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[Zitierhinweis: In eckigen Klammern jeweils die Seitenzahlen der Druckfassung] In: Ilja Srubar u.a. (Hg.): Kulturen vergleichen – sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, S.92-111. Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive: Kulturelle Globalisierung jenseits von Modernisierungstheorie und Kulturessentialismus Andreas Reckwitz [Druckfassung: 92] 'Kultur' und 'Vergleich', 'Vergleich' und 'Witz' hängen im 18. Jahrhundert eng miteinander zusammen. In seinem Aufsatz "Kultur als historischer Begriff" (1995) im Rahmen der Bände zur "Gesellschaftsstruktur und Semantik" weist Niklas Luhmann darauf hin, dass die semantische Innovation des Begriffs Kultur in der frühen Moderne des 18. Jahrhunderts mit dem Konzept des 'Vergleichs' von vornherein verknüpft gewesen ist. Wenn der Begriff der Kultur bereits im Kontext der Aufklärung und anschließend der Romantik eine Kontingenzperspektive auf soziale Phänomene eröffnet, dann liegt die Kopplung von Kultur an eine komparatistische Perspektive auf verschiedene Möglichkeiten des sozialen Lebens nahe. Im zeitgenössischen Denken wird dem Vergleich gleichzeitig - so Luhmann - 'Witz' zugeschrieben. 'Witz' als eine intellektuelle und ästhetische Kompetenz hat im 18. Jahrhundert nicht die heute geläufige Bedeutung des Komischen, sondern bezieht sich exakt auf die Fähigkeit, geistreich verschiedene Möglichkeiten gegenüberzustellen, auf eine Sensibilität der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Unterschieden, auf ein kombinatorisches Vermögen. Was nun zunächst ausgesprochen positiv konnotiert erscheint, die Kopplung von Kulturvergleich an den Witz als intellektuelle Kompetenz, erhält allerdings, wenn man sich auf den zeitgenössischen Diskurs der frühen Moderne einlässt, rasch einen schalen Beigeschmack. Denn so schnell, wie sich die Möglichkeit des Kulturvergleichs ergeben hat, so rasch stellt sich auch die Kritik an der komparatistischen Methode ein. Insbesondere die ästhetischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts kritisiert vehement die vermeintlich leere Mechanik der Gegenüberstellung von Unterschieden. Die Fähigkeit des Witzes als Kompetenz zum vergleichenden Scharfsinn - auf der etwa Gellert seine ganze rationalistische Ästhetik aufbaut - wird hier zum Inbegriff einer rationalistischen Armseligkeit, von purer Kombinationsfähigkeit, die quasi mechanisch im Sinne eines einförmigen Einerseits/ Andererseits zum Einsatz gebracht wird. (vgl.

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[Zitierhinweis: In eckigen Klammern jeweils die Seitenzahlen der Druckfassung] In: Ilja Srubar u.a. (Hg.): Kulturen vergleichen – sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, S.92-111.

Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive:

Kulturelle Globalisierung jenseits von Modernisierungstheorie und Kulturessentialismus

Andreas Reckwitz

[Druckfassung: 92] 'Kultur' und 'Vergleich', 'Vergleich' und 'Witz' hängen im 18. Jahrhundert eng miteinander zusammen. In seinem Aufsatz "Kultur als historischer Begriff" (1995) im Rahmen der Bände zur "Gesellschaftsstruktur und Semantik" weist Niklas Luhmann darauf hin, dass die semantische Innovation des Begriffs Kultur in der frühen Moderne des 18. Jahrhunderts mit dem Konzept des 'Vergleichs' von vornherein verknüpft gewesen ist. Wenn der Begriff der Kultur bereits im Kontext der Aufklärung und anschließend der Romantik eine Kontingenzperspektive auf soziale Phänomene eröffnet, dann liegt die Kopplung von Kultur an eine komparatistische Perspektive auf verschiedene Möglichkeiten des sozialen Lebens nahe. Im zeitgenössischen Denken wird dem Vergleich gleichzeitig - so Luhmann - 'Witz' zugeschrieben. 'Witz' als eine intellektuelle und ästhetische Kompetenz hat im 18. Jahrhundert nicht die heute geläufige Bedeutung des Komischen, sondern bezieht sich exakt auf die Fähigkeit, geistreich verschiedene Möglichkeiten gegenüberzustellen, auf eine Sensibilität der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Unterschieden, auf ein kombinatorisches Vermögen.

Was nun zunächst ausgesprochen positiv konnotiert erscheint, die Kopplung von Kulturvergleich an den Witz als intellektuelle Kompetenz, erhält allerdings, wenn man sich auf den zeitgenössischen Diskurs der frühen Moderne einlässt, rasch einen schalen Beigeschmack. Denn so schnell, wie sich die Möglichkeit des Kulturvergleichs ergeben hat, so rasch stellt sich auch die Kritik an der komparatistischen Methode ein. Insbesondere die ästhetischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts kritisiert vehement die vermeintlich leere Mechanik der Gegenüberstellung von Unterschieden. Die Fähigkeit des Witzes als Kompetenz zum vergleichenden Scharfsinn - auf der etwa Gellert seine ganze rationalistische Ästhetik aufbaut - wird hier zum Inbegriff einer rationalistischen Armseligkeit, von purer Kombinationsfähigkeit, die quasi mechanisch im Sinne eines einförmigen Einerseits/ Andererseits zum Einsatz gebracht wird. (vgl.

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Schmidt 1985: 1- 47) Die Kritik am Kulturvergleich scheint also so alt zu sein wie der Kulturvergleich selbst. Und bereits in dieser Phase der frühen, bürgerlichen Moderne existieren Genres, [Druckfassung: 93] die kulturelle Differenzen in komplizierteren Formen verarbeiten. Man denke etwa an Montesquieus 'Lettre persanes' (1721), einem Briefroman, in dem der Ich-Erzähler ein Perser ist, der durch Europa reist, und nun - fast im Sinne eines vorweggenommenen, freilich fingierten 'The Empire writes back' - seine verfremdenden Beobachungen Europas schildert. Kulturelle Differenzen müssen offenbar - schon im 18 Jahrhundert und erst recht heute - nicht unbedingt über den Weg eines Vergleichs zweier Einheiten verarbeitet werden, sondern können auch in anderer Form - hier etwa über den Versuch einer simulierten Fremdbeobachtung der eigenen Kultur durch eine andere - behandelt werden.1 Der Vergleich ist letztlich nicht mehr als eine sehr spezifische und letztlich ersetzbare Methode, um wahrgenommene kulturelle Differenzen zu behandeln - und statt festzustellen, dass die Frage nach der Kultur 'natürlicherweise' an die Frage des Vergleichs gebunden sei, sollte man abstrakter Kultur und kulturelle Differenzen als aneinander gekoppelte Probleme sehen. Das eigentliche grundbegriffliche Problem einer Sozial- und Gesellschaftstheorie, das sich hinter dem engen methodischen Problem des Vergleichs von Kulturen verbirgt, ist die Frage, was unter kulturellen Differenzen - allgemein und spezifisch in der Moderne - zu verstehen ist. Im folgenden soll es daher darum gehen, sich der Frage nach dem Kulturvergleich über den Weg der Frage nach einer Konzeptualisierung kultureller Differenzen zu nähern.

In der theoretischen Debatte seit den 1970er Jahren, in deren Kontext sich das Problem der Kultur und der kulturellen Differenzen zu einem Brennpunkt entwickelt hat, sind hier vor allem drei verschiedene Diskurse von Relevanz. Der erste ist der i.e.S. sozialtheoretische Diskurs der 'Kulturtheorien', das heißt die Versuche, von sozialkon-struktivistischen Ansätzen, eine allgemeine Grundbegrifflichkeit für soziale Ordnung und menschliches Handeln zu formulieren, die dieses Handeln über symbolische Ordnungen begreift: von der Sozialphänomenologie über Bourdieu, Foucault und die symbolistische Ethnologie bis zum systemtheoretischen Konstruktivismus. Die Frage nach den Differenzen und Grenzen von Kulturen wird von dieser Seite im Zusammen-hang mit dem abstrakten Problem, 'was Kultur ausmacht', diskutiert. Der zweite Diskurs über kulturelle Differenzen ist ein methodologischer und wissenschaftstheoretischer, in dem es um die Bedingungen und Hindernisse des Fremdverstehens geht. Hier haben die Diskussion in der Ethnologie, insbesondere in der writing culture- Debatte und im Post-Kolonialismus, daneben auch in der sozialphilosophischen Hermeneutik einige wichtige 1In äußerster Klarheit hat Joachim Matthes die Problematik des Vergleichs im engeren Sinne dargestellt, vgl. Matthes (1992 a).

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Impulse geliefert. (vgl. Clifford/ Marcus 1986) Davon ist als dritter der gesellschafts-theoretische Diskurs zu unterscheiden: In diesem Kontext ist die Frage nach kulturellen Differenzen in jüngster Zeit vor allem in den Globalisierungsthe [Druckfassung: 94] orien bearbeitet worden. In bezug auf die innerwestlichen Verhältnisse sind kulturelle Differenzen darüber hinaus aber auch in Theorien von Lebensstilen und Subkulturen sowie von Geschlechtsidentitäten, in der neueren post-foucaultianischen Kulturgeschichte auch mit Blick auf kulturelle Diskontinuitäten in der historischen Zeit thematisiert worden. Von diesen drei, nicht völlig eindeutig voneinander zu trennenden Diskursen um Kultur und kulturelle Differenzen will ich mich im folgenden auf den ersten und den dritten, also den i.e.S. sozialtheoretischen und den gesellschaftstheoretischen konzentrieren. Es geht zunächst darum, die unterschiedlichen Optionen des Verständnisses und der Theoretisierung von Kultur systematisch gegenüberzustellen. Dabei werde ich ein Kulturverständnis präferieren, das Kultur im Rahmen einer 'Theorie der Praxis', wie sie Pierre Bourdieu und andere in Ansätzen formuliert haben, nicht als gemeinschaftliche Lebensweise, als Ideen oder als Texte, sondern als wissensabhängige soziale Praktiken versteht. Vor dem Hintergrund dieses praxeologischen Kulturverständnisses kann man zweitens auf der Ebene der Gesellschaftstheorie und Theorie der Moderne kulturelle Differenzen statt als distinkte Brüche zwischen fixen Ideensystemen oder Kollektiven als hybride Kombinationen von kulturellen Elementen aus unterschiedlichen Räumen und Zeiten konzeptualisieren, die in einzelnen sozialen Praktiken miteinander kombiniert und verarbeitet werden. Ein derartiges hybriditätsorientiertes Verständnis kultureller Differenzen setzt eine andersartige Theorie der Globalität und der Geschichte voraus, die sich sowohl von den Modernisierungstheorien als auch vom Kulturessentialismus abgrenzt.

Kultur, symbolische Ordnungen und 'the mangle of practice' Der moderne Kulturbegriff kommt seit dem 18. Jahrhundert in vier verschiedenen Versionen und Definitionen vor: einer normativen, einer holistischen, einer differen-zierungstheoretischen und einer bedeutungsorientierten Fassung.2 Die erste Variante, der normative Kulturbegriff, begreift Kultur als eine normativ prämierte, ausgezeichnete Lebensweise und hantiert mit einer Unterscheidung zwischen dem Kultivierten und dem Nicht-Kultvierten. Dieses Kulturverständnis etabliert sich im Kontext der bürgerlichen Moderne des ausgehenden 18. Jahrhunderts etwa bei Autoren wie Johann Christoph Adelung oder Immanuel Kant. Bei letzterem findet sich die wirkungsmächtige Unterscheidung von Kultur und Zivilisation: Kultur wird an Moralität gekoppelt und 2Eine ausführlichere Systematisierung von Kulturbegriffen mit genaueren Quellenangaben findet sich in Reckwitz (2000), S. 64- 90.

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Zivilität als bloße Techniken des Anständigen begriffen. Kulturelle Differenzen sind aus dieser Perspektive immer auch normativ [Druckfassung: 95] bewertete Differenzen. Als relevanter für die gegenwärtige Debatte als der normative Kulturbegriff (dessen normatives Erbe gleichwohl nicht völlig verschwunden ist) stellt sich der holistische Kulturbegriff dar. Auch dieser wurzelt in der 'Sattelzeit' Ende des 18. Jahrhunderts und findet sich prominent formuliert bei Herder. Der holistische Kulturbegriff entuniversalisiert das Kulturkonzept, er kontextualisiert und historisiert es. Kultur ist keine ausgezeichnete Lebensform mehr, Kulturen sind vielmehr spezifische Lebensweisen einzelner Kollektive in der Geschichte, und der Kulturbegriff kommt konsequenterweise im Plural vor, er bezieht sich auf die Diversität der Totalitäten menschlicher Lebensformen in verschiedenen 'Völkern', 'Nationen', 'Gemeinschaften, 'Kulturkreisen'. Es bildet sich ein - wie Parsons es später kommentiert - 'condensed concept of culture and society', das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der neuen Disziplin der Kulturanthropologie wegweisend wird. Das holistische Modell enthält ein sehr spezifisches - und ausdrücklich entnormativiertes - Verständnis kultureller Differenzen. Eine einzelne 'Kultur' erscheint hier verankert in dreierlei Einheiten: in einem Kollektiv von Personen (häufig als Gemeinschaft gedacht), in einem geteilten Raum - Kulturen werden gebunden an geographische Räume - und in einer Kontinuität der Zeit - Kulturen erscheinen gebunden an eine historische Tradition. Der holistische Kulturbegriff bleibt letztlich vorkonstruktivistisch, indem er sich auf Sitten und Gebräuche genauso wie auf Ideen bezieht. In diesem Sinne ist er für die modernen Kulturtheorien, die sich größtenteils auf das bedeutungsorientierte Kulturverständnis berufen, zu einfach gebaut. Aber als einflussreich in der Gegenwart erweist er sich dennoch: das Modell kultureller Differenzen, verstanden als Differenzen der Gebräuche von Kollektiven, konditioniert von Grenzen in Raum und Zeit, stellt sich als ein Kulturverständnis heraus, wie es in den Modernisierungstheorien und im Kulturessentialismus gleichermaßen unterschwellig im Gebrauch bleibt.

Der dritte, der differenzierungstheoretische Kulturbegriff kann in unserem Kontext kurz abgehandelt werden; er war zwar für die Kultursoziologie im 20. Jahrhundert einflussreich, hat aber kaum mehr Auswirkungen auf Kulturtheorien nach dem 'Cultural Turn' und ihr Verständnis kultureller Differenzen. Im differenzierungstheoretischen Kulturbegriff wird Kultur - zum ersten Mal systematisch ausgearbeitet in Parsons' Theorie funktionaler Differenzierung - als ein funktionales Subsystem der Gesellschaft verstanden, als ein 'Treuhändersystem', das vor allem in der Kunst und Bildung institutionalisiert ist und dem die Aufgabe der Tradierung und Neuentwicklung von Weltdeutungen zukommt - es war dieses enge Kulturkonzept, in dem in der Nach-kriegszeit die 'Kultursoziologie' domestiziert wurde. Demgegenüber betreibt der vierte,

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der bedeutungsorientierte, sozialkonstruktivistische Kulturbegriff in einem neuen Sinne eine Totalisierung von Kultur. Es ist dieses bedeutungs-, wissens- und symbolorientierte Kulturverständnis, das letztlich [Druckfassung: 96] den Hintergrund für die modernern Kulturtheorien der letzten Jahrzehnte liefert. Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff impliziert ein theoretisches Argument: dass menschliche Verhaltenskomplexe vor dem Hintergrund von symbolischen Ordnungen, von spezifischen Formen der Weltinterpretation entstehen, von Sinnsystemen und kulturellen Codes reproduziert werden. Der theoretische Hintergrund für das bedeutungsorientierte Kulturverständnis der modernen Kulturtheorien findet sich vor allem in einer Reihe von Sozialphilosophien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in ihrer intensiven Thematisierung von Sprache, Zeichen, Wissen und Symbolen den Anstoß zum Perspektivenwechsel des 'Cultural Turn' in den Geistes- und Sozialwissenschaften gegeben haben, vor allem in der Phänomenologie und Hermeneutik nach Husserl und Heidegger, im Strukturalismus und der Semiotik nach Saussure, im Pragmatismus, schließlich in der Sprachspielphilosophie Wittgensteins. Sie alle liefern den Hintergrund für die sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien, die soziale Ordnung und menschliches Handeln über den Rückgriff auf symbolische Ordnungen zu erklären und zu verstehen beanspruchen. In diesem alternativen Erklärungs- und Beschreibungsanspruch der Erklärung von Verhalten über symbolisch-kognitive Ordnungen unterscheiden sich die Kulturtheorien grundsätzlich von anderen Sozialtheorien, vor allem von den nicht-sinnorientierten Sozialtheorien, vom Modell des interessengeleiteten Homo oeconomicus und vom Modell des erwartungsorientierten Homo sociologicus.

Dass Kultur auf der Ebene von symbolischen Ordnungen, Wissensordnungen oder Sinnsystemen zu suchen ist, bleibt zunächst noch eine sehr allgemeine Aussage. In den Kulturtheorien stellt sich sehr schnell die Frage, was gewissermaßen die Analyseebene ist, dem diese symbolischen Ordnungen oder Codes zuzurechnen sind. Wo sind die Sinnsysteme zu verorten, und wie ist ihre Wirkung zu denken? Die Kulturtheorien unterscheiden sich vor allem in dieser Hinsicht ihrer Verortung des Sinnhaften - und diese Verortung hat bemerkenswerte Auswirkungen auch auf das nahegelegte Verständnis von kulturellen Differenzen, das heißt nun von Differenzen zwischen Sinnsystemen. Idealtypisch stehen sich hier drei Vokabulare gegenüber: symbolische Ordnungen können auf der Ebene mentaler Strukturen und Prozesse, sie können auf der Ebene von Diskursen und Texten, schließlich können sie auf der Ebene von sozialen Praktiken zugerechnet werden. Die Kulturtheorien und die daran anschließenden

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Kulturanalysen unterscheiden sich mithin dahingehend, ob sie mentalistisch, textualistisch oder praxeologisch orientiert sind.3 [Druckfassung: 97]

Kultur als symbolische Ordnungen auf der Ebene des Geistes, d.h. von mentalen Eigenschaften zuzurechnen, stellt sich gewissermaßen als die klassische, die traditionellste Variante der bedeutungsorientierten Kulturtheorie dar. In mancher Hinsicht steht dieser Strang noch in Kontinuität zu Konzepten des 'Weltbilds' und der 'Ideen', wie man sie in der neukantianischen Soziologie der Jahrhundertwende antrifft. Die moderneren Versionen einer mentalistischen Kulturtheorie erhalten ihre prototypische Form in zwei sehr verschiedenen Varianten innerhalb des Strukturalismus und der Sozialphänomenologie - und in beiden Fällen ist die Tradition der Kantschen Subjektphilosophie spürbar. Im Strukturalismus, etwa in Lévi-Strauss' ethnologischer Kulturtheorie, werden die symbolischen Ordnungen im 'unbewussten Geist', d.h. in unbewussten mentalen Regeln nach Art einer kulturellen 'langue' verortet. In der Sozialphänomenologie, prominent in Schütz' "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt", sind es die intentionalen Sinnzuschreibungen des Ego, in dem sich symbolische Ordnungen aktualisieren. In den mentalistischen Kulturtheorien stellen sich die symbolischen Ordnungen der Kultur gewissermaßen nicht als etwas dar, 'was der Fall ist', sondern als etwas, 'was dahinter steckt': hinter den sichtbaren Ereignissen des Verhaltens, in der 'geistigen Welt'. Natürlich unterscheiden sich die beiden Stränge einer mentalistischen Kulturtheorie, der strukturalistische, sich von Saussure herleitende, und der interpretative, von Husserl inspirierte, deutlich voneinander: aus der einen Richtung erscheint Kultur als eine übersubjektive, unbewusste Struktur, in der anderen umgekehrt als eine subjektive Leistung der Zuschreibung von Sinn. Übereinstimmung herrscht jedoch im Mentalismus, in "the idea that mind is a substance, place, or realm that houses a particular range of activities and attributes" (Schatzki: 1996: 22).

Seit den 1960er und 70 er Jahren und parallel zum Boom der empirischen Kultur-analysen optieren die Kulturtheorien jedoch immer weniger für eine Positionisierung von Kultur auf der Ebene geistiger Strukturen und Prozesse, sie entwickeln vielmehr zwei neue Modelle von Kultur als symbolische Ordnungen, in denen metaphorisch gesprochen, Kultur von 'innen' nach 'außen' gestülpt wird: ein 'textualistisches' Kulturverständnis, das Kultur als Diskurse/ Texte/ Symbole/ Semantiken versteht; und ein praxeologisches Kulturverständnis, das Kultur als know how-abhängige

3Vgl. für eine detaillierte Darstellung und kritische Bewertung dieser drei Formen moderner Kulturtheorie anhand einzelner Theoretiker: Reckwitz (2000), Zweiter Teil. Zum speziellen Fall der praxeologischen Kulturtheorien vgl. auch Schatzki (1996), Reckwitz (2002).

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Alltagsroutinen, als kollektiv intelligible soziale Praktiken begreift. Kulturtheorien, die die symbolischen Ordnungen der Kultur auf der Ebene von Diskursen, von Texten oder von Symbolsequenzen ausmachen und sich damit von der problematischen Fixierung auf mentale Innenwelten oder geistige Gebilde lösen, haben sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1970er Jahren stark verbreitet: Poststrukturalistische Ansätze wie Foucaults Archäologie des Wissens oder Roland Barthes Semiotik der Alltagsgegenstände, radikal hermeneutische Ansätze wie Clifford Geertz' Konzeption der 'culture as text', schließlich Niklas [Druckfassung: 98] Luhmanns Kommunikationstheorie stellen sich allesamt als verschiedene, einflussreiche Versionen einer solchen textualistischen Kulturtheorie dar. Entscheidend ist hier, dass die symbolische Konstruktion der Wirklichkeit nicht auf der Ebene des Bewusstseins oder des Unbewussten von Akteuren zuzurechnen ist, sondern in Zeichensequenzen und Diskursformationen stattfindet, wie auch immer man diese im einzelnen konzeptualisieren mag.

Dem textualistischen Kulturverständnis gegenüber stehen praxeologische Ansätze, die die Wissensordnungen der Kultur auf der Ebene körperlich verankerter, Artefakte verwendender und öffentlich wahrnehmbarer 'sozialer Praktiken' verorten. Die Wissens-ordnungen der Kultur stellen sich hier als praktisches Wissen dar. Verschiedene Versionen dieser praxeologischen Theorien finden sich vor allem seit den 1980er Jahren am elaboriertesten in Pierre Bourdieus Theorie der Praxis (vgl. Bourdieu 1972), die auf den Konzepten des praktischen Sinns, der Inkorporierung und des Habitus aufbaut, aber auch in Laurent Thévenots Konzept der 'régimes d'engagement', in Giddens'' Strukturierungstheorie, in Victor Turners und Judith Butlers Theorien des Performativen, in der Subjekttheorie des späten Foucault, in einer eigenwilligen Form in der Artefakt-Theorie von Bruno Latour und zuvor bereits in der Ethnomethodologie Garfinkels, auch bei Erving Goffman oder bei Michel de Certeau. Theoriehistorisch hat zudem die Sprachspiele-als-Lebensformen-Philosophie des späten Wittgensteins diese praxeologische Version der Kulturtheorien stark beeinflusst..

Die Theorien sozialer Praktiken liefern eher eine Theoriefamilie als um ein in sich geschlossenes Theoriesystem, aber die wichtigsten Kennzeichen dieser kulturalistischen Analyseperspektive lassen sich benennen. Als 'kleinste Einheit' kulturwissenschaftlicher Analyse stellen sich aus dieser Perspektive weder mentale Kategorien noch Diskurse, sondern 'soziale Praktiken' dar. Unter einer 'sozialen Praktik' wird "a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings" (Schatzki 1996: 89) verstanden - die Praktik des bürokratischen Verwaltens, der körperlichen Hygiene oder des riskanten Unternehmens, der Praktikenkomplex der wissenschaftlichen Forschung, des bürgerlichen Ehelebens oder der Rezeption von Popmusik etc. -, ein 'nexus of

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doings and sayings', der durch einen bestimmten 'praktischen Sinn' (Bourdieu), das heißt einen Komplex von impliziten Interpretationsformen, know how-Wissen und kulturell geformten emotional-motivationalen Zuständen, organisiert wird. Das Wissen der Kultur stellt sich hier als ein inkorporierter Komplex von Kompetenzen, von Alltagstechniken und alltäglichen Verstehensformen, als ein gekonnt eingesetztes 'tool kir' (Ann Swidler) dar; ohne dieses Können ist eine Praktik in ihrem nur scheinbaren Automatismus nicht denkbar. Eine 'Praktik' stellt sich in diesem Sinne als ein zwangsläufig immer körperlich verankerter Komplex von implizit sinnhaft organisierten, routini [Druckfassung: 99] sierten Verhaltensweisen dar - damit wird eine analytische Aufwertung des Körpers und der scheinbar 'traditionalen' Routinen mit ihrem Reich des Impliziten betrieben. Soziale Praktiken können dabei eine intersubjektive Struktur besitzen, das heißt mehrere körperlich-mentale 'Träger' voraussetzen, sie können jedoch auch 'interobjektiv' (Latour) strukturiert sein und materiale Artefakte voraussetzen - so dass eine Aufwertung der analytischen Bedeutung von Artefakten betrieben wird - oder schließlich im Sinne der 'Praktiken des Selbst' (Foucault) eine auf einen einzelnen Träger bezogene Struktur aufweisen. Auch 'Texte' stellen sich aus praxeologischer Perspektive nicht als eigendynamische Zeichensequenzen, sondern als Bestandteile von bestimmten Rezeptions- und Produktionspraktiken dar.

Die praxeologischen Kulturtheorien betreiben gegenüber der Verortung der Kultur auf der Ebene geistiger Entitäten oder von Diskursen eine heuristisch folgenreiche Entintellektualisierung des Kulturverständnisses. Nicht nur die vorkulturalistischen 'Homunculi' (Schütz) des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus, auch die kulturalistischen Beschreibungen des sozialen Lebens als Produkte innerer geistiger Strukturen oder Bewusstseinsprozesse oder aber als Sequenz von Diskursen und Zeichen riskieren eine Reproduktion dessen, was Bourdieu in den 'Méditations pascaliennes' (1997) den 'scholatischen Habitus' humanwissenschaftlicher Theorien nennt: die Tendenz, der sozialen Praxis Eigenschaften der spezifischen intellektuellen Praxis unterzuschieben. Die Praxistheorien sind demgegenüber in ihrer Grundbegrifflichkeit gegenüber rationalitätstheoretischen Idealisierungen misstrauisch. Die praxeologische Perspektive betreibt eine Refokussierung von Materialität, und zwar in den Körpern wie in den Artefakten: Die Inkorporierung von Techniken und die körperliche Performanz erscheinen ebenso wie die konstitutive Macht von Artefakten zentral für die Wirkung des Sozialen und als bevorzugte Analysegegenstände. Die praxeologische Perspektive wendet sich der dichten Beschreibung der Mikrologik des Kulturellen und Sozialen jenseits rationalistischer Idealisierungen zu, in der Handeln als der kompetente Umgang mit Alltagstechniken, mit einem kulturell spezifisch codierten

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know how erscheint, welches einerseits den Charakter von Routinisiertheit, andererseits von interpretativer Unbestimmtheit und latenter Agonalität enthält.

Wie wirkt sich nun die praxeologische Perspektive der Kulturanalyse auf das Ver-ständnis kultureller Differenzen aus? Werden hier kulturelle Differenzen anders perspektiviert als in alternativen kulturalistischen Ansätzen? Man wird diese Frage bejahen können. Es scheint, dass gerade eine praxeologische Kulturtheorie und -analyse aus systematischen Gründen ein Verständnis von kulturellen Differenzen als die komplexe Überlagerung und Aneignung von Wissenselementen verschiedener räumlicher oder zeitlicher 'Herkunft' befördert und damit von vornherein skeptisch ist gegenüber einer Reifizierung von Sinngrenzen zwischen 'Sinnsystemen'. Damit [Druckfassung: 100] unterscheiden sich die praxeologischen von den mentalistischen und textualistischen Kulturtheorien: Die mentalistischen Ansätze tendieren in ihrer Fokussierung des Blicks auf die Strukturen des Geistes und Bewusstseins generell dazu, ihr Interesse auf Universalien statt auf kulturelle Differenzen zu richten: Die Ausrichtung auf Geist und Bewusstsein lässt - wiederum in impliziter kantianischer Tradition - nach der allgemeinen Struktur des 'menschlichen' Geistes oder Bewusstseins fragen: dies wird sowohl in Lévi-Strauss' Projekt einer strukturalistischen Ethnologie wie in Husserl/ Schütz' Projekt einer Phänomenologie und allgemeinen Theorie lebensweltlicher Sinnhorizonte deutlich. Die textualistischen Kulturtheorien entwickeln in ihrem Interesse für Diskurse und Kommunikation demgegenüber ein ausgeprägtes Interesse für kulturelle Differenzen. Regelmäßig lässt sich hier jedoch die Tendenz beobachten, die symbolische Ordnung einer Kultur nach Art einer 'Sprache' zu modellieren - und damit kulturelle Differenzen gleich Differenzen zwischen Sprachsystemen: kulturelle Differenzen laufen dann auf eine 'Inkommensurabilität der Sprachspiele' hinaus, die im strengen Sinne nicht ineinander übersetzbar sind und in denen sich einander im Prinzip fremdartige Wirklichkeitskonstruktionen gegenüberstehen. Foucaults Konzept der absoluten 'rupture' zwischen verschiedenen 'episteme' in "Die Ordnung der Dinge" und Luhmanns Konzept der selbstreferentiellen sozialen Systeme tendieren bei aller Unterschiedlichkeit zu einem derartigen Inkommensurabilitätsmodell kultureller Differenzen.4

4Allerdings existiert im Feld textualistischer Kulturtheorien noch eine alternative Version der Modellierung kultureller Differenzen: Jene Ansätze, die wie Clifford Geertz das soziale Leben gleich einem lesbaren Text konzeptualisieren, betreiben gerade keine Reifizierung von Sinngrenzen, sondern betonen die Mehrdeutigkeit, die Polysemie sozialer Ereignisse nach Art der 'intertextuellen' Bezüge von Texten i.e.S. Ein solcher Textualisms befördert ein hybriditätsorientiertes Verständnis kultureller Differenzen, wie es in anderer Form auch im Rahmen der Praxeologie relevant werden kann.

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Die praxeologischen Ansätze entwickeln demgegenüber ein Interesse an der Normalität von kulturellen Differenzen als Bestandteil sozialer Praktiken, ohne diese Differenzen und die Praxiskomplexe zu homogenisieren. Gerade weil es nicht darum geht, ein Ideensystem oder einen diskursiven Code (oder traditioneller: die Sitten und Gebräuche einer ganzen Lebensweise) in seiner immanenten, intellektuellen 'Logik der Logik' in den Blick zunehmen, sondern die 'Logik der Praxis' eines Bündels von wissensabhängigen Praktiken, werden schnell die Friktionen und mangelhaften Koordinationen zwischen verschiedenen Praktiken deutlich, die auch von den selben Akteuren im selben Feld vollzogen werden und trotzdem nicht unbedingt homogenisierbar sind. Die Praxistheorien enthalten die Möglichkeit, kulturelle Differenzen nicht als Unterschiede zwischen Entitäten wahrzunehmen, sondern sie in der - teils routinisierten, teils konflikthaften - aktiven interpretativen Aneignung unterschiedlicher, einander 'überlagernder' Sinn- [Druckfassung: 101] und Aktivitätselemente, die ganz verschiedener räumlicher und zeitlicher Herkunft sein können, zu suchen. Eine solche aktive, aber nicht unbedingt bewusste Aneignung von kulturell differenten Sinn- und Aktivitätselementen lässt sich vordergründig besonders einfach in den sozialen Feldern post-kolonialer Gesellschaften der 'Dritten Welt' beobachten - aber sie wirkt gleichfalls in den disparaten Praktiken der Lebensformen und sozialen Felder des Westens. Die 'mangle of practice' (Pickering) verarbeitet routinemäßig diverse, keineswegs immer systematisch aufeinander abgestimmte Elemente des Tuns und des Denkens: hier ist aus praxeologischer Perspektive der Ort von kulturellen Differenzen 'at work'.

Globalität als Hybridität: Das Forschungsprogramm der 'kulturellen Globalisierung' Die praxeologischen Kulturanalysen haben bisher häufig, wenn auch nicht durchgängig einen Hang zur Mikroanalyse an den Tag gelegt: Die Rekonstruktion der Mikrologik des Sozialen, die quasi ethnomethodologische 'dichte Beschreibung' von Praktiken und ihrem Hintergrundwissen ist zunächst ihre Stärke. Gleichzeitig weisen die praxeologischen Kulturtheorien jedoch den Weg zu einer Überwindung der Mikro-Makro-Differenz und lassen sich im Sinne einer Gesellschaftstheorie weiterentwickeln. Aus praxeologischer Perspektive erscheinen sowohl soziale Felder als auch Lebens-formen als ein fragiler Zusammenhang von sozialen Praktiken, von raum-zeit-transzendierenden Typen routinisierter Aktivität der Körper (und auch der Artefakte), die durch bestimmte Formen des impliziten Verstehens und des praktischen know hows - in denen allgemeine kulturelle Codes zum Ausdruck kommen - organisiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der Organisation der Alltags- und Lebenszeit von Subjekten bilden Praktiken kollektive 'Lebensformen', die häufig durch sozial-kulturelle Milieus

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und kulturelle Bewegungen sozial strukturiert sind; unter dem Gesichtspunkt der Organisation von Tätigkeiten, die 'der Sache nach' miteinander zusammenhängen, bilden Praktiken (und zwar nicht andere, sondern die gleichen Praktiken) 'soziale Felder', das heißt institutionelle Komplexe.5 Entscheidend für eine gesellschaftstheo-retische Anwendung und Weiterentwicklung der Praxistheorien ist es, diese Praxiskomplexe nicht nur - aus der klassischen 'ethnomethodologischen' Mikroperspektive - als lokal spezifisch und zeitlich-gegenwärtig zu betrachten, sondern von einem Konzept von Weltgesellschaft und Weltgeschichte auszugehen, in dem Praxiskomplexe als Lebensformen und soziale Felder beständig auf Elemente von Praktiken und Codes aus räumlich aus zeitlich entfernten Kontexten rekurrieren. Netzwerke sozialer Praktiken sind in [Druckfassung: 102] einem überlokalen Raum und in einer die Gegenwart transzendierenden, historischen Zeit zu situieren, so dass auf diese Weise die hybride Kombination von Elementen aus verschiedenenen Zeiten und Räumen in einer Praktik oder einem Komplex von Praktiken wahrnehmbar werden. Diese Hybridität von Praktiken, ihre routinisierte oder konfliktreiche Verarbeitung einander überlagernder Sinnelemente aus unterschiedlichen Räumen und Zeiten als das zentrale Kennzeichen kultureller Differenzen zu betrachten, steht jedoch im Gegensatz zu gängigen Modellierungen kultureller Differenzen im Diskurs der Moderne.

Soziologische Gesellschaftstheorien haben sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart kulturelle Differenzen regelmäßig nicht als praktisch zu bearbeitende Hybriditäten, sondern im Sinne einer - häufig zeitlichen und räumlichen - Separierung von Kultursystemen verstanden und auf diese Weise eine Neigung zur Reifizierung von Sinngrenzen, zur Reifizierung von kulturellen Differenzen diesseits und jenseits räumlicher und zeitlicher Grenzen demonstriert. Generell kann man feststellen - Friedrich Tenbruck (1992) und Joachim Matthes (1992) haben darauf hingewiesen -, dass für die soziologische Gesellschaftstheorie bereits seit ihrem Beginn, bei Marx, Comte, Weber, Simmel oder Durkheim, kulturelle Differenzen auf eine problematische Weise konstitutiv gewesen sind, vor allem eine kulturelle Differenz: die zwischen traditionalen und modernen Formen der Sozialität. Indem die Klassiker der Gesellschaftstheorie die zentrale Unterscheidung zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften einführten, haben sie eine fundamentale kulturelle Differenz zwischen zwei vorgeblich grundsätzlich anders strukturierten Typen von Lebensformen und sozialen Feldern in der historischen Zeit markiert. Die kulturelle Differenz ist hier eine grundsätzliche und folgt bei den meisten klassischen Theoretikern - allerdings mit der

5Vgl. zu einem Versuch, die Praxistheorien gesellschaftstheoretisch weiterzuentwickeln: Reckwitz (2005), Kap. 1, zum speziellen Fall der Raum-Zeit-Distanzierungen vgl. auch Reckwitz (2003).

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spezifischen Ausnahme Max Webers - der Logik einer historischen Bruchs, einer Ablösung der traditionalen durch die moderne Lebensweise. Diese zunächst zeitlich-historische Kulturdifferenz zwischen Traditionalität und Modernität kann in einem zweiten Schritt - und dies ist in den amerikanischen 'modernization theories' der 1950er und 60er Jahren bekanntlich geschehen - auch auf räumliche Differenzen unter Bedingungen der Gleichzeitigkeit übertragen werden: Die kulturellen Differenzen zwischen dem Westen und den Kolonien des Südens bzw. den Gesellschaften der Dritten Welt erscheinen nun als ebenso grundlegend wie überwindbar im Sinne einer kulturellen Diffusion westlicher Kulturmuster.6 Entscheidend für die im Rahmen der Soziologie als Disziplin konstitutiven kulturellen Differenz zwischen Traditionalität und Moderne ist nicht nur die asymmetrische Struktur dieser Unterscheidung, [Druckfassung: 103] sondern vor allem, dass sie wie selbstverständlich eine Reifizierung einer vorgeblich fixen Sinngrenze zwischen den 'anderen' Kulturen der Vormoderne und des Südens und der 'eigenen' Kultur der westlichen Gegenwart betreibt.

Diese Tendenz zur Reifizierung von Sinngrenzen ist jedoch nicht auf die soziolo-gischen Klassiker begrenzt. In der gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Diskussion sind es vor allem die Globalisierungstheorien, die seit den 1980er Jahren eine systema-tische Analyse von kulturellen Differenzen, zumindest solchen in der Dimension des Raums versprechen. Die ersten Ansätze einer Theorie der Weltgesellschaft, vor allem im Rahmen von Immanuel Wallersteins 'world-systems-theory' waren noch alles andere als kulturalistisch ausgerichtet - dies ändert sich jedoch seit den 1980er Jahren. Zunehmend wird Globalisierung nicht nur als ein ökonomisch-technologisches, sondern auch als ein kulturelles Phänomen, ein Phänomen von Alltagskulturen in Lebensformen und sozialen Feldern (z.B. von Unternehmenskulturen, Politischen Kulturen etc.) interpretiert. Im Rahmen dieser neuen Theorien der (kulturellen) Globalisierung, stehen sich nun jedoch idealtypisch zwei konträre Modelle des Globalen gegenüber: Theorien einer kulturellen Homogenisierung und Theorien einer kulturellen Heterogenisierung.7 Das Homogenisierungsmodell steht in der Tradition der Modernisierungstheorien, das Heterogenisierungsmodell in der Tradition des Kulturessentialismus. Im ersten Fall werden kulturelle Differenzen marginalisiert, im zweiten Fall im Sinne von sich antipodisch gegenüberstehenden Sinnsystemen und kulturellen Gemeinschaften reifiziert.

Theorien kultureller Homogenisierung gehen davon aus, dass zumindest der Tendenz nach kulturelle Globalisierung über den Mechanismus der 'time-space- 6Vgl. zu einer kritischen Diskussion der Modernisierungstheorien jetzt Knöbl (2001). 7Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Featherstone/ Lash (1995 a).

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distantiation' als eine kulturelle Diffusion westlicher Lebensformen und Codes außerhalb des Westens zu verstehen ist. Interessanterweise liefert Anthony Giddens - dessen sozialtheoretische Skizze einer Strukturierungstheorie eigentlich in die Nähe praxeologischer Ansätze eingeordnet werden kann, der seit den 1990er Jahren in seiner Theorie der Moderne jedoch einen ganz anderen Weg beschreitet - ein paradigmatisches Beispiel für eine derartige Globalisierungstheorie als Homogenisierungstheorie. Giddens arbeitet in "The Consequences of Modernity" (1990) als einer der ersten den zentralen Stellenwert räumlicher Vernetzung von Ereignissen und Strukturen in der hochmodernen Gesellschaft heraus, die sich nicht nur auf die Ökonomie, sondern auch auf die Alltagskulturen bezieht: "Globalisation can thus be defined as the intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occurring many miles away and vice versa." (1990: 64) Giddens betreibt [Druckfassung: 104] gleichzeitig jedoch eine bemerkenswerte - und gegenüber der Diskussion des Post-Kolonialismus immune - Enthermeneutisierung dieser Globalisierung: Globalisierung erscheint gleich überregionalen Sequenzen von Ursachen und Wirkungen, gleich einem 'Transport' von relevanten Ereignissen und Entitäten - vor allem auch über die Massenmedien - von einem Ort zum nächsten oder aber gleich eines gewissermaßen in seiner Struktur vorausgesetzten internationalen 'abstract system' (Weltkapitalismus, internationales politisches System, Weltmilitärsystem, weltweite Arbeitsteilung). Giddens' Modell der Globalisierung suggeriert einen Prozess der Homogenisierung, einer "global integration" (1990: 150), eine Verbreitung von letztlich westlichen Praktiken und Codes über die hochmodernen Transport- und Kommunikationswege. Dieses Homogenisierungsmodell weist in seinem Verständnis kultureller Differenzen Strukturähnlichkeiten mit dem Modell jener Modernisierungstheorien auf, von denen sich Giddens ansonsten ausdrücklich abgrenzt: Giddens' Globalisierungstheorie als prominentes Beispiel einer Theorie globaler Homogenisierung setzt so wie die Modernisierungstheorien ein Modell kultureller Diffusion westlicher Praktiken voraus. Dass kulturelle Besonderheiten einzelner Regionen existieren, wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber diese Partikularitäten haben sich jener globalisierten formal-rationalen institutionellen Reflexivität zu stellen, die für die hochmoderne Weltgesellschaft im Rahmen einer Theorie 'reflexiver Modernisierung' charakteristisch erscheint.8

8Giddens stellt in einer an Habermas erinnernden Diktion fest: " Modernity is universalising not only in terms ot its global impact, but in terms of the reflexive knowledge fundamental for its dynamic character. Is modernity distinctively Western in

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Gegenüber den Theorien der Globalisierung als Homogenisierung scheinen die Theorien der Globalisierung als Heterogenisierung grundsätzlich anders ausgerichtet, indem sie die Relevanz und Allgegenwärtigkeit globaler kultureller Differenzen betonen. Die Heterogenisierungstheorien sind eindeutig kulturalistisch orientiert. Man kann zwei, auch kombinierbare Varianten der Heterogenisierungstheorien unterscheiden: Die eine geht davon aus, dass Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen bereits während der gesamten Moderne bzw. der gesamten Weltgeschichte existierten, somit auf historische Traditionen zurückgreifen können, die nun erst im Lichte der Skepsis gegenüber einem rationalistischen Universalismus ans Tageslicht kommen. Kulturelle Differenzen sind aus dieser Sicht kein Produkt der Globalisierung, sondern ein präexistentes Faktum. Man kann in diesem Zusammenhang nicht nur Samuel Huntingtons wirkungsmächtige Darstellung eines 'Kampfes der Kulturen' (1996) einordnen, sondern auch viele Arbeiten aus dem Umkreis der Multikulturalismus-Debatte (sowohl von Kommunitaristen wie Charles Taylor [Druckfassung: 105] (1992) als auch von Liberalen wie Will Kymlicka (1995)): Kulturelle Differenzen unter globalen Bedingungen erscheinen hier als Differenzen zwischen in spezifischen historischen Traditionen verwurzelten kulturellen Gemeinschaften mit partikularen Sinnsystemen, die häufig auch ein gemeinsames räumliches Territorium bewohnen. Die zweite Variante der Heterogenisierungstheorien betont demgegenüber, dass es vor allem die technologisch-ökonomische, vordergründig homogenisierende Globalisierung selbst ist, die eine kulturelle Heterogenität dadurch produziert, dass sie politisch-kulturellen Widerstandsbewegungen hervorruft. Ein paradigmatisches Beispiel für dieses Heterogenitätsmodell liefert Manuel Castells im zweiten Band seiner Trilogie "The Network Society", die nicht zufällig "The Power of Identity" (1997) überschrieben ist: Nach Castells' Darstellung treibt die Tendenz ökonomischer Homogenisierung im Rahmen eines Weltmarktes, der politische Grenzen überschreitet, vielfältige regionale kulturelle Reaktionen im Form von 'Identitätsbewegungen' hervor. Diese Identitätsbewegungen, die in Castells' wertneutraler Darstellung von den mexikanischen Zapatisten bis zu den US-amerikanischen Rechtsradikalen reichen, konstruieren nach Art einer 'invention of traditions' (Hobsbawm) neue kulturelle Gemeinschaften mit neuen Symbolen und eigenständigen Sinnsystemen, die es vor der Globalisierung in dieser Art noch gar nicht gegeben hatte.

Vor dem Hintergrund einer praxeologischen Kulturtheorie enthalten sowohl das Homogenisierungs- als auch das Heterogenisierungsmodell kultureller Globalisierung this respect? The question has to be answered in the affirmative... Discursive argumentation ... involves criteria that override cultural differentiations." (1990: 175f)

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problematische Grundannahmen: einerseits ein unhermeneutisches, vorkonstruktivisti-sches Input/ Output-Modell kultureller Diffusion, andererseits - genau umgekehrt - die Reifizierung von Sinngrenzen zwischen Kulturen nach Art eines Modells der Inkommensurabilität der Sprachspiele. Das modernisierungstheoretische Homogenisie-rungsmodell neigt dazu, kulturelle Elemente wie dinghafte Entitäten zu begreifen, die - etwa über die Massenmedien, über das globale kapitalistische Wirtschaften oder über technisch-wissenschaftliche Expertensysteme - von einem Herkunftsort an andere Orte 'transportiert' zu werden scheinen und der Grundtendenz nach dort die bisher dominierenden kulturellen Elemente verdrängen und ersetzen. Mit Luhmann kann man ein solches Kulturverständnis, das hinter dem bedeutungsorientierten Kulturbegriff zurückbleibt, als das Modell einer 'Trivialmaschine' umschreiben, in dem unhermeneu-tische Input-Output-Prozesse zwischen verschiedenen sozialen Systemen suggeriert werden. In dem Moment, in dem man im Gefolge des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs hingegen davon ausgeht, dass gegebene Kulturen Elemente aus entfernten räumlichen oder zeitlichen Kontexten nicht kurzerhand zu 'übernehmen' vermögen, sondern immer vor dem Hintergrund ihres bisherigen Sinnhorizonts interpretieren, erscheinen Konzepte kultureller Diffusion simplifizierend. [Druckfassung: 106]

Das Heterogenisierungsmodell basiert nun genau auf dieser Grundposition, der zufolge Kulturen symbolische Konstruktionsleistungen vollbringen und insofern keine eindimensionalen kulturellen Importe und Exporte möglich sind. Das bedeutungsorien-tierte Kulturverständnis erhält freilich hier eine besondere Form. Leitend ist die Annahme, dass zwischen verschiedenen Kulturen eine Sinngrenze existiert, die nicht überbrückbar erscheint: Fremde kulturelle Elemente werden vor dem Sinnhintergrund der eigenen Kultur und ihrer sozialen Gemeinschaft interpretiert - und vermögen am Ende die eigene Kultur nur zu bestätigen. Das 'Fremde' erscheint immer nur als ein Objekt der Ausdeutung durch das Eigene - und bleibt dann entweder völlig unverständlich oder wird im eigenen Interpretationshorizont assimiliert. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Kombination kultureller Elemente undenkbar: denkbar ist im Extrem nur eine unendliche Reproduktion der einzelnen Kulturkreise und kulturellen Gemeinschaften, die immer nur sehen, was sie, den eigenen partikularen Sinncode im Rücken, durch diesen zu sehen vermögen. Auch hier handelt es sich freilich um ein theorieinduziertes Problem. Das Heterogenitätsmodell der Kulturen - das sich häufig mit einer normativen Theorie des interkulturellen Respekts zwischen den per se unterschiedlichen Kulturen verknüpfen lässt - baut auf Kulturbegriffen auf, die aus der Tradition bekannt sind: Zum einen ist es der traditionelle, ursprünglich romantische holistische Kulturbegriff, der Kultur als ganze, in sich geschlossene Lebensweisen, als

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Sitten und Gebräuche eines Kollektivs in gemeinsamen Raum und gemeinsamer Zeit verstand, der hier weiterwirkt. Zum anderen sind es aber auch Versionen des bedeutungsorientierten Kulturbegriff in den 'intellektualistischen' mentalistischen und textualistischen Fassungen, die zum Einsatz kommen: Kulturelle Systeme erscheinen hier wie natürliche Sprachen oder wie Sinnhorizonte eines Kollektivbewusstseins. Zwischen Sprachen wie auch zwischen Bewusstseinen existiert eine scheinbar selbstverständliche Sinngrenze, ein eindeutiges 'Entweder-Oder': ein Begriff gehört entweder der Sprache A oder der Sprache B an; ein Ereigniss findet entweder im Bewusstsein der Person X oder der Person Y statt - tertium non datur. Gleich ob nun kulturelle Differenzen nach dem Modell zweier einander gegenüberstehender 'Sprachen' oder zweier einander beobachtender (Kollektiv-)Bewusstseine modelliert werden - in jedem Fall läuft dieses Kulturverständnis auf eine Verdinglichung scheinbar fixer Sinngrenzen zwischen zwei distinkten, einander ausschließenden Kulturen hinaus. Man kann dies als Tendenz zu einem Kulturessentialismus werten, in dem Kulturen gleich sich selbst reproduzierende 'Interpretationsmaschinen' erscheinen, die, von außen betrachtet, in ihren Sinnfundamenten inkommensurabel bleiben. Es kann hier nur kurz darauf hingewiesen werden, das dieses Verständnis von kulturellen Differenzen als Differenzen zwischen ganzen, gleichsam totalen Sinnsystemen den geradezu klassi-schen Hin [Druckfassung: 107] tergrund für einen 'Kulturvergleich' zwischen zwei differenzierbaren Einheiten darstellt. Und dieses Verständnis von kulturellen Differenzen im Sinne des Heterogenitätsmodell ist es gleichzeitig, welches jene die wissenschaftstheoretische und methodologische Debatte prägenden Probleme des 'Fremdverstehens' und der 'Übersetzung' als derartig schwerwiegend erscheinen lässt.

Die Homogenisierungs- und Heterogenisierungsmodelle in der Globalisierungsdebatte sind nicht alternativenlos. Es existiert ein drittes Modell kultureller Differenzen unter den Bedingungen der Weltgesellschaft, das explizit oder implizit auf einem praxeologischen Kulturverständnis aufbaut: Kultur unter globalen Bedingungen wird hier eher als ein mikrologischer Prozess der 'bricologe', eine alltägliche Bastelarbeit verstanden, in dem kulturelle Elemente aus unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Kontexten zugleich unter dem Druck der Handlungspraxis verarbeitet, rekombiniert werden. Ulf Hannerz (1987, 1992) hat diesen Prozess als Kreolisierung und Jan Nederveen Pietersen (1995) in Anlehnung an Konzepte aus dem Post-Kolonialismus als Hybridisierung umschrieben. (vgl. auch Werbner/ Modood 1997, Baumann 1999, Appadurai 2000) Man kann sicher darüber streiten, ob es sich hier unbedingt um glückliche Metaphern handelt, aber das praxeologische Kulturmodell, das hier zum Einsatz kommt, lässt kulturelle Differenzen in jedem Fall in einem anderen Licht erscheinen: als etwas, mit dem Akteure - zumal in der sog. Dritten

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Welt, aber nicht nur dort - routinisiert und in aktiver Interpretationsarbeit in Praxiskomplexen ihres Alltags umgehen, ohne dass sie sich unbedingt selbst bewusst sind, dass sie kulturelle Versatzstücke unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Herkünfte miteinander kombinieren. In "Mirror of Modernity. Invented traditions of Japan" (Vlastos 1998) wird beispielsweise minutiös gezeigt, wie scheinbar indigene japanische Praktiken, etwa 'japanische' Kampfsportarten oder die Art und Weise, in der ökonomische Alltagstechniken von japanischen Unternehmen organisiert sind, sich als komplizierte, gekonnt miteinander verschränkte Produkte von historisch tradierten Praktiken Japans und solchen des Westens darstellen. In diesem Prozess einer 'interpretative work' mit kulturellen Differenzen werden sowohl die japanischen Traditionen uminterpretiert als auch der westliche Einfluss hermeneutisch angeeignet. Jonathan Friedman liefert in einer detaillierten Analyse "The political economy of elegance" (1994: 147ff) ein anderes Beispiel für eine praxeologische Analyse kultureller Differenzen: Er beschreibt, wie die Mittelschicht im kongolesischen Brazzaville bereits in der Kolonialzeit wie auch in der post-kolonialen Phase ein Distinktionsspiel mit ihrer Kleidung betreibt - ein Beispiel für die enorme identitätsstiftende Bedeutung des Konsums in diesem Milieu - und wie in diesem Bekleidungsdistinktionsspiel in der Tradition des Kongo wurzelnde Strategien kombiniert werden mit einer Aneignung der französischen Mode und dem hierarchischen Kultursystem des [Druckfassung: 108] Kolonialismus - interessanterweise nach Friedmans Darstellung eine gar nicht konfliktreiche, sondern völlig unproblematische Kombination.

Praxeologische Kulturanalysen globalisierter Verhältnisse setzen in diesem Sinne nicht kulturelle Differenzen als einander fremde Sinnsysteme voraus, sondern demonstrieren, wie in den nicht-westlichen Kulturen kulturell differente Elemente im Rahmen konkreter - ökonomischer, konsumtorischer, medialer - Praktiken hybrid miteinander kombiniert werden. Eine solche Perspektive führt nicht nur dazu, dass eine Potenzierung von Differenzen sichtbar wird - nämlich die Fülle der in den scheinbar homogenen Praktiken verarbeiteten kulturellen Unterschiede -, sondern gleichzeitig eine Potenzierung von Ähnlichkeiten zwischen den nun weniger distinkt erscheinenden Kulturen: das Verhältnis zwischen der japanischen und der amerikanischen, zwischen der kongolesischen und der französischen Kultur ist dann jenseits einer prinzipiellen Differenz und einer prinzipiellen Ähnlichkeit als eine präzise rekonstruierbare Überlagerung bestimmter aktiv verarbeiteter Differenzen und bestimmter Ähnlichkeiten zu begreifen. Das gleiche Verfahren einer Sichtbarmachung des praktischen Umgangs mit kulturell differenten Elementen innerhalb von nur scheinbar homogenen Einheiten ist aber nicht nur mit Blick auf das aus westlicher Sicht 'Andere', sondern auch auf die

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vorgeblich 'eigene', westliche Kultur möglich. Auch für den Fall der westlicher Praktiken - die Lebensformen und institutionellen sozialen Felder - wird in der praxeologischen Analyse die mögliche Voraussetzung fixer Sinngrenzen zwischen verschiedenen Klassen, Milieus oder dominierenden und Subkulturen bzw. zwischen verschiedenen Institutionen, Organisationen und Funktionssystemen torpediert und die aktive - routinisierte oder agonale - Kombination kultureller Elemente unterschiedlicher Herkunft demonstriert. Eine Perspektive auf kulturelle Differenzen als hybride Kombinationen bezieht sich dabei nicht nur auf Differenzen im Raum, d.h. auf räumlich-regionale Hybride, sondern auch auf solche in der Zeit, d.h. auf historische Hybride: Praktiken und Codes einer Gegenwart kombinieren auf spezifische Weise ausgewählte kulturelle Elemente historischer, vergangener Praktiken und Code. So wie das Modell der räumlichen Hybride steht auch das Modell historischer Hybride sowohl der Modernisierungstheorie als auch dem Kulturessentialismus entgegen, es richtet sich sowohl gegen eine Konzeptualisierung von Geschichte als Abfolge totaler Brüche mit absoluten Sinngrenzen zwischen einem 'Vorher' und einem 'Nachher' als auch gegen ein Verständnis von Geschichte als Reproduktion einer prinzipiellen Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein praxeologisches Verständnis kultureller Differenzen erfordert damit nicht nur eine spezifische Theorie der Globalität, sondern auch eine spezifische Theorie der Geschichte. Auch die historisch aufeinander folgenden Praxis-komplexen können statt in der Alternative von Kontinuität oder Diskontinuität als hybride [Druckfassung: 109] Kombination verschiedener kultureller Elemente rekonstruiert werden, die in unterschiedlichen historischen Zeiten zum ersten Mal auftraten. (vgl. Reckwitz 2005, Kap. 1)

Was am Ende nur angedeutet werden konnte, ist somit eine konsequente gesell-schaftstheoretische Weiterentwicklung der praxeologischen Kulturtheorien im Sinne einer Theorie der Weltgesellschaft und der Weltgeschichte, in der sowohl der Raum als auch die Zeit nicht als Markierungen von Sinngrenzen - zwischen westlichen und östlichen Kulturen, zwischen traditionaler und modernern Kultur etc. (oder als Kehrseite: von bruchloser Homogenität bzw. Kontinuität) - verstanden werden, man vielmehr systematisch rekonstruiert, wie unter 'anwesenden' lokalen und gegenwärtigen Bedingungen kulturelle Elemente aus 'abwesenden' lokalen oder historischen Kontexten verarbeitet werden. Der Effekt, den eine solche praxeologische, an Hybriditäten und an den Pfaden, auf denen unterschiedliche räumliche und zeitliche Kontexte füreinander wirksam werden, orientierte globale und historische Kulturanalyse mit sich bringt, ist in jedem Fall eine deutliche Skepsis gegenüber einer Fixierung der Grenzen zwischen vorgeblich distinkten, einander fremden Einheiten von Kultur. Statt dessen wird die Präsenz von Elementen vorgeblich traditionaler Kultur in der modernen Kultur, die

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Präsenz der Subkultur in der Mehrheitskultur, die Präsenz des Ostens im Westen sichtbar. Die vorgeblichen Einheiten der Kultur, die fixen Sinngrenzen, die distinkten Ideen- und Sinnsysteme, die totalen sich selbst reproduzierenden Lebensformen stellen sich dann eher als semantische Produkte jener nicht immer bewussten Intellektualisie-rungsstrategien dar, die nach eindeutigen Einheiten sucht und die Unreinheiten der 'mangle of practice' meidet, eine Strategie, die Pierre Bourdieu (1997) als 'scholastischen Habitus' umschreibt. In jedem Fall sind diese Konzepte häufig genug gleichfalls Produkte von - etwa in ethnischen Bewegungen und den 'culture wars' teilweise höchst wirkungsmächtigen - politisch-kulturellen Strategien kollektiver Identitätsbildung, denen man nicht unbedingt aufsitzen sollte. Eine praxeologische Perspektive auf kulturelle Differenzen wird in jedem Fall einen Kulturvergleich im klassischen Sinne einer Gegenüberstellung separater Einheiten erschweren. Umgekehrt scheinen angesichts der immer fragiler werdenden Differenzen zwischen dem vorgeblich Fremden und dem vorgeblich Eigenen die sozial-kulturellen Bedingungen für das Fremdverstehen sich eher zu entdramatisieren. Vielleicht würde ja eine stärkere Ausrichtung an der Logik der Praxis und ihrer kulturellen Hybriditäten dem Kulturvergleich in einem neuen Sinn jenen positiven, überraschungsfreudigen 'Witz' zurückgeben, der ihm im 18. Jahrhundert dem zeitgenössischen Diskurs zufolge einmal eigen war. [Druckfassung: 110]

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