Le Monde Diplomatique - 11-2013

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  • Deutsche Ausgabe

    November 2013

    11/19. Jahrgang

    Deutschland: 3,90 EUR

    Ausland: 4,20 EUR

    Die VersandfabrikIm Innern von Amazonvon Jean-Baptiste Malet

    TAFTA die groe Unterwerfungvon Lori Wallach

    Der Auftritt

    Russlands: Jacques Lvesque

    wrdigt die erstaunlichen

    Erfolge des Kreml auf

    der internationalen BhneS. 8/9

    Das Handbuch

    der Macht: Olivier Pironet

    hat Machiavellis Hauptwerk

    500 Jahre nach seinem

    Entstehen neu gelesenS. 3

    Das Weltgericht

    tagt: Francesca Benvenuto

    berprft politische Wirkung

    und Ziele des Internationalen

    StrafgerichtshofsS. 5

    Die Ankunft

    einer neuen Generation:

    Gerhard Dilger beleuchtet

    die politische Landschaft

    Chiles vor der WahlS. 11

    Die Zukunft

    der Arktis: Schwedische

    Forscherinnen untersuchen

    das Schrumpfen der Eiskappe

    und die FolgenS. 12/13

    blau 06, 2013, Gouache auf Btten, 60 x 40 cm

    (zum Knstler siehe Seite 3)

    rmgard Schulz lst den Blick vonden Ver.di-Plakaten an der Wandeines Saals im hessischen BadHersfeld, wo sich die aufmpfige-

    ren Mitarbeiter von Amazon zu ihrermonatlichen Versammlung eingefun-den haben. Sie steht auf und ergreift dasWort: In Japan hat Amazon Ziegen en-gagiert, damit sie das Gras neben einemLogistikzentrum fressen. Den Ziegenhaben sie die gleichen Chipkarten um-gehngt wie uns! Alles drauf: Name,Foto, Barcode. Das sagt einiges ausber die Unternehmensphilosophie desweltgrten Onlinehndlers, dessenKunden mit ein paar Klicks einkaufenknnen und binnen 48 Stunden einenSchrubber, dieWerke vonMarcel Proustoder einen Rasentrimmer ins Haus ge-liefert bekommen.1

    Weltweit arbeiten hunderttausendBeschftigte in den 89 Logistikzentren,deren Gesamtflche beinahe 7 Millio-nen Quadratmeter umfasst. In knappzwei Jahrzehnten hat sich Amazoneinen Platz neben Apple, Google undFacebook in der ersten Reihe der Inter-netriesen erobert. Seit dem Brsengang1997 ist der Umsatz auf das 420-Fache,nmlich auf 62 MilliardenDollar (2012),angewachsen. Amazon-Grnder undFirmenchef Jeff Bezos, Methodist undberzeugter Neoliberaler, ist eine be-kannte Medienfigur, vor allem seit er imAugust dieses Jahres 250MillionenEuro ein Prozent seines Privatvermgens investiert hat, um die altehrwrdige Ta-geszeitung The Washington Post zu kau-fen. Angesichts des enormenwirtschaft-lichen Erfolgs wird das Thema der Ar-beitsbedingungen bei Amazon jedochmeist ausgeblendet.

    In Europa hat sich AmazonDeutschland als Brckenkopf ausge-sucht. Hier stehen bereits acht Logistik-zentren, ein neuntes ist im Bau. Die An-siedlung des Konzerns in Bad Hersfeldhat die Stadt mit mehr als 7 MillionenEuro gefrdert.

    IDie frhere Mitarbeiterin Sonja Ru-

    dolf deutet auf einen riesigen grauenZaun in der Amazonstrae.2 Hinter Sta-cheldrahtgeflecht ragt eine Lagerhalleauf. Das ist das FRA-1.3 In der drittenEtage gibt es kein Fenster, keinen Luft-schacht und keine Klimaanlage. ImSommer steigen die Temperaturen aufber 40 Grad, die Frauen kippen reihen-weise um. Einmal war ich gerade beimPicken (Waren aus den Metallzellen zu-sammensuchen), da sah ich pltzlichein Mdchen, das auf dem Boden lagund sich erbrach. Ihr Gesicht war schonganz blau. Ich dachte, sie erstickt. Weiles keine Tragen gibt, hat uns der Chefgesagt, wir sollen eine Holzpalette ho-len. Darauf haben wir sie dann zumKrankenwagen geschleppt.

    Von hnlichen Vorfllen berichteteauch die US-Presse.4 In Frankreich lit-ten die Angestellten in der Logistikzen-trale von Montlimar 2011 unter derKlte. Sie mussten mit Parkas, Hand-schuhen und Mtzen arbeiten, bis einDutzend von ihnen in den Streik tratenund durchsetzten, dass die Heizung an-gestellt wurde. Dass Amazon-GrnderBezos auf der Liste der reichsten Mn-ner der Welt Platz 19 belegt, ist nicht zu-letzt solchen Methoden zu verdanken.5

    Die Besonderheit des Onlinesuper-markts besteht darin, dass Hndler ihreProdukte auf der Amazon-Plattform indirekter Konkurrenz zum Amazon-eige-nen Angebot anbieten knnen. Dasblht den Umsatz auf und verstrkt denLong Tail-Effekt,6 der den Erfolg desUnternehmens begrndet hat. Durchdieses fr den Verbraucher uerstpraktische System werben etwa Buch-hndler fr den Giganten, der ihnen dieKundschaft wegnimmt und ihre Exis-tenz zerstrt.

    Der Franzsische Buchhndlerver-band hat errechnet, dass ein Buchladenbei gleichem Umsatz 18-mal so viele

    ereits vor fnfzehn Jahren ver-suchten Grounternehmenbei den Verhandlungen berdas Multilaterale Investitions-

    abkommen (MAI) ihre Macht heimlichstill und leise in unvorstellbarem Maeauszuweiten.Damals scheitertedasPro-jekt am hartnckigen Widerstand derffentlichkeit und der Parlamente.Damitwurdeunter anderemverhindert,dass sich einzelne Konzerne denselbenRechtsstatus wie Nationalstaaten ver-schaffen konnten. Das htte etwa be-deutet, dass Unternehmen eine Regie-rung verklagen knnen, entgangeneGewinne aus Steuergeldern auszuglei-chen.

    Jetzt aber kommen diese Plne er-neut auf den Tisch, und zwar in deutlichverschrfter Fassung. Der offizielleName des neuen Projekts lautet Trans-atlantic Trade and Investment Partner-ship, abgekrzt TTIP. Dieses transat-lantische Handels- und Investitionsab-kommen soll, hnlich wie frher dasMAI, die Privilegien von Konzernen undInvestoren absichern und sogar nochausweiten. So wollen die EU und dieUSA ihre jeweiligen Standards in nichthandelspolitischen Bereichen verein-heitlichen. Diese angestrebte Harmo-nisierung orientiert sich erwartungsge-m an den Interessen der Konzerne

    B

    und Investoren. Werden deren Stan-dards nicht erfllt, knnen zeitlich un-begrenzte Handelssanktionen verhngtwerden. Oder es werden gigantischeEntschdigungen fr die Unternehmenfllig.

    Die Verhandlungen ber diese ArtStaatsstreich in Zeitlupe haben im Julidieses Jahres in Washington begonnen mit der erklrten Absicht, in zwei Jah-ren ein Abkommen zu unterzeichnen,das eine transatlantische Freihandels-zone (Transatlantic Free Trade Area,Tafta) begrnden wird. Das gesamteTTIP-Tafta-Projekt gleicht dem Monsteraus einem Horrorfilm, das durch nichtstotzukriegen ist. Denn die Vorteile, dieeine solche Wirtschafts-Nato den Un-ternehmen bieten wrde, wren bin-dend, dauerhaft und praktisch irreversi-bel, weil jede einzelne Bestimmung nurmit Zustimmung smtlicher Unter-zeichnerstaaten gendert werden kann.

    Wirtschafts-Nato

    mit grenzenlosen Befugnissen

    Weil die global operierenden US-Kon-zerne eine hnliches Partnerschaftsab-kommen fr den pazifischen Raum(Trans-Pacific Partnership oder TPP)anstreben, wrden wir auf ein Systemzusteuern, das die Herrschaft der mch-tigsten Kapitalgruppen ber den Gro-teil der Welt zementiert und juristischabsichert. Denn auch andere Staatenwren gezwungen, bei der TTIP oder derTPP anzudocken. Sie mssten sich alsoim Handel mit der USA und der EU nachderen Regeln richten.

    In den USA reagieren die Whler,die Prsident Obama sein Versprecheneines glaubhaften Wandels abgenom-men haben, teils depressiv, teils w-tend. Denn was er ihnen als Regelwerkfr die Weltwirtschaft auf der Hhe des21. Jahrhunderts verkaufen will, luftdarauf hinaus, dass die vonden sozialen

    Bewegungen des 20. Jahrhundertsdurchgesetzten Fortschritte groenteilswieder rckgngig gemacht werden.

    Die Verhandlungen ber das TTIP-Tafta-Projekt finden hinter verschlosse-nen Tren statt. Damit wird gewhrleis-tet, dass jenseits des geschlossenen Zir-kels der Handelspolitiker niemandbeizeiten mitbekommt, was tatschlichauf dem Spiel steht.1 Andererseitshaben 600 offizielle Berater der Gro-konzerne privilegierten Zugang zu denDokumenten und zu den Entschei-dungstrgern. Textentwrfe werdennicht verffentlicht, die ffentlichkeitund die Presse werden auen vor gelas-sen, bis der endgltige Deal unter Dachund Fach ist.

    Der im Juni zurckgetretene US-Handelsminister Ron Kirk hatte im Mai2012 in einem Anfall von Aufrichtigkeiterklrt, warum eine solche Geheimhal-tung erforderlich sei: In einem frherenFall ist der Entwurf fr ein umfassendesHandelsabkommen publiziert worden,und deshalb sei es am Ende geschei-tert.2 Kirk bezog sich auf den ersten An-lauf zum Nordamerikanischen Freihan-delsabkommen Nafta, dessen Text 2001auf die Website der Regierung gestelltworden war. Die demokratische Senato-rin Elizabeth Warren sagte dazu: Ein Pa-pier, das die ffentlichkeit scheuenmsse, drfe gar nicht unterzeichnetwerden.3

    Fr die Heimlichtuerei gibt eseinen einfachen Grund. Ein solches Ab-kommen wrde die nationalen Regie-rungen bis hinunter zu den Kommunal-verwaltungen verpflichten, ihre aktuelleundknftige Innenpolitik demumfang-reichen Regelwerk anzupassen. In die-sem Abkommen wren auf diplomati-scher Ebene ausgehandelte Gesetzes-vorgaben festgeschrieben, die nachdem Wunsch der Unternehmen auchviele nicht handelsbezogene Bereiche

    AufgeregtePolitiker vonBerlinbis

    Brssel sehen durch denNSA-

    Skandal das Transatlantische

    FreihandelsabkommeninGefahr.

    ber das, was in dem

    angestrebten Vertrag stehen soll,

    reden sie nicht so gern. Ein Blick

    auf die ersten Blaupausen lsst

    ahnen, was Europas Brger

    nicht zu frh erfahren sollen.

    Cornelius Brndle

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    Fortsetzung auf Seite 18

    Fortsetzung auf Seite 16

  • 2 LE MONDE diplomatique | November 2013

    4 Terror und Misere

    DasAttentat vonNairobi

    undder Somalia-Konflikt

    vonGerardPrunier

    5 Das Weltgericht

    DieglobaleGerechtigkeitdes IStGH

    vonFrancescaMariaBenvenuto

    6 Der afghanische Patient

    NachdemAbzugderTruppendroht

    dieGesundheitsversorgung

    zusammenzubrechen

    vonPierreMicheletti

    7 Malaien und Malaysier

    vonCharlesDannaud

    Russland

    8 Moskaus groer Auftritt

    DerKreml feiert Erfolge

    auf internationaler Bhne

    von Jacques Lvesque

    9 Die Nostalgie der Diplomaten

    vonYvesBreault

    11 Chiles gute alte Prsidentin

    DieWahlwird sie gewinnen,

    aberwas kommtdann?

    vonGerhardDilger

    12 Augen im Eis

    DieArktis imAnthropozn

    vonMiyaseChristensen, Annika

    E.NilssonundNinaWormbs

    14 ber der Kohle

    wohnt der Mensch

    DrfermssenBaggernweichen

    vonClaudiaKrieg

    16 Die groe Unterwerfung

    Fortsetzung vonSeite 1

    vonLoriWallach

    18 Die Versandfabrik

    Fortsetzung vonSeite 1

    von Jean-BaptisteMalet

    20 Kinder zu Konsumenten

    ZumSchuftenundShoppen

    in einenFreizeitpark inBeirut

    vonMonaChollet

    21 Brssel droht Israel

    mit dem Finger

    vonLaurenceBernard

    22 Flucht nach Montreuil

    Viele afrikanischeGastarbeiter

    aus Libyen landen inderRueBara

    vonPierreBenetti

    23 Im Meer vor Lampedusa

    Edito vonSergeHalimi

    24 Comic

    vonLukas Jliger

    Auch zumHrenunter

    www.monde-diplomatique.de

    In dieser Ausgabe | 11

    Brief aus Kalkutta

    bilden eine Gruppe fr sich: Nicht alt,nicht jung, sie haben ein Zuhause, wosie hingehren. Viele unter ihnen sindFrauen keine Witwen oder verlasseneMtter, wie ich inzwischen wei. Viel-mehr bessern sie mit dem Verkauf vonGemse die Lhne auf, die ihre Ehe-mnner Rikschafahrer, Farmpchter,Tagelhner nach Hause bringen.

    Durga macht aus dem letzten Teilihres Saris ein Kissen, ich disponiereden Rucksack so um, dass mein Kopf ei-nigermaen bequem darauf liegt. Wirreden. ber Durgas Oma, von der sie diedunkle Haut und die lange Figur hat zum Glck sind ihre Mdchen hell; dieJngste allerdings, die ist dunkel: Einen

    Schirm gegen das grelle Licht zu ma-chen, das die alten Neonrhren von denDecken herunterschicken. Was machtes mglich, dass Durga und ich uns aus-gerechnet auf dem Bahnsteig von Kal-kuttas Nordbahnhof anfreunden? Eswohnt, scheint mir, eine gewisse Ge-wohnheit in diesem Unterschlupf, dieuns liegen und erzhlen und erinnernlsst, als ob wir zu Hause wren.

    Fr diese Gewohnheit gibt eseinen sehr passenden Begriff in Benga-lisch, der Sprache von Westbengalenund dem benachbarten Bangladesch:basha, zuHause. Freunde inWestben-galen wollten mir erzhlen, man sageauf dieser Seite Bengalens anders alsimOsten, also inBangladesch nur ba-ri und nicht basha. Inzwischen istmir klar geworden, dass sie mit Bashaein temporres Wohnen verbinden, wo-hingegen Bari das eigene, also festeHaus, zugleich Geburtsort und Ruhe-sttte nach dem Tod, bezeichnet. Hieruert sich die Dominanz der buerli-chen Tradition Bengalens, nach derjede Familie in ihrem eigenen Haus un-tergebracht sein sollte.

    Die Idee eines Mietshauses, undnoch mehr einer Mietwohnung, ist ihrfremd und eigentlich nicht geheuer:eine Praxis des Wohnens, die haupt-schlich auf die Grostadt beschrnktist. Selbst in Kalkutta jedoch strebt dieMittelschicht vor allem danach, ein ei-genes Bari erwerben zu knnen, und seies auch an der uersten Peripherie.Darin unterscheidet sie sich brigensnicht gro vom europischen Kleinbr-gertum, und auch die Folgen dieser Vor-liebe die Zersiedelung beziehungswei-se Verbreitung von Ein- oder Zweifami-lienhuschen mit Garten und Hecke prgen die Landschaft auf hnlicheWeise.

    Fr die Armen stellt die Idee eineseigenen Hauses in der Stadt bei den ex-

    plodierenden Boden- und Immobilien-preisen freilich nicht mal einen Traumdar. Deshalb sprechen die meisten vonBasha, dem sie das Bari auf dem Land,im vor Jahren notgedrungen verlasse-nen Dorf, entgegensetzen.

    Fr mich ist Basha zum Inbegriffder existenziellen Beziehung des Men-schen zum Untergebrachtsein gewor-den, fr unser Bedrfnis nach einemOrt und der Verbundenheit mit ihm, woFriede herrscht, wo man Schutz findet,wo man Geschichten, Hoffnungen undngste mit den Angehrigen teilt. DieseVerbundenheit und deren Bedeutung die nichtsmit Besitz- undEigentumsan-spruch zu tun haben verstehe ich, dieich seit vierzehn Jahren immer zurMiete wohne und in letzter Zeit etwa dieHlfte des Jahres in von Freunden zurVerfgung gestellten Gstezimmernund in den Pensionen Sdasiens unter-komme, nur zu gut.

    Fhre ich nicht genau aus diesemGrund einen stillen Kampf mit demMann, der in meiner Wohnung im Zen-trum Kalkuttas putzt? Ich kmpfe, ja,um die Pflanzen auf der Terrasse, die erstndig in ihremWachstumhemmtundauf engstem Raum zusammenquetscht.Nach meinen Befreiungsinterventionenfngt er am nchsten Tag wieder vonvorn damit an. Ich kmpfe um die K-chengerte, die immer zurckgestelltwerden an den Platz, den sie am Tagmeines Einzugs besetzten, obwohl siefr eine 1,83 Meter groe Europerinbesser woanders stnden; und darum,dass er die wertlosen Lehmbecher frTee und Lassi, fr die ich eine Sammler-leidenschaft entwickelt habe, nichtweg-schmeit.

    Es versteht sich, dass ich dabeiimmer um mein Zuhause-Gefhlkmpfe. Fr eine Basha, die ich, sei sieauch temporr, als ganz meine be-trachten mchte. Paradoxerweise habeich in der Luxusbude weniger Gestal-tungsfreiheit als Durga in ihrem mehrschlecht als recht improvisierten Zu-hause auf dem Bahnsteig von Dum-Dum. Dabei ist ihr nchtlicher Unter-schlupf lngst nicht ausreichend, ge-schweige denn heimelig.

    Alswir auf die vollenBahngleise bli-cken, frage ich sie, was sie davon hielte,wenn die Bahn eines ihrer umliegendenGebude fr die Nchte zur Verfgungstellen wrde. In ihren Augen leuchtetein Licht auf, sie lchelt schchtern,zum ersten Mal seit unserer Bekannt-schaft, wie beim Gedanken an etwasSchnes: Meinst du, sie wrden es ma-chen? Dann msste sie im Winternicht frieren und im Monsun vor denschiefen Regengsse fliehen

    Nein, ich denke nicht, dass sie esmachen werden. Doch das sage ichnicht. Irgendwomussmandamit anfan-gen, Bedrfnisse auszusprechen.

    von Elisa Bertuzzo

    Basha steht fr

    temporresWohnen,

    Bari fr das eigene,

    feste Haus, Geburtsort

    und Ruhesttte

    Terrorverdacht in Peking

    Der Anschlag vom 28. Oktober, als ein

    Auto auf dem Pekinger Platz des

    Himmlischen Friedens in eine Men-

    schenmenge raste und in Flammen

    aufging, gibt Anlass zu zahlreichen

    Spekulationen. Die drei Tter seien Ui-

    guren, heit es inzwischen offiziell.

    Entsprechend wurden bereits weitere

    Verdchtige prsentiert angeblich

    gestndige uigurische Terroristen.

    Der alte Konflikt zwischen der Pekin-

    ger Zentralregierung und dermuslimi-

    schen Minderheit der Uiguren hat da-

    mit an Brisanz gewonnen. In der auto-

    nomen Provinz Xinjiang mit der

    Hauptstadt rmqi kommt es seit

    Jahren immerwieder zu gewaltttigen

    Auseinandersetzungen. Bereits im

    August 2009 schrieb Martine Bulard

    unter demTitel Der wildeWesten von

    China. Wie Uiguren und Chinesen in

    Xinjiang zusammenlebten in Le Mon-

    de diplomatique ber die schleichen-

    de Eskalation. Und Alain Gresh be-

    leuchtete im Januar 2011 die Haltung

    Pekings zum politischen Islam in Di-

    rektflug von rmqi.

    Politische Morde in Athen

    ptmonsun-Sturm, 29 Grad Cel-sius. Leg dich so hin, den Kopfaber auf dieser Seite, nicht aufdieser.

    Sie wei, dass entlang der Wand,unter den zusammengestckelten Bn-ken und Teekiosks, eine Menge Tierevon der Art unterwegs sind, die mannicht nah beim Schlafen haben mchte.Ich erkenne beim genauen HinschauenMuse, Kakerlaken, den Schwanz einernach oben kletternden Ratte Selbst-verstndlich legt man den Kopf nicht indiese, sondern in Gleisrichtung! Dochdies istWissen, dasmandurch jahrelan-ge Erfahrung erarbeiten muss: Durga,anders als ich, die Anfngerin, fhrt seitihrer Kindheit dieses Pendlerleben; derBahnsteig des Bahnhofs von Dum-Dumist derOrt, andemsie diemeistenNch-te verbringt.

    Seitdem sich die Mohammeda-ner, wie Durga sie nennt, in ihrer Ge-gend breitgemacht haben, sei es frFrauen gefhrlich, dort nach 23 Uhr un-terwegs zu sein. Nachts finde ich kei-nen, der mich bis zum Dorf fhrt; ichmuss eine schmale Strae entlangdurch ein paarDrfer unddenWald lau-fen, es gibt keine Straenbeleuchtung.Dann sind nur die Mnner auf der Stra-e, sie trinken und werden gewaltttig.Es ist viel besser, in Dum-Dum zubleiben. Hier sind die Polizisten gut,und jeder kennt sowieso jeden, sagtsie. Morgens um fnf kommt der ersteZug, und mit ein bisschen Glck lsstsich am Bahnhof von Barasat ein vanpuller finden, der fr 15 Rupien diesechs, sieben Kilometer zum Dorf fah-ren will.

    Schon hat sie am Ende des Bahn-steigs den brig gebliebenen saag dieAronstabsbltter, die in ihrem Dorf wildwachsen und sich in der Stadt so gutverkaufen lassen entsorgt und sich ander ffentlichen Toilette notdrftig er-frischt. Viele andere Frauen, erschpftund schweigsam wie sie, kommen undgehen. Tglich erreichen sie mit ihremGemse Dum-Dum, den uersten Zug-bahnhof Kalkuttas, und verbringen dorteinen halben Tag und die ganze Nacht.

    Wir legen die frhlingsgrne Planeaus, ber die noch eine leichte Deckeund machen uns an unser Abendessen:rumali roti (hauchdnnes Brot aus demTanduri) und chana bator (Curry ausErbsen und Kichererbsen) von der Ess-bude hinter dem Bahnhof. Wie emprtDurga war, als sie hrte, dass von mireinhherer Preis verlangtwurde alsnor-mal!

    Der letzte Zug ist schon lange vor-bei, inzwischen haben sich die dreiBahngleise mit Leuten gefllt, die hierber Nacht bleiben werden und sich,wie wir, ein paar Minuten ausruhen.Straenmdchen mit glsernen Augenvom Klebstoffschnffeln, die mit allenscherzen; biri rauchende Gepcktrger;abgemagerteGreise Mnner undFrau-en, die von ihren Familien ausgestoenwurden. Drei Jungen spielen mit dreiWelpen. Die Gemseverkufer jedoch

    S

    Ehemann fr sie zu finden, wirdschwer werdenber ihre Haare, diein letzter Zeit ausfallen; und ber dieSorge, im Alter nicht mehr in Dum-Dum dazuverdienen zu knnen. IhrSohn will nicht arbeiten Ich wieder-um erzhle ihr von einer Reise durchPortugal, von den Nchten in denBahnhfen. Damals trumten wir,zwei Mdchen, von Jack Kerouac undvon einem schwedischen Architekten,der von der griechisch-orthodoxenKultur schwrmte

    Kurz betrachte ich die Situationvon auen und bin ansonsten damitbeschftigt, aus meinem Schal einen

    Bahnhofsleben in Kalkutta R. und S. MICHAUD/akg.images

    Elisa T. Bertuzzo leitet an der TU Berlin das Projekt

    Archives of Movement.

    Le Monde diplomatique, Berlin

    Nach dem Mordanschlag im Stadtteil

    Neo Iraklio, bei dem vor dem lokalen

    Bro der Neonazipartei Chrysi Avgi

    zwei rechtsradikale Aktivisten starben

    und ein weiterer schwer verletzt wur-

    de, droht Griechenland eine neue Spi-

    rale der Gewalt. Wenn die Tter, wofr

    der erste Anschein spricht, einer links-

    radikalen terroristischen Gruppe an-

    gehren, knnten sich Weimarer Ver-

    hltnisse entwickeln, befrchten vie-

    le Beobachter. Zwlf Kugeln gegen

    die Demokratie, titelte die Athener

    Zeitung Ta Nea und warnte vor einer

    Eskalation der politischen Abrech-

    nungen zwischen Neonazis und Links-

    terroristen. Man drfe aber auch

    nicht zulassen, dass das Attentat in-

    strumentalisiert wird, um die Chrysi

    Avgi weizuwaschen. Um wo wichtiger

    ist, dass die Anklage gegen die Partei-

    fhrungwegen Bildung einer kriminel-

    len Vereinigung nach strengen rechts-

    staatlichen Prinzipien betrieben wird.

    Dies ist die einzige Mglichkeit, die Ne-

    onazis zu stoppen, weil ein Parteiver-

    botsverfahren in der griechischen Ver-

    fassung nicht vorgesehen ist. Dabei be-

    stehtamdemokratie-undverfassungs-

    feindlichenCharakter der rassistischen

    Partei nicht der geringste Zweifel. Das

    erfhrtmanausdenReportagenvonYi-

    annis Papadopoulos, die in der Le Mon-

    de diplomatique erschienen sind: Ne-

    onazis im griechischen Parlament

    vom Juli 2012 und Neonazis in Grie-

    chenland vom Juni 2013.

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

    ThomasHervorheben

  • LE MONDE diplomatique | November 2013 3

    Der Fall Machiavelli

    or fnfhundert Jahren ver-fasste Niccol Machiavellidas Buch Der Frst ein Ju-bilum, das unzhlige Biogra-

    fien, Symposien und Studien feiern.1 Indiesem kleinen Werk, das der Kunst desHerrschens gewidmet ist, hat sich Ma-chiavelli (14691527) sehr direktmit derFrage befasst, was Herrschaft sei, vonwelcher Art undwieman sie erwirbt, wieman sie behlt und wie man sie nie ver-liert.2

    So enthllte er das Rderwerk derMacht und die Grundlagen der Herr-schaft, was ihm einen etwas dmoni-schen Ruf und recht widersprchlicheAuslegungen eingetragen hat. SeinWerk gilt als das meistgelesene undmeistkommentierte Buch des politi-schen Denkens3 der letzten fnfhun-dert Jahre.

    1513 geschrieben, wurde Il Princi-pe 1532 posthum verffentlicht undwie alle anderen Bcher des Florenti-ners von der katholischen Kirche ab1559 bis Ende des 19. Jahrhunderts aufden Index gesetzt. 1576hatderhugenot-tische Autor Innocent Gentillet dasWort vom Machiavellismus geprgtund damit der schlechten Reputationdes Werks fr lange Zeit Vorschub ge-leistet. Und seit der franzsische Staats-theoretiker Jean Bodin (15291596) Ma-chiavelli zum Vorwurf machte, er habedie heiligen Mysterien der politischenPhilosophie entweiht, galt Machiavelligemeinhin als zynischer Theoretiker

    Vund Einflsterer der Tyrannen. Der Phi-losoph Bertrand Russell (18721970)bezeichnete den Frst als ein Hand-buch fr Gangster.

    Gleichwohl kann sein Denken auchfr ganz andere Auslegungenherhalten.Fr Jean-Jacques Rousseau war DerFrst das Buch der Republikaner; frAntonioGramsci dasBuch, indemsichMachiavelli selbst zu einem aus demVolk gemacht hat. Die Denker der Ge-genreformation des 16. Jahrhunderts,die Autoren der Aufklrung, die Jakobi-ner, Marxisten, Faschisten, Republika-ner und auch die Neoliberalen des21. Jahrhunderts haben im Grunde ge-nommenalle ihre eigeneLesartMachia-vellis.Heutedient derMannausFlorenzauch noch als Inspirationsquelle frKriminalromane und Videospiele4

    sowie fr Ratgeberliteratur zur Unter-nehmensfhrung oder zum Fami-lienmanagement wie etwa Machiavel-li for Moms (Machiavelli fr Mtter)5

    einer gewissen Suzanne Evans.In seinem zweiten Hauptwerk, den

    Discorsi von 1531, untersucht Ma-chiavelli anhand der rmischen Ge-schichte die Prinzipien republikani-scher Herrschaft und stellt deren ber-legenheit gegenber despotischen oderautoritren Systemen (principati) her-aus. Il Principe und die Discorsikreisen um dasselbe Problem: Wie isteine Herrschaft der Autonomie und derGleichheit die Republik zu errichtenund aufrechtzuerhalten, in der Domi-

    nanzverhltnisse ausgeschlossen sind?Wie einen freien Staat aufbauen, derauf allgemeinen Gesetzen, Rechtsstaat-lichkeit undGegenseitigkeit beruht undden Interessen des Gemeinwohls dient?

    Als Theorie der Republikgrndungoder ihrer Wiederherstellung in Krisen-situationen, aber auch als Leitfaden frdie richtigen mitunter gewaltsamen Methoden zum Bau ihrer tragendenSulen ist Der Frst eng verknpft mitden Discorsi, den Reflexionen berdie Form, die die Republik annehmenmuss nmlich die Demokratie , sowieber die Methoden, um sie zu erhalten.Beide Werke sind aus dem historischenKontext erwachsen, in dem Machiavellisie verfasst hat, und aus der intellektu-ellen Tradition, der er verbunden war,um sich aus gutem Grund von ihr zulsen.

    Als Machiavelli sich daranmachte,den Frst zu schreiben, war die vonZwietracht und Korruption ausgehhlteRepublik Florenz, der er vierzehn Jahrelang als hochrangiger Diplomat gedienthatte, gerade von den Parteigngern derMedici und mithilfe der Spanier ge-strzt worden (im September 1512). Dasrepublikanische Zwischenspiel hatte18 Jahre gedauert: von1494bis 1498warFlorenz unter der Autoritt desMnchsGirolamoSavanarola eine the-okratische, von 1498 bis 1512 eine welt-liche Republik.

    Jahrzehntelang war die italienischeHalbinsel dem territorialen Expan-

    sionsstreben der groen Monarchienausgesetzt gewesen, die sich entspre-chend ihren jeweiligen Interessen mitden zahlreichen Stadtstaaten Italiensverbndet und die von Machiavelli alsHoffnung geuerte territoriale und na-tionale Vereinigung verhindert hatten.Nur im Lichte dieser historischen Situa-tion lsst sich Der Frst verstehen:Machiavelli ging es darum, ber dieMit-tel nachzudenken, mit denen in der tos-kanischen Stadt die Republik wieder-herzustellen und ein Staat aufzubauenwre, stark genug, um Italien zu ergrei-fen (zu vereinigen) und von den frem-den Mchten zu befreien. Der Frstrichtet sich an eine Person, die imstan-de wre, dieses doppelte Ziel zu errei-chen.

    Der Frst ist eine Handlungsan-leitung fr Krisensituationen und eineReflexion ber die Natur der Machtnach Art der unter den damaligen Hu-manisten beliebten didaktischen Wer-ke. Gleichwohl bricht das Buch mit denklassischen Idealen. Es verordnet Re-zepte und Methoden, die der Begrnderoder Wiederbegrnder eines Staates be-folgen soll, und kehrt dabei im Namender tatschlichen Wahrheit der Dingedas Verhltnis der Unterordnung derPolitik unter die Moral um: Die Kunstdes Herrschens folgt besonderen Re-geln, die sich aus der Unbestndigkeitder menschlichen Beziehungen (dieMenschen folgen ihren Interessen undLeidenschaften, so auch ihrem Ehrgeiz)und aus der Irrationalitt der Geschich-te ergeben. Jeder Regent muss diese Re-geln kennen, will er den Staat schtzenund am Leben erhalten.

    Machiavelli hat die Politik als einunabhngiges Feld des Handelns undNachdenkens definiert, auf das dieMoral keinenZugriff hat, undhatdamit,wie Louis Althusser meinte, eine echteRevolution des Denkens ausgelst,6

    die spter zur Herausbildung der mo-dernenpolitischenWissenschaften fh-ren sollte. Dieser Neuerung schuldet erseinen schlechten Ruf. Die einen legenihm zur Last, die Mechanismen derHerrschaft aufgedeckt und die Regier-ten gelehrt zu haben, wie sich die Regie-renden ihrer bedienen, um ihre Machtzu sichern; die anderen werfen ihm vor,er habe um des wirkungsvollen Han-delns willen die inhrenten Bindungenzwischen Politik, Moral und Religionzerstrt.

    Machiavelli entwickelte jedocheine grundlegend andere Fragestellung.Ihm zufolge beruht jedes Herrschafts-system auf dem fundamentalen Gegen-satz zweier groer Gruppen oder sozia-ler Wesensarten (umori), durch dieseine Form bestimmt wird: das Volk,also die Gemeinschaft der Brger, unddie Herren, die die soziale, politischeund wirtschaftliche Elite stellen. Letzte-re sind in derMinderheit undwollen dieHerrschaft; Erstere sind in der Mehrheitund widersetzen sich ihr. Aus diesenzwei gegenstzlichenBestrebungenent-stehen in einer Stadt drei verschiedeneWirkungen, und zwar entweder die Al-leinherrschaft oder die Freiheit oder dieAnarchie.

    Kein Staat kommt um diese sozialeAufteilung herum: Der Konflikt zwi-schen den beiden Gruppen, hinter demRangunterschiede, ungleiche Vertei-lung des Reichtums und unterschiedli-cheBestrebungen stecken, ist universellund lsst sich nicht auflsen. Um zufhren,mussmansich fr einLager ent-scheiden. Fr Machiavelli kann dies nurdas des Volkes sein, denn das Strebendes Volkes ist rechtschaffener als dasder groen Herren, da diese das Volkunterdrcken wollen, das Volk dagegennur nicht unterdrckt werden mchte.Die Alleinherrschaft, diese autoritreHerrschaftsform, die Machiavelli auchin der Oligarchie sieht, sei unfhig, diesoziale Frage zu lsen. Es sei also ein re-publikanisches Regime vorzuziehen,das einzige System, das die Gleichheitder Brger, die Interessen des Gemein-wohls und die Unabhngigkeit des Lan-des gewhrleisten kann.

    Eine solche Republik aber, so fhr-te er in den Discorsi weiter aus, kannsich nur auf die Institution der brgerli-chen Zwietracht zwischen Eliten undVolk sttzen, anders ausgedrckt: auf

    die politische Anerkennung des derStadt innewohnenden Konflikts. DieVorstellung einer befriedeten Gesell-schaft sei ein Mythos, ja sogar eine Ab-surditt. Machiavelli geht daher davonaus, dass die Rmische Republik nuraufgrund der Meinungsverschiedenheitzwischen Volk und Senat zur Vollkom-menheit gelangt ist.

    Damit entfernt er sich radikal vomklassischen Modell, wonach der Staatauf friedlichen Verhltnissen aufbauenmuss. Die Institution der brgerlichenZwietracht stellt fr Machiavelli sogardas Fundament der Freiheit dar: In derganzen Republik gibt es zwei Parteien[] und alle Gesetze zum Wohle derFreiheit entstehen allein aus ihrer Ge-genstzlichkeit. Deshalb sei es wesent-lich, einen gesetzlichen Rahmen zuentwickeln, ber den das Volk seineRechte und Ansprche geltend machenkann.

    Wenn anerkannt sei, dass das Volkund die Herren gerade aufgrund ihrerGegenstzlichkeit gemeinsam an derMacht teilhaben, stelle sich die Frage,wem die Wahrung der Freiheit unddie berwachung der Institutionen an-zuvertrauen sei. Das Problem sei vonvordringlicher Wichtigkeit, denn vonder Kontrolle des ffentlichen Interes-ses durch die eine oder andere dieserbeiden Kategorien hngt die Stabilittund die Einheit des Staates ab. Soll dieRepublik also eine aristokratische odereine demokratische Form annehmen?Whrend zu Machiavellis Zeit die meis-ten republikanisch gesinnten Denkereine Oligarchie befrworteten, empfahlder Mann aus Florenz fr die Regelungder stadtstaatlichen Angelegenheitendie Einfhrung einer Volksrepublik(stato popolare), deren hchste Autori-tt eine Ratsversammlung darstellt, ander das Volk ebenso teilnehmen kannwie die Herren.

    In ber die Angelegenheiten vonLucca bezeichnet Machiavelli den Um-stand, dass ein Groer Rat Befehlsge-walt ber die Bevlkerung besitzt, alseine gute Einrichtung, denn diesstellt ein wirksames Hindernis gegendie Ansprche gewisser Leute dar. []Die groe Zahl dient dazu, gegen diegroen Herren und die Ansprche derReichen vorzugehen. Zudem schtzedie Freiheit und die Gleichheit all jene,die an ihrer Aufrechterhaltung interes-siert sind. Man vertraue stets denjeni-gen [die Wahrung der Freiheit] an, diean ihrer Beeintrchtigung das geringsteInteresse besitzen.

    Eine der grten Bedrohungensieht Machiavelli jedoch weiter beste-hen. Wenn nicht die mit dem grtenVerdienst, sondern die mit der meistenMacht die hheren Staatsmter beset-zen, werde ein anderer Konflikt auftau-chen: die Zwietracht von Interessen-gruppen, die meistens aus Familien-clans, Klientelsystemen oder Kapital-monopolen hervorgehen, welche Ma-chiavelli mit dem Begriff sette (Sek-ten) bezeichnet. Sobald allein die Rei-chenunddieMchtigendieGesetze vor-schlagen, wohl weniger zugunsten derFreiheit denn fr die Erweiterung ihrerMacht, werde der Staat in seinen Fun-damenten untergraben. Aus diesemGrund sei die Rmische Republik zu-grunde gegangen, ebenso wie die vonFlorenz.Was also tun? Die Brgerms-sen die Krfte des Bsen diagnostizie-ren, und wenn sie sich in der Lage fh-len, sie zu heilen, ohne Zgern gegen sievorgehen.

    von Olivier Pironet

    Cornelius Brndle

    konzentriert sich als Knstler ganz auf den Siebdruck. Er verwendet gefundene Dinge aus

    dem Alltag wie Gummiringe, Sektflaschenverschlsse aus Draht, Verpackungen , die di-

    rekt auf die Druckplatte gelegt und belichtet werden. Es sind also objets trouvs, die grafisch

    reproduziert werden, so dass wir sie ganz neu betrachten. Hufig werden die Bltter mehr-

    mals bedruckt und die Formen spielerisch variiert. So ergeben sich hochinteressante Varia-

    tionen als Serien von berraschender lyrischer Kraft. Auch seine Skizzenbcher entstehen

    als Siebdrucke, manchmal auf altem, bereits bedrucktem Papier. Cornelius Brndle macht

    zudemKnstlerbcher bei www.editionwasserimturm.de. Zu sehen sind seine Arbeiten vom

    22. bis 24. November bei der Artbook Berlin in der Kulturfabrik am Flutgraben in Berlin.

    artbookberlin2013.blogspot.de Wilhelm Werthern

    g 201209, 2013, Gouache auf Papier, 33 x 42 cm

    1 Siehe unter anderem: Machiavelli: a multimedia

    project, www.brunel.ac.uk/sss/politics/research-

    groups-and-centres/machiavelli sowie John P. Mc-

    Cormick, Machiavellian Democracy, Cambridge

    (University Press) 2011, und: Volker Reinhardt, Ma-

    chiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biogra-

    phie, Mnchen (C.H. Beck) 2012. Die Zitate aus

    Der Frst sind entnommen: Machiavelli Der

    Frst, bersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart (Kr-

    ner) 1978.2 Brief an Francesco Vettori, 10. Dezember 1513.3 Emmanuel Roux, Machiavel, la vie libre, Paris

    (Raisons dagir) 2013.4 Siehe Ranieri Polese, Machiavelmne lenqute,

    Books, Nr. 46, Paris, September 2013.5 New York (Simon & Schuster) 2013.6 Louis Althusser, Die Zukunft hat Zeit, Frankfurt

    amMain (Fischer) 1993.

    Aus dem Franzsischen von Dirk Hfer

  • 4 LE MONDE diplomatique | November 2013

    Meldungen des Monats

    Schlechte Nachrichten

    Am2.Novemberwurden zweiMitarbei-

    ter des Rundfunksenders Radio France

    Internationale (RFI) in Mali entfhrt

    und ermordet. Die Journalistin Ghis-

    laine Dupont und der Toningenieur

    Claude Verlon hatten in Kidal im Nor-

    den Malis gerade ein Interviewmit dem

    Sprecher der Tuareg-Oganisation

    MNLA gefhrt, als sie von vier Mnnern

    in einem Pick-up entfhrt wurden. Bei-

    de wurden auerhalb der Stadt er-

    schossen aufgefunden. Da keine Lse-

    geldforderung bekannt wurde, ist von

    einem politischen Attentat auszuge-

    hen.

    In Mazedonien wurde der Journalist

    Tomislav Kezarovski am 21. Oktober zu

    viereinhalb JahrenGefngnis verurteilt.

    Laut Anklage soll der Reporter der Ta-

    geszeitung Nova Makedonija 2008 die

    Identitt eines geschtzten Zeugen in

    einemStrafprozess enthllt haben. Der

    fragliche Mann hatte allerdings gar kei-

    nengeschtztenStatus underklrte, er

    sei von der Polizei zu falschen Aussa-

    gengezwungenworden.DieRoG-Beob-

    achter in Skopje gehen davon aus, dass

    Kezarovski wegen seiner Kritik am Ge-

    richtswesen und dem Justizministe-

    rium seines Landes verurteilt wurde.

    In Tegucigalpa, der Hauptstadt von

    Honduras, wurde am 24. Oktober die

    von Kugeln durchsiebte Leiche vonMa-

    nuel Murillo Varela aufgefunden. Der

    Kameramann war seit Jahren bedroht

    worden. Im Februar 2010 wurde er, zu-

    sammen mit einem Kollegen, 24 Stun-

    den lang entfhrt. Davor hatten Polizis-

    ten die Ermordung seiner Familie ange-

    kndigt, falls er nicht Filmmaterial aus-

    liefere, auf dem Demonstranten gegen

    den Militrputsch zu erkennen waren.

    Seit das Militr im Juni 2009 den ge-

    whlten PrsidentenManuel Zelaya ge-

    strzt hat, wurden in Honduras neun

    Medienarbeiter auf hnliche Weise hin-

    gerichtet. Bei weiteren 18 Todesfllen

    ist ein Zusammenhang mit der journa-

    listischen Arbeit der Opfer nicht direkt

    nachzuweisen.

    In Saudi-Arabien befindet sich der

    Journalist Tariq al-Mubarak seit dem

    27. Oktober in Polizeigewahrsam. Der

    Blogger und Kolumnist der in London

    erscheinenden Zeitung Ashar al-Awsat

    wurde vonderKriminalpolizeiwegenei-

    nes gestohlenen Autos vorgeladen,

    dann aber ber seine journalistische

    Arbeit verhrt. Al-Mubarak untersttzt

    die Proteste gegen das Fhrerschein-

    verbot fr Frauen und tritt seit Langem

    fr die Gleichberechtigung der saudi-

    schen Frauen ein.

    Gute Nachricht

    Der Journalist Hassan Ruvakuki kann

    seine Arbeit in Burundi wieder aufneh-

    men. Der Radioreporter war im Juni

    2012 wegen terroristischer Ttigkeit

    zu einer lebenslangen Gefngnisstrafe

    verurteilt worden, weil er im November

    2011 im Nachbarland Tansania ber

    eine burundische Rebellengruppe re-

    cherchiert hatte. ImMrz dieses Jahres

    war ihmHaftverschonunggewhrtwor-

    den, jetzt kam er endgltig, wenn auch

    unter Vorbehalt, auf freien Fu.

    Terror und Misere

    m Samstag, den 21. Septem-ber, drang einKommandoderShabaab1 in die Westgate-Mall in der kenianischen

    Hauptstadt Nairobi ein. Nachdem diesomalischen Angreifer wahllos in dieMenge geschossen hatten, verschanz-ten sie sich vier Tage lang im Labyrinthder Ladengeschfte und feuerten auf je-den, der sich ihnen nherte. Die kenia-nischen Behrden zeigten sich nichtnur auerstande, dasMassaker zubeen-den, sie waren auch unfhig, die Mit-glieder des Shabaab-Kommandos zuidentifizieren oder an der Flucht zu hin-dern und auch nur einen der Angreiferfestzunehmen. ber einen Monat nachder Tat sind die genauen Umstnde desAngriffs und die Zahl der Opfer immernoch ungeklrt.

    Reduziert man das Geschehen inNairobi auf eine Aktion islamistischerTerroristen, bersieht man zwei wich-tige andere Dimensionen dieses ber-falls: Er gehrt erstens in den Kontextdes somalischen Brgerkriegs, der seit1988 andauert; und zweitens in denKontext der politischen Krise in Kenia,die sich seit der umstrittenenPrsident-schaftswahl von 2007 stndig weiter ver-tieft hat.

    Der Zerfallsprozess in Somalia be-gann nicht erst 1991 mit dem Sturz desRegimes von Diktator Siad Barre, wieimmer gesagt wird, sondern bereits inden 1980er Jahren mit dem Aufstand inder Nordregion Somaliland. Nach demSturz Barres erklrte Somaliland 1991seine Unabhngigkeit, die aber interna-tional nie anerkannt wurde. Der 2004beginnende Aufstieg der Shabaab istalsonur einSymptomdes immerweiter-gehenden Zerfalls.

    Der Angriff auf die Westgate-Mallwurde auch als Racheakt interpretiert,weil kenianische Soldaten im Oktober2011, untersttzt von der somalischenZentralregierung,2 Sttzpunkte derShabaab angegriffen hatten. Dabei istdie kenianische nur eine von mehrerenauslndischen Armeen, die in Somaliaaktiv sind und sicherlich eine der inef-fektivsten. Beteiligt sind auerdemStreitkrfte aus Uganda, Burundi undDschibuti, im Rahmen einer Missionder Afrikanischen Union in Somalia(Amisom), die von der AfrikanischenUnion (AU) und der UNO finanziertwird. Zudem sind zustzliche Einheitender thiopischen Armee auerhalb desAmison-Rahmens aktiv.

    DieKenianer verfolgendurchaus ei-gene nationale Interessen, die nurwenig mit einer Befriedung Somalias zutun haben. Nairobi will vor allem seineNordostgrenze sichern, die immer wie-der durch Vorste der shifta (somali-sche Banditen) verletzt wird. Keniastrebt aber zweifellos auchdieKontrolleber ein Gebiet des Indischen Ozeansan, der wahrscheinlich l- und ganz si-cher Gasvorkommen enthlt.

    Bei ihrer Operation von 2011brauchten die kenianischen Soldatenneun Monate, um 200 Kilometer auf so-malisches Territorium vorzudringen und zwar ohne auf ernsthaften Wider-stand zu stoen. Dieses Schneckentem-po erklrt sich zum Teil durch die logis-tischen Mngel der kenianischen Ar-mee. Als diese im September 2012 dieHafenstadt Kismaayo einnahm, dienteihr die Miliz ihres lokalen VerbndetenAhmed Madoobe als Vorhut. DessenTruppe bernahm anschlieend die Si-cherung der gesamten Region Juba imSdwesten Somalias. Im Januar 2013bat Madoobe die kenianische Armee,weiter nach Norden, Richtung Gedo,vorzurcken, um ihn bei der Sube-rung des Gebiets zu untersttzen. Aberdie Kenianer drckten sich, weil sie sichgegen die Shabaab keine groen Chan-cen ausrechneten.

    Die islamistische Gruppe hatte imLauf des Jahres 2012 die Kontrolle bermehrere somalische Stdte verloren.Das machte die Inkraftsetzung einerneuen Verfassung und die Installationeiner neuen Regierung mglich. AlsHassan Sheikh Mohamud am 10. Sep-tember 2012 zum Prsidenten gewhltwurde, war der bergangsprozess unterAufsicht der UNO abgeschlossen.

    Es wre falsch, das Westgate-Atten-tat als Rckkehr der islamistischenGruppen zu ihrer frheren strategi-schenMacht zu interpretieren. Viel eherspricht es dafr, dass der Brgerkriegvon Somalia sich auch auf Kenia aus-wirkt. Aber vor allem hat es mit einemKonflikt innerhalb der Shabaab zu tun,der letzten Sommer nach den militri-schen Niederlagen gegen die Amisom-Truppen ausgebrochen ist. Im April

    A

    legte sich Ahmed Godane, einer derwichtigsten Shabaab-Fhrer, mit meh-reren seiner Subkommandanten an, ei-nige von ihnen wurden ermordet. Goda-nes grter Widersacher, Hassan DahirAweis, eine historische Figur des soma-lischen Islamismus, geriet im Juni indieHnde der Zentralregierung. Die wie-derum kann sich in Mogadischu nur be-haupten, weil sie von den internationa-len Truppen geschtzt wird.

    Ob das Kommando, das die West-gate-Mall attackiert hat, von Godaneoder von seinen Rivalen entsandt wur-de, ist schwer zu sagen. Klar ist dagegen,dass die Aktion erstens darauf angelegtwar, den Somalia-Konflikt erneut in dieMedien zu bringen (die dieses Themakaum noch behandeln), und zweitensdie finanzielle Untersttzung fr al-Qaida wieder anzukurbeln. Das Terror-netzwerk soll knapp bei Kasse sein undmuss offenbar krftig sparen.

    Die Shabaab hat handfeste

    politische Interessen

    Sollte Ahmed Godane hinter der Aktionstecken, htte er sich damit als neuerStar auf der Bhne des internationa-len Dschihadismus etabliert, auf dersich bereits al-Qaida im IslamischenMaghreb (AQMI), al-Qaida auf der Ara-bischenHalbinsel (AQAP), die indonesi-sche Jemaah Islamiyah, die nigeriani-sche Boko Haram und diverse syrischeGruppierungen drngen.

    Wenn die Shabaab ihre Aktivittenins Ausland ausweitet, heit dies jedochkeinesfalls, dass sie in Somalia keineBasis mehr htte. Die Organisation kon-trolliert nach wie vor etwa die Hlfte dessomalischen Territoriums und versuchtsich mit neuen Initiativen gegen dieZentralregierung zu behaupten. ZumBeispiel, indem sie in den von ihr kon-trollierten Gebieten die Infrastrukturverbessert oder Volksversammlungenund sogar Kinderfeste veranstaltet.

    Der Terrorismus ist zwar ein zentra-les Instrument der Shabaab, aber nichtdie einzige Karte, auf die sie setzt. IhrHaupttrumpf ist, dass sie die kleinen so-malischen Clans vertritt, die sich alsOpfer eines Imperialismus der gro-en Clans empfinden. Das gilt zumalfr den Hawiy-Clan, der in der Zentral-regierung klar berreprsentiert ist.

    Die Regierung muss hufig kompli-zierte Vertrge mit der Shabaab aushan-deln, die sie an anderer Stelle bekmpft,etwa in der Provinz Juba, wo die Sha-baab gegen den lokalen MachthaberAhmed Madoobe kmpft. Bei einem

    Selbstmordattentat der Islamisten vom10. September (elf Tage vor dem Angriffauf die Westgate-Mall in Nairobi) wurdeMadoobe verletzt und zehn seiner Body-guards wurden gettet.

    Das militrisch schwache Kenia be-findet sich mitten in einer tiefen politi-schen Krise. Die Prsidentschaftswah-len von 2007 waren von ethnischenSpannungen geprgt, die bis zur Staats-grndung zurckreichen und whrendder Zeit des Regimes von Daniel ArabMoi (1978 bis 2002) strker wurden. Dieblutigen Konflikte von 2007 forderten1300 Menschenleben. 300000 Kenianersuchten Zuflucht auf dem Territoriumihrer eigenenEthnie, umsich vorVerfol-gung zu retten. Viele sind noch immernicht an ihren frheren Wohnort zu-rckgekehrt.

    Im ganzen Land operieren Stam-mesmilizen, darunter die besondersbrutalen der Kikuyu und der Kalendjin.Nach den Massakern von 2007 leiteteder Internationale Strafgerichtshof(IStGH) Ermittlungen gegen eine zen-trale Fhrungsfiguren der Kikuyu,Uhuru Kenyatta (Sohn des ersten Prsi-denten Jomo Kenyatta) wie auch gegenden Kalendjin-Anfhrer William Rutoein (siehe nebenstehenden Artikel).

    Angesichts der drohenden Anklagevor dem IStGH bildeten die beiden einZweckbndnis, das dem einen das Pr-sidentenamt, dem anderen den Postenals Vize einbrachte. Kenyatta gewanndie Prsidentschaftswahl im Mrz 2013im ersten Durchgang mit dem hauch-dnnen Vorsprung von 8400 Stimmen.3

    Nach diesem verdchtig knappen Er-gebnis und den Anschuldigungen desIStGH standen beide Mnner mit demRcken zur Wand. Die Tragdie in derWestgate-Mall kam fr sie daher nichtungelegen.

    Am Tag der Attacke stand Ruto be-reits in Den Haag vor seinen Richtern,Kenyatta war im November vorgeladen.Kaum 24 Stunden nach Verhandlungs-beginn genehmigte der IStGH die Rck-kehr des Vizeprsidenten nach Nairobi,um in einem Notfall die Ausbung sei-nesAmtes sicherzustellen. Seither sindKenyatta und Ruto nicht mehr Verdch-tige, die sich verteidigen mssen, son-dern die Garanten internationaler Lega-litt gegenber einer terroristischenGefahr.

    Da spielt es auch keine Rolle, dassdie kenianischen Sicherheitskrftebeim Westgate-Angriff beraus fahrls-sig gehandelt haben. Der Parkplatz aufdem Dach des Einkaufszentrums wurdeeinfach gesprengt, die herabfallendenTrmmer erschlugen zahlreiche Men-

    schen. Soldaten plnderten Geschfteund ergatterten jede Menge Alkohol, so-dass sie betrunken blindlings um sichschossen.

    Es spielt auch keine Rolle, dass diePolizei keinen Bauplan des Gebudeshatte, als sie es strmte, und auch nichtauf die Idee kam,dieKanalisation zube-wachen, durch die Mitglieder des Ter-rorkommandos entkommen konnten.Oder dass die zur Hilfe gerufene Armeebereits am ersten Tag versehentlich denEinsatzleiter der Polizei erschoss. Oderdass die beiden Leiter des Krisenstabs Armeegeneral Julius Karangi und derGeneralinspekteur der Polizei David Ki-mayio sich ffentlich zankten und ein-ander widersprechende Befehle erteil-ten. Und dass der Innenminister gelo-gen hat, als er die Verantwortung frden Brand im Einkaufszentrum denTerroristen zuschob was ihm die f-fentlichkeit ohnehin nicht glaubte.

    Beim Treffen der AfrikanischenUnion in Addis Abeba am 12. Oktobererklrten Nigerias Prsident GoodluckJonathan, thiopiens AuenministerTewodros Adhanom und die meistenReprsentanten der Mitgliedstaatenihre bedingungslose Untersttzung frKenyatta und Ruto. Einzig der ehemali-ge UN-Generalsekretr Kofi Annan erin-nerte sich an die Ereignisse in Ruandaund Darfur und kritisierte die keniani-schen Politiker: Sie htten kein Wortverloren ber Gerechtigkeit fr die tau-senden Afrikaner, die ihr Leben verlo-ren oder ihre Heimat verlassen muss-ten. Wo ist die Gerechtigkeit fr dieseMenschen?

    Kenyatta und Ruto sind vorerst vorder internationalen Strafverfolgung ge-schtzt, aber die politische Misere desLandes geht weiter. Die Abgeordnetendes kenianischen Parlaments, die Ke-nyatta in der Finanzkrise zu Migungaufgerufen hatte, haben noch im Sep-tember eine Anhebung ihrer Bezge be-schlossen. Mit fast 12000 Dollar imMonat gehren sie nun zu den bestbe-zahlten Parlamentariern der Welt.

    1 Abkrzung fr die somalische islamistische Bewe-

    gung Harakat al-Shabaab al-Mujahideen.2 An der Operation war auch ein franzsisches

    Transportflugzeug beteiligt: siehe Ouest France,

    24. Oktober 2010.3 Fr Kenyatta stimmten 50,07 Prozent der 12,3Mil-

    lionen Whler (bei 14,4 Millionen Wahlberechtig-

    ten).

    Aus dem Franzsischen von Jakob Horst

    Wie das Attentat von Nairobimit dem Somalia-Konflikt zusammenhngtvon Gerard Prunier

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    KENIA

    UGANDA

    TANSANIA

    DSCHIBUTI

    THIOPIEN

    SOMALIA

    SDSUDAN

    SOMALILAND

    JEMEN

    PUNTLAND

    Ogaden

    Juba

    Gedo

    SUDANERITREA

    400 km0

    quasiautonome Gebiete

    von Somalis besiedelte Gebiete

    terroristische Aktivitten der Shabab-Miliz auerhalb Somalias seit 2009

    CCILE MARIN Quellen: CIA; Presseagenturen.

    Im Originalumfang der deutschen Erstausgabe von1868, mit allen Abbildungen, einer beigelegtenfarbigen Karte, Register und 70 Kurzbiographiender erwhnten Personen. ISBN 9783941924000,768 Seiten, Leinen, 79 (D). In jeder Buchhand-lung oder unter www.verlag-der-pioniere.de

    Acht Jahre allein auf See, im Dschungel,unter Eingeborenen, 20.000 Kilometerzurckgelegt, 125.000 naturkundlicheObjekte gesammelt Die Wallace-Expedition gilt als erfolgreichsteEin-Mann-Unternehmung derNaturkunde. (M. Glaubrecht)

    Alfred R.Wallace:Der Malayische Archipel

    Zum100.

    Todestag

    von

    Wallace am

    7. Novemb

    er 2013

    Gerard Prunier ist Forscher amCentre national de la

    recherche scientifique (CNRS) in Paris und Leiter

    des Centre franais dtudes thiopiennes in Addis

    Abeba.

  • LE MONDE diplomatique | November 2013 5

    ehn Jahre Kampf gegen Straflo-sigkeit: So steht es stolz auf derWebseite des InternationalenStrafgerichtshofs (IStGH). Seit

    seiner Grndung 2002 spricht diesesGericht seine Urteile ber Personen, diewegen Vlkermord, Verbrechen gegendie Menschlichkeit, Kriegsverbrechenoder Verbrechen der Aggression ange-klagt sind. Die Prambel des Rmi-schen Statuts, der vertraglichen Grund-lagedes IStGH,bekrftigt dieEntschlos-senheit, der Straflosigkeit der Tter einEnde zu setzen und so zur Verhtungsolcher Verbrechen beizutragen.

    Der IStGH will also mit dem klassi-schen, als unwirksam erachteten inter-nationalen Strafrecht brechen. Dabeikann er laut Statut jeden nach seinerGrndung begangenen Rechtsverstoahnden. Das unterscheidet ihn von denInternationalen Strafgerichtshfen frdas ehemalige Jugoslawien (ICTY)1 undfr Ruanda (ICTR), deren Zustndigkeitauf ein bestimmtes Gebiet und einengenauen Zeitraum beschrnkt ist.

    Bei einem IStGH-Verfahren musslediglich eine von zwei Bedingungen er-fllt sein: Entweder stammt die tatver-dchtige Person aus einem der Vertrags-staaten (bislang sind 122 der insgesamt193 Mitgliedstaaten der Vereinten Na-tionen dem Statut beigetreten). Oderdie Straftaten wurden auf dem Hoheits-gebiet einesVertragsstaats verbt.DieseletzteBestimmungermglicht eineAus-weitung der Zustndigkeit des Gerichts-hofs auf Lnder, die die Gerichtsbarkeitdes IStGH nicht anerkennen.

    Ein Tatverdchtiger kann sich sei-ner Verantwortung auch nicht mehrdurch den Verweis auf sein ffentlichesAmt entziehen. Damit sind wederStaats- oder Regierungschefs noch Di-plomaten vor der IStGH-Strafverfolgunggeschtzt. So muss sich zum BeispielKenias amtierender Vizeprsident Wil-liam Ruto seit dem 9. September 2013wegen der gewaltttigen Ausschreitun-gen nach der Prsidentschaftswahl von2007 vor dem IStGH verantworten.Gegen den sudanesischen PrsidentenOmar al-Bashir erlie der Gerichtshof2009 einen Haftbefehl wegen Vlker-mords in der Region Darfur.

    Ein Verfahren kann entweder aufBetreiben eines Staats oder des UN-Si-cherheitsrats eingeleitet werden, oderaber auf Initiative des IStGH-Chefankl-gers. Dieses Amt bekleidet derzeit dieGambierin Fatou Bensouda, deren Vor-gnger der Argentinier Luis MorenoOcampo (20032013) war. Gem demGrundsatz der Komplementaritt wirdder Gerichtshof erst ttig, wenn eineStrafverfolgung durch die nationale Ge-richtsbarkeit nicht mglich ist sei es,weil die betreffende Regierung dazunicht gewillt ist oder das Rechtssystemdiese Mglichkeit nicht zulsst.

    Das Komplementarittsprinzip warursprnglich als Zugestndnis an dieSouvernitt der Staaten gedacht, fhr-te aber in der Praxis zu einer Diskrimi-nierung von Staaten mit schwacherVerwaltungsstruktur und insbesondereder rmsten Lnder. Deshalb ist es si-cher kein Zufall, dass smtliche der bis-lang verhandelten 18 Flle mit Konflik-ten auf dem afrikanischen Kontinent zutun haben. Der thiopier HailemariamDesalegn, der aktuelle Prsident derAfrikanischen Union, beschuldigte denGerichtshof beim Gipfeltreffen der afri-kanischen Staatschefs am 31. Mai 2013sogar der rassistischen Hetze.

    Der IStGH sieht sich also trotz derguten Absichten, die in den Neuerun-gen seines Statuts zum Ausdruck kom-men, einiger Kritik ausgesetzt. DerHauptvorbehalt lautet, dass er im Span-nungsfeld zwischen Politik und Recht-sprechung hin und her gerissen werde.Fr das Rmische Statut gilt wie fr in-ternationale Abkommen blich , dassihm nur die Mitgliedslnder verpflich-tet sind. Drei stndige Mitglieder desUN-Sicherheitsrats, die VereinigtenStaaten, Russland und China, haben esbis heute nicht ratifiziert. Washingtonwill verhindern, dass seine im Auslandeingesetzten Soldaten vor dem Gerichtlanden knnten. Moskau und Pekingbefrchten Anklagen im Zusammen-hang mit Tschetschenien und Tibet.Auch Israel hat, wegen hnlicher Beden-ken im Hinblick auf Palstina, denIStGH bisher nicht anerkannt.

    Aber die USA gehen noch einenSchritt weiter: Das State Departmentlie sich von einigen seiner Verbnde-ten insbesondere in Afrika vertrag-lich zusichern, dass sie keine US-Staats-brger an den IStGH ausliefern auchdannnicht, wenndasmutmalicheVer-

    Z

    brechen auf dem Territorium eines Ver-tragsstaats verbt wurde.2

    Das alles zwingt den Gerichtshof zueinem Spagat zwischen seinem Statusals supranationales Strafgericht undden politischen Kompromissen, aufdenen seine Grndung beruht. Mangelseigener Exekutivorgane (Polizei, Armee)ist er auf die konkrete Hilfe der Staatenangewiesen, insbesondere bei der Voll-streckung der Haftbefehle, die seinChefanklger erlassen hat. Ein Beispiel:Trotz der Resolution 1556 des UN-Si-cherheitsrats zu Darfur von 20043 hatdie sudanesische Regierung jede Zu-sammenarbeit mit dem IStGH verwei-gert. Und dass Prsident Omar al-Bashirunbehelligt Kenia und den Tschad be-suchen konnte, spiegelt einen Konsensfast aller afrikanischen Staaten.

    Manche Flle werden

    verhandelt, andere nicht

    Angesichts solcher Schwierigkeitenmuss der Chefanklger um die Gunstder Regierungen buhlen. Denn ohnederen Mitarbeit kann ein Verfahren garnicht stattfinden: Eine Verurteilung inAbwesenheit ist nicht vorgesehen.

    Entsprechend lsst die Anklageeine gewisse diplomatische Vorsichtwalten. Um die Untersttzung der Re-gierungen zu gewinnen, verzichtet dieChefanklgerin gelegentlich auf dasVorrecht, das ihre Unabhngigkeit ambesten gewhrleistet: die Mglichkeit,ein Ermittlungsverfahren kraft ihresAmtes (proprio motu) einzuleiten. Vondieser Befugnis, die im internationalenRecht ein Novum ist, wurde bisherkaum Gebrauch gemacht. Vier der der-zeit anstehenden Rechtssachen wurdendem IStGH von den betroffenen Regie-rungen vorgelegt: von Uganda, der De-mokratischen Republik Kongo, der Zen-tralafrikanischen Republik und Mali.

    Erst zweimal wurde der Chefanklger,in Person von Luis Moreno Ocampo,selbst aktiv: im Fall Elfenbeinkste, woes um den Konflikt zwischen LaurentGbagbo und seinem Gegenspieler Alas-sane Ouattara geht, und im Fall Kenia.Dort wird die Anklage durch einen wei-teren Umstand kompliziert: Der wegenVerbrechen gegen die Menschlichkeitangeklagte Uhuru Kenyatta wurde am9. April 2013 zum Prsidenten vonKenia gewhlt, obwohl ein IStGH-Haft-befehl gegen ihn vorlag und er ab No-vember vor Gericht stehen sollte.

    Noch strker wird der Handlungs-spielraum des Gerichtshofs jedoch da-durch eingeschrnkt, dass er einem iusvitae ac necis (Recht ber Leben undTod) desUN-Sicherheitsrats unterliegt.Dieser kann auf der Grundlage von Ka-pitel VII der UN-Charta ein Verfahrenaussetzen. So wurden etwa im Juli 2002aufgrund der Resolution 1422 die Er-mittlungen des Chefanklgers ber dasVerhalten von US-Soldaten suspendiert,die als UN-Blauhelme in Bosnien-Her-zegowina operierten, also in einem Un-terzeichnerstaat des Rmischen Sta-tuts. Der Sicherheitsrat kann die Ge-richtsbarkeit des IStGH andererseitsauch auf Staaten ausweiten, die demStatut nicht beigetreten sind wie 2003im Fall Sudan und 2011 im Fall Libyenunter Muammar al-Gaddafi.

    Das Handeln des Sicherheitsrats istalso hchst politisch. Die AfrikanischeUnion hlt die gegen al-Bashir und Ke-nyatta erhobenen Anklagen fr kontra-produktiv und sieht darin eine Bedro-hung des Friedensprozesses in den be-troffenen Lndern.4 Am 5. Septemberforderte das Parlament in Nairobi dieRegierung auf, die Mitgliedschaft beimIStGH aufzukndigen, weil dessen T-tigkeit die Stabilitt und SicherheitKenias gefhrde.

    Auf Kritik stoen auch die Kriterienfr die Auswahl der einzelnen Flle. Die

    Das WeltgerichtDer Internationale Strafgerichtshofsoll globale Gerechtigkeit ben in politischen Grenzenvon Francesca Maria Benvenuto

    Chefanklage verfolgt nur Straftaten, dienach ihrem Ermessen allerschwersteVerbrechen darstellen. Hauptkriteriensind dabei die Anzahl der Opfer und dieDauer der Straftaten, aber auch die hier-archische Position der mutmalich Ver-antwortlichen spielt eine Rolle. Auf-grund dieser vagen Kriterien wurdenschon sehr fragwrdige Entscheidun-gen getroffen. So verweigerte die Chef-anklage die Einleitung von Ermittlun-gen zu Vorfllen im Irakkrieg ab 2003,weil angeblich nur vereinzelt Strafta-ten begangen wurden und diese nichtdem Kriterium der Schwere der Tat ent-sprechen.5 In diesem Fall htte sicheine Strafverfolgung auch nur gegen An-gehrige von Staaten richten knnen,die den IStGH anerkennen, wie etwaGrobritannien.

    Auch die Anschuldigungen, die Pa-lstina 2009 gegen Israel erhob, hat derdamalige Chefanklger nicht weiter ver-folgt. Ocampo meinte dazu, es sei Auf-gabe der zustndigen UN-Organe oderder Versammlung der Vertragsstaaten,rechtlich zu entscheiden, ob Palstinaein Staat im Sinne der Beitrittsbestim-mungen zum Rmischen Statut dar-stellt, was die Ausbung der Gerichts-barkeit des Gerichtshofs erst mglichmachen wrde.6

    Ocampo versteckte sich also hinterdem Problem, dass Palstina von derinternationalen Gemeinschaft nochnichtals souvernerStaat anerkannt ist.

    Amnesty International kritisierteseinerseits das Verfahren im Fall Elfen-beinkste als parteiisch: Der ehemaligePrsident Gbagbo und seine Ehefrau Si-mone wrden strafrechtlich verfolgt,der zweite Akteur in dem Nachwahlkon-flikt, der amtierende Prsident Ouat-tara, komme dagegen ungeschoren da-von. Amnesty spricht deshalb vom Ge-setz des Siegers.7

    Ein weiterer Vorwurf an den IStGHbetrifft die Symbolik. Seine Parole Be-

    kmpfung der Straflosigkeit knnedarber hinwegtuschen, dass seineRechtsprechung auf die Mchtigen zu-geschnitten sei.8 Das internationaleStrafrecht laufe also Gefahr, diejenigenLnder, die der Gerichtshof nicht be-langt oder belangen kann, rechtlich zuexkulpieren und moralisch zu legitimie-ren. In der Tat kann die Berufung aufhohe Werte, die zwangslufig breit defi-niert sind, das Wirken des IStGH ten-denziell politisieren. Und damit einerJustiz mit variabler Geometrie Vor-schub leisten, die ihre Neutralittsver-pflichtung aus den Augen verliert.

    Ein letzter Punkt: Wer sich zumhchsten Vorbild ernennt, weckt umsohhereErwartungen.Die internationaleRechtsprechung will nicht mehr nurVerbrechen bekmpfen und die Tterbestrafen, sie versteht sich darber hin-aus als ein Instrument der Prvention,als Mittel gegen den Krieg, als Waffe zurVerteidigung der globalen Sicherheitund als Instanz, die den Opfern zu Ge-rechtigkeit und einer angemessenenWiedergutmachung verhilft.

    Eine weitere Neuerung des Rmi-schen Statuts besteht darin, dass dieOpfer aktiv an der Rechtsprechung mit-wirken. Vor Ad-hoc-Gerichten wie demInternationalen Strafgerichtshof fr dasehemalige Jugoslawien treten sie meistnur als Zeugen auf und werden hufigvon der Anklage instrumentalisiert. Vordem IStGH beschrnken sich die Opfernicht nur auf die Zeugenaussage.

    Das impliziert allerdings die Ge-fahr, dass der internationale Strafpro-zess auf die therapeutische Schiene ge-rt. Einige Juristen sehen darin einenSchritt zur notwendigen Wiederher-stellung des Opfers9; dessen neuer Sta-tus vor Gericht sei eine erste angemes-sene Antwort auf seine vielfachen Trau-mata.10 Wer so argumentiert, riskiertjedoch, jede juristische Rationalittber Bord zu werfen. Das Recht auf Zu-gang zu Rechtsverfahren mit dem Rechtauf Erlangung von Gerechtigkeit zuverwechseln, ist ein scherwiegenderhermeneutischen Fehler, der auf einejustizialistisch geprgte Sichtweiseder internationalen Gerichtsbarkeithinausluft.

    Vergessen wir nicht, dass das Opferauch zum Strfaktor in einem Prozesswerden kann,wennnmlich seine Emo-tionalitt die sachliche Gesprchsfh-rungbeeintrchtigt. VordemIStGHdr-fen die Opfer Beweise fr den erlittenenSchaden vorbringen, aber auch fr dieFeststellung der Schuld des Angeklag-ten. Sie bernehmen so die Rolle einesinoffiziellen, privaten Staatsanwalts.Damit steht die Verteidigung zwei An-klgern gegenber. Dieser Symbolis-mus, ein Herzstck des IStGH, magzwar dem Opfer guttun, verliert aberden Angeklagten aus dem Blick. Da-durch verliert das Verfahren seine Ba-lance.

    berzogene Erwartungen fhrenam Ende zu ebenso groen Enttu-schungen. So kmpft der IStGH inzwi-schen gegen die Windmhlenflgelseines eigenen Symbolismus. Deshalbmuss er sich von dieser symbolischenberfrachtung befreien. Zu recht be-merkt Tzvetan Todorov: Ziel der Recht-sprechungdarf einzigdasRecht sein.11

    1 Siehe Jean-Arnault Drens, Justice borgne pour

    les Balkans, Le Monde diplomatique,Mai 2013.2 Siehe Anne-Ccile Robert, Wer wen verurteilen

    darf und warum, Le Monde diplomatique, Mai

    2003.3 Darin wurde die sudanesische Regierung aufge-

    fordert, die Janjaweed-Milizen in Darfur zu entwaff-

    nen und die Schuldigen fr Menschenrechtsverlet-

    zungen vor Gericht zu bringen.4 Jean-Baptiste Vilmer, LAfrique face la justice

    pnale internationale, Le Monde, 12. Juli 2011.5 Luis Moreno Ocampo, The International Criminal

    Court in motion, in: Goran Sluiter und Carsten

    Stahn (Hg.), The Emerging practice of the ICC,

    Amsterdam (Brill) 2009.6 ICC, The Office of the Prosecutor, Update on the

    situation in Palestine, Den Haag, 3. April 2012.7 Amnesty International Cte dIvoire: The victors

    law, London, 26. Februar 2013.8 Danilo Zolo, La Giustizia dei vincitori, Rom (La-

    terza) 2006.9 Nicole Guedj, Non, je ne suis pas inutile, Le

    Monde, 30. September 2004.10 Julian Fernandez, Variations sur la victime et la

    justice pnale internationale, in: Amnis Revue de

    civilisation contemporaine Europes/Amriques,

    Ausgabe 6/2006.11 Tzvetan Todorov, Les limites de la justice, in: An-

    tonio Cassese und Mireille Delmas-Marty, Crimes

    internationaux et juridictions internationales, Pa-

    ris (Presses Universitaires de France PUF) 2002.

    Aus dem Franzsischen von Birgit Bayerlein

    Cornelius Brndle, tagebuch seite 14, Gouache auf Papier, 25 x 41 cm

    FrancescaMaria Benvenuto ist Anwltin undDozen-

    tin fr Internationales Strafrecht an der Universitt

    Neapel.

  • 6 LE MONDE diplomatique | November 2013

    gekennzeichneten Einrichtungen zumZiel bewaffneter Oppositionsgruppenwerden.

    Die vier Provinzen Kabul, Kapisa,Parwan und Pandschir stehen bereitsjetzt unter der alleinigen Hoheit des Ge-sundheitsministers. Der afghanischeMitarbeiter einer internationalen NGOanalysiert die Situation dort wie folgt:Angesichts der Resultate sind alle u-erst skeptisch, was die landesweiteVersorgung betrifft. Alle Gesundheits-einrichtungen abseits der wichtigenFernstraen werden vernachlssigt,Gelder veruntreut, und Patienten wer-den fr eigentlich kostenlose Dienst-leistungen um Bakschisch gebeten. Dasmedizinische Personal macht sich rar,es gibt keine zuverlssige Versorgungmit Medikamenten, und die Fhrungs-krfte kommen ihrer Kontrollpflichtnicht nach. Auerdem arbeiten mancherzte parallel in privaten Kliniken, wasauch an ihrer Bezahlung liegt: Sie be-kommen zwischen 200 und 550 US-Dol-lar im Monat.

    Bei der Tokioter Geberkonferenzwurden Hilfszahlungen in Hhe von16 Milliarden US-Dollar fr den Zeit-raum von 2012 bis 2017 vereinbart.Deutschland hat sich verpflichtet, jhr-lich 430 Millionen Euro beizusteuern.Auch die Finanzierung des Gesund-heitssystems soll durch diese Mittel ab-gedeckt werden. Die Mitarbeiterin einermedizinischen NGO meint jedoch: Al-les hngt davon ab, wie das Gesund-heitsministerium die internen Proble-me in den Griff bekommt und welcheMglichkeiten die NGOs haben, wieheute in den KIS, an den Rndern desSystems zu arbeiten und auf Mngelberall in Afghanistan hinzuweisen.Ob die NGOs ihr Engagement auch inden kommenden Jahren fortsetzen kn-nen, hnge vor allem von der Sicher-heitslage ab.

    Welche Haltung die Taliban gegen-ber den internationalen NGOs einneh-men, ist indes ungewiss. Manche Orga-nisationen haben sich deutlich als Un-tersttzer der auslndischen Streitkrf-te positioniert.10 Sie knnten in denkommenden Monaten zur Unttigkeitverdammt oder gezwungen sein, dasLand zu verlassenunddamit ihrenMen-toren aus der internationalen Koalitionfolgen.

    1 Aus Tadschikistan eingewanderte ethnische Min-

    derheit, etwa 100000 Angehrige.2 2013 UNHCR country operations profile Afgha-

    nistan, UNHCR: www.unhcr.org.3 Zur Ernhrungssituation und zur geistigen Ge-

    sundheit in den KIS siehe Giovanna Winckler-Ron-

    coroni, Survey of mental health and child care

    practices in the KIS, Afghanistan, Action contre la

    faim, Paris, Mai 2012 .4 Tatschlich hatte die CIA in Abottabad eine ge-

    flschte Impfkampagne durchgefhrt, um an die

    DNA von Familienmitgliedern bin Ladens zu kom-

    men und damit dessen Aufenthaltsort zu bestim-

    men. Siehe CIA organised fake vaccination drive to

    get Osama bin Ladens family DNA, The Guardian,

    11. Juli 2011.5 Siehe Frdric Bobin, AuPakistan, la lutte antipo-

    lio est la cible des talibans, Le Monde, 19. Dezem-

    ber 2012.6 Siehe Afghanistan Annual Opium Poppy Sur-

    vey, United Nations Office on Drugs and Crime

    (UNODC) 2011: www.unodc.org.7 Afghanistan Opium risk assessment 2013,

    UNODC, April 2013.8 Siehe Afghanistan Annual Opium Survey

    2012, UNODC, Mai 2013.9 Afghanistan, from transition to transformation,

    Weltbank, Washington, D.C., 1. Juli 2012.10 Siehe Pierre Micheletti, Schutzlose Helfer, Le

    Monde diplomatique, Juni 2007.

    Aus dem Franzsischen von Sabine Jainski

    Pierre Micheletti ist Arzt und Herausgeber von Af-

    ghanistan. Gagner les coeurs et les esprits, Gre-

    noble (Presses universitaires de Grenoble Radio

    France Internationale) 2010.

    in sanfter, staubiger Wind wehtdurch die Ebene von Gull Buttaam Rande Kabuls. Ein paarhundert Meter vor den ersten

    Zelten hlt ein kleiner, schwer belade-ner Laster. Kaum hat das Fahrzeug an-gehalten, springen alle Passagiere ab.Nun kommt die Fracht auf der Pritschezum Vorschein: Ein Dutzend Khe undKlber werden nach drauen gescho-ben und von den Frauen an Metallpfl-cke gebunden, die sie vorher nochschnell in die Erde gerammt haben.

    Vier Jogi-Familien1 sind allein mitdiesem einen Laster eingetroffen. LautUN-Flchtlingskommissariat (UNHCR)leben im Umkreis der afghanischenHauptstadt etwa 35000 Menschen in50 Notunterknften, die inderUN-Spra-che Kabul Informal Settlements (KIS)genannt werden. Daneben gibt es nochdie HIS, also Herat Informal Settle-ments, und die MIS, Mazar-e-Sharif In-formal Settlements. Insgesamt zhlt Af-ghanistan im Jahr 2013mehr als 450000Binnenflchtlinge.2 75 Prozent der Af-ghanen sind imLaufe ihres Lebensmin-destens einmal vertrieben worden.

    In manchen der informellen Sied-lungen rund um Kabul wohnen nur einpaar Dutzend Menschen, wie in Puli Go-zargah. In anderen sind es bis zu 5000,wie in Charahi Qamber. Die ltestenCamps wurden 2002 errichtet, nach Be-ginn der internationalen Militropera-tion gegen das Taliban-Regime in Af-ghanistan; die jngsten, wie Gull Butta,gibt es erst seit ein paar Monaten. Seit2008 haben sich die Zeltstdte massivvergrert, 2011 hat sich der Prozessnochmals beschleunigt. Viele der Ein-wohner sind mittlerweile sesshaft ge-worden, manche befinden sich immernoch auf der Durchreise. Hinzu kom-men Nomadenfamilien, die kommenund gehen, je nach Notlage, Strenge desWinters und Intensitt der Kampfhand-lungen. Wieder andere sind von ihrerFlucht ins Ausland, meist nach Pakis-tan, zurckgekehrt; zu dieser Gruppegehren etwa 60 Prozent der KIS-Be-wohner.

    Die meisten flohen vor der Gewalt,vor der sie weder die internationalenTruppen noch die Milliarden an Hilfs-geldern, die im Laufe der Zeit nach Af-ghanistan geflossen sind, haben scht-zen knnen. Das Durchschnittseinkom-men in den Lagern liegt bei 20 Cent proPerson und Tag. Manche leben hier be-reits seit zehn Jahren unter extremschwierigen Bedingungen, in improvi-sierten Unterknften und ohne Wasser,denn die afghanische Regierung willeine endgltige Ansiedlung verhindernund verbietet deshalb den Bau vonBrunnen.

    In Gull Butta wohnen 22 Familienauf zwei kleinen gegenberliegendenZeltpltzen. Als der Kleinlaster mit denvier Jogi-Familien an einem der Pltzeanhlt, kommen von allen Seiten Leuteheran. Sie lcheln und umarmen dieneuen Bewohner, einige kennen sich.Alle packen mit an und tragen das Ge-pck zu den Zelten.

    Auf dem anderen Zeltplatz emp-fngt uns Herwaz Ron in seiner Funk-tion als ltester. Auf dieser Seite des La-gers leben etwa 20 Personen in fnf Zel-ten. Sie sind Kuchis, Nomaden, die voreinigen Wochen aus Dschalalabad ander Grenze zu Pakistan kamen. Wirhaben die Hitze dort nicht mehr ausge-halten und die Armut, berichtet der Pa-triarch. Wir haben darauf gehofft, inKabul eher einen Job zu finden. SeineGruppe, ein Nomadenstamm von Hau-sierern und Kleinhandwerkern, gehrezu den Sheikh Mohammadi, erklrtRon. Es ist einer von zahlreichen Deck-namen, die viele Kuchis benutzen, um

    E

    Hunger

    Durchschnittliche Lebenserwartung

    (2011): 49 Jahre.

    Kindersterblichkeit (der unter Fnf-

    jhrigen): 101 von 1000 im Jahr 2011;

    im Jahr 2000 waren es noch 136.

    Unterernhrung: ber die Hlfte der

    Kinder unter fnf Jahren ist chronisch

    unterernhrt. Der Anteil schwer Unter-

    ernhrter ist von 4,7 Prozent (2008)

    auf 17,6 Prozent gestiegen (2011).

    Impfstatus (2011): Etwa 65 Prozent

    der Bevlkerung sind umfassend ge-

    impft.

    Mttersterblichkeit: 460 Todesflle

    auf 100000 Lebendgeburten im Jahr

    2010; 2005 lag die Zahl noch bei 710.

    Quelle: UNHCR

    Der afghanische Patient

    ihren schlechten Ruf als Diebe, Bettlerund Prostituierte abzuschtteln. Ronbeklagt sich darber, dass von der be-scheidenen Regierungsuntersttzung,die an die KIS gezahlt werde, bei ihnennichts ankomme.Die Siedlung der Jogisvon gegenber lasse sie nicht daran teil-haben.

    Die Einzigen, die sich um sie km-mern wrden, sind die Mitarbeiter vonNGOs wie Solidaritt International, dieeine Mindestversorgung mit Essen,Wasser und Medikamenten organisie-ren. Im komplexen Mosaik der afghani-schen Stmme stehen die Kuchis ganzam Rand. In der Regel sind sie immerunterwegs, meistens arm, und sie wer-dendiskriminiert.UmdieseMissstndezu beseitigen, hat die Regierung vorge-schlagen, den Kuchis zehn Sitze imnchsten Parlament zu reservieren, dasEnde 2014 gewhlt werden soll.

    Die Patientenakten der Ambulan-zen und mobilen Kliniken dokumentie-ren vor allem typische Armutskrankhei-ten wie Tuberkulose, die sich durch dieungesunden Lebensverhltnisse in denLagern ausbreitet. Zu den hufigstenLeiden zhlen auerdem Hals-Nasen-und-Ohren- sowie Lungenentzndun-gen. Im Sommer grassieren wegen desbakterienverseuchten Wassers die vorallem fr Kleinkinder lebensgefhrli-chen Durchfallerkrankungen. Und weildie Mnner in Kabul hufig nur Jobsfinden, die mit schwerer krperlicherArbeit verbunden sind, fr die siemit einem Hungerlohn von weniger als2 Euro am Tag abgespeist werden, kla-gen viele ber starke Gelenk- und R-ckenschmerzen. Weitere Folgen derschlechten hygienischen Versorgungsind Hautinfektionen, Mangelerschei-nungenund die Ausbreitung vonParasi-ten. Die Hlfte der Frauen werden nochvor ihrem 15. Geburtstag verheiratet.Ein Fnftel der schwangeren oder stil-lenden Frauen leidet unter mittlerer bisschwerer Mangelernhrung.3

    Das afghanische Gesundheitssys-tem funktioniert nicht. Auch wenn dieNGOs und das Gesundheitsministe-rium mit Impfungen und Manahmengegen Mttersterblichkeit, Malaria undHIV/Aids (siehe Kasten) versuchen, eineBasisversorgung aufrechtzuerhalten.Besonders die Versorgung der Frauenist schwierig: In einem Land, wo Frauennur von Frauen behandelt oder nur inBegleitung eines Mannes der Familieuntersucht werden knnen, msste zu-nchst eine ganze Generation von Kran-

    kenschwestern, rztinnen und Hebam-men ausgebildet werden. Doch dafrfehlen die Voraussetzungen: Nur weni-ge Frauen gehen zur Schule und knnenlesen und schreiben, viele Familien wei-gern sich, sie fr eine Ausbildung von zuHause fortzulassen.

    Doch selbst wenn diese Hrdenberwunden werden knnen, taucht so-fort ein neues Hindernis auf: die mar-hams. Diese von der Familie bestimm-ten mnnlichen Begleitpersonen wieBrder, Schwager oder Cousins mssendie Frauen whrend ihrer Ausbildungoder an ihrem Arbeitsplatz stndig be-gleiten und auch sie wollen unterge-bracht und ernhrt werden. Wenn eineFrau eingestellt werden soll, muss manalso damit rechnen, auch ihrenmarhamversorgen zu mssen, am besten manfindet auch gleich fr ihn einen Arbeits-platz. Das Gesundheitssystem ist mitdieser Logistik heillos berfordert, weilsie betrchtliche Zusatzkosten nachsich zieht und als Hypothek auf denknftigen Budgets lastet.

    Armutskrankheiten

    und Opiumsucht

    Wegen fehlender Impfungen habensich in den grenznahen Provinzen un-weit der pakistanischen Stammesgebie-te seit 2012 gefhrliche ansteckendeKrankheiten wie Kinderlhmung (Po-lio) in beunruhigendem Mae ausge-breitet. Dafr gibt es eine unerwarteteBegrndung, die mit der Ttung vonOsamabinLaden zu tunhat: Pakistani-sche Taliban, erklrt ein afghanischerArzt, streuen nmlich das Gercht,dass das Impfpersonal beim Aufsprendes Al-Qaida-Fhrers in Abbottabadmitgeholfen htte.4 Bereits seit 2011kam es deswegen immer wieder zu An-griffen auf das Impfpersonal der Uni-cef,5 wobei auch Helfer starben. Trotzunserer Treffen mit Dorfgemeinschaf-ten und unserer Bemhungen, mithilfeder Mullahs die Situation zu entschr-fen, ist das Problem in den Ostprovin-zen immer noch nicht gelst, erzhltder Arzt.

    Eine weitere Geiel fr die Gesund-heit ist derDrogenkonsum.Afghanistanist der grte Opiumproduzent derWelt. Man schtzt die Zahl der Abhngi-gen heute auf etwa eine Million, darun-ter 150000 Heroinschtige, die dieDroge unter katastrophalen hygieni-schen Bedingungen konsumieren.

    Beim Abzug der sowjetischen Truppen1989 betrug die Jahresproduktion vonOpium1200Tonnen2009warenesbe-reits 6900 Tonnen.

    Mit dem Rckzug der internationa-len Truppen hat sich die Opiumherstel-lung weiter beschleunigt: Allein im Jahr2011 stieg sie um 7 Prozent.6 Nach einerStudie, die das Bro der Vereinten Na-tionen fr Drogen- und Verbrechens-bekmpfung (UNODC) Ende 2012 in546 Drfern durchgefhrt hat, rechneteman 2013 mit einem weiteren massivenAnstieg der Anbauflche.7 Die Einknf-te aus dem Schlafmohnanbau und demHandel mit Opium bilden heute etwa15 Prozent des afghanischen Bruttoin-landsprodukts (BIP).8

    Bei derGeberkonferenz in Tokio imJuli 2012 zehn Jahre nach dem erstenTreffen von 2002, bei dem die Grundla-gen fr den Wiederaufbau nach derNiederlage der Taliban gelegt wordenwaren diskutierten internationale Ge-berlnder und Hilfsorganisationen mitder afghanischen Regierung ber ihreHilfsleistungen. Das BIP Afghanistanswird auf 17,24 Milliarden Dollar (2010)geschtzt. Eine Studie der Weltbank9

    wies erst krzlich darauf hin, dass diestaatlichen Einknfte noch ber Jahrenicht ausreichen werden, um die Ausga-ben zu decken. Die Weltbank schtzt,dass das Haushaltsdefizit Afghanistansim Jahr 2014 mit 39 Prozent seinen H-hepunkt erreichen und im Jahr 2025immer noch 21 Prozent betragen wird.

    Die Gesundheitsversorgung fretwa 15 Millionen arme Afghanen dieHlfte der Bevlkerung wird ab 2014,und strker noch ab 2017, von der Funk-tionsfhigkeit des Gesundheitsministe-riums und dessen Personal abhngen.Die Finanzmittel von EU, Weltbank undder US-Entwicklungsbehrde (USAID)werden dann nicht mehr wie heute andie NGOs ausgezahlt, sondern direkt anden afghanischen Staat, ohne dass dieGeber die Verwendung der Gelder wirk-lich kontrollieren knnen.

    Die Koordinatorin einer internatio-nalen Hilfsorganisation vertraut uns inder Hochsicherheitszone der Grten,einem der Treffpunkte der auslndi-schen Helfer, ihre Sorgen an: Der Sys-temwechsel birgt zwei Arten von Risi-ken. Zum einen das finanzielle Risiko,wenn die Mittel aufgrund der massivenKorruption innerhalb der afghanischenVerwaltung versickern. Und zum ande-ren das politische Risiko, dass die nunoffiziell als Regierungsinstitutionen

    Nach dem Abzug der internationalen Truppendroht die Gesundheitsversorgung vollends zusammenzubrechenvon Pierre Micheletti

    Sanga-Amaj-Klinik, Kabul: Drogenentzug fr Frauen und Kinder OMAR SOBHANI/reuters

  • LE MONDE diplomatique | November 2013 7

    MalaienundMalaysier

    s war einer dieser typischen All-gemeinpltze, den die Macht-haber in Malaysia nicht mdewerden herunterzubeten: Die

    chinesischen Malaysier, behaupteteEnde Juli Mahathir bin Mohamad, derlangjhrige Expremier des Landes(19812003), stnden vor einem Dilem-ma: Entweder sie reien auch die poli-tischeMacht an sich, da sie ja bereits diewirtschaftliche Macht besitzen, oder sieakzeptieren das Prinzip der Teilung, dasaus Malaysia das gemacht hat, was esheute ist.1

    Den Malaien die politische Macht,den Chinesen ein Viertel der Bevlke-rung ist chinesischer Herkunft dieWirtschaft, das war seit der Unabhn-gigkeit von 1957 der stillschweigendeGesellschaftsvertrag, der jenes Bildeiner polaren Gesellschaftsordnungschuf, das nach den Unruhen von 1969endgltig in Stein gemeielt wurde. Da-mals war es nach einer Parlamentswahlzu tdlichen Zusammensten zwi-schen Malaien und Chinesen gekom-men. Danach rechtfertigte die Regie-rung die Gewaltausbrche damit, dasssichunter denMalaien schon lange einegroe Wut ber die Chinesen angestauthtte, ber die der Vorwurf im Raumstand, sie wrden alle Reichtmer desLandes an sich reien.

    Tatschlich hatte das Bndnis derregierenden malaiischen, chinesischenund indischenEliten verkannt, wie grodie Armut war, die die Gesellschaft zu-tiefst spaltete. Doch die Regierung kon-zentrierte sich damals allein auf denethnischen Aspekt der Auseinanderset-zung. Mit der Einfhrung der Malaysi-schen Neuen konomischen Politik(NEP) wurde die Unterscheidung zwi-schen Bumiputras (Shnen des Lan-des), also den muslimischen Malaien,und den brigen Bevlkerungsgruppengesetzlich verankert, so dass im Folgen-den Erstere bei der Umverteilung derRessourcen bevorzugt wurden.

    Die Theorie vom armen Malaienund reichen Chinesen war ein politi-sches Konstrukt. Die Volkswirtin ElsaLafaye de Micheaux hat gezeigt, dass diegrere relative Armut der Malaien mitdrei Faktoren zusammenhing: demDualismus zwischen Subsistenzwirt-schaft und Produktion fr den Markt,der ethnischen Arbeitsteilung und demunterschiedlichen Zugang zu Bildung.In Wahrheit gab es innerhalb der einzel-nen Gemeinden stark ausgeprgte Klas-senunterschiede, und der Umstand,dass 98 Prozent der Chinesen Arbeiteroder Kleinbauernwaren, wurde schlichtignoriert.2

    Im Wahlkampf 2013 beschwor Ma-hathir, auch Dr. M. genannt, trotzdemdie alten ngste vor der chinesischenMinderheit. Mit migem Erfolg: SeinePartei, die nationalkonservative UnitedMalays National Organisation (UMNO),und ihre 13-Parteien-Koalition BarisanNasional (Nationale Front), die mitder Malaysian Chinese Association(MCA) sowie dem Malaysian IndianCongress (MIC) auch eine chinesischeund eine indische Komponente hat,wurden bei den Parlamentswahlen vom5. Mai 2013 zwar im Amt besttigt, aller-dings fuhren sie das schlechteste Wahl-ergebnis ihrer Geschichte ein. Insge-samt erhielten sie sogar weniger Stim-men als das Oppositionsbndnis Paka-tan Rakyat (Volksallianz).3

    Zudem wurde die Abstimmung vonzahlreichen Unregelmigkeiten ber-schattet: Die Politologin Bridget Welshvon der Managementhochschule in Sin-gapur spricht von ungleichen Bedin-gungen, einschlielich Wahlkreismani-pulationen, Whlerverlegungen ohneAngabe von Grnden und einseitiger

    EBerichterstattung. Auch seien staatli-che Mittel fr den Wahlkampf undStimmenkauf eingesetzt worden.

    Der amtierende Premierministerund UMNO-Parteivorsitzende NajibRazak gilt eigentlich als gemigt. Dochals Reaktion auf den uerst knappenSieg schloss auch er sich dem rassisti-schen Diskurs an und gab den chinesi-schen Whlern die Schuld an dem ent-tuschenden Wahlergebnis. Tatsch-lich hatten die Chinesen der MCA mas-senhaft den Rcken gekehrt. Die Parteigilt als verknchert und als Vasall derUMNO. Whrend Razak vom chinesi-schen Tsunami sprach, lie er vlligauen vor, dass auch ein Teil der Ma-laien zur Opposition bergelaufen war.Die Reaktion Razaks illustriert sehr gut,wie schwer es der Fhrungsriege derUMNO immer noch fllt, sich einzuge-stehen, dass die ethnische Trennungein lngst berholtes Konzept ist.

    Dann aber vollfhrte Razak eine180-Grad-Wende und rief zur Versh-nung auf. Immerhin ist er Initiator derEin Malaysia-Kampagne, mit der dieHarmonie zwischen den Volksgrup-pen heraufbeschworen werden soll. IndenAugendesPolitologenAhmadFauzivon der Science University Malaysiafolgt Razak jedoch nur einer leichtdurchschaubaren Strategie: Es ist einealte Taktik des Barisan Nasional, erstQuertreiber gegeneinander auszuspie-len, dann von Vershnung zu reden undsich selbst als Friedensstifter zu prsen-tieren. Nur kme das eben nicht mehrso gut an, meint der malaysische Wis-senschaftler, vor allem nicht bei denstdtischen Whlern.

    Gerade in einem Land, in dem56 Prozent der Bevlkerung unter 30Jahre alt sind, wirkt die Strategie derUMNO ungeschickt. Die junge Genera-tion sieht sich als malaysisch [ebennicht als malaiisch, chinesisch, indisch], und sie ist weniger rassistisch ein-gestellt als die lteren, erklrt BridgetWelsh. Im Barisan Nasional htten sichhingegen die ethnischen Parteien ver-bndet, diemit ihrempaternalistischenAuftreten man macht den jungen Leu-ten Geschenke und organisiert Auftrittemit Stars aus Film und Funk offen-sichtlich immer noch nicht begriffenhaben, wie tief die Ablehnung der tradi-tionellen Politik geht, fr die MahathirsSelbstherrlichkeit das Symbol schlecht-hin ist.

    Die Jugend hat den fantastischenAufstieg des Landes in den 1980er Jah-ren nicht miterlebt und fhlt sich deralten nationalistischen Partei in keinerWeise verpflichtet. Das ist das Paradoxder UMNO, erklrt der Politologe Fau-zi. Sie hat die Entwicklung des Landesvorangetrieben und den Malaysiern ge-holfen, sich zu emanzipieren und diewollen sie jetzt nicht mehr whlen. La-faye de Micheaux meint, die Bchse derPandora sei mit der Asienkrise 1997 ge-ffnet worden. Bis dahin htten die Ma-laysier eine autoritre Gesellschaft ak-zeptiert, weil das Wachstum allen zugu-tekam. Dann sei ihnen allerdings klargeworden, dass sie mit der Aufgabeihrer Freiheiten einen zu hohen Preisgezahlt htten.

    Malaysia, das oft zu den asiatischenTigerstaaten gezhlt wurde, hat heutegute Wirtschaftsdaten vorzuweisen: Of-fiziellen Statistiken zufolge wchst dasBruttoinlandsprodukt (BIP) um 5,6 Pro-zent jhrlich, die Inflation lag 2012 beinur 1,7 Prozent4, und die Arbeitslosig-keit erreichte im April dieses Jahres3,3 Prozent. Im September 2010 hobRazak sein Economic TransformationProgramme (ETP) aus der Taufe: Bis2020 soll sich Malaysia zu einemHochlohnland entwickelt haben. Mit

    einem Budget von 300 Milliarden Eurokombiniert das Programm die Unter-sttzung von staatsnahen Unterneh-men (insbesondere im Energiesektor)mit einer Frderung der Privatinitiative,auch in Form von Investitionen aus demAusland. Die malaysische Brse hat sichmittlerweile zu einem anerkannten Fi-nanzplatz entwickelt, und das nicht nurim islamischen Finanzwesen. Insge-samt reagierten die Mrkte positiv aufdie Wiederwahl von PremierministerRazak.

    Um soziale Verbesserungen zu er-zielen, verkndete Razak den Ausbaudes Binnenmarkts: Damit soll bis 2020nicht nur die Exportabhngigkeit desLandes verringert werden, sondernauch das Einkommen der Bevlkerungwachsen. Im Mai 2012 wurde ein Min-destlohn eingefhrt, der angesichts derhohen Lebenshaltungskosten in denStdten aber tatschlich minimal ist(bei umgerechnet 7,50 pro Tag kommtman auf ungefhr 200 Euro im Monat).Nach dem Wahlergebnis zu urteilen, istdie Bevlkerung jedoch skeptisch. Sor-gen macht den Malaysiern die Stagna-tion der Kaufkraft, und sie fordernschon lange eine Verbesserung der f-fentlichen Infrastruktur und des Hoch-schulwesens. Im Zentrum der Kritiksteht jedoch die mit der wirtschafts-politischen Reform von 1969 festge-schriebene Bevorzugung der Malaien,auch wenn diese tatschlich zu wenigerUngleichheit gefhrt hat.

    Junge Brger wollen

    gleiche Rechte

    Politischhabediese Strategie jedochdieGrben inderGesellschaft noch vertieft,meint Lafaye deMicheaux. Denndie An-gehrigen der chinesischen und der in-dischen Minderheit seien damit zu Br-gern zweiter Klasse degradiert worden:Sie haben erschwerten Zugang zum f-fentlichen Dienst und zu den Universi-tten, knnen kaum Eigentum erwer-ben und bekommen in den groenstaatlichen Unternehmen, die im Zugeder NEP entstanden sind, schwierigereine Stelle. Auerdem hat das Systemstaatlicher Schirmherrschaft die Kor-ruption verschlimmert, vor allem dort,wo es um die Kontrolle der ffentlichenMrkte und um staatliche Einnahmen,etwa aus dem Verkauf von Rohstoffenoder aus dem Tourismus, geht.

    Mit der 1986 in Gang gesetzten Pri-vatisierungswelle bekam die Vettern-wirtschaft Aufwind. Die reichsten20 Prozent besitzen mehr als die Hlftedes Reichtums im Land, sagt Lafaye deMicheaux. Inzwischen profitiert vorallem eine zahlungskrftige Oligarchie,die derUMNOnahesteht, von einer Poli-tik, deren Nutznieer eben nicht mehrdie armen Malaien sind, so wenig wiedie indigenen Vlker Borneos, dessenBodenschtze in groem Mastab aus-gebeutet werden.

    Unabhngige Journalisten deckenimmer wieder Finanzskandale auf.Razak selbstwar in seiner Zeit als Vertei-digungsminister in eine Korruptions-affre rund um den Kauf franzsischerU-Boote verstrickt. Nachdem eine ma-laysische Organisation Anzeige erstattethatte, wurden nun zwei Untersuchungs-richter mit dem Fall betraut.

    Die politische Opposition der Paka-tan Rakyat, der Volksallianz, grndeteihren Wahlkampf auf die Forderungnach mehr Transparenz. Ihr Wahlerfolgaber ist zu einem groen Teil darauf zu-rckzufhren, dass sie sich fr ein alter-natives Gesellschaftsmodell einsetzte.Die Allianz besteht aus Parteien, die eth-nische Grenzen nicht anerkennen, und

    mit der Forderung, dass die Umvertei-lung nicht an ethnischen, sondern al-lein an sozialen Kriterien orientiert seinmsse, schuf sie einen Vertretungsan-spruch im staatsbrgerlichen, nicht imethnischen Sinn, erklrt Lafaye de Mi-cheaux. Die Identittsfrage ist der Op-position derart wichtig, dass AnwarIbrahim, der Vorsitzende der PakatanRakyat, als Geburtshelfer der multikul-turellen Identitt in Malaysia gilt. Erwurde brigens lange als Nachfolgervon Premierminister Mahathir gehan-delt, dessenFinanzminister erwar. 1998fiel er jedoch in Ungnade: Wegen Kor-ruption wurde Anwar zu einer mehrjh-rigen Gefngnisstrafe verurteilt, vondem politisch motivierten Vorwurf derSodomie, der ihn diskreditieren undseine Kandidatur verhindern sollte,sprach man ihn jedoch frei.

    Diese Entwicklung in Richtungeiner gesellschaftlichen ffnung istnoch vonweiterenFaktorenbeeinflusst.Da sind einerseits verschiedene Initiati-ven aus der Zivilgesellschaft, die, vomArabischen Frhling inspiriert, eine po-litische Wende fordern allen voranzwei Grodemonstrationen fr eine Re-form des Wahlsystems. Andererseitssorgen die sozialen Netzwerke fr eineenorme Verbreitung solcher Initiativen.Mehr als die Hlfte der Malaysier ist in-zwischen bei Facebook aktiv.

    Als die Opposition nach der Wahlvom5.Mai aufstandunddieWahlergeb-nisse anfocht, begann damit eine neuePhase des politischen Engagements.Mehrere zehntausend Malaysier de-monstrierten friedlich in den Fuball-stadien des Landes und forderten denRcktritt des Wahlausschusses. RazaksRegierung erhob daraufhin Anklagegegen Abgeordnete, Studenten, Bloggerund Oppositionelle. Die Zivilgesell-schaft ist erwachsener geworden, unddas staatsbrgerliche Engagement wirdjetzt, wo die Angst verschwunden ist,