Lama ole nydahl die vier grunduebungen - tibet - ebooks - buddhismus

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Lama Ole Nydahl

Die vier Grundübungen

Ngöndro – die ersten Schritte im Diamantweg-Buddhismus

Joy - Verlag

Hinweise für die Aussprache Bei allen Sanskrit- und tibetischen Wörtern gilt:

c und ch = tsch; j = dsch; sh = sch.

Joy Verlag GmbH, Sulzberg

Überarbeitete Neuauflage © 2000 by Buddhistischer Dachverband Diamantweg e.V. (BDD e.V.),

Wuppertal

Bearbeitung: Catrin Hartung Umschlaggestaltung,: Kuhn Grafik und Buchdesign, Zürich

Satz: Mathias Weitbrecht Druck: Wilhelm Uhl, Buch- und Offsetdruck GmbH, Bad Grönenbach

Bindung: Franz Kraus, Kermpten

ISBN 3-928554-32-8

Scanned 2003 by David Lehmann

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Inhalt Vorwort ......................................................................................... 6

Einführung .................................................................................... 7

Die vier grundlegenden Gedanken ............................................. 14

Zufluchtnahme und Entwicklung des Erleuchtungsgeistes......... 18

Diamantgeist-Meditation............................................................. 29

Mandala-Gaben.......................................................................... 37

Geschichte der Kagyü-Linie........................................................ 48

Meditation auf den Lama ............................................................ 65

Erklärungen zu den Namen der Buddha-Aspekte ...................... 87

Erklärung wichtiger Begriffe........................................................ 89

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Der 16. Gyalwa Karmapa und Hannah und

Lama Ole Nydahl in Kopenhagen 1976.

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Vorwort Bei jeder neuen Auflage eines Buches erfolgt natürlich ein Rückblick über die vergangenen Entwicklungen. Diesmal entsteht vor allem grosse Freude darüber, dass in den letzten Jahren die Übertragung der Lehre Buddhas aus Tibet in den Westen so gut gelungen ist. Die westlichen Schüler der Karmapa- und Shamarpa-Lamas haben es weitgehend geschafft, die Mittel von kulturbedingten Einengungen zu befreien und sie einer wachsenden Zahl von kritischen, selbständigen Menschen zur Verfügung zu stellen. Dieses Buch und die darin enthaltenen Meditationen sind vor allem für diejenigen gedacht, die eingehender mit ihrem Geist arbeiten wollen. Die 100.000 Wiederholungen der Grundübungen entfernen Schleier aus unzähligen Lebenszeiten und säen neue nützliche Eindrücke in den Geist. Wer mit dieser Praxis beginnen möchte, sollte sich von einem buddhistischen Lehrer zusätzlich mündliche Erklärungen und die Übertragung dafür geben lassen. Geniesst!

Eure Tomek, Caty, Hannah und Lama Ole

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Einführung Die Grundübungen sind nicht hoch genug einzuschätzen, da sie genau mit den Dingen arbeiten, die uns täglich in Schwierigkeiten bringen und uns daran hindern, unsere Erleuchtungsnatur zu erleben und auszudrücken. Das Haupthindernis dabei ist, dass der Geist an verschiedenen Eindrücken haftet, die sich ständig verändern. Obwohl er zum Beispiel vorher nicht zornig war und es fünf Minuten später auch nicht mehr sein wird, hält der Geist seinen Zorn jetzt dennoch für wirklich, handelt danach und es entstehen für die Zukunft neue Leiden. Diese ständige Bewegung in einem unfreiwilligen Kreislauf ist unser gewohnter Zustand. Wir haben nicht die Freiheit zu wählen, was wir gerne erleben wollen. Der Buddha wünscht uns, stattdessen das zu erfahren, was seit anfangsloser Zeit in uns liegt: die offene, klare Unbegrenztheit unseres Geistes. Dieser ist offen wie der Raum, ohne Form, Farbe oder Gewicht, leuchtend klar, voller Fähigkeiten und ohne jegliche Einschränkungen, das heisst, er weiss alles und er kann alles. Sein wahres Wesen ist riesige Freude, aktives Mitgefühl und totale Unerschütterlichkeit. Damit wir dauerhaft einen Zustand erleben können, in dem keine Schwierigkeiten und kein Leid mehr auftreten, lehrte der Buddha verschiedene Mittel: Auf der äusseren Ebene erklärte er das Gesetz von Ursache und Wirkung, damit wir sicher sein können, in Zukunft statt Leid Freude zu erleben. Menschen mit mehr Kraft gab er die Belehrungen über Mitgefühl und Weisheit, und jenen, die spontanes Vertrauen in ihre Buddha-Natur hatten, offenbarte er die besonderen Mittel, die auf absoluter Ebene arbeiten und uns zeitlose Wahrheit direkt erleben lassen. Das Wichtigste ist die Erkenntnis der Leerheit aller Dinge, die Erkenntnis, dass nichts dauerhaft existiert. Alles entsteht durch bestimmte Bedingungen, ändert sich mit ihnen und löst sich wieder auf. Aber nicht nur, wie wir die Dinge erleben, sondern auch, was wir erleben, hängt von unseren Geisteszuständen ab. Die Erkenntnis der Leerheit aller Dinge kann auf eine richtige und auf eine falsche Weise erfahren werden: Falsch ist, wenn Leerheit

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als ein „Nichts" oder ein „schwarzes Loch" erscheint, während beim richtigen Verständnis ein Gefühl von Freiheit und unbegrenztem Raum entsteht.

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Um das zu erreichen, brauchen wir zwei Arten von Ansammlung: Erstens die Ansammlung von nützlichen Eindrücken im Speicherbewusstsein, von unerschütterlichen, kraftvollen Eindrücken, auf die wir immer zurückgreifen können. Da wir noch längere Zeit an vergänglichen Eindrücken haften werden, ist es besser, sie sind angenehm. Diese Ansammlung setzt sich fort, bis wir ein unerschütterliches Kapital von guten Eindrücken aufgebaut haben. Dies gibt dem Geist Vertrauen und Lust in sich selbst hineinzuschauen. Die zweite Ansammlung ist der Aufbau von Weisheit. Damit ist keine allgemeine weltliche Weisheit gemeint, wie wir sie zum Beispiel in der Schule oder auf der Universität vermittelt bekommen. Es geht hier nicht darum, mehr Wissen in den Geist hineinzugeben, sondern ihn mühelos und spontan werden zu lassen, den ersten Augenblick des Erlebens — noch bevor wir anfangen, die Eindrücke in Systeme von Mögen und Nichtmögen aufzuteilen - unendlich auszudehnen und dadurch alles frisch und direkt zu erleben. Dies macht uns fähig mühelos zu handeln. Der Aufbau guter Eindrücke vermehrt spontane Einsicht und wir erkennen den Sinn nützlichen Handelns. Innerer Reichtum, das Vermögen, die Dinge klar und ohne Filter zu sehen sowie die Fähigkeit, in dem zu ruhen, was da ist, greifen ineinander. Genau dies alles bekommen wir durch die Vier Grundübungen. Der neunte Karmapa Wangchug Dorje lehrte diesen stufenweisen Weg, dessen Ergebnis das Grosse Siegel (Mahamudra), die höchste Erleuchtung ist. „Chag Chen Ngöndro", der tibetische Name dieser Übungen, bedeutet „Vorbereitender Weg zur Mahamudra-Praxis", in der Erleuchtung die Grundlage, die Weg und das Ziel ist. Wir lassen einen Aspekt der Erleuchtung als Form aus Licht und Energie im Geist entstehen, konzentrieren uns auf ihn, sagen sein Mantra und verschmelzen schliesslich zu einer Einheit mit ihm. Durch diese Formen aus Energie und Licht geschieht schon alles in einem Reinen Land. So kann sich unsere

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spontane Weisheit mehr und mehr entfalten. Durch die Grundübungen entwickeln sich Stufen von Einsicht, die zur absoluten Weisheit des Grossen Siegels führen, der Erkenntnis der Natur aller Dinge, innen und aussen.

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Sinn der ersten Übung, der Zufluchtnahme mit Verbeugungen und dem Entwickeln des Erleuchtungsgeistes, ist es, unsere inneren Energiebahnen zu reinigen sowie Kraft und Vertrauen aufzubauen. Sie ist eine sehr wirkungsvolle körperliche Übung und vermehrt vor allem die erste Art der Ansammlung. Durch die zweite Übung, die Diamantgeist-Meditation, baut man nicht nur viel Verdienst auf, sondern entwickelt ständig mehr Weisheit. Auf relativer Ebene ist der Geist zwar noch weiterhin von schädlichen Eindrücken zu reinigen, aber die Momente der Verschmelzung, die Erlebnisse und Erfahrungen, die sich auch in Träumen ausdrücken, sind wirklicher Weisheit schon wesentlich näher. Das Leben berührt einen noch immer sehr persönlich, aber die Augenblicke von Klarheit im Geist werden stärker. Mit dem dritten Teil der Grundübungen, den Mandala-Gaben, bauen wir Weisheit und positive Handlungen gleichermassen auf. Wir lassen die Mandalas zunächst entstehen, lösen sie dann wieder auf und schenken dabei den Buddhas alles Schöne aus unzähligen Universen. Wir erkennen, dass die Buddhas, denen wir etwas widmen, und unser eigenes inneres Wesen eins sind. Die Verschmelzungsphase ist länger und die Einheit zwischen uns, die wir geben, den Mandalas, die gegeben werden, und den Buddhas, denen gegeben wird, tritt deutlich hervor. Die letzte Übung, die Meditation auf den Lama, dient vor allem dem Aufbau von Weisheit. Es ist eine Meditation auf unseren Lehrer Karmapa. Ihr Kern ist die l6. Karmapa Meditation, der einige Anrufungen und kostbare Grosse Siegel Erklärungen vorausgehen. Auf der Grundlage der Reinigung durch die beiden ersten Übungen und des inneren Reichtums aus den Mandala-Gaben wird in der letzten Übung die zeitlose Verschmelzung von Körper, Rede und Geist unseres Lehrers, des Karmapa, mit uns selbst

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möglich. Unsere Hingabe für ihn öffnet uns, wir empfangen seinen Segen und erleben höchste Weisheit.

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Wir können diese Ansammlung von nützlichen Eindrücken durch die gesamte Praxis hindurch verfolgen. Zu Beginn liegt der Schwerpunkt auf Reinigung, Öffnung und nützlichen Handlungen. Später dann gewinnt die Einswerdung mit dem Buddha-Geist mehr und mehr an Bedeutung. Vertrauen wir unserer Buddha-Natur, ist es möglich, diesen inneren Diamanten durch die verschiedenen Praktiken vollkommen zu reinigen. Für diejenigen, die bisher nicht mit diesen Übungen gearbeitet haben und zum ersten Mal davon hören, mag dies alles ein wenig mechanisch klingen, aber das beste Mittel, um die Buddha-Natur immer mehr zu befreien, ist die Praxis der Wiederholungen. Sogar die klügsten Gedanken, die uns jetzt sehr nützlich vorkommen, sind wie Luftblasen: Sie zerplatzen, wenn wir sterben. Nur das, was zur festen Gewohnheit im Geist geworden ist, was unsere Ganzheit berührt, ist nicht allein im Leben eine wirkliche Hilfe. Während des Sterbens werden die verschiedenen Erleuchtungsenergien wach, wir begegnen Buddhas, Yidams und Schützern, erkennen sie wieder und verschmelzen mit ihnen. So, wie unsere Störungen durch die Wiederholungen leidbringender Gewohnheiten und Einstellungen entstehen, so ist die Wiederholung befreiender Übungen das Gegenmittel. Durch sie werden die Schleier, die das Erleben der Natur unseres Geistes verhindern, beseitigt, und Unerschütterlichkeit und Kraft kommen zum Vorschein. Die Mahamudra-Vorbereitungen sind der erste Schritt auf diesem Weg zur Erleuchtung. Die viermal 111.111 Wiederholungen zielen direkt auf das wahre Wesen unseres Geistes ab und durchschneiden alle Illusionen. Wenn wir, intellektuell sehr geschult, anfangen wollen zu meditieren, merken wir, dass unser Körper zwar an einer Stelle sitzt, unser Geist aber umherwandert oder dumpf wird. Blosses Sitzen allein ist keine Meditation. Deswegen wurden die beruhigenden Meditationen — Shine oder Shamata genannt — im ursprünglichen tibetischen Diamantweg-Buddhismus erst nach

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den Vier Grundübungen und nur in Ausnahmefällen auch gleichzeitig praktiziert.

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Im Diamantweg setzen wir unsere Ganzheit ein, das heisst Körper, Rede und Geist, und nicht nur unsere Vorstellungen. Schweift der Geist ab, bleibt die Rede beim Mantra, und wenn auch hier die Konzentration nachlässt, hält wenigstens der Körper die Eindrücke der Praxis fest. Die Verbeugungen sind das Erste dieser ganzheitlichen Mittel. Hier nehmen wir Zuflucht. Es ist sehr wichtig zu sehen, dass wir während unseres ganzen bisherigen Lebens Zuflucht genommen haben, aber nur zu vergänglichen Dingen. Nehmen wir zu Geld, Erfolg, Jugend, Schönheit oder anderem Zuflucht, stehen wir eines Tages mit verbrauchtem Kapital und ohne Zinsen da. Nehmen wir aber Zuflucht zum zeitlosen Wesen unseres Geistes, dann haben wir etwas, das niemals vergehen kann, unendlich reich ist und sich immer neu gestaltet. Alle vier Übungen wurden vor 2500 Jahren von Buddha selbst gelehrt. Wir finden sie als gesammeltes Werk erstmals ungefähr fünfhundert Jahre später an der Universität von Nalanda. Als die Hochkultur des Buddhismus in Indien mitsamt ihren Klöstern und Meditationsstellen durch die Invasion der Moslems zwischen 800 und 1000 n. Chr. zerstört wurde, flohen diejenigen, die besondere tantrisch-buddhistische Praktiken kannten, über die Berge nach Tibet. Durch Handel und andere Kontakte nach Norden und Süden war dort bereits Einiges geschehen. Teilweise hatte der Schamanismus der alten Bon-Religion den Erleuchtungs-gedanken schon aufgenommen, aber erst der berühmte Guru Rinpoche brachte um 740 die gesamte Lehre nach Tibet und Yeshe Tsogyal, seine Hauptgefährtin, bewahrte die Belehrungen. Später zerstörte jedoch der König Langdarma fast alles; er setzte die alte schamanistische Bon-Religion wieder ein, die in hohem Masse ihre Kraft aus Tieropfern bezog. Ausser den Termas, den „verborgenen Schätzen", blieb von der „alten" Überlieferung der Lehren kaum etwas erhalten.

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Die Erneuerung des Buddhismus geschah durch Marpa, den Übersetzer. Zwischen 950 und 1000 reiste er dreimal nach Indien. Er verbrachte insgesamt ungefähr sechzehn Jahre dort und nahm die wichtigsten tantrischen Belehrungen nach Tibet mit. Seitdem sind die Verbeugungen ein untrennbarer Bestandteil tibetisch-buddhistischer Kultur. Es gibt Tibeter, die die Vier Grundübungen bis zu fünfundzwanzig Mal gemacht haben. Durch das Erleben unzerstörbarer Erfahrungen strahlen sie eine besondere Kraft aus, die nichts zu beweisen braucht. Sie sind unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Kalu Rinpoche nennt ein Beispiel, warum es vorteilhaft ist, die Mahamudra-Vorbereitungen öfter zu wiederholen: Ein Strumpf wird auch nicht sauber, wenn man ihn nur einmal ins Wasser taucht.

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Ich denke, dass wir im Westen einen Grossteil der Einsgerichtetheit, die durch diese Übungen entsteht, schon durch den Leistungsdruck in Schule und Universität entwickelt haben. Wir besitzen eine bessere Konzentrationsfähigkeit als geistig Ungeübte und sind gegen die meisten Verlockungen geimpft, für die Menschen im Osten heute besonders anfällig sind. Deshalb brauchen die meisten von uns sicherlich keine fünfundzwanzig Wiederholungen, aber einmal ist unerlässlich. Während der Grundübungen erkennen wir immer mehr die Grosse der Zuflucht. Öffnen wir uns für den Segen des Lehrers, können wir mit unserem Geist arbeiten und sogar ein gutes Stück unseres Weges zur Erleuchtung „per Anhalter" zurücklegen. Dies ist ein besonderes Merkmal der Karma Kagyü Linie. Aufrechterhalten können wir diese Kraft jedoch nur durch unsere eigene Praxis. Durch sie ändert sich unsere ganze Erlebniswelt. Weil die Übungen weder leicht noch schnell abzuschliessen sind, kann der Wunsch entstehen, direkt auf den Geist zu meditieren. Auch wenn es modern sein mag, das zu lehren: Ohne ausreichende Reinigung geht es nicht. Schauen wir während einer Stunde Meditation einmal nach, wie lange der Erleber tatsächlich Klarheit und Freude erfährt, stellen wir fest, dass es höchstens einige Minuten sind. Die meiste Zeit folgt er Gedanken und Gefühlen oder befindet sich in Vergangenheit oder Zukunft.

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Am Anfang reicht es nicht, einfach nur zu „sitzen". Das Ziel unserer Praxis ist nicht ein „Samadhi der weissen Wand", bei dem wir äusserlich zwar meditieren, innerlich aber schlafen. Es geht nicht darum, Gedanken zu töten oder den Geist einzufrieren; schliesslich wollen wir unseren innewohnenden Reichtum an Furchtlosigkeit, Freude und Mitgefühl entdecken. Laut Kalu Rinpoche vermindert diese Art der blossen „Beruhigung" unsere Intelligenz und kann sogar zu einer Wiedergeburt als grosser Fisch führen.

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Die Praxis der Grundübungen führt nicht zu Schläfrigkeit, sondern macht unseren Geist zu einem Diamanten, der strahlt und leuchtet. Der erlangte Zustand des klaren Bewusstseins ist die volle Entfaltung all unserer Möglichkeiten, und die Vorbereitung dazu ist die Reinigung von Körper, Rede und Geist.

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Die vier grundlegenden Gedanken

Um uns für die Praxis zu motivieren, beginnen wir mit den Vier Grundlegenden Gedanken, die den Geist auf Buddhas Lehre (Dharma) richten: Erstens machen wir uns bewusst, dass wir in diesem Leben die kostbare Möglichkeit haben, mit unserem Geist zu arbeiten, um Erleuchtung zu erlangen. Sehr wenige Wesen haben das Karma, direkt mit befreienden Belehrungen in Verbindung zu kommen. Je oberflächlicher die Lehren und je mehr sie auf den Zeitgeist zugeschnitten sind, desto mehr Zulauf haben sie. Je höher aber die Belehrungen sind, je mehr sie nicht nur Worte und Begriffe, sondern auch die Zustände in uns tiefgreifend verändern, desto weniger Menschen interessieren sich dafür. „Es gibt viel Eisen, aber wenig Gold" sagen die Tibeter und erklären das traditionellerweise so: Achtzehn Bedingungen müssen zusammentreffen, damit man einen so genannten Kostbaren Menschenkörper erhält, d. h. die Möglichkeit, bewusst den Weg zur Erleuchtung zum Besten Aller gehen zu können. Acht Ursachen halten uns von Buddhas Lehre ab, und zwar eine Wiedergeburt:

in den Höllenwelten (extreme Paranoiazustände, die wie alle bedingten Erfahrungen vergänglich sind),

in den Geisterwelten (Zustände extremer Anhaftung und Gier),

in den Tierwelten (Zustände von Faulheit und Verwirrung), in den Götterwelten (Zustände, in denen es kein geistiges

Streben gibt), in Ländern ohne Buddhismus mit falschen Ansichten, in dunklen Zeitaltern, in denen kein Buddha erscheint und mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, die einem

das Verstehen und Üben der Lehre unmöglich machen.

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Hat man einen Menschenkörper ohne diese acht Hindernisse erlangt, sind weitere zehn Bedingungen nötig. Fünf davon sind äussere Bedingungen:

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trotz aller Schwierigkeiten liess sich ein Buddha in unserem Zeitalter gebären,

er gab Belehrungen der Buddhismus wird weiterhin gelehrt, er hat viele Anhänger, und grosszügige Menschen unterstützen die Lehre Buddhas

und diejenigen auf dem Weg. Die letzten fünf Bedingungen schaffen wir durch unser eigenes Karma. Wir brauchen:

einen Körper, der frei von den vorhin erwähnten acht ungünstigen Umständen ist,

eine Geburt in einem Land, in dem der Buddhismus gelehrt wird,

Körper und Geist, die fähig sind, die Mittel voll zu nutzen, Freiheit von Einflüssen, die zu falschen Ansichten verleiten

und tiefes Vertrauen zu Buddha, der Lehre und den Freunden

auf dem Weg (den Bodhisattvas). Erst wenn diese achtzehn Bedingungen zusammenkommen, können wir uns entwickeln. Zweitens denken wir über die Vergänglichkeit aller Dinge nach. Wir wurden geboren und sterben irgendwann; dies ist sicher. Doch den Zeitpunkt des Todes kennen wir nicht; wir erleben nur, wie die Zeit verrinnt. Erkennen wir, dass das Einzige, was bleibt, was nicht stirbt und wieder vergeht, der offene, klare, unbegrenzte Raum unseres Erlebers ist, dann verstehen wir wirklich, dass dieses kostbare Leben jetzt genutzt werden muss, und dass es sinnlos ist, an vergänglichen Dingen zu haften.

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Drittens denken wir über Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung, nach. Was wir heute tun, denken und sagen, wird zu unserer Zukunft. Wir können nicht frei wählen: Obwohl die Eindrücke im Geist sich ständig ändern, reissen sie uns dennoch mit. Wir sehen also, wie ichbezogen unsere Wahrnehmung ist. Geht es uns gut, ist die Welt schön, und alles hat Sinn; sind wir aber sauer oder fühlen wir uns schlecht, erscheint alles grau und hässlich. Dabei verändert sich jedoch nicht die Welt, sondern die Einstellung unseres Geistes. Die Erfahrung, dass es tatsächlich Mittel gibt, durch die wir bestimmen können, was geschieht, gibt uns immer mehr Raum im Geist. Die Schleier, Erwartungen und das heranreifende Karma der einzelnen Wesen führen zu unterschiedlichen Erlebnisweisen. Erst auf den höchsten Stufen der Verwirklichung hören wir auf, die Welt durch gefärbte Brillen zu sehen.

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Viertens denken wir darüber nach, warum wir mit dem Geist arbeiten. Dieses „Warum" betrachten wir am besten von zwei Seiten: Wenn wir das wohlgenährte Gewohnheitspferd unseres Geistes antreiben wollen, hilft ab und zu die Karotte vor der Nase und ab und zu die Peitsche im Rücken. Die Karotte für unseren Geist ist das Wissen, dass Erleuchtung besser ist als alle Zustände, die wir bisher kennen, dass sie nicht bedingt ist und, einmal erreicht, nie mehr aufhört. All die Wesen, die den Geist erleben, wie er ist, jenseits von allen Vorstellungen und Verwirrungen, erzählen, dass Erleuchtung höchste Freude ist. Auch wenn wir selbst die Erleuchtung jetzt noch nicht erleben, vertrauen wir ihnen in der Weise, wie wir jemandem, der in Australien war und uns von Kängurus erzählt, glauben, ohne sie selbst je gesehen zu haben. Werden wir aber schläfrig oder faul, ist die Peitsche nützlicher. Sie ist die Einsicht, die uns zeigt, was geschieht, wenn wir die Natur des Geistes nicht erkennen. Wir sind dann Krankheit, Alter, Tod, Verlust und Leiden hilflos ausgeliefert.

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Karotte und Peitsche versinnbildlichen die vierte Überlegung: Erleuchtung ist zeitlose höchste Freude; wird sie nicht erreicht, bleiben wir dem Leiden weiterhin ausgeliefert. Es gibt drei Arten von Leid:

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Das Leiden am Leid. Viel Leidvolles kommt zusammen, und wir werden davon neurotisch.

Das Leiden der Veränderung. Es ist eine feinere Form und entsteht durch die Vergänglichkeit aller Dinge. Man glaubt, etwas zu gewinnen, verliert aber ständig.

Das allesdurchdringende Leiden. Wir sind trotz aller Bemühungen nicht in der Lage zu erkennen, dass alles Bedingte zusammengesetzt ist. Dadurch haben wir wenig Einfluss auf unser Leben. Man denkt, man ist glücklich, aber im Vergleich zum Buddhazustand ist selbst das grösste Glück Leid. Nun beginnen wir mit der Praxis des Diamantweges, durch die jenseits aller Sentimentalität und Künstlichkeit alles auf eine Ebene höchster Reinheit und Freude gebracht wird. Dies wird dargestellt durch den Zufluchtsbaum, Diamantgeist, jene, denen das Mandala geopfert wird und vor allem durch Karmapas Schwarze Krone. Durch ständiges Verschmelzen mit diesen Aspekten verschwindet die Gewohnheit, zwischen innerer und äusserer Wahrheit zu unterscheiden. Obwohl der Geist ohne Form, Farbe, Gewicht oder Geruch ist und sich von nirgendwoher betrachten kann, ist es dennoch möglich, seine vollkommenen Eigenschaften als die verschiedenen Buddhas zu erleben. Dann brauchen wir nur noch natürlich zu sein. Wenn endgültig klar wird, dass alle Wesen Glück erleben und Leid vermeiden wollen, arbeiten wir für sie, so gut wir können.

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Zufluchtnahme und Entwicklung des Erleuchtungsgeistes

Das Mittel, das vor allem auf den Körper wirkt, sind die Verbeugungen. Der Geist konzentriert sich hier auf die Zuflucht: auf den Lama, der alles in sich vereint, den Buddha, die Lehre, die Freunde auf dem Weg (die Bodhisattvas), die Yidams und die Schützer. Wir stellen uns auf ein Bild von der Zuflucht ein, und dadurch entstehen starke Rückkopplungserlebnisse. Die Rede wiederholt die sechs Zeilen der Zuflucht, und der Körper macht die Verbeugungen, wodurch die drei Zentren geöffnet werden: Um uns auf körperlicher Ebene zu öffnen, berühren wir mit gefalteten Händen den Kopf, da dort Gehirn, Nerven und Sinne sitzen. Wir berühren Mund und Kehle, weil von dort Rede und Kommunikation ausgehen, und schliesslich berühren wir das Herz als das Zentrum für den Geist, weil Gefühle und innere Zustände dort erlebt werden. Wir öffnen so die drei Zentren und gleiten dann in voller Länge über den Boden nach vorn, während wir gleichzeitig die Zeilen der Zuflucht sprechen. Wenn die Arme ausgestreckt sind, lassen wir die Hände sich leicht berühren. In unserer Überlieferung werden die Verbeugungen gezählt, nicht die Anzahl der Zufluchtsformeln. Während wir die Verbeugungen machen, konzentrieren wir uns entweder bei jeder Verbeugung auf einen Aspekt der Zuflucht und sagen die entsprechende Zeile; oder wir stellen uns alle Aspekte der Zuflucht gleichzeitig vor und sprechen die Zufluchtsformel unabhängig von den Verbeugungen.

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Der Zufluchtsbaum

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Durch die ständigen Wiederholungen geschehen sehr wichtige Prozesse in uns. Einerseits entsteht viel Hingabe und ein Gefühl von Geborgenheit und Nachhausekommen und wir verstehen, dass es die eigene Erleuchtungsnatur ist, vor der wir uns verbeugen. Andererseits werden auf Körperebene die Energiebahnen gereinigt und Blockaden beseitigt. Vor allem die Drogenexperimente, bei denen mit Energien gespielt wird, hinterlassen schwere Hindernisse. Es entstehen spiritueller Stolz und verkehrte Anschauungen. Reinigen wir unseren Geist von vielen Eindrücken, entstehen natürlich vorübergehende Schwierigkeiten: Der Körper schmerzt, störende Gefühle und Zweifel tauchen auf, aber es sind alte Erlebnisse, die dabei sind, ihre Kraft zu verlieren. Wenn wir die Verbeugungen beendet haben, ist der Körper weniger ein Hindernis, mit dem wir uns ständig befassen müssen; vielmehr ist er nun ein angenehmes Werkzeug und ein nützlicher Diener des Geistes geworden. Er macht weniger Ärger und bringt mehr Freude. Wellen von Segen und Wärme und Zustände von innerem Reichtum werden erlebt und wir werden einfach dankbar.

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Es gibt dann noch ein unmögliches „Tier", mit dem wir es leicht zu tun bekommen: Es ist süss auf beiden Seiten, schwammig in der Mitte und unerträglich. Es heisst „spiritueller Stolz". Das dicke süsse Ego vereinnahmt alles für den Eigengebrauch. Es nimmt hier zwei Worte, die sich gut anhören, und dort zwei kleine Erlebnisse und mischt alles, wie es ihm gefällt; es stellt sich niemals einer Sache und ist nicht bereit, objektiv zu lernen. Auch dagegen sind Verbeugungen ein effektives Mittel. Zuerst glaubt das Ego noch an eine Ausdehnung seines „Gebietes" und denkt: „Früher war ich klug und freundlich, jetzt bin ich auch noch spirituell." Aber die Verbeugungen unterwandern diese Einstellung und lassen, wenn wir ausdauernd sind, Hingabe und Offenheit entstehen. Sie sind natürliche Ergebnisse und lassen nicht-bedingte Zustände von Zuversicht, Freude und Liebe im Geist entstehen. Durch diese Erfahrungen vertieft sich unser Vertrauen in die Lehre Buddhas. Höchste Verwirklichung können wir jedoch nur erwarten, wenn wir zum Wohle aller Wesen Erleuchtung erlangen

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wollen. Nur so bekommt alles im Leben Sinn und wir werden unterstützt durch die Wünsche aller Wesen.

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In Tibet machen sogar alte Damen die Verbeugungen, und wer meint, sie aus körperlichen Gründen nicht machen zu können, sollte wenigstens einige versuchen. Nur wenn es der Körper wirklich nicht zulässt, beginnt man nach der vorbereitenden kleinen Zuflucht (10.000 Wiederholungen) sofort mit Diamantgeist. Nachdem wir uns die Vier Grundlegenden Gedanken bewusst gemacht haben, fängt man mit der Meditation an: Wir stehen auf einer schönen Wiese. Unser Vater ist rechts von uns, unsere Mutter links, so, wie wir uns an sie erinnern. Vor uns sind die, mit denen wir Schwierigkeiten haben und um uns herum alle Wesen, die wir kennen oder uns vorstellen können, unzählig viele und von jeder Art. Alle schauen in dieselbe Richtung wie wir und wünschen mit uns ganz stark, einen Zustand jenseits von Leid und Verwirrung zu erreichen. Vor uns ist ein schöner, strahlender, klarer See. Sein Wasser ist kühl und angenehm, rein und wohlschmeckend. In seiner Mitte steht ein wunscherfüllender Baum, ein vibrierendes Feld von Energie, Licht und Schönheit. Dort, wo sich der goldene Stamm in vier silberne Äste teilt, sitzt unser Lama Karmapa. Er ist unser direkter Kontakt mit der Erleuchtung. Er zeigt sich entweder in seiner menschlichen Form mit der Schwarzen Krone oder als Diamanthalter, ein sitzender Buddha aus blauem Licht. In seinen am Herzen gekreuzten Händen hält er Dorje und Glocke. Können wir Karmapas menschliche Form als „rein" sehen, so ist es nur ein kleiner Sprung dorthin, wo alles rein ist, und alle Erleuchtungseigenschaften werden ganz natürlich in uns entstehen. Erleben wir ihn aber als normalen Menschen, als jemanden, der zu dick oder zu dünn ist, konzentrieren wir uns besser auf Diamanthalter. Hier sind wir etwas weiter weg vom grenzenlosen Erlebnis der „Reinheit". Wichtig ist, zu verstehen, dass Diamanthalter Karmapas Geist und Karmapa sein Körper ist. „Auf den Lehrer zu meditieren, ist wie auf hunderttausend Buddhas zu meditieren", sagte Naropa vor 1000 Jahren. In allen

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gutgehenden Kagyü-Zentren ist die Identifikation mit Karmapa die Hauptpraxis. Karmapa ist der König der Yogis in Tibet, der erste bewusst wiedergeborene Lama und Leiter der wichtigsten Kagyü-Schulen. Er hält die gesamte Übertragung und den ununterbrochenen Erleuchtungsstrom aller Buddhas.

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Um ihn herum befinden sich die Lamas der Linie; sie umfasst die grossen Meister Indiens und Tibets bis zum heutigen Tag. Die verschiedenen Inkarnationen Karmapas füllen das mittlere Feld, zusammen mit all jenen, die seit 1193 zwischen den Karmapas die Überlieferung gehalten haben. Ganz oben, in der Spitze des Baumes, ist nochmals Diamanthalter, die zeitlose Erleuchtung selbst. Buddha Shakyamuni zeigt sich hier in seiner tantrischen Form als Diamanthalter, Ursprung der Kagyü Übertragungslinie. Sein Schmuck drückt die grosse Freude der Erleuchtung aus. Die Glocke in seiner Hand steht für den weiblichen Aspekt, Buddhas Rede und Körper, den Raum und dessen intuitive Weisheit, während der Dorje die männliche Seite zeigt, Freude und Mitgefühl, geschickte Mittel und den Buddha-Geist. Unterhalb von Diamanthalter können zwei verschiedene Übertragungslinien dargestellt sein: Entweder wird die Überlieferung der „Sechs Lehren" gezeigt, dann erscheinen Tilopa, Naropa, Marpa, Milarepa, Gampopa und der erste Karmapa, Düsum Khyenpa. Bei der Praxis der Verbeugungen jedoch nehmen wir Zuflucht zur Mahamudra-Übertragungslinie. Sie beginnt mit den indischen Mahasiddhas Ratnamati, Saraha, Nagarjuna, Shavaripa und Maitripa und setzt sich über Marpa fort, der sowohl die „Sechs Lehren" als auch die Belehrungen zum Grossen Siegel von Indien nach Tibet brachte. Auf ihn folgen wieder Milarepa, Gampopa und der erste Karmapa. Von allen Lamas der Linie strahlt Segen auf uns, öffnet uns, beseitigt Hindernisse und Zweifel und gibt uns Vertrauen und Geborgenheit.

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Verbeugungen Für unsere Entwicklung gibt uns die Zuflucht nicht nur Segen, sondern auch direkte Inspiration. Diese zeigt sich im Zufluchtsbaum als die Formen der Yidams, die sich auf dem Ast befinden, der zu uns zeigt. „Yi" bedeutet Geist und „dam" Band. Es sind Manifestationen verschiedener Erleuchtungszustände, mit denen unser Geist eine direkte Verbindung hat. Sie zeigen uns all unsere störenden Gefühle, sei es Hass, Begierde oder Verwirrung, auf einer erleuchteten Ebene. In unseren Meditationen verschmelzen wir mit den Yidams und werden auf

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ihre reine Erlebnisebene gehoben. Unsere alten, an alltägliche Körper- und Sinneserfahrungen gebundenen Gewohnheiten verschwinden immer mehr und der „Abfall" unserer störenden Gefühle wird zum Nährboden der Erleuchtung.

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Die Hauptyidams der Kagyü Linie sind Höchste Freude in Vereinigung, Diamantsau, Weisse Befreierin und Mächtiger Ozean in Vereinigung. Der erste ist in stehender Vereinigung mit Diamantsau. Er trägt ein Tigerfell um die Hüfte, ein Elefantenfell liegt über der Schulter, schaut halb zornvoll und drückt die strahlende überpersönliche Freude des Raumes aus. Die rote, weibliche, tanzende Form von Diamantsau zeigt die Offenheit, Durchsichtigkeit und spielerischen Eigenschaften des Geistes. Die Vereinigung der beiden drückt die Untrennbarkeit von Raum und Freude aus. Der Ast, der von uns aus gesehen nach links zeigt, trägt die Buddhas. Sie erscheinen auf verschiedenen Abbildungen in unterschiedlicher Anzahl. Zehn Buddhas stehen für die Buddhas der zehn Richtungen: Das sind die vier Himmelsrichtungen, die vier Zwischenrichtungen sowie oben und unten. Drei Buddhas symbolisieren die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und werden mit schützender, lehrender und erdberührender Geste dargestellt. Manchmal ist nur ein einziger Buddha abgebildet, der dann die Buddha-Essenz, der leuchtende, klare, unbegrenzte Zustand höchster Freude ist. Hinter dem Zufluchtsbaum zeigt ein Ast von uns weg, auf dem sich die Belehrungen befinden. Sie führen uns zur Erleuchtung und erscheinen entweder in Form des Kangyur, der die mündlichen Belehrungen des Buddha enthält, oder in Form von drei Büchern, die die Lehren des Kleinen Weges, des Grossen Weges und des Diamantweges enthalten. Erscheint nur ein Buch, so enthält es die Essenz aller Belehrungen. Wir können uns auch eine schöne, gelbe, weibliche Buddha-Form vorstellen, Befreiende Höchste Weisheit. Sie hält die zwei mittleren Hände in Meditationsstellung, in der äusseren rechten Hand hält sie einen Diamant und in der äusseren linken das Buch der Weisheit.

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Der Ast, welcher von uns aus gesehen nach rechts zeigt, trägt die Sangha, die Freunde auf dem Weg. Er besteht aus den Bodhisattvas, den Buddha-Energien, die auf Grund ihrer Wünsche als Ausstrahlungen wiedergeboren werden, um den Wesen zu helfen. Sie sind unsere Begleiter auf dem Weg. Buddhas und Bodhisattvas einstufen zu wollen, hat nicht viel Sinn. Sie sind erleuchtete Energien, die sich in unterschiedlicher Weise zeigen. Stehen sie für das Ziel — den erleuchteten Geisteszustand —, sind sie Buddhas, begleiten sie uns auf dem Weg, sind sie Bodhisattvas.

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Der erste Bodhisattva ist Liebevolle Augen, die gesamte Liebe und das grosse Mitgefühl aller Buddhas. Er erscheint in seiner zweiarmigen Form, mit Einweihungsvase und Lotosblüte,. Neben ihm ist Weisheitsbuddha, die höchste verstandesmässige Weisheit der Buddhas. Er ist orange, hält in der rechten Hand ein doppelschneidiges Schwert, mit dem er alle Unwissenheit durchtrennt, und in der linken eine Lotosblüte, auf der ein Buch liegt, das alle Weisheit enthält. Der dritte Bodhisattva ist Diamant-in-der-Hand. Er erscheint meist in seiner tiefblauen, kraftvollen Form mit Dorje und Kraft-Mudra. Er trägt den Juwelenschmuck und zeigt die Energie der Erleuchtung. Ab und zu sehen wir ihn auch in seiner friedvollen Form von hellblauer Farbe mit Dorje und Glocke. Neben diesen drei Formen werden auch oft fünf weitere Mahabodhisattvas dargestellt, aber es genügtsich nur Liebevolle Augen vorzustellen. Diese Erleuchtungsenergien zeigen sich aber auch in den Aktivitäten unserer Freunde, die die Zentren aufbauen. Sie haben Vertrauen, entwickeln ihren Geist zum Besten anderer und geben uns die Möglichkeit für Entwicklung. Sie sind die buddhistische Gruppe und unsere unmittelbare Zuflucht. Unterhalb der Stelle, an der sich der goldene Stamm in vier silberne Äste teilt, bilden die Schützer ein vibrierendes, schwarzblaues, leuchtendes Kraftfeld. Hier lodern Flammen auf, die Laute „Hung" und „Djo" erschallen, und Hauzähne blitzen; Kraft und Schutzfähigkeit kommen in grossen Wellen auf uns zu. Die Schützer sind Buddhas, die sich zorn- und kraftvoll

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ausdrücken, um Hindernisse und Leiden von uns fernzuhalten. Sie haben alle ein Weisheitsauge auf der Stirn, was sie von Dämonen und schädlichen Energien unterscheidet. Der Hauptschützer unserer Linie ist der zweiarmige Schwarze Mantel. Seine Energie ist so stark, dass man sie nicht direkt benennen kann, sondern mit ihren Attributen umschreibt. Sein Kopf nimmt ein Drittel seiner gesamten Grösse ein. Seine Augen sind blutunterlaufen, sein Mund ist aufgerissen und wir sehen seine grossen Hauzähne. Seine Arme sind mächtig, er trägt Knochenornamente und in seiner rechten Hand hält er ein Haumesser, mit dem er alles Hinderliche und Kleinliche abschneidet. Seine linke Hand hält die Schädelschale mit dem Lebensblut des Ego. Mit seinen kraftvollen Beinen zertritt er die Formen von Anhaftung und Widerwillen. Die Sonnenscheibe unter ihm bedeutet höchste erweckte Weisheit und die Flammen um ihn zeigen die Intensität seines Mitgefühls. Er erscheint alleine oder auf einem Maultier sitzend, in Vereinigung mit Strahlende Göttin. Mit ihm ist ein Gefolge anderer Schützer, wie der vierarmige und der sechsarmige Grosse Schwarze, Bester Diamant, Schützer der Reinen Länder und andere, die Körper und Rede schützen.

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Zu diesem Kraftfeld aus Licht und Energie der Erleuchtung nehmen wir Zuflucht, öffnen uns mit Körper, Rede und Geist und verbeugen uns. Stellen wir uns dabei uns selbst in hundert- oder tausendfacher Form vor, verstärken wir den Eindruck in unserem Geist noch. Das ständige Sich-Öffnen für die Erleuchtung legt ein festes Fundament für unsere künftige Praxis. Leicht sind die Verbeugungen nicht und das Ego findet viele Gründe dafür, sie gerade jetzt nicht zu machen. Das einzig effektive Mittel dagegen ist die Macht der Gewohnheit. Nach den Verbeugungen setzen wir uns in den Meditationssitz. Vor der gesamten Zuflucht nehmen wir uns fest vor, zum Besten aller Wesen schnell erleuchtet zu werden. Danach gehen wir den weiteren Text durch. Wir sind jetzt Buddhas Söhne und Töchter geworden und versprechen, den guten Stil der Familie zu wahren. Die darauffolgenden, abschliessenden Wünsche erwecken in vollkommener Weise den Erleuchtungsgeist. Die so genannten

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„Vier Unermesslichen" entwickeln grenzenlose Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut für alle Wesen.

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Gleichmut ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit, die auf einem falschen Verständnis des Geistes beruht: Besonders im Westen sehen wir den Geist bestenfalls als etwas Neutrales, oft jedoch als etwas gefährlich Unvollkommenes. Mit dieser Einstellung werden wir gleichgültig oder erwarten ständig etwas Unangenehmes. Deshalb müssen wir umdenken und verstehen, dass der Geist Liebe und Offenheit ist, dass er in vollkommener Weise alle Wesen umfasst. Mit dem letzten Satz des Textes löst sich der Zufluchtsbaum in Licht auf und verschmilzt mit uns und allen Wesen, ebenso wie Wasser in Wasser fliesst und untrennbar eins wird. Es gibt zwei verschiedene Arten der Auflösung. Entweder löst sich der Zufluchtsbaum vom äusseren Rand bis zur Mitte hin in Licht auf, welches mit Karmapa als Diamanthalter verschmilzt. Dann löst er sich in Licht auf und verschmilzt mit uns. Oder aber der Zufluchtsbaum löst sich in umgekehrter Reihenfolge als beim Aufbau auf, das heisst die Schützer in die Bodhisattvas, diese in die Bücher, diese wiederum in die Buddhas, die Buddhas in die Yidams und diese schliesslich in die Lamas. Die gesamte Linie verschmilzt dann mit Karmapa, der schliesslich als Regenbogenlicht in unser Herz kommt. In diesem Zustand verweilen wir für einige Zeit. Wir ruhen im Geist und sind selbst zur Zuflucht geworden; unser Geist ist grenzenlos und jenseits von Hoffnung und Furcht. Diese letzte Stufe macht noch einmal deutlich, dass die Verbeugungen mehr als reine Gymnastik sind.. Das Verschmelzen der Aspekte der Zuflucht mit uns macht sie zu einem Weg ins Grosse Siegel. Dadurch verstehen wir allmählich, dass die letztendliche Zuflucht das wahre Wesen unseres Geistes ist. Dann widmen wir die guten Eindrücke, die durch die Praxis entstanden sind, allen Wesen, damit sie frei von Leiden werden und das Glück erleben, das niemals mehr vergehen kann, das Glück von der Erkenntnis der Natur des eigenen Geistes.

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Gehen wir dann unseren alltäglichen Dingen nach, versuchen wir, das Gefühl von uns selbst als Zuflucht aufrechtzuerhalten. Wir erleben alles um uns herum als Reines Land auf der höchstmöglichen Ebene, bis wir wieder Zeit für formale Praxis haben.

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Um den Inhalt zu verstehen, machen wir die Meditation in unserer Sprache, jedoch sollten wir hin und wieder den tibetischen Text lesen, da vor uns so viele Wesen in dieser Sprache praktiziert haben und sie deshalb Segen trägt. Die sechs Zeilen der Zuflucht können entweder auf deutsch oder tibetisch gesprochen werden. Manchmal lässt sich eine Unterbrechung während der Übung nicht vermeiden, sei es, dass wir zur Toilette müssen oder, dass das Telefon klingelt. Sind diese Unterbrechungen nur kurz, so können wir dort weitermeditieren, wo wir aufgehört haben. Dauern sie jedoch länger, so ist unsere Konzentration auf die Zuflucht unterbrochen und wir sollten von vorn beginnen. Im Allgemeinen heisst es, dass das Sitzkissen warm bleiben sollte. Es gibt mehrere Möglichkeiten die Verbeugungen, die man 111.111 macht, zu zählen. Am besten eignet sich sicherlich eine kleine Hand-Mala. Sie besteht aus siebenundzwanzig Perlen und für jede Verbeugung zählen wir eine Perle. Die Tibeter bevorzugten Steine oder Münzen und das Modernste sind kleine Zählwerke, wie sie für Verkehrszählungen verwendet werden. Technische Neuerungen sind willkommen, solange keiner das Verbeugungsbrett erfindet, das sich selbst auf und nieder bewegt. Wir sollten aber nach Möglichkeit unseren Körper vor überflüssigen Schwierigkeiten schützen. Die Unterlage, auf der wir uns verbeugen, sollte glatt sein, Kissen sollten Knie und Bauch, Handschuhe oder Socken unsere Hände schützen. Einige denken vielleicht, dass das Zählen die Konzentration und Hingabe stören würde, das ist jedoch nicht der Fall. Es zeigt uns unbestechlich, wo wir stehen, und spornt uns zu mehr Leistung an. Das waren die Verbeugungen, die vor allem die Reinigung des Körpers und den Aufbau von nützlichen Eindrücken bewirken.

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Diamantgeist-Meditation Auch bei der Diamantgeist-Meditation, der zweiten Übung, arbeiten wir mit unserer Ganzheit. Dies könnte uns verwundern, da der Körper während der Praxis „nur" sitzt, aber die Konzentration auf die Buddha-Formen reinigt ihn tiefgehend, während Mantras und die Einswerdung mit der Erleuchtung Rede und Geist umwandeln. Handlungen in früheren Lebenszeiten haben unsere Genetik geschafifen und das Umfeld, in das wir hineingeboren wurden. Somit ist unser Körper ein Ergebnis unserer Handlungen und in ihm, seinen Muskeln, dem Gehirn und dem Sprachzentrum ruhen noch viele schädliche Eindrücke früherer Gedanken, Worte und Taten wie Zeitbomben, die jederzeit explodieren können. Sie verursachen Krankheiten, Depressionen, Unfälle und andere Schwierigkeiten. Während der Meditation auf Diamantgeist, die reinigende Kraft aller Buddhas, dringt der Eindruck seiner Form in die tiefsten Ebenen unseres Unterbewusstseins vor und löst dort die leidbringenden Eindrücke auf. In den drei unteren Tantra-Klassen, deren Übungen sich vor allem auf die Weisheit und das Potenzial der Erleuchtung konzentrieren, ist oft der Buddha Vairocana im Mittelpunkt des Mandalas. Konzentrieren wir uns jedoch in der höchsten Tantra-Klasse auf die Energie und Kraft der Erleuchtung, dann ist Diamantgeist, der untrennbar von Diamanthalter ist, die zentrale Figur. Er kann sich in vielen verschiedenen Formen manifestieren: allein, in fünf oder in hundert Ausstrahlungen, in allen fünf Weisheitsfarben, in Vereinigung, als Ausdruck grosser Freude wie Höchste Freude oder kraftvoll schützend wie Diamantdolch. Ich kenne keinen Aspekt, der durch so viele Meditationen zu verwirklichen ist, deren letztendliches Ziel die Umwandlung der bedingten Welt in ein Reines Land ist. Es ist vergleichbar mit einem Haus, das mehrere Eingänge hat: Gleichgültig, durch welche Tür man eintritt, das Haus bleibt dasselbe.

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Diamantgeist In der Meditation auf Diamantgeist als Teil der Grundübungen wird vor allem der Aspekt der grundlegenden Reinigung betont, und deshalb konzentrieren wir uns auf seine nichtvereinigte, friedliche Form. Die Essenz der Meditation ist die Umwandlung von Hass, Zorn und Widerwillen in „spiegelgleiche Weisheit". Diamantgeist ist der aktive Aspekt des Buddha, der Unerschütterliche, der in den fünf Buddha-Familien diese Form der Weisheit ausdrückt. Hass und Zorn sind die störendsten Gefühle und unser grösster Feind. Begierde scheint sich wenigstens kurzfristig befriedigen zu lassen, aber Hass und Zorn verfärben das ganze Erleben, bringen schädliche Bedingungen zusammen und führen zu Angstzuständen, Unfällen oder

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Krankheiten. Nach dem Tod verdichten sich dann diese Gefühle zu Erlebnissen von unerträglicher Hitze oder Kälte. Das Wichtigste für die Reinigung unseres Unterbewusstseins ist, diese Gefühle von Hass und Zorn zu beseitigen, sie durch die Diamantgeist-Meditation in einen spiegelgleichen, klaren Geisteszustand umzuwandeln.

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Während wir das Mantra sagen, kommt eine Vielzahl von Eindrücken hoch, vergleichbar mit einem zoologischen Garten, in dem wir den unglaublichsten Wesen begegnen können. Die zu reinigenden Eindrücke sind längst vergessene Handlungen aus früheren Lebenszeiten. Dass wir sie jetzt erleben, bedeutet, dass sie dabei sind sich aufzulösen, und wir können anfangen, uns über alles, was bei der Praxis hochkommt, zu freuen. Es ist so wie bei einer völlig misslungenen Party, bei der die unmöglichen Gäste endlich gehen: Wir fühlen uns beim Abschied erleichert. Wir lernen immer mehr diese Zustände als Befreiung zu erleben und bekommen das Gefühl uns frei im Raum bewegen zu können. Die Welt verliert an Leid und Einengung und strahlt in ihrer Offenheit und Klarheit. Die Reinigungsprozesse können sich auch in unseren Träumen niederschlagen, in denen wir zum Beispiel mit schwarzen Riesen ringen, Milch trinken oder Tinte erbrechen. Über die nützlichen Gefühle, die jetzt entstehen, können wir uns noch mehr freuen, denn Furchtlosigkeit, Freude und Mitgefühl drücken das zeitlose Wesen des Geistes aus. Sie erscheinen umso klarer, je mehr Schleier wegfallen, denn der Geist ist reicher und liebevoller als alles, was wir uns vorstellen können. Die Praxis arbeitet mit mehreren Mitteln zugleich: Sowohl mit der Schwingung des hundertsilbigen Mantras, von dem jede Silbe eine reinigende Buddha-Energie herbeiruft, als auch mit der Konzentration auf Diamantgeist und den weissen Nektar, der uns durchströmt. Dadurch ändert sich ganz allmählich das Körpergefühl, und neue Bewusstseinsprozesse werden erlebt. Wie bei allen kraftvollen Diamantweg-Meditationen gibt es eine

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Entstehungs- und eine Vollendungsphase, die tiefe innere Wirkungen auf uns ausüben.

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Nach den Vier Grundlegenden Gedanken, der Zuflucht und dem Wunsch, Erleuchtung zum Besten aller Wesen zu erlangen, stellen wir uns für die Meditation auf Diamantgeist uns selbst in unserem normalen Körper vor. Über unserem Kopf erscheint eine geöffnete weisse Lotosblüte. Im Buddhismus ist sie das Symbol für Reinheit, denn obwohl sie im Schlamm verwurzelt ist und sich von ihm ernährt, öffnet sie sich an der Wasseroberfläche zu einer makellos reinen Blüte voller Schönheit. Sie ist ein Sinnbild dafür, dass selbst die störendsten Gefühle zur Grundlage für unsere Erleuchtung werden können. Indem wir sie umwandeln, kann etwas völlig Reines daraus entstehen. In dieser geöffneten Lotosblüte oberhalb unseres Kopfes erscheint dann eine Mondscheibe. Sie ist strahlend, kristallklar und symbolisiert die zeitlose Klarheit des Geistes. Für die Tibeter ist der Mond etwas sehr Klares, denn sie kannten damals noch keine Luftverschmutzung, und in über viertausend Metern Höhe strahlt der Mond fast ebenso hell wie die Sonne. Lotosblüte und Mondscheibe bilden den Sitz für Diamantgeist, dessen strahlende Energieform schön und durchsichtig oberhalb unseres Kopfes erscheint. Seine rechte Hand hält senkrecht einen goldenen Dorje am Herzen und seine linke eine silberne Glocke, deren Öffnung nach oben zeigt, an seine Hüfte. Sein Kopf ist leicht zur Seite geneigt und er lächelt sanft. Er trägt den Schmuck und die Seidengewänder, die die Vollkommenheit und Freude der Erleuchtung ausdrücken. Ein Drittel des Haares trägt er als Knoten auf dem Kopf, das übrige fällt frei über die Schultern. Die fünffarbigen Seidenstoffe um die Hüften zeigen die tantrischen Fähigkeiten. Er sitzt nicht im vollen Lotossitz, der absoluten Versenkung, sondern sein rechtes Bein ist leicht nach vorn gestreckt in der aktiven Stellung und er schaut in die gleiche Richtung wie wir. Dies ist der kurze Aufbau für die tägliche Praxis. In einigen traditionellen Kommentaren ist ein ausführlicherer Aufbau beschrieben. Haben wir jedoch völliges Vertrauen darin, dass Diamantgeist das Wesen des Raumes selbst ist, und dass

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er in dem Moment, in dem wir an ihn denken, wirklich da ist, dann können wir ihn auch in einem Augenblick entstehen lassen.

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Von Diamantgeist strahlt Licht zu allen Buddhas und Bodhisattvas aus allen Zeiten und Richtungen. Wenn sein Licht sie berührt, werden sie selbst zu Formen von Diamantgeist. Gross wie Berge und klein wie Staubkörner fallen sie aus allen Richtungen in Diamantgeist oberhalb unseres Kopfes und verschmelzen mit ihm; er ist jetzt die reinigende Essenz aller Buddhas. Dann wünschen wir ganz stark, gereinigt zu werden. Diejenigen, die schon einige Zeit praktiziert haben, können hierfür den Originaltext machen, in dem man um die Reinigung aller gebrochenen Versprechen bittet. Das bezieht sich auch auf solche, die uns nicht bewusst sind. Wir sollten das möglichst intensiv wünschen, und zwar so, dass wir an unsere vergangenen schädlichen Handlungen denken und äussere, innere und geheime Ebenen miteinschliessen. Wir können auch an alle Wesen denken, denen wir in all unseren Lebenszeiten geschadet haben und ihnen alles Gute wünschen. Durch die Kraft dieser Wünsche entsteht im Herzen von Diamantgeist, mitten im Körper, eine kleine Mondscheibe. Auf ihr steht in der Mitte ein weisser Buchstabe Hung, so fein, wie mit einem Haar gemalt. Je kleiner wir uns das vorstellen können, umso stärker wird die Vertiefung. Es ist wichtig zu verstehen, dass Diamantgeist nicht mit unseren Augen gesehen wird, sondern mit der Klarheit unseres Geistes. Der Begriff „Visualisierung" ist irreführend bei einem Bewusstsein, das bei vielen von uns ohne „sichtbare" Bilder arbeitet. Tatsächlich wäre „Wissen" oder „Kennen" ein besseres Wort für diejenigen, die direkt durch Abstraktion erkennen, ohne dass Bilder im Geist entstehen. Um den Buchstaben Hung herum steht, gegen den Uhrzeigersinn angeordnet, das hundertsilbige Mantra. Wir stellen es uns als offene Lichtspirale vor, die, vom Hung ausgehend, in zweieinhalb Windungen den Rand der Mondscheibe erreicht.

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Die Mantm-Spirale im Herzen von Diamantgeist

Wenn wir anfangen, das Mantra zu wiederholen, erwacht die grenzenlose Liebe von Diamantgeist. Die Mantra-Spirale beginnt sich im Uhrzeigersinn zu drehen, und aus dem zentralen Hung in der Mitte der Mondscheibe strömt strahlend weisser Nektar. Dieser wird von der Spirale in alle Richtungen geschleudert und füllt Diamantgeist ganz auf. Aus seiner rechten grossen Zehe strömt der weisse Nektar durch unseren Kopf in uns hinein und aussen an uns herab:

Om Bensa Sato Samaya / Manu Palaya / Bensa Sato Tenopa / Titta Dri Do Me Bhawa / Suto Kayo Me Bhawa / Supo Kayo Me Bhawa / Anu Rakto Me Bhawa / Sarwa Siddhi Memtra Yatsa / Sarwa Karma Sutsa Me / Tsitam Shri Ya Kuru Hung / Haha Haha Ho Bhagawen / Sarwa Tathagata Bensa Ma Me Mündsa / Bensi Bhawa Maha Samaya Sato Ah

Nun beginnt die Reinigung: Wir können sie uns vorstellen als eine riesige Waschanlage, in der alles Schädliche, was wir jemals getan, gesagt oder gedacht haben, als Tinte, Russ und Rauch aus uns herausgeschwemmt wird. Aus den Poren der Haut, dem

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After und den Fusssohlen wird alles Dunkle und Klebrige herausgepresst und von dem Nektarstrom, der an uns herabfliesst, weggespült. Verborgene Krankheiten verlassen uns als Blut und Eiter. Wir können uns auch vorstellen, wie verletzende Worte sich in unserer Kehle auflösen und störende Eindrücke wie Kohlestücke aus unserem Herzen herausfallen. Ständig fliesst der reinigende Nektar durch und über uns. Unter uns öffnet sich die Erde und alles Schädliche fliesst dort hinein. Wer glaubt, dass seine Störungen von äusseren Ursachen herrühren, kann sich diese als Dämonen vorstellen, die unter ihm sitzen und gierig Nektar und Negativität aufsaugen und damit glücklich davongehen. So werden alle Schulden getilgt, die Verbindung wird aufgelöst und die Dämonen erhalten den Segen des Nektars. Wer jedoch Leiden als das Ergebnis eigener Handlungen versteht, sollte einfach alles in die Erde fliessen und sich dort auflösen lassen.

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Während wir das hundertsilbige Mantra wiederholen, wandert unsere Aufmerksamkeit von der Form von Diamantgeist zu seinem liebevollen Gesicht, zu Dorje und Glocke, zur Mondscheibe mit Mantra-Spirale und Hung im Zentrum oder zum Nektarstrom, der durch uns hindurchfliesst, in die Erde hineinströmt und sich dort auflöst. Unser Körper wird immer mehr zu einer Form aus kristallklarem Licht. Es gibt vier Kräfte, die die Reinigung noch verstärken. Sie sind alle enthalten in dem Wunsch sich von allem schädlichen Karma zu reinigen:

die Einsicht, dass wir aufgrund früherer Negativität heute nicht erleuchtet sind,

der Wunsch nach Reinigung und die Praxis von Meditation und Mantra,

der Entschluss, Schädliches nicht zu wiederholen, und das Bestreben die gegenteiligen nützlichen Handlungen

auszuführen.

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Diese vier Kräfte werden in anderen Texten in verschiedener Reihenfolge aufgeführt, der Sinn ist jedoch der gleiche.

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Nachdem wir das lange Mantra so oft wiederholt haben, wie wir es wünschen, machen wir jetzt das kurze Mantra „Om Bensa Sato Hung". Die Erde unter uns, die Poren unserer Haut und die Körperöffnungen schliessen sich wieder. Wir erleben, wie wir nach und nach mit Nektar aufgefüllt werden wie ein Kristallgefäss, in das Milch gegossen wird, bis der Nektar sogar oben an unserem Kopf austritt und Diamantgeists Fuss berührt. Unser Körper ist strahlend und rein und wir verweilen in diesem Zustand. Dann wünschen wir stark, dass wir wirklich von allem Schädlichen gereinigt sein mögen. Diamantgeist lächelt und sagt: „Liebe Töchter und Söhne aus der guten Mahayana-Familie, alles Schädliche von euch und allen Wesen ist gereinigt. Das verspreche ich euch." Dann löst er sich in Licht auf, strömt in uns hinein und wir werden untrennbar eins. Wir verweilen in der Einheit mit ihm. Alles ist sein Reines Land, alle Wesen sind Diamantgeist in den fünf Weisheitsfarben, alle Laute sind sein Mantra und alle Gedanken seine Weisheit. Diesen Zustand versuchen wir so gut wie möglich aufrechtzuerhalten, bis wir wieder Zeit für die formale Praxis haben. Abschliessend verteilen wir das Verdienst, damit alle Wesen die Ebene von Diamantgeist erreichen können. Bei dieser zweiten Grundübung wiederholen wir das lange Mantra 111.111 mal. Wir können es schnell sprechen, sollten jedoch sicher sein, dass dabei keine Silbe verlorengeht, da jede von ihnen eine Buddha-Familie aktiviert.

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Mandala-Gaben Die ersten beiden Übungen machen uns unsere Lage bewusst, öffnen uns für die Zuflucht und den Erleuchtungsgeist und reinigen Körper, Rede und Geist. Was geschieht, wenn unsere Ganzheit gereinigt ist? Es entsteht Raum, der bereit ist neue Eindrücke aufzunehmen. Durch die Wiederholung der Mandala-Gaben füllen wir ihn jetzt mit innerem Reichtum. Dieser bringt den geistigen Überschuss, der das Leben zur Freude macht und uns die Grundlage dafür gibt, den Wesen wirklich helfen zu können. Erlauben wir uns ein Gefühl von Armut, glauben wir, alles für uns selbst zu brauchen, sind unsere Mittel bald erschöpft. Entscheiden wir uns hingegen für einen reichen Geist, gehört uns bald die ganze Welt und alles ist im Überfluss vorhanden. Der Geist ist kein Ding. Er ist grenzenloser Raum, und nichts, was wir hinzufügen, kann sein absolutes Wesen verändern. Da er jedoch auf relativer Ebene an seinen Eindrücken, Projektionen und Ideen haftet, ist es so wichtig nützliche Inhalte hinzuzufügen. Dies geschieht auch hier durch gezielte Arbeit mit Körper, Rede und Geist: Unser Geist konzentriert sich auf das Schönste und Kostbarste, was wir uns vorstellen können, und verschenkt es ohne Anhaftung. Unsere Rede wiederholt die kurzen und langen Wünsche, während wir die sieben und siebenundreissig Reishäufchen auf die Mandala-Scheibe setzen und sie wieder wegwischen. Die Mandala-Gaben bringen uns sowohl glückbringende Eindrücke als auch Weisheit. Das Erste geschieht durch die Konzentration auf riesigen Reichtum und das Zweite durch die Einsicht, dass Geber, Gabe und Empfänger Bestandteile derselben Ganzheit sind. Geopfert werden zwei Welten: Bei den kleinen Mandalas schenken wir alles, was uns selbst bedeutungsvoll und kostbar erscheint, was wir selbst anziehend finden. Bei den langen Siebenunddreissig-Punkte-Gaben ist es ein Universum nach der überlieferten indischen Tradition mit allen

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wunscherfüllenden Dingen, die ein Weltenherrscher besitzt. Auch wenn uns das am Anfang sehr exotisch vorkommt und unser kritischer Verstand sich gegen die kulturfremden Symbole wehrt, können wir dennoch sicher sein, dadurch die erwünschten Ebenen des Geistes zu erreichen.

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Für diese Übung brauchen wir einige Dinge: weissen, polierten Reis (wenn möglich Langkornreis, der haltbarer ist als Rundkornreis), den wir mit Lebensmittelfarbe den Buddha-Familien entsprechend färben und dem wir kleine Halbedelsteine, bunte Glasperlen oder Muscheln beimischen können, wodurch unser Reis kostbarer wird. Je schöner wir es nach unseren Möglichkeiten machen, desto mehr werden unsere Freude an dieser Praxis und das Verdienst wachsen. Wir alle kennen das angenehme, reiche Gefühl, wenn wir am Strand den weichen Sand durch die Finger rieseln lassen oder als Bauer oder Goldgräber in früheren Existenzen mit offenen Händen in Korn oder Goldstaub gegriffen haben. Den Reis, den wir für die Mandalas verwenden, bewahren wir in einem grossen Tuch auf, das während der Meditation auf unserem Schoss liegt. Da immer wieder Reis danebenfällt, fügen wir täglich etwas neuen hinzu. Während der schon vorhandene Reis den Segen hält, bringt der neue Frische. Bei dieser Praxis ist Sauberkeit sehr wichtig. Als Hannah und ich diese Übung im Himalaya machten, war es üblich, ein Tuch vor den Mund zu binden, damit kein schlechter Atem die Gaben streifte. Dies ist vielleicht im Westen nicht notwendig, aber wer Knoblauch und Zwiebel isst, sollte immer noch nach Cowboyart ein Tuch vor den Mund binden und vor der Praxis die Zähne putzen. Dann benötigen wir zwei Mandala-Scheiben. Die kostbarere, grössere oder schönere von beiden verwenden wir für das Mandala, auf dem wir mit fünf Reishäufchen die Zuflucht darstellen. Hierfür können wir zum Beispiel einen Silberteller verwenden, den wir vor uns auf den Altar stellen. Besitzen wir nur eine Scheibe, stellen wir uns das Mandala nur vor. Auf der zweiten Scheibe machen wir die eigentliche Übung. Sie sollte nicht zu gross oder zu schwer sein, da wir sie, zusammen mit der

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Mala, die ganze Sitzung über in der linken Hand halten. Normalerweise verwenden wir eine konvexe Scheibe mit ca. fünfzehn Zentimeter Durchmesser und einem etwa vier Zentimeter breiten Rand. Die meisten Scheiben kommen heute aus dem indischen Himalaya oder aus Nepal. Wir halten die Mandala-Scheibe in der linken Hand und reinigen zuerst die Oberfläche, indem wir mit der Innenseite des rechten Handgelenks dreimal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn am Rand der Scheibe entlangfahren. Dabei sagen wir einmal das hundertsilbige Diamantgeist-Mantra und stellen uns vor, dass alle äusseren und inneren Unreinheiten und Schleier von uns und allen Wesen gereinigt werden. Dann sagen wir das Mantra „Om Bensa Bhumi Ah Hung" und besprenkeln dabei die Scheibe mit Duftöl oder Safranwasser. Das ist der Tau der Erleuchtung, der unser Speicherbewusstsein segnet.

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Buddha lehrte je nach dem Karma seiner Schüler verschiedene Sichtweisen des Universums. Hier verwenden wir die des Abhidharma. Da der Zustand des Grossen Siegels jenseits von Begriffen ist, ist es nicht so wichtig, welchem Aufbau wir folgen. Wesentlich ist die Erfahrung, die wir mit unserem Geist machen. Die Scheibe symbolisiert den ursprünglichen Geist, den goldenen Urgrund aller Dinge, bedeckt vom grenzenlosen Ozean und belebt vom Wind. Wir sollten dies auf der höchstmöglichen Ebene sehen. Dann nehmen wir etwas Reis in die rechte Hand und ziehen damit, während wir das Mantra „Om Bensa Rekhe Ah Hung" sprechen, einen Kreis gegen den Uhrzeigersinn am Rand der Scheibe entlang. Dies ist der Eisenwall, ein magnetisches Feld, welches das Universum zusammenhält. Nun kommen wir zu den siebenunddreissig Zeichen des vollkommenen Universums, wie es die Götter erleben. Während wir den Text langsam lesen, setzen wir die entsprechenden siebenunddreissig Reishäufchen auf die Scheibe. Viele kennen das schon von grösseren Ermächtigungen, bei denen vorher ein solches Mandala gemacht wird, wobei zusätzlich noch drei Ringe und eine Spitze ähnlich einem Edelstein benutzt werden, um es räumlich aufbauen zu können.

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Die Wirkung der Geschenke reicht tiefer als die vergänglichen Werte wechselnder Kulturen. Zeitlose Erfahrungen von Körper und Geist werden berührt, Bedürfnisse befriedigt, die Menschen zu allen Zeiten und überall haben, und unsere tiefsten Fähigkeiten zu innerem Reichtum werden erweckt.

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Was wir im Geist verschenken, ist Ausdruck einer zeitlosen Weisheit und führt zu Erlebnissen, die auch heute wirksam sind. Haben wir dieses Vertrauen und lassen wir uns nicht von der Fremdartigkeit stören, wird die Praxis auf allen Ebenen erfolgreich. Wir sollten nicht denken, das hier aufzubauende Universum sei die naive Weltvorstellung von Leuten, die noch nicht gereist sind und deshalb glauben, ihr lokaler Berg sei der Mittelpunkt des Universums. Die „zentrale" Vorstellungsweise betrifft das innere Erlebnis. Im Raum erscheint so ein Weltsystem in Form eines Diskus, in der Mitte dick, nach aussen hin dünner werdend, in dessen Zentrum der Berg Meru, der Sitz der Götter und Halbgötter, steht. In der Nähe des äusseren Randes liegen die vier Haupt- und die acht Nebenkontinente. Dort werden Wesen mit menschenähnlichem Karma wiedergeboren. Zwischen dem zentralen Berg und dem Rand liegen sieben Bergketten und sieben Meere, die den Raum zwischen ihnen ausfüllen. Das erste Reishäufchen, das wir in die Mitte der Scheibe setzen, repräsentiert den Berg Meru. Hier leben die Wesen, die die drei Götterwelten erleben: den formlosen oder abstrakten Bereich, wo es immer noch die Illusion eines „Ich" gibt, die Formzustände, wo vollkommene Schönheit erlebt wird, und die Bereiche, in denen Wünsche und Bedürfnisse spontan erfüllt werden, aber ständig neue entstehen. Am Fusse des Berges leben die Halbgötter, die sich andauernd bekämpfen und sowohl untereinander als auch auf alle Götter neidisch sind. Die vier Seiten des Berges bestehen aus Edelsteinen in vier Farben: Der Osten ist aus weissem Kristall, der Süden aus blauem Saphir, der Westen aus rotem Rubin und der Norden aus grünem Smaragd. Sie strahlen ihr farbiges Licht aus, Seen und Kontinente spiegeln die Farben jeder Seite wider.

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Die Ansicht aller 37 Gaben des Mandalas Danach errichten wir die vier Hauptkontinente in den vier Himmelsrichtungen. Der Osten dieses Systems ist der von uns am weitesten entfernte Punkt und entspricht unserem Norden. Der östliche Kontinent ist weiss und halbkreisförmig, der südliche ist blau und trapezförmig, der westliche rot und kreisförmig und der nördliche grün und viereckig. Die Gesichter der Wesen, so heisst es, die auf diesen Kontinenten leben, haben dieselbe Form wie diese. Wir können es uns so vorstellen: Hier entspricht unsere Welt dem südlichen Kontinent Rosenapfelbaum-Insel. Jenseits des Zentrums der Milchstrasse liegt der Nordkontinent usw. Auf drei Kontinenten gibt es eine feste Lebensspanne: Auf einem

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werden die Wesen zweihundertfünfzig Jahre alt, auf dem nächsten fünfhundert und auf dem dritten leben sie bis zu tausend Jahre. Auch die Grösse der Leute ist von Kontinent zu Kontinent verschieden: Je länger sie leben, umso grösser sind sie. Diese Welten ähneln den Götterwelten. Nur in unserer Welt ist die Lebensdauer unterschiedlich. Hier gibt es die meisten störenden Gefühle und hier manifestieren sich auch die Buddhas. Unsere Welt bietet eben das meiste Rohmaterial für die Erleuchtung, während göttergleiche Zustände, sowie die Götterwelten selbst, den Erleuchteten wenig Möglichkeiten bieten — es gibt dort zu wenig intensive Gefühle. In den drei anderen Welten erfreuen sich die Wesen ihrer Glückszustände und tun ansonsten wenig. Im „Tibetischen Totenbuch" wird davon abgeraten, sich dort wiedergebären zu lassen, weil keine Entwicklung möglich ist.

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Nun werden die acht Nebenkontinente aufgebaut. In Form, Farbe usw. gleichen sie den jeweiligen Hauptkontinenten; sie sind nur viel kleiner und liegen rechts und links von ihnen. Wenn wir für sie die Reishäufchen setzen, platzieren wir sie erst auf die rechte, dann auf die linke Seite des Hauptkontinents. Die Namen der Kontinente stehen im Text auf tibetisch, ihre Übersetzung in Sanskrit. Die Bedeutung ist gleich und weist auf ihre jeweiligen Eigenschaften hin: „Lü pag po" im Osten bedeutet „strahlender edler Körper". In „Dzam bu ling" im Süden, sammelt man strahlende gute Eindrücke an; „Ba lang tschö" im Westen weist auf die Ansammlung von strahlendem Besitz hin. Die Bewohner des nördlichen Kontinentes „Dra min njän" haben ein strahlendes, langes Leben. Die nächsten Vorstellungen werden mehr zum Zentrum der Scheibe hin gesetzt. Von jetzt an bewegt sich alles in konzentrischen Kreisen immer mehr auf den Berg Meru zu. Zuerst verschenken wir, was in diesen Welten besonders wertvoll ist: im Osten den Juwelenberg, im Süden den wunscherfüllenden Baum, im Westen die Kuh, die spontan alles manifestiert, was man sich wünscht, und im Norden die Ernte, die von selbst wächst — alles Dinge, die ein Gefühl von grenzenlosem Reichtum vermitteln. Alles, was man wünscht, entsteht spontan.

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Dann verteilen wir die Besitztümer eines Weltenherrschers. Durch die Kraft seines guten Karmas gehören verschiedene Dinge zu seiner Herrschaft: Er besitzt ein kostbares, tausendspeichiges Rad, Symbol seiner universellen Macht und ein wunscherfüllendes Juwel. Seine Gefährtin ist die wundervolle, kostbare Königin, die alle Merkmale weiblicher Vollkommenheit besitzt. Er hat einen klugen Minister, der seine Wünsche erfüllt, noch bevor der Weltenherrscher selbst sie überhaupt erkannt hat. Dies sind die ersten vier Besitztümer in den Himmelsrichtungen. In der nächsten Runde folgen dann in den Zwischenrichtungen im Südosten ein kostbarer Elefant, der nie aufgibt und niemals müde wird, im Südwesten ein kostbares Pferd von unglaublicher Schnelligkeit und im Nordwesten ein tapferer General, der alle Feinde ohne Kampf besiegt. Ausserdem verschenken wir im Nordosten eine riesige Schatzvase, die einen niemals versiegenden Reichtum von Edelsteinen enthält. Weiter zur Mitte hin folgen in den vier Himmelsrichtungen die ersten vier von insgesamt acht wunderschönen Göttinnen: Es erscheinen das anmutige Mädchen, das bezaubernd lächelt, das Mädchen mit den Blumengirlanden, das singende und das tanzende Mädchen. In den vier Zwischenrichtungen erscheinen das Blumen und das Räucherwerk tragende Mädchen, das Licht- und das Parfüm darbietende Mädchen. Sie geben uns alles, was die Sinne erfreut. Schliesslich gehen wir vom inneren Kreis wieder an den Rand der Scheibe. Die folgenden Punkte sind oberhalb der anderen angeordnet, diagonal gegenüber: im Nordosten die Sonne, im Südwesten der Mond, im Südosten der kostbare Schirm, der die Überwindung allen Leidens bedeutet, und im Nordwesten das vollkommene Siegesbanner, das die Ursachen des Leidens beseitigt.

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Viele dieser Dinge sind kostbar, weil der Buddha sie gesegnet hat. Sie werden in der traditionellen tibetischen Kultur als schön und wünschenswert angesehen, können uns aber auch heute noch berühren. Erst zehn Jahre nachdem Hannah und ich diese Übung beendet hatten, habe ich das wirklich verstanden. In der Nacht, als der sechzehnte Karmapa starb, hatte ich in Sikkim einen Traum, in dem die alten Symbole in neuzeitlicher

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Form erschienen. Ich flog zuerst in einem Hubschrauber, und als ich zum Propeller hochschaute, sah ich das kostbare tausendspeichige Rad. Dann ging ich auf den Kopf einer riesigen Karmapa-Statue zu, auf dem sich Kisten befanden. Ich öffnete sie und fand dicke Bündel mit Dollarnoten und Juwelen, die ich zum Besten aller Wesen in die Luft warf. Dies war das Wunscherfüllende Juwel. Plötzlich erschien die dänische Königin Margarete. Ich umarmte sie und fragte: „Was machst du denn in meinem Traum?" Dann kamen der kostbare Elefant in Form eines Porsche und das kostbare Pferd in Form eines BMW-Motorrads. Ihre Bedeutungen sind die gleichen, nämlich Ausdauer und Geschwindigkeit. Zuletzt stand ich auf einem grossen, trockenen, graubraunen Acker, als plötzlich von rechts eine riesige Welle kam, alles überschwemmte und wieder verschwand. Zurück blieb reifes Korn, das sehr hoch stand. Das war die spontane Ernte. Tatsächlich wurden mir in dieser Nacht die Zeichen eines Weltenherrschers übergeben. Seither denke ich anders über die Symbole des Mandalas, die mein kritischer Verstand vorher nicht ganz ernst nehmen konnte.

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Wir lesen also den Text manchmal auf tibetisch, manchmal auf deutsch, versuchen den Sinn festzuhalten und bauen Punkt für Punkt das Universum mit den siebenunddreissig kostbaren Gaben auf. Das Allerbeste und Reinste der Götter- und Menschenwelt ist jetzt da und wir bitten die Zuflucht vor uns, das Geschenk aus Mitgefühl anzunehmen. Dann bitten wir um Segen, halten dabei die Scheibe möglichst hoch vor uns und bieten sie der Zuflucht dar. Sie hoch zu halten gibt ein starkes, gutes Gefühl, aber wir machen dies nur bei den grossen Mandalas, nicht bei den kleinen, die wir zählen. Danach folgen wir dem Text und wiederholen die Namen all derer, denen wir etwas geben, und wie oft. Hier ist höhere Mathematik gefragt, denn es geht um Milliarden und Billionen. Das mag sich ziemlich fest und materialistisch anhören, aber der Gedanke dabei ist, dass ab einem bestimmten Punkt Quantität zu Qualität wird, dass durch die ungeheure Anzahl guter Eindrücke

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eine Änderung unserer Wahrnehmung eintritt. Riesiger Überfluss schafft eine neue Dimension von Reichtum. Die alte Erlebnisebene hört auf, eine neue beginnt. Ein wirklich reicher Mann hat nicht nur mehr Geld als ein armer, auch sein Geist arbeitet anders. Er ist einfach frei von vielen Dingen, die das Leben eines armen Mannes begrenzen. Für die geistig Reichen ist alles ein Spiel, für den engen Geist wird alles bitterer Ernst. Jetzt bitten wir die Buddhas nochmals um Segen, halten das ganze Mandala mit den siebenunddreissig Gaben in der linken Hand, nehmen etwas Reis davon mit der rechten und werfen ihn als Geschenk in Richtung der Zuflucht vor uns. Dabei sagen wir das Mantra Om Mandala Pudsa Megha Samudra Saparana Samaye Ah Hung und wischen den Reis mit der Innenseite des rechten Handgelenks herunter, so dass er in das Tuch auf unserem Schoss fällt. Als Hannah und ich diese Praxis machten, wurden die siebenunddreissig Punkte immer nach hundertacht kleinen Gaben, also nach einer Mala, wiederholt. Heute ist es einfacher: Wir stellen uns das grosse Mandala zu Beginn und am Ende einer Sitzung vor und verschenken es wieder.

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Dann bitten wir, dass Hindernisse auf dem Weg entfernt werden und wir die Wünsche der Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfüllen mögen. Wir wünschen, dass wir weder Zeit vergeuden wie allgemeine, verwirrte Wesen in der bedingten Welt, noch, dass wir uns mit unserer eigenen Befreiung zufriedengeben. Samsara ist der Zustand, in dem der Geist, geblendet durch Anhaftung und Abneigung, unablässig seinen eigenen Erlebnissen folgt, deren Intensität nichts ist im Vergleich zum zeitlosen Zustand der Erleuchtung. Das eben erwähnte „kleine" Nirvana, die eigene Befreiung, bedeutet eine Abkapselung von der Welt: Einerseits kann uns zwar selbst nichts geschehen, andererseits tun wir aber nichts für andere und sind deshalb wenig nützlich. Das höchste Nirvana jedoch ist wirklich vollkommen und spannend. Hier gibt es weder Anhaftung an bedingte Existenz noch an einen Zustand von Frieden; beides ist der Reichtum des Geistes. Geschieht nichts, so ist das der Raum des Geistes, sein Potenzial. Erscheint etwas, wird es als Klarheit und freies Spiel des Geistes gesehen. Dieses nicht haftende Nirvana ist unser Ziel, und wir bitten, dass wir und alle Wesen es erreichen mögen.

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Wir kommen jetzt zu den vier Zeilen mit den sechsunddreissig Silben, die während der kurzen Mandalas 111.111 mal wiederholt werden. Es ist eine vereinfachte Form des grossen Mandalas. Wir geben im Geist den Berg Meru, die vier Kontinente sowie Sonne und Mond, die alle in der gleichen Position stehen wie beim grossen Mandala, wischen den Reis weg und bauen erneut eine perfekte Welt auf, die wir wiederum verschenken. Unendlich reich brauchen wir nichts davon nach Hause zu tragen. Was wir dabei auf tibetisch wiederholen, bedeutet: „Mögen sich dadurch, dass ich diese Grundlage mit duftendem Wasser besprenkle, sie mit dem Berg Meru, den vier Kontinenten, Sonne und Mond schmücke und den Buddhafeldern schenke, alle Wesen der vollkommen Reinen Länder erfreuen." Je wertvoller die Vorstellungen sind, umso besser: Die Zeit mit unseren besten Freunden, aufregende Liebe, Höchst-geschwindigkeiten in der Kurve, Juwelen und Licht, der Blick über

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die schneebedeckten Berge von Schwarzenberg aus, all unseren inneren Reichtum lassen wir vor uns entstehen und schenken ihn der Erleuchtung. Wenn wir die Praxis über einen längeren Zeitraum hinweg machen, wird unser ganzes Leben zu einer Erfahrung von Freude.

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Haben wir so viele kleine Mandalas wie möglich in einer Sitzung verschenkt, wiederholen wir das Siebenunddreissig-Punkte-Mandala und den darauffolgenden Text, bis wir wieder zum kleinen Mandala kommen. Von dort lesen wir weiter und machen für unsere Lehrer die äusseren, inneren, geheimen und absoluten Opfer. Die äusseren sind Blumen, Licht, Räucherwerk, Tormas bzw. Kuchen usw., die inneren sind Nektar, die geheimen sind die Freuden sexueller Vereinigung und die absoluten sind der Raum selbst, die Offenheit, aus der alles entsteht. Wir stellen uns selbst und alle Universen vor. Dabei sollten wir nicht denken, wir gäben etwas her, was uns nicht gehörte. Wir sind von nichts getrennt und können alles Gute weiterschenken. Wir bitten die Buddhas, uns die höchsten, vollkommenen Fähigkeiten zu geben, vor allem die, das Grosse Siegel zu erkennen, den Zustand, in dem der Geist spontan und mühelos in sich selbst ruht. In den darauffolgenden Siebenteiligen Wünschen widmen wir alle guten Eindrücke, die wir durch Verbeugen, Schenken, Bekennen, Erfreuen, Ersuchen, Bitten und Widmen angesammelt haben, der Erleuchtung. Zuletzt wünschen wir, dass Verdienst und Weisheit in allen Wesen vollkommen werden mögen. Dann löst sich die Zuflucht in Licht auf, verschmilzt mit uns und wir werden untrennbar eins. Wieder widmen wir die guten Eindrücke, die durch die Praxis entstanden sind, allen Wesen, damit sie frei von Leiden werden und das Glück erleben, das niemals vergehen kann, das Glück der Erkenntnis der Natur des eigenen Geistes. Bei dieser Praxis ist es besonders notwendig, die Anleitung von jemandem zu bekommen, der die Meditation schon gemacht hat.

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Geschichte der Kagyü-Linie Das Prinzip der direkten Übertragung ist für den Diamantweg-Buddhismus von grosser Bedeutung. Die Karma Kagyü Schule zeichnet sich besonders durch die Kraft ihrer Übertragungslinie aus. In ihr finden wir die besten Beispiele dafür, dass Dankbarkeit und Hingabe gegenüber dem Lehrer die günstigsten Voraussetzungen für eine sehr schnelle Entwicklung zur Erleuchtung sind. Zwar ist sie nicht die einzige Weise — auch die Entwicklung klarer Logik hilft -, aber sie ist die effektivste, da sie sich auf unsere Gesamtheit von Körper, Rede und Geist auswirkt. Durch Hingabe übernehmen wir die erleuchteten Eigenschaften unserer Lehrer. Wir können die Stufen ihrer Entwicklung in uns selbst nachvollziehen und ihrem Beispiel gemäss mit uns selbst arbeiten, bis auch wir durch das Zusammenwirken unserer Offenheit mit dem Segen des Lamas alle Verunreinigungen von unserem Geist entfernt haben. Dass die meisten Lamas aus unserer Linie nicht gerade aus der Sonntagsschule kamen, macht das Ganze nicht langweiliger. Wir sehen durch ihre Beispiele, dass Erleuchtung nicht unerreichbar ist, sondern als Möglichkeit in jedem von uns steckt und verwirklicht werden kann. Von allen tausend Buddhas, die in unserem Zeitalter erscheinen werden, geben nur zwei neben den Vinaya-, Sutra- und Abhidharma-Lehren auch die geheimen tantrischen Belehrungen. Einer dieser beiden ist Buddha Shakyamuni. Von den vier Tantra-Klassen, die er lehrte, ist die kraftvollste das Anuttarayoga-Tantra. Wer genügend Mut und Willen hat, kann damit alle störenden Gefühle schnell umwandeln und seine Erlebnisebene direkt verändern. Die Mutter-Tantras wurden vor allem für diejenigen gelehrt, deren Hauptschwierigkeiten Anhaftung und Geiz sind, die Vater-Tantras für diejenigen mit Hass und Zorn und die nichtdualen Tantras gegen Unwissenheit, Schleier und Verdunkelungen. Buddha Shakyamuni zeigte seinen Schülern die Umwandlung ihrer Störungen in Erleuchtungsenergien. Er unterstützte sie durch die Übertragung von Licht und Energiefeldern, Mantras und Segen, so dass sie nach und nach

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die Buddha-Eigenschaften in sich selbst entdeckten. Andere spürten immer mehr die überpersönliche Kraft dieser Schüler und entwickelten Vertrauen. Auch sie erhielten die Übertragung und den Segen der Linie, entdeckten ihre Buddha-Natur und wurden ebenfalls Lehrer. So wurde die Erfahrung 1500 Jahre lang in Indien lebendig gehalten und viele erlangten Erleuchtung. Später verschlechterte sich das allgemeine Karma Indiens, so dass die Moslems in das Land eindringen konnten. Sie zerstörten Freiheit und Buddhas Lehre.

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Damals — vor etwa tausend Jahren — lebte ein Mann namens Tilopa. Sein Name bedeutet soviel wie „der Tahin-Macher". Tahin ist eine aus Sesam hergestellte Paste, und „Tu" bedeutet Sesamsamen. Ob Tilopa von der hellen Rasse Indiens, die aus Zentralrussland gekommen war und die Kultur trug, abstammte, oder von den Ureinwohnern des Landes, ist nicht überliefert. Er wird mitunter als klein und von fast bläulicher Gesichtsfarbe beschrieben, nicht besonders schön und nicht von hohem Stand, während er in anderen Texten als Prinz erscheint. Mitunter hören wir sogar von ihm in der Rolle eines Zuhälters. Wie auch immer, eines Tages erkannte Tilopa, dass alles auf der Welt vergänglich ist, und dass das Einzige, was jederzeit und überall existiert, allein der Geist ist. Er beschloss, diesen zu finden und ging zu den Lehrern, die authentische Übertragungen besassen und selbst verwirklichte tantrische Meister waren. Von ihnen erhielt er Belehrungen und wurde selbst Halter aller Linien, wohl als Einziger zu seiner Zeit. So bekam er die Übertragung sowohl vom „Weg der Mittel", heute bekannt als die „Sechs Lehren des Naropa", als auch vom „Weg der Einsicht", den Mahamudra-Belehrungen. Tilopa meditierte anschliessend in zwei verschiedenen Höhlen. Da er vor allem die Energieebene des Geistes verwirklichen wollte, band er sich mit einer schweren Kette fest, um während der Meditation nicht umzufallen. Das rote Yogi-Band, welches wir bei Milarepa sehen, erfüllt den gleichen Zweck. Tilopa übte viele Jahre und begegnete dann, wie es traditionell beschrieben wird,

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dem Geist aller Buddhas in der Form von Diamanthalter, einer blauen zeitlosen Lichtform. Er verschmolz mit ihr, alle Trennungen zwischen innen und aussen lösten sich auf und sein Geist war nicht mehr begrenzt durch Zeit und Raum.

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Zur selben Zeit, als Tilopa volle Erleuchtung erlangte, lebte ein sehr bekannter Professor weiter östlich in Nordindien. Er hiess Naropa und war der klügste Kopf der grossen Nalanda-Universität. Er führte oft mit fünfhundert Professoren gleichzeitig Debatten, so wie heute unsere Schachweltmeister gegen mehrere Gegner simultan spielen. Nachdem er alle besiegt hatte, vertauschte er seinen Standpunkt mit ihrem und gewann wieder. Eines Tages sass er mit seinen Büchern vor der Universität, als ein sonderbarer Schatten auf ihn fiel. Er drehte sich um, und mit seinem blitzschnellen Geist nahm er eine alte Dame mit siebenunddreissig Zeichen absoluter Hässlichkeit wahr. So etwas hatte er bisher noch nicht erlebt. Während er sie entgeistert anschaute, fragte sie ihn, was er da lese. Er antwortete ihr: „Die Lehre Buddhas." Sie fragte, ob er verstünde, was er da lese und er sagte: „Ich verstehe die Worte." Da begann die Frau vor Freude zu tanzen und wurde unsagbar schön, denn er hatte die Wahrheit gesagt. Er kannte die Worte, denn er war ein Bücherwurm. Doch dann wurde er stolz und sagte: „...und ich verstehe auch ihren Sinn." Kaum hatte er das gesagt, wurde sie noch hässlicher als zuvor und fing an zu weinen, denn es war offensichtlich, dass dies nicht stimmte. Er war kein Yogi, hatte keine inneren Erfahrungen und die Lehre nur auf intellektueller Ebene verstanden. Naropa wurde rot und fragte: „Wer kann mir den wirklichen Sinn zeigen?" Die Alte antwortete: „Mein Bruder Tilo!" und verschwand in einem Regenbogen. Naropa konnte dieses Erlebnis nicht vergessen. Er gewann zwar noch einige Doktorhüte dazu, aber das befriedigte ihn nicht mehr. Eines Tages liess er alle Ehren zurück und stieg aus. Lesen und diskutieren waren ihm einfach nicht mehr genug, jetzt wollte er Buddhas Worte tatsächlich erfahren und machte sich auf die Suche nach seinem Lehrer.

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Tilopa machte es ihm aber nicht leicht. Immer wieder liess er Naropa in Situationen geraten, in denen Vorstellungen seine Tatkraft deutlich blockierten. Einmal ging Naropa einen schmalen Pfad hinunter, da lag quer über dem Weg eine alte, leprakranke Frau. Unsicher, was er tun sollte und wohl auch voller Angst sich anzustecken, hielt er sich die Nase zu und sprang über sie hinweg. Nach ein paar Schritten plagten ihn Gewissensbisse und er drehte sich nach ihr um. Da flog die Alte als Regenbogen in den Himmel und sprach: „Wenn du nicht mehr Mitgefühl hast, wie willst du dann deinem Lehrer begegnen?" Naropa setzte seine Suche fort. Immer wieder zeigte sich Tilopa in den verschiedensten Formen und zwar so, dass Naropa ganz deutlich spürte, dass ihm etwas fehlte. Doch eines Tages, als Naropa völlig am Ende war - Begriffe und Stolz waren überflüssig geworden — zeigte sich Tilopa ihm als Yogi mit Knochen im Haar und blutunterlaufenen Augen. Er nahm Naropa bei der Hand und zog ihn mit sich fort. So begannen Naropas Lehrjahre.

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Tilopa traf Naropas Ego sofort an der empfindlichsten Stelle: Er legte dessen riesigen Denkapparat, der ständig mit neuen Ideen gefüttert werden wollte, still. Obwohl Naropa seinen Lehrer ständig drängte, ihm Belehrungen zu geben, sagte dieser das erste Jahr kein Wort. Eines Tages standen beide auf dem Dach eines hohen Hauses, da sprach Tilopa zum ersten Mal: „Wenn ich einen guten Schüler hätte, dann würde er jetzt vom Dach hinunterspringen." Naropa sprang und lag dann schwer verletzt am Boden. Nach einiger Zeit kam Tilopa herunter, schaute ihn an und fragte: „Was ist denn los mit dir?" Naropa stöhnte: „Ich leide". Tilopa antwortete nur: „Das kommt daher, dass du die Dinge für wirklich hältst, das macht dich so schwer." Er berührte ihn, Naropa war sofort geheilt und erhielt einige Belehrungen. Es waren nicht so viele, dass der „Computer" eingeschaltet wurde, aber genug, um einen Eindruck in seinem Geist zu hinterlassen. Ein weiteres Jahr lang sprach Tilopa kein Wort, bis eines Tages eine dicke Königin mit vielen Soldaten vorbeiritt. Tilopa sagte: „Wenn ich einen guten Schüler hätte, würde er die Königin vom Pferd herunterziehen." Naropa tat es und die Soldaten verprügelten ihn. Wieder lag er halbtot da. Tilopa fragte ihn, was

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los sei und Naropa antwortete: „Ich bin wie tot." Abermals segnete Tilopa ihn und sagte: „Schau in dein Herz, da wohnt die Dakini, die spontane Weisheit. Dann stören dich die äusseren Dinge nicht." So setzte Tilopa ihn zwölf grossen und vierundzwanzig kleinen Unglücksfällen aus, bis sich Naropas feste Vorstellungen alle aufgelöst hatten.

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Irgendwann einmal sassen sie sich dann gegenüber, Tilopa schaute Naropa freundlich an, schlug ihm dann plötzlich mit einem schweren Schuh auf den Schädel und innerhalb eines Augenblicks war Naropa voll erleuchtet. Er ist der Einzige in unserer Linie, der ohne besonderen Schwerpunkt auf Meditation erleuchtet wurde. Geschenkt wurde ihm aber wirklich nichts. Zur gleichen Zeit, als Naropa Erleuchtung erlangte, wuchs in Südtibet ein kleiner Kraftkerl namens Marpa auf. Er war wirklich nicht langweilig. Die Leute sagten schon früh über ihn: „Wenn er gut wird, wird er sehr gut, wenn er schlecht wird, ziehen wir ins nächste Tal." Dort, wo Marpa aufwuchs, waren die Berufsmöglichkeiten sehr begrenzt. Es gab eigentlich nur drei: Man konnte Hirte, Räuber oder Lama werden. Marpa dachte, dass es am besten sei, Lama zu werden. Er hörte sich um, wo er etwas über den Geist lernen könnte, was jedoch zu dieser Zeit in Tibet nicht leicht war. Guru Rinpoche hatte zwar dreihundert Jahre vorher die Lehre dorthin gebracht, doch dann hatte der König Langdarma alles zerstört. Es gab nur noch wenige Praktizierende in entlegenen Gebieten des Landes und viele kostbare Übertragungen, die Termas, die allerdings erst in künftigen Jahrhunderten auftauchen sollten. So musste sich Marpa über die Berge auf den langen, ungesunden, mit Räubern und Moskitos verseuchten Weg nach Indien machen, um etwas lernen zu können. Seine gute Verbindung aus früheren Lebenszeiten führte ihn in Naropas Hütte. Dieser hiess ihn willkommen, segnete ihn und gab ihm grundlegende Belehrungen. Danach traf Marpa den Tibeter Nyö wieder, mit dem er gemeinsam nach Indien gereist war. Sie verglichen, was sie bis dahin erhalten hatten. Nyö, der überall Bruchstücke von Erklärungen gesammelt hatte, besass ein dickes

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Buch, Marpa dagegen hatte nur sehr wenig vorzuweisen und schloss daraus, dass er zu wenig gelernt hatte. Er kehrte auf der Stelle um und eilte zu Naropa zurück. Dieser sagte: „Eigentlich hast du alles, was du brauchst. Wenn du aber unbedingt mehr willst, kannst du zu meinem Freund Kukkuripa gehen. Er ist ein verrückter Yogi, der fünfzig Tagesmärsche durch den Dschungel westlich von hier wohnt. Wie alle Buddhas ist er von weiblichen Buddhas umgeben. Da er aber in seinem letzten Leben schlecht über Frauen geredet hat, zeigen sich ihm die weiblichen Buddhas tagsüber als bissige Hündinnen und erst in der Nacht als Inspirationsgöttinnen, die den Raum in alle Richtungen hin segnen." Marpa unternahm die lange Reise zu Kukkuripa und jener war wie beschrieben. Er sah aus wie ein Affe und redete wirres Zeug, während die Hündinnen von allen Seiten nach Marpa schnappten. Erst in dem Moment, als Marpa ganz entnervt seine Schreibsachen von sich warf und damit auch seine festen Vorstellungen und Pläne, änderte sich alles. Kukkuripa zeigte sich plötzlich völlig normal, die Hündinnen wurden zu Dakinis und Marpa erhielt das sehr bedeutende Mahamaya-Tantra, eine wichtige Übertragung der Mutterlinie, die heute noch im Kagyü-Ngagdzö, dem „Schatz der Kagyü-Mantras", übertragen wird.

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Jetzt besass auch Marpa ein dickes Buch mit Belehrungen. Auf dem Rückweg nach Tibet bestach Nyö jedoch aus Eifersucht beim Überqueren eines Flusses einen Träger, der Marpas Buch heimlich ins Wasser warf. Als Marpa zu Hause seinen Kasten öffnete, fand er darin nur Steine und Erde. Zuerst dachte er, die Reise sei umsonst gewesen, dann aber verstand er, dass dennoch etwas sehr Besonderes geschehen war. Er erlebte immer häufiger, wie eine Stimme durch ihn sprach, eine Kraft aus seinen Händen floss, wie mehr und mehr Leute Vertrauen zu ihm bekamen und gesegnet werden wollten. Marpa gründete viele Meditationsgruppen, die oft von Frauen geleitet wurden, und führte viele Menschen auf den schnellen Diamantweg. Obwohl er ohne Texte nach Hause zurückgekommen war, trug er allein durch seine Hingabe Naropas Segen nach Tibet. Als auch die formalen Belehrungen als Stütze für die Übertragung benötigt wurden, reiste Marpa noch einmal zu Naropa. Wie beim ersten

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Mal nahm er auch diesmal soviel Gold mit, wie er nur auftreiben konnte. Nun war er bereit für die höchsten Mittel und erhielt die „Sechs Lehren": die Belehrungen über Innere Hitze, Klares Licht, Traumzustand, Illusionskörper, Bewusstseinsübertragung und Zwischenzustand. Diese Methoden verwenden wir auch heute noch.

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Wieder nach Tibet zurückgekehrt, übersetzte und verbreitete er diese Schätze und bekam deshalb den Beinamen „der Übersetzer". Marpa wurde entweder sehr geschätzt oder abgelehnt. Äusserlich war er das schützende Oberhaupt, der geborene „Chef und Mann mehrerer Frauen, der seine Vorhaben gerne kraftvoll durchsetzte; innerlich hatte er die allerhöchste Vajrayana-Weisheit verwirklicht. Wer Ermächtigungen und Kraftübertragungen von ihm erhielt, erlebte ihn wirklich als Buddha. Er zeigte am Himmel und im eigenen Körper Kraftkreise von Höchster Freude und anderen Buddha-Aspekten. Marpas wichtigster Schüler war Milarepa, dessen Lebensgeschichte sehr bekannt ist. Milarepa stammte aus schwierigen Verhältnissen. Bevor sein Vater im Delirium gestorben war, hatte er verfügt, dass ein Onkel ihn vertreten sollte. Dieser und seine Frau rissen aber den gesamten Besitz der Familie Milarepas an sich und stürzten sie in grosses Elend. Milarepas Mutter war darüber so erzürnt, dass sie den jungen Milarepa durch Selbstmorddrohungen zwang, Zauberei zu erlernen, da er allein nicht imstande war, die Feinde der Familie mit dem Schwert zu bekämpfen. Milarepa tat, was sie verlangte und lernte in den folgenden Jahren einige schwarzmagische Praktiken, zum Beispiel auf Abstand zu töten und schweres Hagelwetter hervorzurufen. Diese Mittel waren effektiv und er tötete fünfunddreissig Feinde seiner Sippe. Doch bald fühlte er sich nicht mehr so wohl in seiner Haut. Nachts konnte er nicht schlafen, tagsüber nicht essen. Wenn er umherging, wollte er lieber sitzen und wenn er sass, wollte er lieber herumlaufen. Er hatte keine Ruhe mehr und irgendetwas nagte ständig an ihm. Eines Tages sagte dann sein Lehrer, von dem er die Zauberei gelernt hatte, zu ihm: „Ich habe erkannt, dass wir viel Leid

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verursacht haben. Entweder du bleibst bei meiner Frau und ich gehe weg, um zu lernen Schädliches umzuwandeln, oder ich bleibe bei meiner Frau und du gehst und lernst. Einer von uns beiden muss etwas Vernünftiges tun." Die Frau entsprach wohl nicht ganz Milarepas Geschmack, und so machte er sich auf den Weg. Er kam zu einem Lehrer, der ihm eine Ermächtigung in einen rotschwarzen Schützer gab und ihm sagte: „Wenn du die Praxis morgens verwendest, bist du nachmittags erleuchtet; wenn du sie nachmittags machst, bist du abends erleuchtet." Milarepa dachte sich: „Das ist schön, dann habe ich ja genug Zeit." und legte sich schlafen. Der Lama fand ihn so vor, weckte ihn und sagte dann: „Ich habe offenbar nicht die Verbindung, um dich zu motivieren, aber ich habe in meiner Meditation gespürt, dass ein Lehrer namens Marpa dir wirklich helfen kann." Als Milarepa den Namen Marpas hörte, wurde er fast ohnmächtig vor Hingabe und machte sich sofort auf den Weg zu ihm. Er traf ihn, als dieser gerade dabei war ein Stück Land zu pflügen, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Milarepa erkannte ihn nicht und fragte, ob er ihn bei Marpa einführen könne. Dieser antwortete: „Ich werde dich ihm vorstellen, aber erst musst du das Feld fertig pflügen. Hier ist Bier für dich." Milarepa pflügte das Feld und trank das ganze Bier. Das war ein gutes Zeichen dafür, dass er einmal alle Belehrungen übernehmen würde.

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Seine Schülerzeit bei Marpa bestand nur aus Leiden. So wurde er durch und durch gereinigt. Die Vorstellung, nach dem Tod mit dem Eindruck im Geist fünfunddreissig Menschen getötet zu haben, in einen Zustand des Verfolgungswahns zu gelangen, motivierte ihn, alles zu ertragen. Er kannte niemanden, der wie Marpa die Mittel hatte, die innerhalb eines Lebens zur Erleuchtung führen können. Die Reinigung verlief oft nach demselben Muster: Marpa bat ihn, ein besonderes Haus zu bauen, mit dem Versprechen ihm nach der Fertigstellung Belehrungen zu geben. Milarepa rackerte sich ab wie ein Pferd, Bauch und Rücken waren vom Steineschleppen voller Wunden. Da kam Marpa vorbei und fragte: „Was machst du da?" Milarepa antwortete: „Ich baue dir ein Haus. Und du hast versprochen, mir danach die befreienden Belehrungen zu geben."

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Marpa sagte: „Das ist ja ein fürchterliches Haus. Ich muss betrunken gewesen sein, als ich dir das auftrug. Reiss es wieder ab, lege die Steine dahin zurück, wo du sie hergeholt hast und baue da drüben ein neues Haus! Dann erhältst du die Belehrungen, die du wünschst." So vollzog sich durch Bauen und Abreissen von vier Häusern (gebaut in den Formen der Symbole für die vier Buddha-Aktivitäten) Milarepas äussere und durch die Enttäuschungen seine innere Reinigung. Die letzten Bauten, eine riesige Halle und ein elfstöckiger Turm, stehen noch immer. Am meisten aber schmerzte Milarepa, dass viele Schüler, die von überallher zu Marpa kamen, hohe Belehrungen und Ermächtigungen erhielten, während er selbst immer wieder hinausgeworfen wurde. Dagmema, Marpas Hauptfrau, ergänzte dessen Aktivität, indem sie ständig versuchte, Milarepa zu Ermächtigungen zu verhelfen. Dadurch wurde er vertrauensvoll und offen, so dass der nächste Rausschmiss umso leidvoller war. Milarepa entwickelte sich so zwischen diesen beiden Polen sehr schnell. Nach einer besonders üblen Situation sagte Marpa eines Tages: „Der grosse Zauberer soll kommen. Er ist heute der Hauptgast." Zusammen mit Dagmema gab er Milarepa die gesamte Übertragung von Körper, Rede und Geist. Er wandelte die Schwingung seines Körpers von feststofflich in Lichtenergie um, und Milarepa sah vollkommen klar die Kraftkreise der Buddhas in Marpas fünf inneren Zentren.

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Dann mauerte ihn Marpa zur Meditation in eine Höhle ein. Milarepa machte dort die Grundübungen und hatte wichtige, grundlegende Einsichten. Er bekam danach weitere Belehrungen von Marpa und praktizierte sie, bis er einen Traum hatte, der so stark war, dass er alles andere vergass: Er sah sein Elternhaus mit eingestürztem Dach, Mäuse liefen umher und seine Mutter lag tot auf der Erde. Ohne richtig zu merken, was er tat, riss er die Mauer vor der Höhle ein und eilte zu Marpa. Er betrat den Raum, während Marpa noch im Schlaf lag, die Strahlen der Sonne direkt auf sein Gesicht fielen und Dagmema das Essen brachte. Marpa erklärte ihm dazu: „Das Essen und die Sonnenstrahlen bedeuten, dass alles bei dir blühen wird. Du wirst die Belehrungen

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weitertragen können. Aber, dass du mich schlafend fandest, bedeutet, dass wir uns in diesem Leben nicht wiedersehen wer-

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den." Milarepa konnte das in diesem Moment nicht voll erfassen, er dachte nur an seine Mutter. Marpa hiess ihn, noch einige Tage zu bleiben und gab ihm genaue Anweisungen, wann und bei welchen Zeichen er bestimmte Schriftrollen öffnen sollte. Dann liess er ihn gehen. Zuhause angekommen, fand Milarepa alles genau so vor, wie er es geträumt hatte. Er setzte sich hin und betrachtete alles, bis er plötzlich entdeckte, dass er auf den Knochen seiner Mutter sass. Da verstand er im Innersten die Vergänglichkeit aller Dinge. Er schwor, l nur noch mit dem Geist zu arbeiten und sich durch nichts davon abhalten zu lassen. Sein Eifer war so gross, dass er keine Zeit fand sich um sein Essen zu kümmern, und so lebte er fast ausschliesslich von Nesseln, die um seine Höhle herum wuchsen. Nach Jahren schliesslich war sogar seine Haut grün verfärbt, so dass vorbeikommende Jäger ihn für einen Waldgeist hielten. Durch die Kraft seiner Hingabe und Meditation verwirklichte er alle befreienden Eigenschaften. Da er sehr früh sein Sprachzentrum öffnete, strömten seine Erfahrungen als schöne Gesänge aus ihm hervor. Andere haben zwar auch wie er Verwirklichung erlangt, aber die Fähigkeit, die Lehren so inspirierend auszudrücken, macht seine Erfahrung der Erleuchtung leicht übertragbar. Als Milarepa immer wieder beim Fliegen von Berg zu Berg gesehen wurde und Dutzende von Wundern vollbrachte, kamen immer mehr Schüler zu ihm. Einer von ihnen war Rechungpa, eine sehr gut aussehende Ausstrahlung von Diamant-in-der-Hand, der Kraft aller Buddhas und Vater des Grossen Schwarzen. Er beherrschte die höchsten Praktiken und führte viele Frauen zur Erleuchtung, war aber sehr selbstständig und wollte nicht an einer Stelle bleiben. Rechungpa baute ständig und überall neue Kraftkreise auf und wurde der „mondgleiche" Schüler Milarepas genannt. Dann kam der Zeitpunkt, an dem zur Erhaltung der Übertragungslinie ausser fröhlichen Yogis auch Organisationen notwendig wurden. Diese entstanden durch den „sonnengleichen"

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Schüler Milarepas, Gampopa, ein Muster der Tugend in unserer sonst so wilden Linie. Er war die Wiedergeburt eines Bodhisattvas auf der zehnten Stufe. In Indien war er ein Schüler Buddha Shakyamunis gewesen und erhielt mit vielen anderen Bodhisattvas Belehrungen, bei denen sich Sutra und Tantra ergänzten. Als der Buddha seine Schüler fragte, wer bereit sei, diese Lehren später in das grosse Schneeland im Norden zu bringen, meldete sich ein Mönch namens Da'ö Shönu. Dieser kam 1500 Jahre später als Gampopa auf die Welt. Er war auch der erste Mönch unter den Linienhaltern. Bis dahin gab es bei uns Laien, Yogis und Yoginis. Neben dieser alten Yogi-Laien-Übertragung entstand nun auch die Mönch-Nonnen-Tradition.

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Gampopa hatte die Belehrung, den Lehrer als Buddha zu sehen, offenbar nicht bekommen oder verstanden, und so machte es ihm die hohe Ebene, auf der er schon stand, schwer einen Lehrer zu finden. Er sah viel zu leicht überall Mängel und wurde deswegen immer unzufriedener, bis er eines Nachts von einem Yogi träumte, der vor ihm in der Luft schwebte, etwas Spucke auf den Finger tat und sie ihm direkt ins Gesicht spritzte. Von diesem Augenblick an war seine Vertiefung in der Meditation grenzenlos. Am nächsten Tag kam er an drei Bettlern vorbei, die sich laut unterhielten. Der eine sagte: „Man sollte ein König sein, dann hätte man immer genug zu essen.", doch ein anderer erwiderte: „Man sollte wie Milarepa sein, dann brauchte man überhaupt nicht mehr zu essen." In dem Augenblick, als Gampopa den Namen Milarepas hörte, fiel er fast um und wusste intuitiv, dass dieser der Yogi aus seinem Traum war. Gampopa lud die Bettler zu sich ein, gab ihnen reichlich zu essen und fragte sie über Milarepa aus, bis sie sich im Raum auflösten, denn sie waren nichts Anderes als Ausstrahlungen Milarepas. Ausser sich vor Freude, schlug er die grösste Trommel und blies in das längste Hörn Osttibets. Auf dem Weg zu Milarepa war er ganz „weg" vor Hingabe und hatte ständig Tränen in den Augen. Er umarmte und küsste alle Leute, die ihm etwas über Milarepa sagen konnten, denn er glaubte, sie seien seine Austrahlungen. Währenddessen sass Milarepa mit seinen Schülern in seiner Höhle, manchmal lachte er, dann war er wieder ernst und ab und

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zu machte er ein paar Bewegungen mit seinen Händen. Seine Schüler wollten wissen, was denn los sei und er erklärte: „Mein ganz besonderer Schüler Gampopa ist auf dem Weg hierher und benimmt sich wie ein Betrunkener. Jetzt ist er gerade einen Berg hinuntergestürzt, und ich muss Leute schicken, die ihn wieder hochholen. Davor war ihm das Wasser ausgegangen und ich musste ihm eine Quelle machen." Schliesslich schickte Milarepa seine Schüler Gampopa entgegen. Ein Mädchen traf ihn als Erste und sagte: „Du musst Milarepas ganz besonderer Schüler Gampopa sein." Und obwohl er auf der zehnten Bodhisattva-Stufe war, auf der die Schleier nur noch ganz fein sind, wurde er dennoch etwas stolz.

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Als er zu Milarepa gebracht wurde, musste er erst zehn Tage in einer Nachbarhöhle warten, bis sein Stolz sich gelegt hatte. Aber dann geschah sehr viel: Gampopa erhielt in sehr kurzer Zeit die vollen Belehrungen und den ganzen Segen, jedoch nicht die Zeit sie zu verwirklichen. Schon kurz nach der Übertragung erklärte ihm Milarepa: „Du musst wieder weiterziehen. Menschen, mit denen du eine karmische Verbindung hast und denen du helfen sollst, warten jetzt in Osttibet und du musst zu ihnen gehen." Er erzählte ihm von einem Berg in Form von Karmapas jetzigem Gampopa-Hut und trug ihm auf, zuerst dort Meditationszentren und Klöster zu gründen. Weiters versprach ihm Milarepa, er werde durch das Lehren selbst lernen und volle Erleuchtung erreichen, indem er für andere arbeite. Milarepas letzte Worte beim Abschied waren: „Ich habe noch eine Belehrung, aber die ist zu hoch für dich, die kann ich dir nicht geben." Gampopa bedankte sich und ging dann los, einen kleinen Pfad hinunter, während Milarepa über ihn hinwegflog und am nächsten grossen Stein auf ihn wartete. Er schaute Gampopa an und sagte: „Wenn ich sie dir nicht gebe, wem soll ich sie dann geben?", drehte sich um, zog sein langes Gewand hoch und zeigte ihm seinen nackten Hintern, voller Narben, Wunden und Hornhaut. Dann fügte er hinzu: „Wenn du nicht so viel meditierst wie ich, erreichst du nichts. Jetzt kannst du gehen." Viele Menschen hatten eine karmische Verbindung mit Gampopa, und so entstanden schnell mehrere Klöster und Meditationsstellen

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im östlichen Tibet. Eines Tages kamen drei starke Männer aus Kham in Gampopas Kloster. Sie feierten und hatten viel Spass, bis die Mönche sie entdeckten. Am nächsten Morgen wurden sie hinausgeworfen.

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Als die Männer das Kloster verliessen, spürte Gampopa, wie ein riesiges Kraftfeld wegzog und sah die Vögel der ganzen Gegend die Strasse hinunterfliegen. Er liess die drei Männer aufhalten und zurückholen. Dann prüfte er, ob sie geeignet seien, die Belehrungen, die er selbst von Milarepa bekommen hatte, zu erhalten und gab sie in unterschiedlicher Weise an sie weiter. Ihr Anführer, der besonders kraftvoll war, erhielt alle Lehren. Er hatte einen richtigen Charakterkopf: Seine Haare waren schon früh ergraut und er hatte einen stark hervortretenden Unterkiefer. Er zog sich in eine Höhle zurück, die so klein war, dass seine Knie draussen im Schnee bleiben mussten. Nach acht Monaten war er voll erleuchtet. Damit war er der Schnellste in unserer Linie. Die anderen Yogis sahen deutlich ein fünfeckiges, blauschwarzes Kraftfeld oberhalb seines Kopfes. Gampopa erkannte ihn als Karmapa und bestätigte ihn als denjenigen, der von Buddha oftmals vorausgesagt worden war, zum Beispiel in den Samadhiraja- und Mahaparinirvana-Sutras. Auch Guru Rinpoche hatte sein Kommen angekündigt. Karmapa dankte Gampopa und ging nach Zentraltibet. Auf dem Weg dorthin gründete er zwei wichtige Klöster: Einmal warf er seine Mala in die Luft, ein grosser schwarzer Vogel ergriff sie - schwarze Vögel sind Aktivitäten des Grossen Schwarzen — und flog zu einem Berg, der „Berg der grossen Freude" heisst. An der Stelle, wo er die Mala fallen liess, entstanden das Kloster und die Gemeinde Tsurphu. Dieser Berg, am Ende eines langen Tales, siebzig Kilometer von Lhasa entfernt, eignete sich wegen seiner vielen natürlichen Höhlen und erleuchteten Kraftfelder für Yogis sehr gut. In den Voraussagungen Buddhas und Guru Rinpoches steht über die Schwarze Krone, das Kraftfeld oberhalb Karmapas Kopf, dass jemand, der sie sieht, sich innerhalb der nächsten drei Lebenszeiten aus der bedingten Welt befreien und auf einer

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reinen Bewusstseinsebene wiedergeboren wird, von wo aus er zum Nutzen der Wesen aktiv sein kann. Es wird auch gesagt, dass jeder, der bloss Karmapas Namen hört — er bedeutet „Tatkraft aller Buddhas" — durch die damit verbundene Energie innerhalb von sieben bis sechzehn Lebenszeiten Befreiung erlangt.

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Der erste Karmapa, Düsum Khyenpa, wurde 1110 geboren. Sein Name bedeutet „Kenner der drei Zeiten" - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als Düsum Khyenpa mit dreiundachtzig Jahren seinen Körper verliess, sah er, dass seine Arbeit noch nicht beendet war und dass seine Schüler ihn noch brauchten. So beschloss er wiederzukommen und versprach als erster Lama Tibets, immer wieder eine Menschengeburt anzunehmen, damit seine Schüler mit ihm in Verbindung treten und sich weiterentwickeln könnten. Er hinterliess alle Auskünfte über seine nächste Geburt in einem Brief und einige Jahre nach seinem Tod haben ihn seine Schüler nach seinen Anweisungen als kleines Kind wiedergefunden. Sein Bewusstseinsstrom vom letzten Leben war nicht unterbrochen. Er erkannte alles wieder und segnete schon als Kind Tiere, die vorbeikamen. Dieser zweite Karmapa hiess Karma Pakshi und war aus mehreren Gründen aussergewöhnlich. Seine Taten sind nicht nur wie die aller anderen Karmapas in den chinesischen und mongolischen Chroniken und den tibetischen „Blauen Annalen" enthalten, sondern auch in westlichen Dokumenten. In der vollständigen Fassung seines Buches erzählt Marco Polo viel von Karma Pakshi (Selbst wenn Marco Polo, wie nach neuesten Forschungen behauptet wird, niemals wirklich in Asien gewesen ist, ist es umso erstaunlicher, dass der Ruf des zweiten Karmapa bis in den Westen gelang): Als der Mongolenherrscher Kublai Khan zu alt geworden war, um sein riesiges Reich mit dem Schwert zusammenzuhalten und sich herausstellte, dass sein einziger Sohn — Kublai Khan hatte sich wohl mehr mit dem Krieg als mit der Liebe beschäftigt — Epileptiker war, suchte er etwas, das das Reich zusammenhalten könnte. Er dachte, Religion sei ein geeignetes Mittel. Als praktischer Mann lud er deshalb Vertreter aller erreichbaren

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Religionen ein, und viele kamen: Buddhisten, nestorianische Christen, Sufis, verschiedene Arten von Hinduisten, Taoisten und Schamanen. Marco Polo beschreibt, dass, als alle gerade miteinander diskutierten, ein Mann den Raum betrat, den er Bakshi nannte. Dieser war der zweite Karmapa, Karma Pakshi. Nachdem er eingetreten war, fingen sofort Gabel, Messer und Tassen an, von selbst zu Kublai Khans Lippen zu schweben. Dieser war tief beeindruckt und sagte: „Der Herr mit der Schwarzen Krone hat gewonnen." Zum Zeichen, dass er es ehrlich meinte, bot er an, alle anderen umzubringen. Aber Karmapa erklärte ihm, dass Religion wie Arznei sei, man könne nicht mit einer Arznei alle Krankheiten heilen, verschiedene Menschen brauchten verschiedene Belehrungen. So blieben die Köpfe drauf. Karma Pakshi bewirkte, dass die Mongolen weniger Leid verbreiteten, da sie von nun an nicht mehr die gesamte Bevölkerung ganzer Landstriche ausrotteten.

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Die Mongolenherrscher über Zentralasien und Nordchina waren untereinander zerstritten und beide hatten Karmapa eingeladen. Der Herrscher von Nordchina, der durch Karmapas Besuch in der Mongolei erheblich Gesicht verloren hatte, liess diesen daraufhin gefangennehmen. Dies gab Karmapa die Möglichkeit, durch seine Yogi-Kraft für die nächsten Jahrhunderte die Entwicklung Chinas in menschenfreundlichere Bahnen zu lenken: Als man versuchte, ihn mit Schwertern zu töten, änderte Karmapa die Schwingung seines Körpers von Masse in Energie und sie schnitten durch ihn hindurch. Als sie ihn ertränken wollten, hielt er den Atem lange Zeit tief unten im Körper und holte Energie aus dem Wasser. Als sie ihn vergiften wollten, wandelte er durch Visualisierung der inneren Kanäle das Gift in Energie um und begann stark zu strahlen. Je mehr Gift sie ihm gaben, desto mehr strahlte er. Nur eines gefiel ihm wohl nicht so sehr: Sie versuchten, ihn an seinem Spitzbart aufzuhängen. Er war der erste und auch der letzte Karmapa mit Bart. Nichterleuchtete Schützer aus dem Mandala von Schwarzer Mantel, dem Hauptschützer unserer Linie, und seiner Gefährtin Strahlende Göttin verursachten daraufhin Erdbeben und Seuchen. Da gab der Herrscher nach, kam zu Karmapa und bat um Frieden. Er schenkte ihm eine Menge Gold

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und Silber, die Karmapa auf fantastische Weise nach Tibet brachte: Er warf alles in einen Fluss in der Nähe von Peking und reiste zurück nach Tsurphu. Dort meditierte er am Fluss, bis alles Gold und Silber, das er in China hineingeworfen hatte, am Ufer in Tibet wieder zum Vorschein kam. Dies ist jenes Wunder, das die Tibeter am meisten beeindruckt, denn die Energien in Wasser und Erde — die sogenannten Naga-Energien — zu beherrschen, ist das Schwierigste überhaupt. Aus dem Gold und Silber liess Karrna Pakshi anschliessend die grösste Buddha-Statue Tibets giessen, die 1966 nur mit äusserster Mühe von den kommunistischen Chinesen gesprengt werden konnte, und von der wir Stücke an die Hauptzentren im Westen verteilt haben. Auch der zweite Karmapa hinterliess einen Brief mit den Angaben über seine nächste Wiedergeburt als dritter Karmapa Rangjung Dorje.

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Alle Karmapas haben genaue Angaben über ihre nächste Wiedergeburt gemacht, die meisten schriftliche. Der fünfzehnte Karmapa war als Einziger verheiratet, hatte mehrere Frauen und viele Kinder, die bedeutende Wiedergeburten waren. Alle anderen Karmapas waren Mönche, weil dies für die Arbeit in Tibet am nützlichsten war; auch der sechzehnte Karmapa war Mönch. Prinzipiell sind alle Karmapas die unendliche, liebevolle Möglichkeit des Raumes, die volle Erleuchtung, aber sie drücken auch diejenigen Aktivitäten aus, die in der jeweiligen Zeit gebraucht werden. Zur Zeit des zweiten Karmapa war oft die Umwandlung von Energie notwendig, beim achten Karmapa Mikyö Dorje wurden Weisheit und Einsicht gebraucht und der sechzehnte Karmapa verkörperte die starke, vermehrende Aktivität. Als der fünfzehnte Karmapa 1922 starb, hinterliess er einen Brief, in dem stand: Am Vollmondtag im sechsten Monat des Holzmausjahres (l 924), aus dem liebevollen Wahrheitsraum heraus, in der Familie Athup, beim goldenen Fluss in der Stadt Denkhog, dort wo der grosse Bogenschütze Denmar einstmals stand, werde ich wiedergeboren im Leib einer irdischen Göttin. Mein Name wird Rangjung Rigpe Dorje sein." Der sechzehnte Karmapa hat die gesamte Übertragung und wohl als Einziger alle wichtigen Reliquien einer Linie aus Tibet herausgebracht, als die

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Chinesen das Land besetzten. Durch seinen Segen ist alles Wichtige erhalten geblieben. Kraft seiner Aktivität und durch die Hilfe seiner Schüler hat er die Lehre überall verbreitet. Die Karma Kagyü Linie war in Tibet nicht sehr gross, da sie unpolitisch und praxisorientiert war; dennoch ist sie heute im Westen überall vertreten.

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Unsere Liniengeschichte zeigt, dass diejenigen, die im Laufe von 1100 Jahren das Ziel erreichten, so anfingen wie wir: mit Wünschen, Hoffnungen und einem unbeherrschten Geist. Durch viel Arbeit und Segen erlangten sie Erleuchtung und gaben dann ihre Erfahrung weiter. Sie waren keine abstrakten Wesen, die völlig andere Vorstellungen hatten als wir, sondern sie kamen vertrauensvoll in den Segensstrom hinein und entwickelten sich vor allem durch Hingabe, bis sie die Eigenschaften ihrer Lehrer verwirklicht und das Wesen ihres Geistes vollkommen erkannt hatten. Praktisch gesehen bedeutet dies eine Garantie dafür, dass die mit Praxis ausgefüllte Zeit nicht verschwendet ist. Das heisst, wenn wir unsere Verbindung zu den Lehrern, die wirklich für Karmapa arbeiten, und zu unseren Freunden auf dem Weg halten, entwickeln wir uns auf jeden Fall. Wenn das bis heute so war, geschieht es auch mit uns. Dies war ein kurzer Einblick in die Liniengeschichte, der euch hoffentlich die „Meditation auf den Lama" näherbringen wird.

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Meditation auf den Lama In diesem vierten und letzten Teil der Grundübungen sammeln wir vor allem Weisheit an, werden in die Übertragungslinie aufgenommen und erhalten ihren Segen. Die ersten beiden Übungen betonen den Aspekt der Reinigung, während die dritte Übung inneren Reichtum vergrössert. Bei allen dreien haben wir uns unseren Körper immer noch in seiner gewöhnlichen Form vorgestellt. Bei der Meditation auf den Lama werden zuerst alle Erscheinungen rein. Dann entsteht unser Geist als Diamant-Sau, hier in Form von der friedlichen Weisheitsdakini, Yeshe Khandro. Sie ist schön, durchsichtig und nackt, auf dem linken Bein stehend, das rechte angewinkelt. In der linken Hand halten wir eine mit Weisheitsnektar gefüllte Schädelschale in Höhe des Herzens und in der rechten ein Haumesser, mit dem alle engen Vorstellungen abgeschnitten werden. Da wir als strahlende Lichtform erscheinen, lösen sich die auf Körpererfahrung basierenden Gewohnheiten auf und wir können den Segen besser empfangen. Dafür ist keine Einweihung nötig. Diamant-Sau ist der meistverwendete Yidam der Karma Kagyü Schule. Sie steht als weibliche Form für die höchste intuitive Weisheit des Raumes. Wenn wir während der Praxis nicht alle Einzelheiten festhalten können, genügt es, das Vertrauen zu haben, dass wir jetzt wirklich Diamant-Sau sind. Schon vom ersten Satz an erkennen wir den echten Kagyü-Text. Wir öffnen uns für den Wurzel-Lama Karmapa in Form von Diamanthalter in dem Wissen, dass sie eins sind. Der Lama ist in unserer Linie immer das Wichtigste, wie die folgende Geschichte zeigt: Als vor tausend Jahren Marpa das dritte Mal bei Naropa war, um wichtige Belehrungen nach Tibet zu holen, bildete sich ein riesiges, intensives, blaues Energiefeld neben Naropa. Es war Marpas Yidam, der Buddha Oh Diamant in Vereinigung mit seiner Gefährtin. Sie strahlten beide wie tausend Sonnen, und Naropa sah neben ihnen wie ein gewöhnlicher alter Inder aus. Naropa fragte Marpa: „Wen begrüsst du zuerst?"

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Diamanthalter, tibetisches Thangka-Bild.

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Marpa dachte sehr menschlich: „Naropa sehe ich jeden Tag, aber der andere sieht spannend aus." So begrüsste er Oh Diamant zuerst. Naropa sagte: „Irrtum! In unserer Linie ist immer der Lama am wichtigsten." Dann löste er das ganze Kraftfeld in Licht auf und zog es in sein Herz.

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Auf welche Form wir auch meditieren, sei es Liebevolle Augen, Diamantgeist oder Grosser Schwarzer, in der Essenz sind sie alle Aspekte Karmapas. Auch die Lehrer unserer Linie, tibetische und westliche, verkörpern Karmapas Aktivität. Man sollte sie nicht als Personen sehen, sondern als mehr oder weniger offene Kanäle, durch die Karmapas Aktivität arbeitet. In dieser Meditation erscheint Karmapa in seiner eigenen Form oder als Diamanthalter, dem Geist aller Buddhas. Wer sich gerne Karmapa mit Schwarzer Krone vorstellt, bekommt zusätzlich den Segen der Schwarzen Krone. Eine wichtige Erfahrung im Diamantweg ist, dass alles der Geist ist. Bei der Meditation auf den Lama können wir mit diesem Verständnis besser arbeiten als bei den vorherigen Übungen. Für die Verbeugungen brauchten wir noch die Vorstellung eines Zufluchtsbaumes; unser Geist haftete noch an Dingen. Selbst für die Mandala-Opferungen benützten wir noch die fünf Reishäufchen. Hier jedoch ist Karmapa über unserem Kopf und die gesamte Zuflucht befindet sich über ihm und um ihn herum. Die Linienhalter bilden die zentrale Reihe. Sie wird die „Goldene Kette der Kagyü-Überlieferung" genannt. Ganz oben sehen wir Diamanthalter, ihm folgen die indischen Mahasiddhas, dann kommen Marpa, Milarepa und Gampopa. Darunter sind alle Karmapas und die anderen, die die Linie gehalten haben und direkt über unserem Kopf ist der Wurzel-Lama Karmapa. Haben wir einen Lehrer, der uns sehr nahe steht, der uns die wichtigsten Belehrungen und den meisten Segen gibt, ist dieser untrennbar von Karmapa. Während wir uns diesem ganzen Kraftfeld gegenüber öffnen, denken und sagen wir: „Om, Allumfassender, der du die wahre Natur aller Dinge bist..." Wie würden wir das heutzutage ausdrücken? Gemeint ist hier das, was wir als „Rauminformation" bezeichnen können. Raum ist nicht etwas Totes oder Trennendes, kein Loch zwischen uns,

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sondern eher ein „Behälter", aus dem alles entstehen kann. Er ist lebendig, voller Bewusstsein und Information. Alles entsteht in ihm, wird von ihm erlebt und löst sich wieder darin auf. Er ist intuitive Weisheit und spontane Freude.

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Für Karmapa war diese allwissende Klarheit ein natürlicher Zustand. In den zwölf Jahren, die wir ihn kannten, erlebten wir, dass er nicht nur wusste, was jeder dachte und fühlte, sondern auch genau sagte, was woanders geschehen war oder was nah und fern geschehen würde. Mehrmals hatte ich in der Innentasche meiner Jacke einen Brief für ihn. Karmapa zeigte mit dem Finger darauf, wusste, wer ihn geschrieben hatte und wollte ihn sehen. Er konnte den Brief weder gesehen, noch in dem Moment meine Gedanken gelesen haben, denn ich hatte ihn selbst vergessen. Karmapa wusste einfach davon, da er von nichts getrennt ist. So etwas ist nur möglich, weil Raum gleich Wahrheit und Information ist. Der Geist durchdringt alles. „Obwohl du nicht die Merkmale von Kommen und Gehen hast, erscheinst du hier wie der Mond im Wasser ..." So ist es wirklich. Niemand kann sagen, woher ein Gedanke, eine Erfahrung, ein Wort oder eine Situation kommen. Ganz gleich, ob wir das grosse Glück haben, reine Bereiche zu erleben und männliche bzw. weibliche Buddhas zu treffen, oder ob wir nur ganz gewöhnliche Erfahrungen machen: Wir können nicht sagen, woher all die Erscheinungen wie Gedanken, Erfahrungen, Worte oder Situationen kommen. Sie entstehen im Raum und lösen sich auch darin wieder auf. So wie sich Gedanken und Gefühle im Inneren auflösen, so vergehen Situationen und Welten im Äusseren. Durch die Diamantweg-Übungen können wir uns von der Wahrheitsnatur aller Dinge überzeugen. Haben wir das Vertrauen, dass sie da ist, und erleben wir sie als zeitlos und untrennbar vom Raum selbst, so können wir uns hier und jetzt in Regenbogenlicht auflösen. Sind wir uns dieser Tatsache ganz sicher, gibt es für uns keine Hindernisse und kein Leid mehr. Sollten wir aber noch Zweifel haben, so ist diese Meditation das geeignete Mittel, sie zu zerstreuen. Wir verschmelzen mit Karmapa und werden zu einer Einheit mit ihm. Damit wir Vertrauen gewinnen, entsteht Karmapa

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erst über uns, reinigt und segnet uns, dann erst schmilzt er in uns hinein.

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Obwohl Wahrheit überall ist, denken wir häufig: Je mehr wir uns anstrengen, desto mehr bekommen wir. Dieses Denken macht auch vor unserer Meditation nicht halt. Auch hier meinen wir mehr Segen zu erhalten, wenn wir vorher etwas dafür getan haben. Deshalb gibt es für uns die aufbauende Phase in der Meditation: Wir lassen zuerst Licht zu allen Buddhas und Bodhisattvas hinausstrahlen, und wenn es sie berührt, werden sie zu Formen von Karmapa und Diamanthalter, fallen wie Regen herab und verschmelzen mit den Lamas der Linie. Haben wir jedoch genügend Vertrauen, sind alle Buddhas spontan da. Dies verkürzt die Phase. Der Lama wird auch „Ruhmreicher Heruka" genannt. Herukas sind Buddhas im grossen Freudenzustand, aus deren Körper Licht strahlt und Flammen in alle Richtungen schlagen. Grosse Freude ist hier der Bedeutendste dieser mit Licht und Flammen umgebenen, kraftvollen Ausstrahlungen. Als Ausdruck männlicher Freude verschmelzen sie mit der weiblichen Leerheit zu höchster Erleuchtung. „Der du die Heere Maras besiegt hast..." Hiermit sind Täuschungen oder auch Dämonen gemeint. Es handelt sich dabei nicht um die sich zornvoll zeigenden Buddhas, die ein Weisheitsauge an der Stirn haben, sondern um Wesen mit verwirrter oder negativer Einstellung. Oft haben sie die aufbauende Phase der Meditation intensiv geübt, viele Mantras gesagt und dadurch grosse Macht erlangt. Da sie aber die auflösende Phase der Meditation nicht praktiziert haben, in der alles in Leerheit zurückkehrt und sie den Erleuchtungsgeist nicht stark genug entwickelt haben, führte diese Verbindung von Kraft und falscher Motivation zu einer Wiedergeburt als Dämon. „Lamas, Yidams, Dakinis mit eurem Gefolge, wenn ich euch jetzt voller Vertrauen hierher bitte, dann erscheint durch die Kraft eures objektlosen Mitgefühls." Wir laden hier das gesamte Kraftfeld des Segens und der Inspiration, die weiblichen und männlichen Buddhas mit ihrem Gefolge, ein und vertrauen darauf, dass sie nicht zwischen Mögen und Nichtmögen unterscheiden. Viele

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denken, wirkliche Freundschaft bedeute, auch feindselig gegenüber dem Feind der Freunde zu sein. Es gibt tatsächlich auch Situationen, wie etwa Unterdrückung, Gewalt oder Lüge, in denen es feige wäre, den Freunden gegenüber nicht solidarisch zu sein. Wir helfen ihnen jedoch mehr, wenn wir uns spontan auf ihre Situationen einstellen können, ohne von unseren eigenen störenden Gefühlen beeinträchtigt zu sein.

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„Ich verbeuge mich vor dem wahren, glorreichen Lama...". Hier folgen die Siebenteiligen Wünsche, die wir auch aus der Praxis auf Liebevolle Augen kennen. Sie haben tiefen Sinn, sollten aber in eine modernere Sprache übersetzt werden. Darauf folgen eine Reihe von Wünschen an den Lama: „Gib deinen Segen, dass ich diesen illusorischen Körper als Ausstrahlungszustand erkenne." Dies drückt unseren Wunsch aus fähig zu werden, unseren Körper auf unsentimentale Weise zum Wohle aller Wesen einsetzen zu können. Tulku bedeutet auf tibetisch Illusionskörper und ist ein Werkzeug, mit dem wir die vier Arten von Buddha-Aktivitäten ausüben können: die friedvolle, welche die Wesen heilt und mit Wärme erfüllt; die bereichernde, die überall positive Möglichkeiten hervorbringt; die inspirierende, die starke Gefühle von Offenheit, Liebe und Zuversicht weckt und zuletzt die kraftvoll schützende, die Hindernisse entfernt. Verwenden wir unseren Körper so, können sich alle um uns herum in der schnellsten Weise entwickeln. „Gib deinen Segen, dass ich den Lebensatem als Freudenzustand erkenne." Mit diesem „Lebensatem" sind die nach oben und unten gehenden Energien gemeint, die lebenserhaltenden Winde im Körper. Durch die Praxis des Diamantweges werden diese inneren Ströme mehr und mehr als höchste Freude erlebt. Dies geschieht, wenn wir uns auf die zentrale Energieachse und die fünf Energieräder im Körper konzentrieren und die Winde frei darin arbeiten können. Bei der Liebe erleben wir schon jetzt einige dieser Energieströme als sehr freudvoll. Es geht jedoch darum, dass wir alle Vorgänge im Körper und jedes Atom als freudvoll erleben. „Gib deinen Segen, dass ich meinen Geist als Wahrheitszustand erkenne." Diese

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letzten drei Wünsche zielen auf die höchste Einsicht ab. Wir sehen deutlich, dass die Grundübungen wirklich Grosse Siegel-Vorbereitungen sind. In diesen Sätzen kommt tiefes Wissen zum Ausdruck. Den Körper als Werkzeug zu sehen, den Atem, die inneren Winde und Bewegungen als höchste Freude zu erleben und die Raum-Klarheit des Geistes als höchste Weisheit zu erfahren, ist die volle Bedeutung des Buddhismus in drei Sätzen. Der neunte Karmapa schenkte sie uns.

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Nachdem wir uns so geöffnet haben, rufen wir das Kraftfeld der Mahamudra-Lehrer herbei. Wie schon im ersten Teil erwähnt, gibt es zwei Übertragungslinien: Zum Einen jene der „Sechs Lehren", der „Weg der Mittel", die zuerst die Kraft und dann die Klarheit im Geist erweckt und dadurch zur Erleuchtung führt. Marpa erhielt sie von Naropa. Von Maitripa bekam er die Belehrungen zum Grossen Siegel, den „Weg der Befreiung", der mit dem strahlenden Raumbewusstsein des Geistes arbeitet. So wurde Marpa Halter beider Linien, die er zu einem abgerundeten System zusammenfasste und vor etwa tausend Jahren nach Tibet brachte. Rund dreihundert Jahre später vereinigte dann der dritte Karmapa, der die bekannten Wünsche zum Grossen Siegel verfasste, die beiden Weisheitsübertragungen des „Maha-Ati" Guru Rinpoches und des „Mahamudra" Marpas, so dass seither die Kagyü-Linie im Besitz sämtlicher Wege zur Erkenntnis des Geistes ist. Wir wenden uns an alle Mahamudra-Lamas, wie es im Text steht, und versuchen aufzunehmen, was über jeden einzelnen gesagt wird: „Gütiger Wurzel-Lama ... ich bete zu dir." Was ist der Grund für diese Wünsche? Der Sinn ist nicht, die Aktivitäten der Buddhas zu verbessern. Erleuchtung kann nicht grösser oder Meiner gemacht, in diese oder jene Richtung beeinflusst werden. Wahrheit ist allgegenwärtig, strahlend und drückt ihre erleuchteten Eigenschaften aus. Sinn dieser Wünsche ist es, uns dafür zu öffnen, damit wir Furchtlosigkeit, Freude und bedingungslose Liebe der Erleuchtung erleben. Wenn wir unser Bestes tun, können wir sicher sein, dass die Buddhas - wenn nötig - unser Leben retten und es sinnvoll machen. Haben wir uns einmal geöffnet, so erhalten wir den ganzen Segen der Linie. Der

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in diesem Wunsch angesprochene „natürliche Zustand" ist jener, in dem der Geist spontan und mühelos ruht. Es gibt drei Aspekte vom Grossen Siegel: Grundlage-Mahamudra ist unsere Buddha-Natur und unser Vertrauen darin; Weg-Mahamudra ist das Verweilen des Geistes in sich selbst, was auch geschieht; Frucht-Mahamudra ist die volle Erfahrung der Erleuchtung. Zuerst mag das sehr abstrakt klingen, aber mit der Zeit wird es zu einer vollständigen Erfahrung.

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„Zur Versammlung der Yidams... gewährt mir die Mahamudra-Weisheit." Zuerst baten wir um den Segen des Lamas. Jetzt öffnen wir uns der spontanen Einsicht in die Kraftkreise der Yidams, jene Formen aus Licht und Energie, die uns alle Aspekte unseres Geistes auf erleuchteter Ebene zeigen. Sie erscheinen friedvoll, zornvoll, weiblich, männlich, einzeln oder in Vereinigung, wie es uns entspricht. Wir müssen nicht alle auf den gleichen Yidam meditieren, denn — obwohl sie alle dieselbe Essenz haben — eignen sie sich für verschiedene Stufen der Entwicklung. „...welche die beiden Verwirklichungen gewähren..." Was sind die beiden Verwirklichungen? Die eine ist die aussergewöhnliche Fähigkeit, durch die man mit der allgemein erlebten Illusion der Naturgesetze spielen kann, wie es zum Beispiel Uri Geller gezeigt hat. Sie entwickelt sich durch gute Shine-Meditation. Die andere, wesentlich wichtigere Fähigkeit, entsteht durch Einsicht in die Natur des Geistes. Sie gibt uns die Möglichkeit, den Wesen auf tiefer, innerer Ebene zu helfen, indem wir Hindernisse und störende Gewohnheiten beseitigen und ihnen damit eine Grundlage für ihr Wachstum schaffen. Obwohl die zweite Art von Fähigkeit von umfassenderer Bedeutung ist, bitten wir um beide, da auch die erste nützlich sein kann. Dann wenden wir uns an die Schützer, die die Buddha-Aktivität ausführen und kraftvoll zum Besten der Wesen arbeiten. Die wichtigsten Schützer sind die verschiedenen Formen des allwissenden Grossen Schwarzen; sie treten als männliche, weibliche oder vereinigte Aspekte auf. Sehr aktiv sind auch die „Schützer, die ihr Versprechen halten". Sie sind keine direkten Bodhisattva-Ausstrahlungen, sondern weltliche Energien, die

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versprochen haben, die Aktivitäten des Grossen Schwarzen zu unterstützen. Sie arbeiten immer in der Nähe von Schwarzer Mantel. Mit ihnen bekommen wir Schwierigkeiten, wenn wir uns nicht an unsere Versprechen halten.

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„Möge ich durch den Segen das Grundlage-Mahamudra realisieren, ohne Sein und Nicht-Sein." Was wir hier wünschen ist die grundlegende Buddhaessenz aller Wesen zu erkennen, dass jedermanns Geist an sich Raum und klares Licht ist. In diesem Zustand zu verweilen, jenseits von Begriffen, führt zur Gewissheit, dass es immer einen Spiegel hinter den Bildern, ein Meer unterhalb der Wellen, einen Erleber jenseits der Erlebnisse gibt. „Ohne Vorstellung von zu Erkennendem, Erkenner und Erkenntnis, ohne Verschleiertes, Verschleierer und Schleier aufzugeben..." Hier geht es um die bedingte und die unbedingte Ebene. Müssten wir die Schleier nicht aufgeben, brauchten wir auch die Grundübungen nicht zu machen. Auf relativer Ebene müssen wir also viel tun, und mitunter kann es sich anfühlen, als wäre keine Entwicklung da. Unterbewusst arbeitet aber jeder befreiende Eindruck in uns weiter, Tag und Nacht. Alle Beispiele von Erleuchteten ähneln sich darin, dass die befreienden Prozesse ständig durch Praxis und Sichtweise genährt werden, während die überpersönlichen Erleuchtungszustände immer mehr zu Tage treten und sich eines Tages verselbstständigen. Dies geschieht am effektivsten durch die Identifikation mit dem Lehrer. So wird sich der Geist am stärksten und überzeugendsten seiner ihm innewohnenden Eigenschaften bewusst und Erleuchtung wird erlebt. Die Trennung zwischen dem Erkenner, der Erkenntnis und dem Vorgang des Erkennens ist dann aufgehoben, Subjekt, Objekt und Tat sind eins geworden. Im seine Wünschen zum Grossen Siegel verwendet der dritte Karmapa sehr negative Bezeichnungen für diese Trennungsgewohnheiten des Geistes. Er bezeichnet sie als Verunreinigung und Verschmutzung, weil sie die Ursachen für Leid und Verwirrung sind: Wir erleben nicht aus dem Gefühl von Einheit heraus, sondern nehmen alle Eindrücke, die kommen und

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gehen, auf der relativen Ebene wahr. Wir fühlen uns nicht zu Hause in dem, was geschieht. Selbst die Götterzustände, in denen wir eigentlich nur positive Eindrücke in unserem Geist erfahren, geben uns dieses Gefühl von Trennung. Wir haben immer noch die Vorstellung von einem „Ich", einer „Seele", einem „Überselbst", „Atman" oder wie auch immer wir es nennen mögen, das getrennt ist von dem, was es erlebt. Genau dies ist der „Ring", in den sich die Neurosen einhaken können. Wenn schliesslich die positiven Eindrücke im Geist erschöpft sind, tauchen wieder negative auf, die uns gefangen nehmen, weil der Geist seine gemischten Bilder immer noch für wirklich hält. So geht es von Leben zu Leben. Mit unbestechlicher Logik lehrt uns der Buddha, dass dies immer so war. Wären wir irgendwann aus einem perfekten Zustand herausgefallen, wäre dieser erstens nicht perfekt gewesen, und zweitens hätten wir keine Sicherheit, dass sich dieser Vorgang nicht wiederholen könnte. Verwirrung war zwar immer da; jetzt aber erkennt sich der Verwirrer selbst, und dadurch tritt ein neuer Zustand ein, eine neue Dimension kommt hinzu. Wir haben dann den spontanen, mühelosen Zustand erreicht, in dem es kein „Ich" mehr gibt und somit nichts, das von irgendwo „herunterfallen" könnte. Erleuchtung ist deshalb zeitlos und absolut.

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„Möge ich das Weg-Mahamudra verwirklichen." Das Voranschreiten auf dem Weg geschieht spontan und mühelos als ein natürliches Heranwachsen und Sich-Öffnen, jenseits der Vorstellung von Gehen, Gehendem und Weg. Die spielerische, freudvolle Basis des Geistes bleibt zeitlos dieselbe und drückt zugleich eine spontane, reine Entwicklung aus. „Möge ich das Frucht-Mahamudra verwirklichen, ohne die Idee von zu Erlangendem, Erlanger und Erlangen...". Nach der Grundlage und dem Weg bekommen wir jetzt die Frucht. Es gibt keine Erwartungen, Begrenzungen und auch keine Vorstellungen mehr. Alles ist spontan und mühelos. Ist unser Zug in den Zielbahnhof eingefahren, steigen wir einfach aus. Wir fragen nicht danach, wie viel Strom gebraucht wurde, denken nicht daran, wie viel wir bezahlt haben, an welchen Stationen der Zug gehalten hat und wer wann wo aus- oder eingestiegen ist. Wir sind einfach da.

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Der Geist erkennt sein Potenzial, macht sich auf den Weg und findet sich jetzt ohne Vorstellungen am Ziel. Alle Wesen sind männliche und weibliche Buddhas, alles strahlt, ist sinnvoll, und der Geist erkennt, dass es schon immer so war: Es gab niemanden, der sich auf den Weg machte, keinen Weg, der zu gehen war und kein Ziel, welches zu erreichen gewesen wäre.

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Mit den bisherigen Wünschen haben wir unsere Hingabe und unsere befreiende Weisheit entwickelt und feste Ideen aufgelöst. So öffnen wir uns für das Grosse Siegel, das uns zur vollen Erleuchtung fuhrt. Die nun folgende Anrufung ist nochmals an die Linie gerichtet. „Ich bete zum grossen Diamanthalter, Tilo, Naro, Marpa, Mila, Dharma-Meister Gampopa, Düsum Khyenpa, dem allwissenden Karmapa, den Haltern der vier grossen und acht kleinen Linien..." Wir wenden uns hier nochmals an die Linie, die unseren Wünschen Kraft gibt, rufen Karmapa an und sind uns der ganzen goldenen Übertragungslinie der Kagyüs bewusst. Der erste Karmapa und die weiteren drei Hauptschüler von Gampopa gründeten die sogenannten „grossen" Kagyü-Übertragungslinien. Heute existieren sie nur noch formal: Praktisch sind sie inzwischen in die Karma (oder Kamtsang-) Kagyü Linie aufgenommen worden und werden durch Karmapa weitergeführt. Von den acht kleinen Linien haben heute vor allem die Drugpa Kagyüs noch Bedeutung. Sie sind Hauptträger des Buddhismus in Bhutan. Die Klöster der Drikung Linie gehören zu den schönsten in Ladakh. Eine andere Linie, die fast ausgestorben war, heisst Shangpa Kagyü und ihr Linienhalter war Kalu Rinpoche. Ihre Übertragung erfolgte nicht über Tilo, Naro, Marpa, Mila usw., sondern über Naro-pas Schwester Niguma. Sie hat ein System entwickelt, das nicht soviel physische Kraft erfordert und deshalb für Frauen geeigneter ist. Auch die Visualisierungen sind weniger detailliert. 1953 wurde Kalu Rinpoche vom 16. Gyalwa Karmapa nach Bhutan gesandt, um die spätere Flucht vorzubereiten. Als Karmapa nachkam, liess er Kalu Rinpoche die Shangpa Kagyü Linie innerhalb der Karma Kagyü Linie weiterführen.

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„Den unvergleichlichen Beschützern der Wesen, den Dagpo Kagyüs...". Die Dagpo Kagyü Linie stammt von Gampopa, der auch Dagpo Lharje genannt wird. Man sagt im Spass, es gäbe zwei Kagyü-Überlieferungen: die Dagpo Kagyü für Mönche und die Marpa Kagyü für Yogis und Laien. Seit dem fünfzehnten Karmapa jedoch ist es offensichtlich, dass keine Trennung notwendig ist. Unabhängig davon, ob der Lehrer Yogi oder Mönch ist, erhalten wir die vollständige Übertragung.

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„Gebt euren Segen, dass ich durch euer inspirierendes Beispiel die Linie der Kagyüs halte." Die Kraft der Übertragungslinie liegt in ihrer Vollständigkeit und Reinheit und auch in der Treue, Kraft und Unerschütterlichkeit der Lamas. Sie hat nichts mit Egospielen, Anhaftung, Zu- oder Abneigung, mit vorhandenem oder fehlendem Charme der Lehrer zu tun. „Es wird gesagt, Abkehr von Samsara sei der Fuss der Meditation..., dass er ohne Anhaftung an Reichtum und Ehre ist." Diese grundlegenden Dinge müssen wir ab und zu bei uns selbst überprüfen. Wir haben dafür durch das absolute Beispiel Milarepas und durch die Zustände gewöhnlicher Menschen einen Massstab, an dem wir unseren Ehrgeiz und unsere Anhaftung messen können. „Es wird gesagt, Hingabe sei der Kopf der Meditation..., dass in ihm natürliche Hingabe entsteht." Das Nicht-Anhaften ist also der Fuss der Meditation, während Hingabe, verbunden mit Lernbereitschaft, ihr Kopf ist. Sehen wir den Lama nicht als wesentlich höher als uns selbst an, sollten wir lieber gleich etwas Anderes tun. Haben wir aber wirkliche Hingabe, verstehen wir den Lehrer als vollkommenes Beispiel und wünschen wir, so zu werden wie er, werden wir es auch. Sehen wir Buddha als gewöhnlichen Mann, erhalten wir den Segen eines gewöhnlichen Wesens. Sehen wir einen gewöhnlichen Menschen als Buddha, werden wir den Segen eines Buddhas erhalten. Erleben wir alles auf einer reinen Ebene, wird der Geist sich öffnen und sich entwickeln; sind wir aber nur skeptisch, können wir hundert Jahre lang auf dem Schoss des Buddhas sitzen, ohne ihn zu erleben. Zur Zeit Buddhas gab es einen Mönch, der vierzig Jahre mit ihm

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verbrachte, ohne sich zu entwickeln. Er war nämlich überzeugt, dass der einzige Unterschied zwischen ihm und dem Buddha der sei, dass dieser nachts leuchte.

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Der Lama ist derjenige, der uns die Schatzkammer der Belehrungen öffnet. Obwohl die Buddha-Natur immer schon als die Essenz unseres Geistes vorhanden war, erschliesst sie uns erst der Lama. Wie ein Spiegel zeigt er uns das eigene Gesicht und nimmt aus dem Ozean der Lehre genau das, was für uns hier und jetzt von Nutzen ist. Weiters wünschen wir, dass unerschütterliche Hingabe in uns entstehen möge. Es gibt drei Ebenen von Hingabe: Zuerst entsteht Vertrauen zur Lehre. Dieses führt dazu, dass wir uns um Erkenntnis bemühen, wodurch sich letztendlich unsere Zweifel vollkommen auflösen. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob der Lehrer auf einem hohen Thron sitzt und heilig aussieht oder ob er kraftvoll durchgreift und seine Schüler aus ihrer geliebten „heilen Welt" holt. Wir sind einfach sicher, dass er weiss, was er tut. Auch einige der Besten unserer Linie hatten anfangs Schwierigkeiten mit der höchsten Form der Hingabe. Sie mussten sogar ihre Besserwisserei aufgeben, wie zum Beispiel Milarepa: Obwohl er seine Reinigungen so gut durchgestanden hatte, war er sehr bedrückt, als Marpa ein Hagelwetter von ihm verlangte. Natürlich gehorchte er, aber nachher sammelte er einige Mäuse und Vögel auf, die der Hagel erschlagen hatte, brachte sie zu Marpa und sagte: „Sieh nur, jetzt hast du mir eine Menge schlechtes Kar-ma gebracht." Marpa antwortete: „Ist das wirklich so?", schnipste mit den Fingern, und schon flogen und krabbelten alle Tiere wieder davon. Wenn der Lehrer etwas Ungewöhnliches oder scheinbar Schädliches tut, muss er die Kraft haben, die Folgen zu beherrschen, um sie für die Wesen zu einem Teil ihres Weges werden zu lassen. Er muss die Fähigkeit haben mögliche Schäden umzukehren. Kann der Lehrer dies nicht, so ist es besser, er hält sich an das, was allgemein als nützlich oder verständlich erkannt wird. Halten wir die Verbindung, sagen wir Karmapas Mantra und achten wir auf unsere Motivation, können wir sicher sein, dass Karmapas Kraftfeld uns überall begleitet,

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auch dann, wenn Situationen für uns selbst nicht so überschaubar sind.

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„Es wird gesagt, Unzerstreutheit sei die eigentliche Meditation... Gib deinen Segen, dass der Meditierende beim Meditieren frei von Intellektualisieren ist." Viele denken zuerst, dass es etwas Schlechtes sei, wenn Gedanken während der Meditation auftauchen. Denken wir so, werden wir aber nicht frei von Konzepten. Anfangs gelingt es uns vielleicht, ein paar Minuten ohne Gedanken zu meditieren, aber dann taucht ein Gedanke auf, und denken wir dann: „Ich darf ja nicht denken.", sind es schon zwei. Jeder Versuch, etwas Unnatürliches zu tun, verschlimmert alles. Es ist also wichtig, hierüber die richtigen Belehrungen zu erhalten. Der Zustand ohne Gedanken ist der Raum des Geistes, der Zustand mit Gedanken seine Klarheit, und beide sind Aspekte seiner Unbegrenztheit. Ein Geist ganz ohne Gedanken ist meistens dumpf und schläfrig. Jampel Sangpo, ein Schüler des sechsten und Lehrer des siebten Karmapas, sagt hier, dass es weder um Gedanken noch um das Freisein von Gedanken geht, sondern darum, natürlich in dem zu verweilen, was da ist. Dann können wir Gedanken so erleben wie die Geräusche spielender Nachbarkinder, das heisst, wir nehmen sie wahr, aber kümmern uns nicht um sie. Wir denken auch nicht, dass die guten Gedanken bleiben und die schlechten gehen sollten. Wir sehen einfach, wie spannend es ist, dass sie überhaupt entstehen können, dass ihre Essenz immer frisch und neu ist, selbst dann, wenn immer die gleichen Gewohnheitsgedanken auftauchen. „Gib deinen Segen, dass der Meditierende natürlich darin verweilt..." Wieder bitten wir nicht darum keine Gedanken zu haben, sondern sie nicht ernst zu nehmen und vor allem, während der Meditation keine „klugen" Systeme aufzubauen. Das Besondere an der Lehre Buddhas ist — im Gegensatz zum Christentum, Hinduismus und Psychotherapie —, dass Gedanken und bedingte Gefühle nicht so ernst genommen werden, da sie sich ohnehin ständig ändern. Stattdessen konzentrieren wir uns auf den Geist selbst, der zeitlos und absolut ist. Wer nur die Erlebnisse sieht, ohne den Erleber zu erfahren, bewertet ständig

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und giesst das freie Spiel des Geistes in Beton: Anstatt einfach nur Gedanken zu haben, sind wir entweder sündig oder gut. Für den Buddhismus sind diese Wertungen nur relativ. Es ist sowieso unmöglich, die guten Gedanken zu behalten und die schlechten abzugeben. Das wirklich Wichtige ist der Geist selbst. Haben wir also ein Problem, so wissen wir, dass es — wie alles andere auch — vergänglich ist. Wir tun deshalb, was sinnvoll ist, und vermeiden jede Dramatik. Ist unser Geist erst einmal zur Ruhe gekommen, sind wir fähig effektiv mit jeder Situation umzugehen.„Es wird gesagt, die Essenz der Gedanken sei der Dharmakaya..., dass er Samsara und Nirvana als untrennbar erkennt." So wie Wellen aus dem Wasser des Ozeans entstehen, darin spielen und sich wieder auflösen, so kommen und gehen die Eindrücke im Geist. Sowohl innere Zustände als auch äussere Welten entstehen im Raum, entfalten sich dort, werden vom Raum erkannt und verschwinden wieder darin. Ihre Essenz ist der Raum, die Leerheit selbst. Diesen „Raum" zu erkennen bedeutet Furchtlosigkeit, Freude und aktives Mitgefühl: Nirvana. Ihn nicht zu erkennen, bedeutet Verwirrung und Leid: Samsara.

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Es gibt zwei Wege, diese Leerheit oder Bedingtheit zu erkennen: mit dem Intellekt oder durch Meditation. Die Erfahrungen dabei unterscheiden sich jedoch sehr voneinander. Versuchen wir, Leerheit nur intellektuell zu verstehen, so ist das Ergebnis das berühmte „schwarze Loch", in dem alles verschwindet. Untersuchungen in der Atomphysik zeigen, dass nach der Zertrümmerung der kleinsten Teilchen eines Atoms keine materielle Substanz mehr übrigbleibt. Dies bedeutet, dass die materielle Welt nicht wirklich existent und dauerhaft ist, sondern wieder in den Raum zurückkehrt. Das Gleiche geschieht mit Gedanken und Gefühlen. Erkenntnis durch die intellektuelle Ebene des Geistes entwickelt in uns nur ein logisches, klares Weltbild, in dem alles „leer in seiner Existenz, leer durch sich selbst" ist. Diese Vorgehensweise wird vor allem in den grossen Debatten der Gelugpa-Tradition verwendet. Diejenigen jedoch, die ein lebendiges Gefühlsleben haben, sind mit diesem Weg der Erkenntnis nicht zufrieden. Für sie gibt es dann den zweiten Weg, in dem der Geist die Erfahrung durch

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Meditation macht. Er bleibt dabei bewusst, intuitiv und assoziativ und erlebt Raum und Klarheit als untrennbar. Selbst wenn sich alle Bilder im Spiegel des Geistes aufgelöst haben, ist immer noch der Spiegel selbst da. Ist auch die letzte Erscheinung aus unserem Bewusstsein verschwunden, bleibt das Bewusstsein an sich, bleibt die Klarheit. Der Erleber vergeht nicht mit dem Erlebnis. Erkennen wir dies durch unsere Erfahrungen, gibt es kein „schwarzes Loch", sondern wir erleben unsere Essenz als zeitlos. Unser wahres Wesen ist jenseits von Kommen und Gehen, Zeit und Raum; wir sind völlig geborgen und geschützt, was auch geschieht. Es ist ein fantastischer Zustand: furchtlos, freudvoll und liebevoll zugleich. Diese Art der Erkenntnis durch Meditation ist das Hauptmerkmal der Karma Kagyü-Tradition.

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Wir bitten um den Segen zu erkennen, dass Samsara und Nirvana untrennbar sind, und dass die Grundlage beider der Geist ist. Die Sichtweise, mit der wir Situationen erleben, macht sie leidvoll oder befreiend. Die folgenden Wünsche erklären sich eigentlich von selbst. Zuerst rufen wir den Lama an, den kostbaren Buddha, dann seine verschiedenen Aspekte: seinen Wahrheitszustand, der alles durchdringt und umfasst, seinen Freudenzustand und seine aktive Liebe, den Ausstrahlungszustand. Vergleichen wir den Buddhazustand mit dem Element Wasser, so entspricht der Wahrheitszustand dem Wasserdampf, der Freudenzustand den Wolken und der Zustand der aktiven Liebe dem Regen, der alles belebt. Wasserdampf, Wolken und Regen haben dieselbe Essenz und sind ein Bild für die Erleuchtungsaspekte, für die sich in dieser Anrufung alle Wesen öffnen. Dass alle Wesen unsere Mütter waren, wird hier wiederholt, um ein besonders starkes Gefühl der Dankbarkeit ihnen gegenüber in uns wachzurufen. Da wir unzählige Male wiedergeboren wurden, haben alle Wesen irgendwann etwas für uns getan, sei es, dass sie uns genährt, geschützt oder einfach nur gut behandelt haben. Da wir im Westen eher abstrakt denken, ist die Vorstellung, dass alle Wesen die gleiche Wahrheitsnatur und den gleichen Wunsch nach Glück teilen, vielleicht geeigneter, um Gefühle von Dankbarkeit in uns zu erwecken. In der östlichen Tradition denkt

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man jedoch konkret an die Mütter, die wegen ihrer Opferbereitschaft sehr hoch geschätzt werden. Nachdem wir diese Wünsche wiederholt haben, sagen wir Karmapas Mantra Karmapa Chenno. Wir wiederholen es sooft wir wollen, ohne zu zählen, denn es bildet hier die Überleitung zu den Zeilen, die 111.111 mal auf tibetisch gesagt werden. Dies sind dann die letzten Wiederholungen der Grundübungen. Bei dieser Praxis rate ich sehr, auf die Bedeutung des Textes zu achten, damit ihr euch der fantastischen Dinge bewusst werdet, die ihr auf tibetisch wiederholt.

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Wir selbst, in der Form von Diamant-Sau, sind uns der „Goldenen Kette der Linie", der Zuflucht über unserem Kopf bewusst und öffnen uns nun für die Erleuchtung, inspiriert durch die vorausgegangenen Wünsche. Wir beginnen mit: „Lama Rinpoche la söl wa deb", was bedeutet: „Ich bete zu dir, kostbarer Lama." Dann wünschen wir: „Gib deinen Segen, dass mein Geist Ich-Anhaften aufgibt." Das heisst, dass wir nicht mehr alles vom Standpunkt eines getrennten „Ich" aus betrachten, wodurch alle störenden Gefühle zusammen mit den schädlichen Handlungen, Worten und Gedanken ihre Wurzel verlieren und somit alles Leid tatsächlich aufhört. Dann wünschen wir: „Gib deinen Segen, dass Genügsamkeit in mir entsteht". Das bedeutet, dass wir uns nicht nach tausend Dingen sehnen, sondern mit dem zufrieden sind, was wir haben. Wollen wir zum Beispiel eine Zurückziehungsstelle einrichten, können wir Jahre damit verbringen, sie schön zu gestalten. So vergeht unser Leben, ohne dass wir je mit der Meditation beginnen. Es gab einmal einen Mann, der in einer Höhle meditierte, vor deren Eingang ein Dornbusch wuchs. Jedes Mal, wenn er hinein- oder hinausging, blieb er an den Dornen hängen. Immer wieder nahm er sich vor den Busch mit einer Axt abzuhauen. Sobald er jedoch wieder in der Höhle sass, dachte er: „Ich habe wirklich keine Zeit dafür, denn ich kann jeden Augenblick sterben." Also meditierte er weiter. Den Busch soll es noch immer geben, der Mann aber wurde erleuchtet. Sind wir dauernd mit weltlichen Aktivitäten befasst, die wir unbedingt ausführen müssen, nehmen sie kein Ende — im Gegenteil, es

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kommen immer mehr hinzu. Wir werden reicher, berühmter - und älter. Eines Tages sterben wir und können nichts davon mitnehmen. Genügsamkeit verschafft uns den Freiraum für Sinnvolles und Dauerhaftes wie Meditation und Dharma-Arbeit.

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Nun wünschen wir: „Gib deinen Segen, dass Gedanken ohne Dharma in mir aufhören." Gemeint ist das innere Geschwätz, das so schwer abzustellen ist, der ständige Strom von Gefühlen und Gedanken, die weder Sinn noch Kraft haben. Es sind die vielen Gedanken über „Wie" und „Warum", die unnützen Zweifel und Gewohnheiten, die direkte Erfahrungen schwierig machen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, mit ihnen zu arbeiten. Wenn unser Geist die Gewohnheit aufbaut, beständig Mantras zu sagen, entsteht so etwas wie ein Schutzfilm, auf dem unsere Störungen umherrutschen, ohne Fuss fassen zu können. Eine andere Möglichkeit ist, sie wie einen Dieb zu fangen und für uns arbeiten zu lassen: Jedes Mal, wenn störende Gefühle auftauchen, lassen wir sie herein, verhaften sie und verurteilen sie zu lebenslänglicher Hausarbeit. Ich bin sicher, dass ein jeder, der diese Wünsche wiederholt und dabei Karmapa oberhalb seines Kopfes hält, eine wirkliche Energieübertragung erfährt und so hinterher bedeutend weniger unerwünschte Gedanken und Gefühle erlebt. „Gib deinen Segen, dass ich meinen Geist als ungeboren erkenne." Die ersten Wünsche betrafen eher unser gutes Benehmen; sie bewegten sich auf der relativen Ebene. Jetzt kommen wir zu den spannenden Wünschen, die uns jenseits aller Begriffe ins Grosse Siegel fuhren. Wir wünschen zu erkennen, dass das klare Licht unseres Geistes ohne Anfang und Ende ist, dass es jenseits von Zeit und Raum alles enthält und ermöglicht. „Gib deinen Segen, dass meine Verwirrung von selbst zur Ruhe kommt." Die hohe Sicht des Grossen Siegels liegt hier im „von selbst". Das bedeutet, dass wir die Gedanken nicht bekämpfen und sie auch nicht durch andere verdrängen, sondern sie einfach durch fehlende Anteilnahme aushungern. So kann die Klarheit des Geistes durch die Gedanken und Vorstellungen hindurchdringen.

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„Gib deinen Segen, dass ich die Welt der Erscheinungen als Dharmakaya erkenne". Das bedeutet, dass wir die vergängliche Welt als den Wahrheitszustand erfahren. Nichts ist von der Wahrheit getrennt. Auf der absoluten Ebene ist alles wahr, nur weil es ist oder nicht ist. Wie „dick" das Ego auch sein mag, 111.111 Wiederholungen dieser Wünsche wirken so stark, dass in jedem Fall etwas durchdringt und Konzepte aufgelöst werden.

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„Schliesslich rufe langsam und für lange Zeit den Lama in der Ferne aus ganzem Herzen..." Im dänischen Text steht: „Zuerst rufen wir eindringlich und intensiv den Lama, bis unser Geist sich ändert." Hier wird noch deutlicher, dass der Lama schon oberhalb unseres Kopfes ist, aber wir aktivieren sein Kraftfeld noch mehr. „AH ihr glorreichen edlen Lamas, gewährt die vier Ermächtigungen, die Reifung bringen". Was sind die vier Ermächtigungen? Zuerst erhalten wir die „Vasen-Ermächtigung". Sie ermöglicht uns den eigenen Körper als den Körper eines Buddhas zu sehen. Während einer Ermächtigung geschieht dies, wenn wir mit einer kleinen Metallvase auf dem Kopf berührt werden oder daraus etwas zu trinken bekommen. Die Vase symbolisiert die Buddhaform, in die wir eingeweiht werden und was wir trinken ist ihr Nektar, ihre Essenz. Das reinigt die Körperenergien und ermöglicht eine Wiedergeburt als Tulku. Diese Ebene entspricht dem Ausstrahlungszustand. Die zweite Ermächtigung heisst die „Geheime Ermächtigung". Sie wird dadurch übertragen, dass wir Nektar aus einer Schädelschale trinken. Unsere Energiekanäle werden gereinigt und der Samen für das Erleben des Freudenzustands wird gepflanzt. Die dritte Ermächtigung heisst „Weis-heits-Bewusstheits-Ermächtigung". Sie ermöglicht uns den Geisteszustand des Buddha-Aspekts zu teilen und wird dadurch übertragen, dass wir mit Abbildungen des jeweiligen Buddha-Aspekts berührt werden. Wir erhalten die spannende Fähigkeit, die Vereinigungsmeditation zu üben, das heisst mit einem geeigneten Partner das erleuchtete Energiesystem in uns zu erwecken, wodurch wir sehr schnell Erleuchtung erlangen können. Der entsprechende Zustand ist der Wahrheitszustand. Die vierte Ermächtigung ist schliesslich die „Wort-Ermächtigung". Einige bezeichnen sie auch als „Kein-Wort-

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Ermächtigung". Durch sie wird der Keim des Grossen Siegels in uns gepflanzt. Dies kann dadurch geschehen, dass der Lehrer für einen Moment einfach seinen Geist mit dem unseren vermischt oder dadurch, dass er etwas sagt oder tut, was all unsere festen Vorstellungen sprengt. Dieser Zustand entspricht dem Grossen Siegel. Das sind die vier Ermächtigungen. Sie geben uns die Grundlage dafür Körper, Rede, Geist und die Essenz aller Dinge als rein zu sehen. Wir sind in ein Buddha-Feld eingetreten und sollten von nun an diese Bewusstseinsebene aufrechterhalten.

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Die vier Tantra-Klassen sind nicht so mystisch, wie sie oft erklärt werden. Es geht um das Vertrauen zu unserer eigenen Buddha-Natur, wie wir uns selbst gegenüber dem Buddha erleben. In den „niederen" Tantras, wie dem Kriya-Tantra, geht es vor allem um die äussere Ebene. Wir machen alles strahlend und fein, um den Buddha einzuladen. Er ist mächtig und gross, wir selbst sind sehr klein. Fühlen wir uns vertrauter, verwenden wir das Carya-Tantra. Auch wenn wir immer noch viel reinigen müssen, so ist unsere Verbindung mit dem Buddha direkter und wir sind etwas gewachsen. Im Yoga-Tantra sind wir dem Buddha sehr nahe; er ist für uns erreichbar geworden. Hier gibt es auch nicht mehr so viele äussere Rituale. Das höchste Tantra, das Anuttarayoga-Tantra, gibt es nur noch im tibetischen Kulturkreis. Wir begegnen dem Buddha auf gleicher Ebene. Wir laden ihn ein, auch wenn „das Bett nicht gemacht ist", denn auf dieser Ebene ist alles rein; wir sind fähig, darauf zu vertrauen, da die Verbindung so direkt ist. Wir könnten nun denken, dass wir, um das zu erreichen, nur stolz genug sein müssten. Aber ganz so einfach ist es nicht: Erstens muss der Stolz die Buddha-Natur aller Wesen mit einschliessen und zweitens müssen wir sowohl den Weg als auch das Ziel kennen. Wir müssen verstehen, dass wir die Buddha-Natur besitzen, aber auch, dass wir sie noch nicht verwirklicht haben. Auch die Bezeichnung „hoch" und „niedrig" für die Tantras müssen wir richtig verstehen. Jeder wird erleben, dass er für

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bestimmte Praktiken offen ist. Viele mögen die Nyung Neh Praxis, sie ist reines Kriya-Tantra. Hier arbeitet man mit vielen Versprechen, Wünschen und macht ständig Geschenke an die Buddhas. Die Praxis auf Liebevolle Augen gehört — je nach Verschmelzungsphase — zum Carya-oder Yoga-Tantra, während die Meditationen auf Höchste Freude, Sangwa Düpa, Rad der Zeit usw. zum Anuttarayoga-Tantra, der höchsten Übertragung, gehören. Sie alle sind Aspekte von Karmapas Geist. Auf dieser Ebene gibt es fast nur vereinigte Formen.

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Zum Abschluss wünschen wir fähig zu werden die vier Buddha-Aktivitäten auszuführen. So, wie die Sonne nicht scheint, weil sie scheinen will, sondern weil es ihrer Natur entspricht, so entstehen spontan und mühelos aus dem strahlenden Raum die vier Buddha-Aktivitäten: die friedvolle, die vermehrende, die aktivierende und die kraftvoll schützende. Nach dieser Bitte lösen sich in einem Augenblick die Übertragungslinie, die Buddhas und die Bodhisattvas in Licht auf und verschmelzen mit Karmapa. Er ist jetzt die Essenz der Zuflucht und erscheint entweder oberhalb unserer Köpfe, wodurch mehr Hingabe erweckt wird oder vor uns, wodurch mehr Klarheit entsteht. Durch die verkürzte 16.Karmapa Meditation, die im Text folgt, erhalten wir die vorhin beschriebenen vier Ermächtigungen. Das weisse Licht, das in die Stirn strömt, überträgt den Segen des Ausstrahlungszustands, das rote Licht in die Kehle überträgt den Segen des Freudenzustands und das blaue Licht ins Herz den Segen des Wahrheitszustands. Alle drei zusammen übertragen den Segen des Grossen Siegels. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich den Segen, der durch die drei Lichter zu uns kommt, vorzustellen: als einen Bogen, der von Karmapa in unsere jeweiligen Zentren fliesst, oder dass wir von dem Licht völlig durchflutet werden: Bis zur Kehle fliesst weisses, bis oberhalb des Herzens rotes, der Rest des Körpers füllt sich mit blauem Licht. Dann löst sich Karmapa in Licht auf und verschmilzt mit uns. Unser Körper, unsere Rede und unser Geist werden untrennbar vom diamantenen Körper, der diamantenen Rede und dem

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diamantenen Geist des Lehrers. Das bedeutet, dass Form, Laut und Freude ihrem Wesen nach leer sind. Dies können wir uns auf verschiedene Weise vorstellen. Eine davon halte ich für besonders nützlich: Karmapa löst sich nicht in Licht auf, sondern kommt in seiner ganzen Form zu uns und wir erleben uns direkt als Karmapa, mit all seinen Fähigkeiten, umgeben von seinem Reinen Land. Alles funkelt und strahlt, jedes Atom vibriert vor Freude, alles trägt Segen und ist sinnvoll. Alles auf der Ebene Karmapas zu sehen, ist der schnellste Weg zur Erleuchtung. Zuletzt widmen wir die guten Eindrücke aus unserer Praxis: „Ich verteile ... genauso erfüllen." Das Wort „Dharmata", das in diesem Wunsch verwendet wird, bedeutet Leerheit. Die Verwirklichung der drei Diamanten, der unzerstörbaren Essenz von Körper, Rede und Geist, ist der ganze Sinn unseres Weges.

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Erklärungen zu den Namen der Buddha-Aspekte

Der Allgute (tib.: Küntusangpo, sanskr.: Samantabhadra): blauer, nackter Buddha-Aspekt, der die Wahrheit des Erleuchtungszustands darstellt. Befreiende Höchste Weisheit (tib.: Yum Chenmo, sanskr.: Prajna-Paramita): weiblicher Buddha-Aspekt, der die Vervollkommnung der Weisheit darstellt. Bester Diamant (tib.: Dorje Legpa): wichtiger Schützer der Linie. Dakini höchster Weisheit (tib.: Yeshe Khandro, sanskr.: Vajra Dakini): Verkörperung der intuitiven Weisheit aller Buddhas Diamant-in-der-Hand (tib.: Channa Dorje, sanskr.: Vajrapani): Verkörperung der Kraft und Energie aller Buddhas. Diamantdolch (tib.: Dorje Purba, sanskr.: Vajrakilaya): zornvoller Aspekt von Diamantgeist, Verkörperung der Buddhaaktivität. Diamantgeist (tib.: Dorje Sempa, sanskr.: Vajrasattva): Verkörperung der reinigenden Kraft aller Buddhas. Diamanthalter (tib.: Dorje Chang, sanskr.: Vajradhara): blauer Buddha-Aspekt, der die Wahrheit und die Freude der Erleuchtung darstellt. Diamant-Sau (tib.: Dorje Pamo, sanskr.: Vajravarahi): Die roten tanzenden Formen von der Dakini Höchster Weisheit bis zur Diamant-Sau verkörpern die Bandbreite der weiblichen Begabung. Ob diese befriedend, ausdehnend oder schützend arbeiten, ist an der äusseren Erscheinung zu erkennen. Grenzenloses Licht (tib.: Öpame, sanskr.: Amitabha): Sein Bewusstseinsfeld ist das Land der Grossen Freude. Grosser Schwarzer (tib.: Nagpo Chenpo, sanskr.: Mahakala): Verkörperung der Schutzkraft aller Buddhas. Himmelswandlerin Höchster Weisheit (tib.: Yeshe Khandro, sanskr.: Jnanadakini).

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Höchste Freude (tib.: Khorlo Demchog, sanskr.: Chakrasamvara, wörtl.: Rad der höchsten Freude): Verkörperung der Freude aller Buddhas und der geschickten Mittel. Erscheint halb zornvoll in Vereinigung mit Diamant-Sau.

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Liebevolle Augen (tib.: Chenresig, sanskr.: Avalokiteshvara, wörtl.: der, dessen Augen jeden Einzelnen sehen): Verkörperung der Liebe und des Mitgefühls aller Buddhas. Oh Diamant (tib.: Kye Dorje, sanskr.: Hevajra): wichtiger Yidam und damit in Verbindung stehende Belehrungen der höchsten Tantra-Klasse. Rad der Zeit (tib.: Dükyi Khorlo, sanskr.: Kalachakra): wichtiger Buddha-Aspekt in den höchsten Diamantweg-Belehrungen. Schwarzer Mantel (tib.: Bernagchen, wörtl.: Träger des Schwarzen Mantels): Hauptschützer der Karma Kagyü Linie. Strahlende Göttin (tib.: Palden Lhamo, sanskr.: Shri Devi): weibliche Schützerin der Lehre, Gefährtin von Schwarzer Mantel. Der Unerschütterliche (tib.: Mikyöpa, sanskr.: Akshobhya): einer der fünf Haupt-Buddhas. Er verkörpert die spiegelgleiche Weisheit. Vairocana (tib.: Namparnangdse): einer der fünf Haupt-Buddhas. Er verkörpert die Weisheit der Natur der Wirklichkeit. Weisheitsbuddha (tib.: Jampe Yang, sanskr.: Manjushri): Seine Hauptattribute sind Buch und Schwert und er verkörpert die Weisheit aller Buddhas, sowohl die, die noch mit Vorstellungen und Begriffen arbeitet, als auch die höchste, letztendliche Weisheit.

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Erklärung wichtiger Begriffe Ausstrahlungszustand (tib.: Tulku, sanskr.: Nirmanakaya): Manifestation der Erleuchtung auf physischer Ebene, um das Wohl der Wesen zu bewirken. Ausdruck des Mitgefühls aller Buddhas. Bodhisattva (tib.: Changchub Sempa): ein Praktizierender des Mahayana, der zum Wohl aller Wesen nach Erleuchtung strebt. Buddha (tib.: Sangye): „Sang" bedeutet „vollkommenes Gereinigtsein" von allen Verdunkelungen, vom Schlaf der Unwissenheit. „Gye" bedeutet „vollkommene Entfaltung" aller Qualitäten sowie der Weisheit. Buddha Shakyamuni: der historische Buddha, der vor ca. 2500 Jahren in Indien lebte. Buddha-Aspekte (tib.: Yidam): Die unendlichen Qualitäten der Erleuchtung drücken sich in verschiedenen Formen aus. Diese erwecken das innewohnende Potenzial derjenigen, die auf sie meditieren. In der Meditationspraxis werden Yidams als untrennbar vom eigenen Lehrer gesehen. Buddha-Natur: auch Erleuchtungsnatur; bezeichnet das jedem Wesen innewohnende Potenzial zur vollen Erleuchtung. Dakini (tib.: Khandroma): weiblicher Aspekt der Buddha-Aktivität. Dharma (tib.: Chö): die buddhistische Lehre. Diamantweg (tib.: Dorje Thegpa, sanskr.: Vajrayana): Teil des grossen Weges (Mahayana). Auf der Grundlage des Erleuchtungsgeistes wird durch tiefgründige und schnell wirksame Methoden das Ziel, vollkommene Erleuchtung, zum Weg gemacht. Dorje (sanskr.: Vajra): Diamant; Sinnbild der Unzerstörbarkeit und Unerschütterlichkeit des Buddha-Zustands; Ritualgegenstand, der Mittel, Mitgefühl und Freude symbolisiert.

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16. Karmapa Meditation: grundlegende Meditation in der Karma-Kagyü-Linie, um mit Hilfe des Segens des Lamas die Natur des Geistes zu erkennen.

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Ermächtigung (tib.: Wang, sanskr.: Abhisheka): Zeremonie, bei der die Praktizierenden durch den Lehrer in das Mandala eines bestimmten Buddha-Aspektes eingeführt werden und dadurch die Ermächtigung erhalten, auf diesen zu meditieren. Neben der Ermächtigung sind für die Diamantwegpraxis auch die Übertragung durch Lesen (tib.: Lung) und die mündliche Erklärung (tib.: Tri) notwendig. Erleuchtungsgeist (tib.: Changchub Kyi Sem, sanskr.: Bodhicitta): Geisteshaltung, zum Wohl aller Wesen Erleuchtung zu erlangen. Er wird in zwei Aspekte unterteilt: den relativen und den letztendlichen Erleuchtungsgeist. Der relative Erleuchtungsgeist besteht einerseits aus dem Wunsch, Erleuchtung zum Wohl aller Wesen zu erlangen, und andererseits in der Umsetzung dieses Wunsches durch die Anwendung der befreienden Handlungen, der Paramitas. Der letztendliche Erleuchtungsgeist ist die Erkenntnis der Untrennbarkeit von Leerheit und Mitgefühl. Freudenzustand (tib.: Long Ku, sanskr.: Sambhogakaya): Manifestation der verschiedenen perfekten Eigenschaften des erleuchteten Geistes in Formen von Licht und Energie, zum Beispiel: Diamantgeist, der die reinigende Kraft aller Buddhas ausdrückt. Gelugpa: eine der vier Hauptlinien des tibetischen Buddhismus. Diese von Tsongkhapa gegründete Schule legt besonderen Wert auf das Studium der Schriften und die monastische Tradition. Glocke (tib.: Drilbu): Ritualgegenstand, der Weisheit und Leerheit symbolisiert. Grosser Weg (tib.: Theg Chen, sanskr.: Mahayana): Die Praktizierenden dieses Weges streben danach, durch Mitgefühl und Weisheit zum Wohl aller Wesen Erleuchtung zu erlangen.

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Karma (tib.: Le, wörtl.: Handlung): Gesetz von Ursache und Wirkung, nach dem wir die Welt entsprechend der im Geist gespeicherten Eindrücke erleben, die wir mit körperlichen, verbalen und geistigen Handlungen aufbauen.

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Karmapa: geistiges Oberhaupt der Kagyü-Linie. Die Karmapas verkörpern die Aktivität aller Buddhas. Sie wurden von Buddha Shakyamuni und Guru Rinpoche vorhergesagt. Vor seinem Tod hinterlässt jeder Karmapa Hinweise über die genauen Umstände seiner nächsten Wiedergeburt. Bis jetzt erschienen 17 Wiedergeburten:

1. DüsumKhyenpa (1110-1193) 2. Karma Pakshi (1204-1283) 3. RangjungDorje (1284-1339) 4. Rölpe Dorje (1340-1383) 5. DeshinShegpa (1384-1415) 6. Tongwa Dönden (1416-1453) 7. Chödrag Gyamtso (1454-1506) 8. Mikyö Dorje (1507-1554) 9. Wangchug Dorje (1556-1603) 10. Chöying Dorje (1604 - 1674) 11. Yeshe Dorje (1676- 1702) 12. Changchub Dorje (1703 - 1732) 13. Düdul Dorje (1733-1797) 14. Thegchog Dorje (1798-1868) 15. Khakhyab Dorje (1871 -1922) 16. Rangjung Rigpe Dorje (1924-1981) 17. ThayeDorje (geb. 1983)

Kleiner Weg: (tib.: ThegMen, sanskr.: Hinayana): siehe „Die Worte der Ordensältesten" Lama: Lehrer. Besonders im Diamantweg nimmt er eine sehr wichtige Rolle ein, da er der Schlüssel für die tiefgründigen Unterweisungen ist.

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Leerheit (tib.: Tongpanyi, sanskr.: Shunyata): Leerheit bedeutet, dass nichts aus sich selbst heraus existiert, sondern dass alles aus Bedingungen heraus entsteht. Sie ist die letztendliche Natur aller äusseren und inneren Phänomene.

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Lehren von Naropa, sechs (tib.: Naro Chödrug): sechs intensive Meditationspraktiken, die vor allem in der Kagyü Tradition überliefert werden. Es sind die Meditationen von Innerer Hitze, Illusionskörper, Traum, Klarem Licht, Bewusstseinsübertragung und Zwischenzustand. Mahabodhisattva: grosser Bodhisattva, siehe Bodhisattva. Mahamudra-Zustand (sanskr.: Svabhavikakaya): Vereinigung u. Untrennbarkeit von Wahrheits-, Freuden- und Ausstrahlungszustand. Mahayana: siehe „Grosser Weg": Mala (tib.: Trengwa): Perlenkette zum Zählen der Mantras. Mandala (tib.: Khyil Khor): hat mehrere Bedeutungen: 1. Das geistige Kraftfeld/ der Kraftkreis von Buddhas. 2. Das unendlich schöne, mit Kostbarkeiten gefüllte Universum, das man bei der so genannten Mandala-Gabe in seiner Vorstellung den Buddhas schenkt. Mantra (tib.: Ngag): Ausdruck eines Buddha-Aspektes auf der Ebene des Klangs. Wird in Verbindung mit Meditationen des Diamantweges verwendet. Mudra (wörtl.: Geste): Ausdruck eines inneren Zustandes auf körperlicher Ebene, z. B. die erdberührende Geste Buddhas, die das Erreichen des Erleuchtungszustands ausdrückt. Mutter-Tantra (tib. Ma Gyü): siehe Diamantweg. Nicht-duales-Tantra (tib. Nyime Gyü): siehe Diamantweg. Reines Land: Bewusstseinsebene eines Buddhas. Rinpoche: heisst „Kostbarer" und ist eine tibetische Anrede, bzw. ein Titel für einen buddhistischen Meister. Sangha (tib. Gendün): Gemeinschaft der Praktizierenden.

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Schützer: Buddhas, die in zornvoller Form erscheinen, um innere und äussere Hindernisse auf dem Weg zur Erleuchtung zu entfernen. Ihr Ausdruck ist zornvoll, ihre Essenz jedoch Mitgefühl, sie sind ein Aspekt des Lehrers. Es gibt auch weltliche Schützer, die für die Lehre arbeiten.

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Schwarze Krone: Zeichen der Karmapas. Sie wurde dem ersten Karmapa Düsum Khyenpa von Dakinis als Zeichen seiner Verwirklichung und grossen Fähigkeit, den Wesen zu helfen, aus ihrem Haar gemacht. Sie krönten ihn damit zum „Herrn der Buddha-Aktivität". Die Krone ist nur für Wesen auf hohen geistigen Stufen sichtbar. Der Kaiser Yung Lo, ein Schüler des 5. Karmapa, schenkte diesem eine materielle Nachbildung davon. Diese verwenden die Karmapas seitdem in einer besonderen Zeremonie, um ihren erleuchteten Geisteszustand zu vermitteln. Sie ist ein Mittel, um Befreiung durch Sehen zu erlangen. Worte der Ordensältesten (sanskr.: Theravada): Das besondere Merkmal und Ziel dieses Weges ist, dass die eigene Befreiung vom Leiden angestrebt wird.