß. Entsprechend unter- scheiden die medizinischen Klassifi- kationssysteme (z.B. WHO-ICD-10) zwischen einer Anpassungssto ¨rung als Reaktion auf eine konflikthafte Alltags-Belastung und einer posttrau- matischen Belastungssto ¨rung als Reaktion auf ein Trauma. Traumata sind als Ereignisse definiert, die fu ¨r das Individuum eine Bedrohung des Lebens oder der Integrita ¨t der Person bedeuten. Dabei muss die Bedrohung nicht unbedingt die eigene Person be- treffen, sondern sie kann auch bei an- deren erlebt werden (z.B. wenn man Zeuge eines schweren Unfalls oder einer Gewalttat wird). Als Beispiele fu ¨r solche kritischen und potenziell traumatisierenden Lebensereignisse gelten z.B. das Erleben von ko ¨rper- licher und sexualisierter Gewalt, ge- waltta ¨tige Angriffe auf die eigene Per- son durch Gewaltta ¨ter (Entfu ¨hrung, Geiselnahme) oder durch staatliche oder semistaatliche Gewalt (wie z.B. Terror, Krieg, politische Haft, Folte- rung, Gefangenschaft in einem Kon- zentrationslager), aber auch Natur- oder durch Menschen verursachte Ka- tastrophen, Unfa ¨lle oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit) (Yehuda, 2002). Die Ha ¨ufigkeit, im Laufe des Lebens mit einem traumatisierenden Lebens- ereignis konfrontiert zu werden, ist in der Bevo ¨lkerung hoch. So ermittelte der amerikanische Detroit Areas Sur- vey of Trauma 1996 eine Lebenszeit- pra ¨valenz von 89,6%, der Australian National Survey of Mental Health and Wellbeing 56,2% und der American National Comorbidity Survey von Public Health Forum 22 Heft 82 (2014) http://journals.elsevier.de/pubhef 10.e1

Transcript of Kritische Lebensereignisse

Kritische Lebensereignisse

Karl-Heinz Ladwig

Aus der Sicht der Sozial- und Ent-

wicklungspsychologie versteht man

unter einem kritischen Lebensereignis

ein ,,distinktes Geschehnis‘‘, das mit

hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe

des Lebens eines jedenMenschen auf-

treten kann, dabei eine qualitativ-

strukturelle Anpassungsleistung erfor-

dert und eine nachhaltige emotionale

Reaktion auslosen kann. Als ,,kri-

tisch‘‘ wird ein Ereignis dann einge-

schatzt, wenn durch das Erleben eines

solchen Geschehens personliche Ziele

und Werte infrage gestellt werden, die

Ubernahme einer neuen Rolle not-

wendig oder der Erwerb neuer Fahig-

keiten erforderlich werden konnen.

Allerdings muss ein solches Ereignis

aus der Sicht der Sozial- und Entwick-

lungspsychologie keineswegs eine

aversive Valenz besitzen. Im Gegen-

teil: ein solches Geschehnis kann

durchaus positiv sein, wie z.B. die

Geburt eines eigenen Kindes, eine

Heirat oder ein Lottogewinn. Kriti-

sche Lebensereignisse konnen aber

auch eine eindeutig negative Bedeu-

tung haben (wie z.B. Scheidung der

Eltern, schwerwiegende Erkrankun-

gen, Arbeitsplatzverlust). Kritische

Lebensereignisse sind demnach auf

mehreren Dimensionen beschreibbar

wie: Valenz (positiv vs. negativ), An-

passungsaufwand, Intensitat, Vorher-

sehbarkeit, Normativitat (d.h. ubli-

cherweise im Laufe des Lebens

auftretend) und personlicher Verant-

wortung (durch eigenes Handeln be-

dingt versus unabhangig vom eigenen

Handeln) (Hermann, 2013).

Die gesundheitlichen Folgen von kri-

tischen Lebensereignissen wurden zu-

nachst unter dem Begriff ,,Life-Event-

Forschung‘‘ vorangetrieben. Bahn-

brechend war die von C.M. Parkes

und Mitarbeitern (Parkes et al.,

1969) als ,,Broken Heart Study‘‘ pub-

lizierte Untersuchung, die empirisch

an Hand einer systematischenAnalyse

von Sterbedaten zeigen konnte, dass

der Tod der Partnerin in langandauern-

den Paarbeziehungen ein bedeutsamer

Risikofaktor fur den Witwer war, in-

nerhalb weniger Wochen nach dem

Tod der Partnerin selbst an einem aku-

ten Koronarereignis zu versterben.

Das mit hoher Wahrscheinlichkeit

schmerzhafteste Ereignis, das Men-

schen widerfahren kann, ist der Tod

des eigenen Kindes. Li et al. (2002)

analysierten in einem populationsbe-

zogenen Datensatz mit rund 300.000

eingeschlossenen Eltern das koronare

Erkrankungsrisiko von fast 20.000 El-

tern, die ein Kind im Alter unter 18

Jahren verloren hatten und fanden ein

durchschnittliches relatives Risiko

von 1.28 fur todliche und nichttodli-

che Infarkte. Aber auch positive Le-

bensereignisse konnen schwerwiegen-

de Krankheitsfolgen nach sich ziehen

– so wurden Falle von akuter Stress-

Myopathie bei einem Lottogewinn o.

a. beschrieben (Wittstein et al., 2005).

Ein kritisches Lebensereignis aus der

Sicht der medizinischen Psychologie

und Psychosomatik ist ein eindeutig

negatives Geschehen, das nicht nur

eine qualitativ-strukturelle Anpas-

sungsleistung erfordert, sondern das

Potenzial zur Krankheitsauslosung

hat, wenn dem Individuum eine nor-

male Anpassungsleistung nicht ge-

lingt oder sogar nicht gelingen kann.

Die Anpassungsstorungen sind (Fehl-)

Reaktionen auf kritische Lebensereig-

nisse, die einen alltaglichen, aber kon-

flikthaften Charakter besitzen und da-

her bei mangelnder Bewaltigungsfa-

higkeit zu einer Belastung werden.

Dagegen gilt als Definition fur ein

Trauma ein Ereignis von außerge-

wohnlicher Bedrohung oder katastro-

phalem Ausmaß. Entsprechend unter-

scheiden die medizinischen Klassifi-

kationssysteme (z.B. WHO-ICD-10)

zwischen einer Anpassungsstorung

als Reaktion auf eine konflikthafte

Alltags-Belastung und einer posttrau-

matischen Belastungsstorung als

Reaktion auf ein Trauma. Traumata

sind als Ereignisse definiert, die fur

das Individuum eine Bedrohung des

Lebens oder der Integritat der Person

bedeuten. Dabei muss die Bedrohung

nicht unbedingt die eigene Person be-

treffen, sondern sie kann auch bei an-

deren erlebt werden (z.B. wenn man

Zeuge eines schweren Unfalls oder

einer Gewalttat wird). Als Beispiele

fur solche kritischen und potenziell

traumatisierenden Lebensereignisse

gelten z.B. das Erleben von korper-

licher und sexualisierter Gewalt, ge-

walttatige Angriffe auf die eigene Per-

son durch Gewalttater (Entfuhrung,

Geiselnahme) oder durch staatliche

oder semistaatliche Gewalt (wie z.B.

Terror, Krieg, politische Haft, Folte-

rung, Gefangenschaft in einem Kon-

zentrationslager), aber auch Natur-

oder durch Menschen verursachte Ka-

tastrophen, Unfalle oder die Diagnose

einer lebensbedrohlichen Krankheit)

(Yehuda, 2002).

Die Haufigkeit, im Laufe des Lebens

mit einem traumatisierenden Lebens-

ereignis konfrontiert zu werden, ist in

der Bevolkerung hoch. So ermittelte

der amerikanische Detroit Areas Sur-

vey of Trauma 1996 eine Lebenszeit-

pravalenz von 89,6%, der Australian

National Survey of Mental Health and

Wellbeing 56,2% und der American

National Comorbidity Survey von

Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

10.e1

55,7%. Wahrend Spitzer et al. (2009)

im Nordosten Deutschlands eine Ex-

positionspravalenz von 54,6% ermit-

telten, fanden Lukaschek et al. (2013)

mit den Daten der Augsburger MO-

NICA-/KORA-Studie eine Lebens-

zeitpravalenz von 40,5%. Allerdings

entwickelte nur eine Minderheit von

1,7% der Untersuchten ein psychi-

sches Storungsbild, das die Kriterien

einer PTSD (Post-Traumatic Stress

Disorder) erfullte. 8,8% qualifizierten

fur eine partielle PTSD. Die Haufig-

keit war bei Frauen fur beide PTSD-

Formen hoher als bei Mannern. Von

den einzelnen kritischen Lebensereig-

nissen hatten interpersonelle Konflikte

und Aufenthalte in Kriegszonen den

hochsten Einfluss auf die Entstehung

einer PTSD, gefolgt von der Diagnose

einer lebensbedrohlichen Erkrankung,

Gewalttatigkeit und dem Erleben ei-

nes schwerwiegenden Unfalls.

Dieses extrem geringe Verhaltnis zwi-

schen Exposition eines Trauma-rele-

vanten kritischen Lebensereignisses

und Auftreten einer PTSD unterstutzt

die Vorstellung, dass ein Lebensereig-

nis ein notwendiges, aber bei weitem

nicht hinreichendes Kriterium fur das

Auftreten einer PTSD ist. In der Kon-

sequenz heißt dies, dass (zumindest

bis zu einem gewissen Grad) nicht

die unmittelbare Charakteristik eines

bedrohlichen Lebensereignisses des-

sen Krankheitswertigkeit bestimmt,

sondern die biografischen und bio-

logischen Ressourcen der betroffenen

Menschen. Damit ist ein prioritares

Forschungsziel der gegenwartigen

Stress-Forschung angesprochen: die

Suche nach Pradiktoren bzw. Fakto-

ren, die helfen zu verstehen, warum

Menschen nach dem Erleben eines

potenziell traumatisierenden Lebens-

ereignisses langfristig traumatisiert

werden und warum andere ohne pa-

thologische Folgen mit einer solchen

Situation fertig werden.

Der korrespondierende Autor erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.

http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.12.013

Prof. Dr. Karl-Heinz LadwigHelmholtz Zentrum MunchenGerman Research Center forEnvironmental HealthInstitute of Epidemiology IIIngolstadter Landstr. 185764 [email protected]

Literaturverzeichnis

Hermann, C. (2013). Lebensereignisse, kritische.

In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon

der Psychologie. https://portal.hogrefe.com/

dorsch/lebensereignisse-kritische/.

Parkes M, Benjamin B, Fitzgerald RG. Broken

heart: a statistical study of increased mortality

among widowers. Brit Med J 1969;740–3.

Li J, Hansen D, Mortensen PB, Olsen J.

Myocardial infarction in parents who lost a

child: a nationwide prospective cohort study in

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Wittstein IS, ThiemannDR, Lima JA, Baughman

KL, Schulman SP, Gerstenblith G, et al.

Neurohumoral features of myocardial stun-

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J Med 2005 Feb 10;352(6):539–48.

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Spitzer C, Barnow S, Volzke H, John U, Frey-

berger HJ, Grabe HJ. Trauma, posttraumatic

stress disorder, and physical illness: findings

from the general population. Psychosom Med

2009 Nov;71(9):1012–7.

Lukaschek K, Kruse J, Emeny RT, Lacruz ME,

von Eisenhart Rothe A, Ladwig KH. Life-

time traumatic experiences and their impact

on PTSD: a general population study. Soc

Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2013;4:

525–32.

Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

10.e2

Einleitung

Ein kritisches Lebensereignis ist ein,,distinktes Geschehnis‘‘, das mit hoher Wahrscheinlichkeit im Lebens eines jeden

Menschen auftreten kann, dabei eine qualitativ-strukturelle Anpassungsleistung erfordert und eine nachhaltige emotionale

Reaktion auslosen kann. Die Anpassungsstorungen sind (Fehl-) Reaktionen auf multiple kritische Lebensereignisse, die

bei mangelnder Bewaltigungsfahigkeit zu einer Belastung werden. Dagegen ist ein Trauma ein Ereignis von außerge-

wohnlicher Bedrohung oder katastrophalemAusmaß, welches ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium fur das

Auftreten einer posttrauamatschen Belastungsstorung ist.

Abstract

A critical life event is a distinct incidencewhich is likely to occur in everyone’s life provoking the need to adapt and triggers

considerable emotional reactions. Insufficient coping resources in response to critical life events cause adjustment

disorders. Stressor events of extraordinary threat and catastrophic impact are a necessary, but not sufficient criterion

for the development of a posttraumatic stress disorder.

Schlusselworter:

kritisches Lebensereignis = critical life event, Anpassung = adaptation, Bewaltigungsformen = coping resources, post-

traumatische Belastungsstorung = posttrauamtci stress disorder

Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

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