Kurven und Bogenl an ge - mia.uni- · PDF fileMathematik f ur Informatiker I, Version vom: 16....
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Kapitel 32
Kurven und Bogenlange
32.1 Motivation
Der Begriff der Kurve in der Ebene oder im Raum spielt in den Naturwis-senschaften, insbesondere der Physik, Technik (Robotik) und der Informatik(Computergraphik) eine tragende Rolle.
Neben der Berechnung von Flachen und Volumina ist die Definition / Ermitt-lung der Lange von Kurven eine weitere wichtige Anwendung der Integralrech-nung.
32.2 Definition: (Parametrisierte Kurve)
Eine (parametrisierte) Kurve im Rn ist eine Abbildung
c : [a, b] → Rn
t 7→ (x1(t), . . . , xn(t))T :=
x1(t)...
xn(t)
,
deren Komponentenfunktionen x1, . . . , xn : [a, b] → R stetig sind.c heißt differenzierbar (stetig differenzierbar, C1-Kurve), wenn alle xi differen-zierbar (stetig differenzierbar) sind. Man definiert
c(t) :=
(dx1
dt(t), . . . ,
dxn
dt(t)
)T
.
Das Bild c([a, b]) heißt Spur von c.
”Bewegung eines Punktes im Raum, c(t) als Ort des Punktes zur Zeit t“.
237
Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
32.3 Beispiele
(a) Ellipse mit Hauptachsen a und b:
x(t) = a · cos ty(t) = b · sin tAus cos2 t + sin2 t = 1 folgt die Spurgleichung
x2
a2+
y2
b2= 1.
(b) Zykloide
Kurve eines Randpunktes eines Kreises, der auf einer Geraden abrollt.
x(t) = t − sin(t)y(t) = 1 − cos(t)
Uberlagerung des Mittelpunktsbewegung
(x(t)y(t)
)
=
(t1
)
und einer Kreisbewegung
(x(t)y(t)
)
=
(− sin(t)− cos(t)
)
im Uhrzeigensinn.
(c) Schraubenlinie
c(t) = (r · cos t, r · sin t, h · t)T , t ∈ R.
Uberlagerung einer Kreisbewegung mit Radius r in der x− y−Ebene undeiner linearen Bewegung in z-Richtung.
32.4 Definition: (Parameterwechsel, Umparametrisierung)
Ist c : [a, b] → Rn eine Kurve und h : [α, β] → [a, b] eine stetige, bijektive undmonoton wachsende Abbildung, so hat die
”neue“ Kurve c(τ) := c(h(τ)), τ ∈
[a, b] die selbe Spur und den selben Durchlaufsinn von c. Man nennt t = h(τ)einen Parameterwechsel (oder Umparametrisierung).
Kurven, die durch einen Parameterwechsel auseinander hervorgehen, werden alsgleich angesehen.
Ist c stetig differenzierbar, so werden nur stetig differenzierbare Funktionen h :[α, β] → [a, b] mit h′(τ) > 0 als Parameterwechsel zugelassen (C1-Parameter-wechsel).
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Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
32.5 Bemerkung:
Verschiedene Kurvenparametrisierungen konnen zur selben Spur fuhren:
c1(t) := (cos t, sin t), t ∈ [0, 2π]
und
c2(t) := (cos t,− sin t), t ∈ [0, 2π]
haben den Einheitskreis als Spur, unterscheiden sich aber im Durchlaufsinn.
Bogenlange einer Kurve
wichtige Anwendung der Integralrechnung auf Kurven.
Motivierendes Beispiel: (Kreisumfang)
Approximiere Kreis durch einbeschriebene regelmaßige 2n-Ecke (n ≥ 2). IhreUmfange Sn wachsen monoton in n und sind z.B. durch den Umfang einesumbeschriebenen Quadrats nach oben beschrankt. Somit existiert sup
n(Sn).
Es definiert den Kreisumfang.Allgemein:
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Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Approximiere die Kurve c(t) durch einen Polygonzug. Fur eine Zerlegung
Z = {a = t0 < t1 < . . . < tm = b}von [a, b] ist seine Lange gegeben durch
L(Z) =
m−1∑
i=0
|c(ti+1) − c(ti)| .
Dabei bezeichnet |(x1, . . . , xn)T | :=
√√√√
n∑
i=0
x2i die euklidische Norm eines Vektors
(x1, . . . , xn)T .
32.6 Definition: (Lange, Rektifizierbarkeit einer Kurve)
Es bezeichne Z[a, b] die Menge aller Zerlegungen von Z[a, b]. Ist die Menge{L(Z) | Z ∈ Z[a, b]} nach oben beschrankt, so heißt die Kurve c rektifizierbar,und
L(c) := sup{L(Z) | Z ∈ Z[a, b]}heißt die Lange der Kurve c.
32.7 Satz:
Jede C1-Kurve c : [a, b] → Rn ist rektifizierbar, und es gilt
L(c) :=
∫ b
a
|c(t)| dt.
Beweis:
Fur eine Zerlegung Z gilt:
L(Z) =
m−1∑
i=0
|c(ti+1) − c(ti)|
=m−1∑
i=0
√√√√
n∑
k=1
(xk(ti+1) − xk(ti))2
Def. der euklid. Norm
=
m−1∑
i=0
√√√√
n∑
k=1
(xk(τki))
2(ti+1 − ti) Mittelwertsatz
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Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
mit τki∈ [ti, ti+1].
Fur die zu Z gehorende Rechtecksumme R(Z) von
∫ b
a
|c(t)| dt gilt:
R(Z) =m−1∑
i=0
√√√√
n∑
k=1
(xk(ti))2(ti+1 − ti)
Zur Abschatzung von |L(Z)−R(Z)| verwenden wir die gleichmaßige Stetigkeitder xk(t) auf dem Kompaktum [a, b]:
∀ε > 0 ∃δ > 0 : |t − t| < δ ⇒ |xk(t) − xk(t)| < ε, k = 1, . . . , n.
Gilt nun fur gegebenes ε > 0, dass die Feinheit ‖Z‖ der Zerlegung ‖Z‖ < δerfullt, so folgt damit
|L(Z) − R(Z)| =
∣∣∣∣∣∣
m−1∑
i=0
√√√√
n∑
k=1
(xk(τki))
2 −
√√√√
n∑
k=1
(xk(ti))2
· (ti+1 − ti)
∣∣∣∣∣∣
∆−Ungl.
≤m−1∑
i=0
∣∣∣∣∣∣
√√√√
n∑
k=1
(xk(τki))
2 −
√√√√
n∑
k=1
(xk(ti))2
∣∣∣∣∣∣
· (ti+1 − ti)
(∗)≤
m−1∑
i=0
√√√√
n∑
k=1
(xk(τki) − xk(ti))
2 · (ti+1 − ti)
(∗) denn man zeigt fur die eukl. Norm: ||a| − |b|| ≤ |a − b|)
≤m−1∑
i=0
√√√√
n∑
k=1
ε2
︸ ︷︷ ︸
=√
n·ε
· (ti+1 − ti)
=√
n · ε(b − a) → 0 fur ε → 0.
�
32.8 Beispiel:
Kreisumfang: c(t) =
(x(t)y(t)
)
=
(r · cos tr · sin t
)
, t ∈ [0, 2π]
L(c) =
∫ 2π
0
|c(t)| dt
c(t) =
(x(t)y(t)
)
=
(−r · sin tr · cos t
)
|c(t)| =√
r2 sin2 t + r2 cos2 t =
√
r2(sin2 t + cos2 t) = r
⇒ L(c) =
∫ 2π
0
r dt = 2πr. stimmt
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Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Warum ist die Kurvenlange wichtig?
32.9 Lemma: (Parametrisierungsinvarianz)
Die Lange einer C1-Kurve ist parametrisierungsinvariant.
Beweis:
Mit einem C1-Parameterwechsel h : [α, β] → [a, b] gilt aufgrund der Substituti-onsregel
L(c ◦ h) =
∫ β
α
∣∣∣∣∣∣
c(h(τ)) h′(τ)︸ ︷︷ ︸
>0
∣∣∣∣∣∣
dτ (Kettenregel)
∫ τ=β
τ=α
|c(h(τ))| · h′(τ)︸ ︷︷ ︸
d t
dt
=
∫ t=b
t=a
|c(t)| dt (Substitutionsregel)
= L(c).
�
32.10 Definition: (Bogenlangenfunktion)
Es sei c : [a, b] → Rn eine C1-Kurve. Die Funktion
s(t) :=
∫ t
a
|c(τ)| dτ t ∈ [a, b]
heißt Bogenlangenfunktion von c.
Bedeutung: Reparametrisiert man eine Kurve mit ihrer Bogenlange (Bogen-langenparametrisierung), so vereinfachen sich viele Formeln.
32.11 Definition: (Tangentialvektor, Tangenteneinheitsvektor)
Es sei c : [a, b] → Rn eine C1-Kurve. Dann nennt man
c(t) = (x1(t), . . . , xn(t))T
auch Tangentialvektor (Geschwindigkeitsvektor) der Kurve c an der Stelle t.
Fur c(t) 6= 0 heißt Tc(t) :=c(t)
|c(t)| der Tangenteneinheitsvektor.
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Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Bemerkung: Bei Bogenlangenparametrisierung (!) ist |c(t)| = 1, d.h. Tc(s) :=c(s) ist bereits Tangenteneinheitsvektor. Aus
1 = |c(s)|2 = (x1(s))2 + (x2(s))
2 + . . . + (xn(s))2
folgt durch Differentiation nach der Bogenlange s:
0 = 2x1x1 + 2x2x2 + . . . + 2xnxn = 2
⟨
x1
...xn
,
x1
...xn
⟩
(Hierbei beschreibt 〈·, ·〉 das Skalarprodukt in Rn.)
Somit steht bei Bogenlangenparametrisierung der Beschleunigungsvektor c(s) =(
x(s)y(s)
)
senkrecht auf dem Geschwindigkeitsvektor c(s).
Man bezeichnet
N(s) :=c(t)
|c(t)|
als Hauptnormalenvektor von c, und κ(s) := |c(t)| als Krummung von c.
32.12 Beispiel:
Krummung eines Kreises mit Radius r
243
Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Kreis in Bogenlangenparametrisierung:
x(s) = m1 + r coss
r
y(s) = m2 + r sins
r
x(s) = − sins
r
y(s) = coss
r
x(s) = −1
rcos
s
r
y(s) = −1
rsin
s
r
κ =√
x2 + y2 =
√
1
r2cos2
s
r+
1
r2sin2 s
r=
1
r
Bemerkung: Allgemein gilt: Die Krummung gibt den reziproken Radius desKreises an, der sich an der Stelle t an die Kurve c(t) anschmiegt (Schmiegkreis,auch Krummungskreis).
Der Schmiegkreis besitzt dieselbe Tangente und dieselbe Krummung wie dieKurve.
32.13 Die Sektorflache
Ziel: Bestimmung des Flacheninhalts, der den Fahrstrahl von 0 nach c(t) furt ∈ [a, b] uberstreicht.
Methode: approximiere Dreiecksflachen
244
Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Zerlegung
Z = {t0 = a < t1 < . . . < tn = b}
Man kann zeigen (z.B. aus dem Schulunterricht bekannt):
Die Flache des durch die Eckpunkte 0, c(ti) =
(xi
yi
)
, c(ti+1) =
(xi+1
yi+1
)
festgelegten Dreiecks betragt
1
2|xiyi+1 − xi+1yi|
Die Gesamtflache betragt daher
A(Z) =1
2
n−1∑
i=0
(xiyi+1 − xi+1yi)
geeignete Orientierung der Dreiecke vorausgesetzt (so dass Betrage entfallenkonnen). Deswegen wird im Folgenden ein orientierter Flacheninhalt eingefuhrt.
32.14 Definition: (Orientierter Flacheninhalt)
Der Fahrstrahl an die Kurve c : [a, b] → R2 uberstreicht den orientierten FlacheninhaltF (c), wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass fur jede Zerlegung Z von[a, b] mit ‖Z‖ ≤ δ gilt
|A(Z) − F (c)| ≤ ε.
32.15 Satz: (Sektorformel von LEIBNIZ)
Sei c : [a, b] → R2 eine stetig differenzierbare Kurve. Dann uberstreicht derOrtsvektor c(t) im Zeitintervall t ∈ [a, b] die Flache
F (c) =1
2
∫ b
a
(xy − yx) dt
Beweis:
245
Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Ahnlich zum Beweis von Satz 32.7 auf Seite 240
Nach dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung gibt es in (ti, ti+1) stellen τi
und τi mit
xi+1 − xi = x(τi)(ti+1 − ti)yi+1 − yi = y(τi)(ti+1 − ti).
}
(∗)
Somit gilt fur die Summen der Dreiecksflachen
A(Z) =1
2
n−1∑
i=0
(xiyi+1 − xi+1yi)
=1
2
n−1∑
i=0
xiyi+1 − xiyi︸ ︷︷ ︸
xi(yi+1−yi)
+ xiyi − xi+1yi︸ ︷︷ ︸
−yi(xi+1−xi)
(∗)=
n−1∑
i=0
(xiy(τi) − yix(τi)) (ti+1 − ti)
Wir vergleichen A(Z) mit der Riemann-Summe
R(Z) =1
2
n−1∑
i=0
(xiyi − yixi)(ti+1 − ti).
Sei ε > 0 gegeben und δ > 0 so gewahlt, dass gilt:
(i) Fur jede Zerlegung Z mit ‖Z‖ ≤ δ ist∣∣∣∣∣R(Z) − 1
2
∫ b
a
xy − yx dt
∣∣∣∣∣
≤ ε
(ii) Fur alle Paare t, s ∈ [a, b] mit |t − s| ≤ δ ist
|x(t) − x(s)| ≤ ε|y(t) − y(s)| ≤ ε
}
Stetigkeit von x, y
Es sei Z Zerlegung von [a, b] mit ‖Z‖ ≤ δ. Ferner sei M obere Schranke fur|x(t)| und |y(t)| auf [a, b]. Dann gilt:
|A(Z) − R(Z)| ≤ M
2
n−1∑
i=0
(|y(τi − yi)| + |x(τi) − xi|) (ti+1 − ti)
≤ εM
n−1∑
i=0
(ti+1 − ti) = εM(b − a).
Zusammen mit (i) ergibt sich∣∣∣∣∣A(Z) − 1
2
∫ b
a
(xy − yx) dt
∣∣∣∣∣
≤ |A(Z) − R(Z)| +∣∣∣∣∣R(Z) − 1
2
∫ b
a
(xy − yx) dt
∣∣∣∣∣
≤ ε(M(b − a) + 1) −→ 0 fur ε → 0
246
Mathematik fur Informatiker I,Version vom: 16. Februar 2004 WS 2003, Prof. J. Weickert
Nach Def. 32.14 auf Seite 245 folgt hieraus die Behauptung.
�
32.16 Beispiele
(a) Der Fahrstrahl an den orientierten Kreisbogen
x = r cos t
y = r sin t t ∈ [0, φ]
uberstreicht die orientierte Flache
1
2
∫ φ
0
(xy − yx) dt =1
2
∫ φ
0
r cos t · r cos t + r sin t · r sin t dt =r2
2φ.
Fur φ = 2π ergibt sich die Kreisflache πr2.
(b) Der Fahrstrahl an den Zykloidenbogen
x = t − sin t
y = 1 − cos t t ∈ [0, 2π]
uberstreicht die (orientierte) Flache
1
2
∫ 2π
0
((t − sin t) sin t − (1 − cos t)2) dt =1
2
∫ 2π
0
t sin t sin2 t − 1 + 2 cos t − cos2 t dt
=1
2[−t cos t]
2π0 +
1
2
∫ 2π
0
3 cos t − 2 dt
=1
2[−t cos t + 3 sin t − 2t]
2π0 = −3π.
(Negativ, wegen mathematisch negativen Drehsinn)
247
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