Kurzgutachten - disser.spbu.ru fileRheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn Institut für...

7
Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn 1 Kurzgutachten über die Dissertation „Realisierung der lehrhaften Intention in der deutschsprachigen Literatur des 13. Jahrhunderts“ von Irina V. Kompaneeva Lehrhaftigkeit gilt als Schlüsselbegriff für das Verständnis der deutschen Dichtung des Spätmittelalters. „[A]ls Vermittlung von Wissen und als Handlungsanleitung zum Lebensvollzug“ ist sie „eine Grundanforderung, die sich auf den Ebenen der Textproduktion und -rezeption je neu stellt“ (Huber 2001: 107). Mit Fragen, wie diese Lehrhaftigkeit sprachlich umgesetzt wird, beschäf- tigt sich die vorliegende Dissertationsschrift, die theoretisch-methodisch der kommunikativen Pragmatik verpflichtet ist, das heißt, Irina Kompa- neeva erprobt einen für die Gegenwartssprache etablierten Ansatz für hi- storische Texte. Als Textgrundlage dienen der „Helmbrecht“ von Wernher dem Gärtner, „Mauricius von Craun“, „Der Pfaffe Amis“ sowie die Novel- len vom Stricker. Die Verfasserin geht von kommunikativen Strategien aus, die sie als geplante Komplexe von Sprachhandlungen, die auf Ver- wirklichung der kommunikativen Ziele gerichtet sind, versteht. Dabei schließt eine kommunikative Strategie auch die Verwirklichung geplanter Sprachhandlungen mit ein. In den genannten Texten identifiziert sie 273 Beispiele für explizite und implizite „Strategien und Taktiken“, die sie an- hand von Editionen analysiert und klassifiziert. Ausgangspunkt und Vor- aussetzung der Analysen ist die Annahme, dass mittels Lehrhaftigkeit die Gesellschaft steuernde und prägende religiös-traditionelle Normen und Verhaltensregeln weitergegeben werden. Ganz wesentlich erscheint, dass implizite Strategien dominieren, die nur dann funktionieren können, wenn ein hoher Grad an Common Ground, also an gemeinsamem Wissens- raum, zwischen den Autoren und den Rezipienten besteht. Als explizite lehrhafte Strategie identifiziert Frau Kompaneeva „die Stra- tegie der Veranlassung“. Als kommunikativ-pragmatische Taktiken mit dem Ziel, dass der Adressat das Rechte tut, also ‚richtig handelt‘, schlägt sie ihr „Anordnung“, „Ratschlag“ und „Bitte“ zu, wobei die ersten beiden- Größen adressatenbezogen sind, die dritte hingegen empfängerbezogen Prof. Dr. Claudia Wich-Reif, Institut für Germanistik, Vergl. Literatur- und Kulturwiss. der Universität Bonn Am Hof 1 d 53113 Bonn Institut für Germanistik, Ver- gleichende Literatur- und Kul- turwissenschaft der Universi- tät Bonn Prof. Dr. Claudia Wich-Reif Am Hof 1 d 53113 Bonn Tel.: 0228/73-7712 Fax: 0228/73-4517 claudia.wich-reif@uni- bonn.de www.uni-bonn.de

Transcript of Kurzgutachten - disser.spbu.ru fileRheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn Institut für...

Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn

1

Kurzgutachten

über die Dissertation „Realisierung der lehrhaften Intention in der deutschsprachigen Literatur des 13. Jahrhunderts“

von Irina V. Kompaneeva

Lehrhaftigkeit gilt als Schlüsselbegriff für das Verständnis der deutschen Dichtung des Spätmittelalters. „[A]ls Vermittlung von Wissen und als Handlungsanleitung zum Lebensvollzug“ ist sie „eine Grundanforderung, die sich auf den Ebenen der Textproduktion und -rezeption je neu stellt“ (Huber 2001: 107). Mit Fragen, wie diese Lehrhaftigkeit sprachlich umgesetzt wird, beschäf-tigt sich die vorliegende Dissertationsschrift, die theoretisch-methodisch der kommunikativen Pragmatik verpflichtet ist, das heißt, Irina Kompa-neeva erprobt einen für die Gegenwartssprache etablierten Ansatz für hi-storische Texte. Als Textgrundlage dienen der „Helmbrecht“ von Wernher dem Gärtner, „Mauricius von Craun“, „Der Pfaffe Amis“ sowie die Novel-len vom Stricker. Die Verfasserin geht von kommunikativen Strategien aus, die sie als geplante Komplexe von Sprachhandlungen, die auf Ver-wirklichung der kommunikativen Ziele gerichtet sind, versteht. Dabei schließt eine kommunikative Strategie auch die Verwirklichung geplanter Sprachhandlungen mit ein. In den genannten Texten identifiziert sie 273 Beispiele für explizite und implizite „Strategien und Taktiken“, die sie an-hand von Editionen analysiert und klassifiziert. Ausgangspunkt und Vor-aussetzung der Analysen ist die Annahme, dass mittels Lehrhaftigkeit die Gesellschaft steuernde und prägende religiös-traditionelle Normen und Verhaltensregeln weitergegeben werden. Ganz wesentlich erscheint, dass implizite Strategien dominieren, die nur dann funktionieren können, wenn ein hoher Grad an Common Ground, also an gemeinsamem Wissens-raum, zwischen den Autoren und den Rezipienten besteht. Als explizite lehrhafte Strategie identifiziert Frau Kompaneeva „die Stra-tegie der Veranlassung“. Als kommunikativ-pragmatische Taktiken mit dem Ziel, dass der Adressat das Rechte tut, also ‚richtig handelt‘, schlägt sie ihr „Anordnung“, „Ratschlag“ und „Bitte“ zu, wobei die ersten beiden-Größen adressatenbezogen sind, die dritte hingegen empfängerbezogen

Prof. Dr. Claudia Wich-Reif, Institut für Germanistik, Vergl. Literatur- und Kulturwiss. der Universität Bonn Am Hof 1 d 53113 Bonn

Institut für Germanistik, Ver-gleichende Literatur- und Kul-turwissenschaft der Universi-tät Bonn

Prof. Dr. Claudia Wich-Reif Am Hof 1 d 53113 Bonn Tel.: 0228/73-7712 Fax: 0228/73-4517 [email protected] www.uni-bonn.de

Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn

2

ist. Lexikalisch-syntaktisch dienen dazu Imperativformen, die Präteri-topräsentien suln und müezen sowie Wörter und Wendungen mit dem Stamm rât bzw. das Verb bit(t)en. Gemäß ihres Ansatzes belässt es die Verfasserin nicht dabei, die sprachlichen Strategien grammatisch zu be-schreiben und zu quantifizieren, sondern sie stellt die Belege im Kontext da. Dies hat insofern einen deutlichen Mehrwert, als sie spezifische sprachliche Äußerungen als Charakteristika eines Erzählers oder spezifi-scher Figuren nachweisen kann. So verwenden beispielsweise Erzähler aufgrund ihrer Funktion kaum Imperative. Für implizite lehrhafte Strategien seien exemplarisch die der „Veran-schaulichung“ genannt, die mit der Taktik des negativen/positiven Bei-spiels realisiert wird und die der emotionalen Einwirkung, die mit der Taktik der Klage bzw. der Beleidigung operiert. Lexikalisch-syntaktisch treten dabei insbesondere die pronominalen Paare swer …., der …, swelh …, sie und der …., den in Erscheinung. Die dialogischen Strukturen, die schon in der Antike eine bekannte Form der Wissensvermittlung in Form von Lehrdialogen sind (s. z.B. Föllinger 2013), orientieren sich dabei je-weils an den Kommunikationspartnern, die eine symmetrische oder eine asymmetrische Beziehung zueinander haben. Signifikant erscheint, dass einige der lehrhaften Strategien und Taktiken, wie die Taktik des positi-ven Beispiels, zumeist mit weiteren Strategien und Taktiken verknüpft sind, also kaum alleine und insbesondere in Dialogen auftreten. In einem weiteren Schritt geht aus Frau Kompaneeva darum, die „sprach-liche Realisierung der lehrhaften Strategien und Taktiken in Dialogen“ nä-her zu beleuchten. Hier geht es insbesondere darum, darzulegen, wie die Rollen in lehrhaften Dialogen verteilt und besetzt sind: Zum einen findet der Dialog zwischen zwei Protagonisten statt, zum anderen zwischen dem Erzähler und seinem Publikum. Als Protagonisten fungieren neben den „klassischen“ nun auch sogenannte neue literarische Helden, Perso-nen bzw. Charaktere, die bisher in der Literatur keine Rolle spielten, nämlich Bürger, Bauern und Dienstpersonen, so dass es sowohl für die symmetrische als auch für die asymmetrische Kommunikation nicht we-nige unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten gibt, hinsichtlich des sozialen Standes, hinsichtlich familiärer Hierarchien, hinsichtlich des Al-ters usw. Dies schlägt sich dannsprachlich in unterschiedlichen Formen des Ausdrucks nieder. Die zwei Dialogarten unterscheiden sich insbeson-dere hinsichtlich des Parameters Kooperation voneinander: Während der Erzähler immer mit seinem Publikum kooperiert, es ins Vertrauen zieht und Informationen gibt, über die einzelne Charaktere nicht in dieser Weise verfügen, ist die Situation zwischen den Protagonisten deutlich di-vergenter. Als ein wesentlicher Erkenntnisgewinn der Studie erscheint mir, dass Iri-nia Kompaneeva neben den fundierten Einzelanalysen ganz klar herausar-beiten kann, dass alle untersuchten Texte, sei es der „Helmbrecht“, seien es „Mauricius von Craun“, „Der Pfaffe Amis“ und die Novellen vom Stri-

Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn

3

cker, über gemeinsame sprachliche Ausdrucksformen verfügen, die Lehr-dichtung des 13. Jahrhundert ausmachen. Die von Frau Irina V. Kompaneeva vorgelegte Studie entspricht den Er-wartungen an eine Dissertation als Grundlage für die Verleihung des Dok-torgrades voll. Inhaltlich erfüllt sie alle Anforderungen. Besonders hervor-zuheben ist die transparente und klare Vorgehensweise, so dass die Er-gebnisse auch Schlussfolgerungen über das eigentliche Thema hinaus er-lauben (s. vorausgehender Absatz). Literatur Föllinger, Sabine (2013): Charakteristika des ‚Lehrdialogs‘. In: Föllinger,

Sabine/Müller, Gernot Michael (Hg.): Der Dialog in der Antike. For-men und Funktionen einer literarischen Gattung zwischen Philoso-phie, Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung. Berlin 2013, S. 23-35.

Huber, Christoph (2001): ‚Lehrdichtung‘. B. II. Mittelalter. In: Histori-sches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5: L – Musi. Tübingen, Sp. 107-112.

Bonn, 30.11.2016

(Prof. Dr. Claudia Wich-Reif)