Lebensberichte – Zeitgeschichte · Motto gewählt. Überzeugung ist eine mentale Entität. Von...

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Lebensberichte – Zeitgeschichte Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2006

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Lebensberichte – Zeitgeschichte

Georg Olms VerlagHildesheim · Zürich · New York

2006

Gerard Radnitzky

Das verdammte 20. JahrhundertErinnerungen und Reflexionen

eines politisch Unkorrekten

Georg Olms VerlagHildesheim · Zürich · New York

2006

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ISO 9706Printed in Germany

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem PapierUmschlagentwurf: Inga Günther, Hildesheim

Herstellung: Druckerei Lokay, Reinheim© Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2006

Alle Rechte vorbehaltenwww.olms.de

ISSN 1861-4698ISBN 3-487-08460-0

Für Majken, die mich seit 60 Jahren durchs Leben begleitet

Ein Wort des DankesDie Idee, ja die Inspiration zu dem Projekt kam von einem amerikani-schen Historiker, meinem Freund Ralph Raico, der den Lehrstuhl fürGeschichte an der SUNY in Buffallo, NY innehat. Ermunterung bekamich von Frau Barbara Keding, einer Malerin aus Bergisch-Gladbach; siehat als meine Muse fungiert. Mit konstruktiver Kritik half mir meinFreund Wolfgang Kasper (Lehrstuhl für Ökonomik an der Academy ofthe Australian Defence Forces). Mein ganz besonderer Dank gilt abervor allem meinem Freund und ehemaligen Kollegen Hardy Bouillon(Head of Academic Affairs eines Think-Tanks in Brüssel); er hat dasManuskript für den Druck bearbeitet, und ohne ihn wäre es nicht zu-stande gekommen.

Gerard Radnitzky

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Geleitwort

Gerard Radnitzky (Jahrgang 1921) sieht sich als einen der ‘Übrig-gebliebenen’ seiner Generation. Was dieser Zeitzeuge des 20. Jahrhun-derts darzulegen hat, sind außerordentlich wertvolle Erkenntnisse. Wennjemand, der wohl hauptberuflich immer Freiheitskämpfer war (undnebenberuflich eminenter Wissenschaftstheoretiker und Philosoph) undder zu den profiliertesten Denkern seiner Generation zählt, seine langer-wartete Autobiographie veröffentlicht, dann ist das Ergebnis wichtigund höchst lesenswert.

In diesem Werk verbindet Radnitzky die ‘Mikrogeschichte’ des eig-nen Erlebens mit der ‘Makrogeschichte’ des 20. Jahrhunderts – mitseinem staatlich organisierten Massenmorden, dem Terror gegen Un-schuldige, den Vertreibungen, Enteignungen und dem schleichendenEntzug unveräußerlicher Grundrechte. Als Jugendlicher erlebte er dieUmgestaltung seiner Heimat – der Vielvölkerrepublik Tschechoslowa-kei – in ein totalitäres Regime. Seine späteren Erfahrungen im Natio-nalsozialismus nehmen in seinem Buch ebenso breiten Raum ein wieseine spannenden Erfahrungen während des 2. Weltkrieges als Kampf-pilot und Jagdflieger in der deutschen Luftwaffe. Seinen eigenen Kriegbeendete Radnitzky 1945 mit einem kühnen ‘Abschied von Kaiser Adolf ’,der eine lange Lebensphase in Schweden einleitete. Später beobachteteRadnitzky die schleichende Verwandlung der Bundesrepublik in einen‘partitokratischen Glaubensstaat’. Er entlarvt schonungslos die poli-tisch korrekte Rhetorik der Spitzenpolitiker und Staatsdiener, die ineiner Demokratie doch eigentlich ‘Bürger-Diener’ sein sollten.

Schon früh entwickelte sich Radnitzky zu einem freigeistigen Intel-lektuellen, der das Individuum konsequent gegen jede Art von kollekti-vistisch-totalitärer Versuchung verteidigt. Und schon bald vermochteer zahlreiche jüngere Autoren und Wissenschaftler in aller Welt durchseine Lebenserfahrungen und Analysen zu beeinflussen. Den Grund hier-für versteht man, wenn man dieses Werk liest, das den Leser durchseine lebendige Erzählweise bis zum Schluß fesselt.

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Zu Anfang des 21. Jahrhunderts sind die Geschichtsklitterer geflis-sentlich dabei, die Historie ideologisch umzufrisieren. Dagegen wirktdieses Zeugnis aus der Erlebnisgeneration wie eine Schutzimpfung. Unddas ist wichtig, denn wenn wir Nachfolgenden nicht aus der Geschich-te lernen, dann sind wir dazu verdammt, die des ‘verdammten 20. Jahr-hunderts’ zu wiederholen.

Wolfgang KasperProfessor der NationalökonomieSydney, Australien

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Inhalt

I. Einleitung

Alles verliert sich allmählich und zuletztauch das Verlorene .................................................................... 17

Der Wertestandpunkt: Individualismus und Privatsphäre ......... 20

Die Weltsicht: Die Rolle des Zufalls ......................................... 21

Vorschau oder: Die Struktur des Lebenslaufs prägtdie Struktur der Memoiren ....................................................... 22

Ein gelernter Heimatloser ......................................................... 26

Wohnland und Vaterland .......................................................... 27

Die Rhetorik der „Spitzenpolitiker“: Der Beginn meinesInteresses für die Geschichtspolitik der BRD ............................. 28

Und wo bleibt das Vaterland? ................................................... 31

In welcher Sprache soll ich schreiben? ....................................... 32

Erinnern und Vergessen ............................................................. 34

Von den Schlüsselereignissen der Geschichtezu den Reflexionen ................................................................... 35

„Verfassungsreligiosität“ führt zu Geschichtstheologie ................ 35

Wider die „politische Korrektheit“ ............................................ 37

II. Kindheit und Jugend

1. Stimmungsbilder aus vergangener Zeit ...................................... 43

Riten in einer säkularisierten Welt ............................................. 43

Die große Welt zu jener Zeit 45 Eine schwarze Wolke über Euro-pa 47 Inflation und die Rezession 48

Schicksal oder Schutzengel ........................................................ 49

Irrtum und Korrektur ............................................................... 50

Die Taufe als eine erstzunehmende Sache 50 Die Taufe – einfachoder doppelt? 51 Der „Zufall“ der Geburt – das Bild über dem

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Kinderbett 51 Vom Himmel gefallen ... 53 ... und die Allgegen-wärtigkeit der Polymythie 53 „Das Licht der Welt“ 54

Irrtum und Korrektur, zwischenstaatlich .................................. 55

Minima Historia – gegen die historische Amnesie 56

Der drastische Wandel: Die Einstellung der Bürgerzum Staat ................................................................................. 58

2. Anekdotenhafte Reminiszenzen ................................................ 59

Was Zeitgeschichte zeigt, Zeittypisches ..................................... 61

In der Sommerfrische 62 Kult und Schau 63 Der Heilige Nikolaus– die Welt voller Götter 64

Die Gute Alte Zeit .................................................................... 67

Holz für den Winter 67 Die Volksschule 68 Das Gymnasium 70Der Monsignore 71

III. Die Tschechoslowakei und ihre Nachbarn

1. Individuum und Staat aus Sicht eines gelerntenHeimatlosen – ein Exkurs ......................................................... 87

2. Die Ära des kollektivistischen Totalitarismus mitseinen zwei Varianten ................................................................ 90

Ein Rundblick auf die Makrogeschichte 91 Die Tschechoslowakeiund ihre Vorgeschichte 91 Die mächtigsten „Spieler“ im damaligenDrama: USA und UdSSR 92 Siegermacht trotz Nichtexistenz: DieGeburt der Tschechoslowakei als Kuriosum 94 Historische Zufälle:Wie meine Heimat zur Tschechoslowakei kam 95 Die rabiate Unter-drückungspolitik von Beneš 98 Der tschechische Chauvinismus 99Beneš der Bösewicht 99

Der Besuch beim Bootstischler ................................................ 101

Das Nachspiel zu Beneš und die EU ........................................ 103

Aufklärung durch zwei Bundeskanzler: Kohl und Schröder .... 104

3. Zurück zum Erlebten .............................................................. 105

Positive und negative Aspekte ................................................. 105

Staatspolitische und kulturelle Identität ................................. 108

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Gänsestopfen und andere Jugenderinnerungen ....................... 109

Der vergleichsweise niedrige Entmündigungskoeffizientin der CSR .............................................................................. 113

4. Ein Blick zu den Nachbarn ..................................................... 115

Österreich, Nachbarland und Bezugspunkt ............................. 115

Österreich und seine Juden 118

Die Befreiung im österreichischen Volksmund ......................... 121

Wie es weiterging 121 Und wie sah es in Deutschland aus? 122

Hitler als österreichischer Katholik ......................................... 125

IV. Vom „Anschluß“ bis zur Einberufung

Die unmittelbare Vorgeschichte: Erinnerungen ausden letzten Monaten der Ersten Republik ............................... 131

Die Überbevölkerung: ein Phänomen aus dem20. Jahrhundert ...................................................................... 132

Der Anschluß: die Vorgeschichte ............................................. 134

Die Radikalisierung der antideutschen Politik durchPräsident Beneš ....................................................................... 135

Das München-Abkommen 138

Die ersten Tage nach dem Einmarsch ...................................... 141

Die Kauflust der deutschen Soldaten ...................................... 141

Wie sah es in meiner kleinen Welt aus?.................................... 146

Keinesfalls ein Neuheidentum ................................................. 147

Das entschiedene Dilemma ..................................................... 148

Bürgertum und Nationalsozialismus ....................................... 158

(National)Sozialismus und Bürgertum: ein agonalesVerhältnis im Rückblick .......................................................... 159

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V. Die Zeit in der Luftwaffe

Die Vorgeschichte – das heraufziehende Gewitter 165 Die Vorgeschichtein der Makrohistorie 167 Dünkirchen 168 Der Spielraum der Akteu-re 169 Grötaz contra Gröfaz 170 Die verlorene Generation 175

1. Sich durchschlängeln als Methode .......................................... 177

Wie den Arbeitsdienst vermeiden? ........................................... 177

Ein Individualist im Militär .................................................... 180

Der Fahneneid ......................................................................... 181

Die Flugschulen ...................................................................... 187

Zwischen Liebe und Furcht: das Verhältnis zum Fliegen 189Das Verhältnis zum Tod 191 Zurück zur Zeit der Flugschulen 196Heß’ Flug nach Schottland 197 Stalins Plan 206

Die Österreichische Korruption besiegt die Diktatur ............... 209

Der ältere Herr und seine Freundin – wie man sich auchin einer Diktatur arrangieren kann .......................................... 210

Pearl Harbor ........................................................................... 212

Pearl Harbor in der Makrohistorie 213 Die „Global Player“ 217

2. Platzwechsel ............................................................................ 220

Im Elyséepalast ....................................................................... 222

Mein Liebling: die JU 88 ........................................................ 223

Weimar, die Ägäis und Prag .................................................... 225

3. Erlebte Geschichten – Anekdoten ............................................ 228

An die „Kritische Schwelle“ pochen – im doppelten Sinn ....... 228

Thanatophile Neigung rettet das Leben. Das Leben hatviele Paradoxien ...................................................................... 230

Der Tiefstflug: das Spiel mit dem Schicksal ............................. 231

Zwischenstop in Bulgarien ..................................................... 233

Als Nachtbomber über London ............................................... 236

Fast eine Heldentat ................................................................. 241

Die Landschaft verändern ....................................................... 243

Der Herr mit dem Hund – auf die Rasse kommt es an ........... 245

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Der ominöse 20. Juli 1944 ..................................................... 250

Dienstbesuch in Wien .............................................................. 252

Der Abschied von Zuhause ..................................................... 255

Bretton Woods 258 Die Jalta-Konferenz 259

Der letzte Teil meiner Luftwaffenzeit ...................................... 260

Weitere Reflexionen in der Retroperspektive ........................... 267

Der Kollektivismus im NS-Staat und die Bolschewisierung der Wehr-macht 267 Die Luftwaffen im Vergleich: Qualität und Quanti-tät 269 Die Piloten: Ausbildung und Performance 272

Das Ende meiner Luftwaffenzeit und der 18. April 1945 ....... 273

VI. Rückblick

1. Schweden als Rettung ............................................................. 289

Das Licht und der Lichtblick – buchstäblichund metaphorisch ................................................................... 289

Irrtum und Korrektur, bürokratisch ........................................ 290

Von der „Befreiung“ gerettet ................................................... 293

Das Missionshaus in Blekinge ................................................. 296

2. Auf dem Weg zu Academia ..................................................... 300

Entscheidende Impulse ........................................................... 302

Und immer wieder der Sozialismus ......................................... 309

3. Die späte Einsicht ................................................................... 310

Die Vorgeschichte des „Dreißigjährigen Krieges von 1914 bis 1945“ 311Tausche einen Diktator gegen vier Kolonialherren 314

Eine nette Nische in einem weniger netten Land..................... 314

Die „veröffentlichte“ Meinung ............................................... 315

Die Identität der „Deutschen“ ................................................ 318

Historisierung des eigenen Denkens ........................................ 319

„Irrtums-Beseitigung“ als roter Faden ..................................... 320

Männer, die Geschichte machen: zur Bewertung von Schlüssel-ereignissen 322

Irrtumsbeseitigung als Sport .................................................... 324

Ein Überangebot an Geschichtsklitterungen ............................ 325

Zeitgeschichte als Minenfeld................................................... 326

Das Verhältnis eines Libertarian zum Staat ............................. 327

Sinngebung – die Grundfesten meines Wertsystemssind geblieben.......................................................................... 329

Rechte und Grundfreiheiten (rights and liberties) ................... 330

Niedergänge und Untergänge .................................................. 333

VII. Nachwort ............................................................................. 339

Was bleibt? .............................................................................. 340

Existentielle Themata ............................................................. 341

Der Mikrokosmos inmitten der „objektiven“ Welt .................. 343

Die Zeit, physikalisch und psychologisch ............................... 345

VIII. Literatur .............................................................................. 349

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I. Einleitung

Alles verliert sich allmählich undzuletzt auch das Verlorene

Darauf kann man sich verlassen. Auch das Vergehen vergeht – im Nichts.Es gibt wenige Sätze, auf die man sich verlassen kann, von deren Wahr-heit man überzeugt sein darf, ohne unvernünftig zu sein. Und der Spruchist so tröstend. Beweisen läßt sich ein Satz über „Alles“ selbstverständ-lich nicht. Wird das Wort „beweisen“ genaugenommen, dann läßt sichaußerhalb von Mathematik und Logik überhaupt nichts beweisen, unddort gelten die Beweise immer nur innerhalb eines bestimmten Sys-tems. Wird diese Relativität nicht beachtet, der Zusatz nicht gemacht,stößt man sogleich auf semantische Paradoxien. Überzeugt von dieserdurchgehenden Ungewißheit habe ich den oben stehenden Spruch alsMotto gewählt. Überzeugung ist eine mentale Entität. Von ihr läßt sichnicht auf den Wahrheitswert eines Satzes schließen. Selbst wenn alleüberzeugt sind, ändert das nichts daran, denn alle können sich irren.Deshalb ist die allgemeine Zustimmung erkenntnistheoretisch irrele-vant. Das zu übersehen, ist ein gängiges Versäumnis. Man kann sichnicht entscheiden, überzeugt zu sein oder nicht überzeugt zu sein; eineÜberzeugung ist einfach da oder nicht da. Wenn ich zum Beispiel über-zeugt wäre, daß dieser philosophische Anschlag potentielle Leser ab-schrecken könnte, müßte ich ihn dann ändern? Diese Frage führt zuBewertungsproblemen und damit mittelbar zur Schlüsselfrage.

Warum schreibt ein Mensch an seinem Lebensabend überhaupt überdie Epoche, die sein Leben prägte? Was man erlebt und erlitten hat, inErkenntnis zu läutern, also eine Verbesserung des Wissens über die Weltund über einen selbst, das könnte Ziel und Zweck des Vorhabens sein.Oft unterbewußt wollen die meisten Memoirenschreiber Spuren hin-terlassen – ein eitles Unterfangen angesichts des Vanitas-Bewußtseins.Schreiben ist ein Ankämpfen gegen den Tod: Erinnerungen sollen be-wahrt werden. Mit der Zerstörung des neuronalen Substrats verschwin-det das Gedächtnis und damit die Individualität. Genau besehen jedochist der einzige vernünftige Grund für das Schreiben von Memoiren der,daß es einem Spaß macht. (Ein Musterbeispiel eines Autors, der nur zuseinem Spaß schrieb, ist der Verfasser meines Lieblingsbuches, des

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Gattopardo. Giuseppe Tomasi di Lampedusa dachte nicht an eine Pu-blikation, er ließ das Manuskript in einer Schublade. Die Erben desFürsten wollten es als Buch herausbringen. Ein paar Dutzend Verlagelehnten ab. Schließlich erbarmte sich Feltrinelli, und es wurde ein Best-seller mit vielen Übersetzungen, Verfilmung mit Richard Burton – undein Klassiker der europäischen Literatur.) Man darf diese Tätigkeit nichtals Arbeit verstehen: Wer aus Muße heraus nicht etwa arbeitet, sondernschöpft, ist einem alten Topos gemäß ein deus secundus, ein zweiterGott. Hier folge ich meinem verstorbenen Freund Paul Feyerabend.Seinen und die Namen von ein paar nahen Freunden, die mich beein-flußt haben, erwähne ich, damit der Leser gleich erfährt, wer den Autorbeeinflußt hat, wo seine Quellen sind. Denn damit weiß er auch etwasüber die Perspektive des Autors, über dessen „Brille“ oder Vorverständnis(was böse Leute „Vorurteile“ nennen) und kann es in Rechnung stellen.Aus dem gleichen Grund will ich in der Einleitung meine Wertprämissenandeuten; der Leser sollte wissen, woran er ist und was auf ihn zu-kommt, wenn er weiterliest.

Freund Paul hat öfters gemeint: „Du hast Dich immer bemüht, re-spektable Sachen zu schreiben, mach doch endlich mal etwas, was DirSpaß macht.“ Wie Nestroy schrieb: „S’ist alles Chimäre, aber michunterhalt’s.“ Da Rückbesinnung ohnehin die Sache alter Leute ist, bie-ten sich Memoiren an: er-zählen. Wenn ich damit ein paar Wahlver-wandten ebenfalls Spaß machen kann, um so besser. Und wenn es vieleLeute interessieren könnte, wäre das natürlich um so erfreulicher. Dann,meine ich, könnte manchem Zeitgenossen geholfen werden, das 20. Jahr-hundert und damit auch die Gegenwart besser zu verstehen. Als die„Neue Zürcher Zeitung“ (unser house organ seit vier Jahrzehnten) am16./17. 9. 2000 den Wissenschaftstheoretikern Paul Feyerabend undImre Lakatos eine ganze Seite gewidmet hatte, ging ich an meineKorrespondenzordner und fand dort auch einen Brief, in dem michPaul ausdrücklich aufforderte, Memoiren zu schreiben, und zwar verba-tim: „...ein Buch, das nicht für Fachleute, sondern für alle jene Men-schen geschrieben ist, die intelligent sind, gewisse Dinge nicht mögen,und denen man beim Sich-Gedanken-machen helfen sollte.“ An denBegabtesten meiner Studenten merke ich oft, daß sie „gewisse Dingenicht mögen“ – und daß es die gleichen Dinge sind, die ich auch nichtmag. Wenn ich das merke, dann versuche ich, ihnen beim Nachdenkendarüber zu helfen. Das mache ich nicht aus Nächstenliebe, nicht umihre Gunst zu erringen, sondern eben weil es mir Spaß macht. Mit

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Memoiren könnte es auch so sein. Aus meiner Gymnasialzeit erinnereich mich an ein Gedicht, das ich nur bruchstückweise im Gedächtnisbehalten habe: „I shot an arrow into the air. It fell to earth, I don’tknow where. I breathed a song into the air ... and found it again in theheart of a friend.“

Mein Ziel ist zweierlei: Erstens will ich das Leben, das hinter mirliegt, besser verstehen, und das kann nur vor dem Hintergrund derobjektiven Geschichte geschehen. Zweitens will ich Leuten, die gewisseDinge ebensowenig mögen wie ich, Argumentationsmaterial und Wis-sen über historische Ereignisse zur Verfügung zu stellen, die ihnen hel-fen können, sich von der geschichtspolitisch verordneten Amnesie zubefreien und die Geschichtsklitterungen, die ihnen von den öffentlich-rechtlichen Medien serviert werden, nicht mehr unkritisch hinzunehmen.Das ist für mich ein dringendes Anliegen, denn im Gefolge der „Frank-furter Schule“ wurde eine geschichtslose Generation herangezogen –unter Verwendung einer Technik, die Orwell in seinem Buch 1984 dasmemory hole genannt hat. Die BRD-Zeitgeschichtsforschung in denstaatlichen Institutionen und offiziösen BRD-Organen ist dogmatischerstarrt und betreibt politische Propaganda im szientistischen Gewand.Bei der Auswahl der Fachliteratur habe ich mich deshalb fast nur anausländische Publikationen gehalten. Es ist den deutschen Politikerngelungen, eine geschichtslose Generation heranzuziehen, und die Ge-neration der Zeitzeugen, die noch Selbsterlebtes korrigierend einbrin-gen könnte, tritt langsam ab – genauer, sie ist fast schon im Jenseitsverschwunden. Ich bin eine Art Überbleibsel. Allgemeines Interesse kanndie Schilderung von Selbsterlebtem jedoch nur dann haben, wenn siesich in die wissenschaftliche (Zeit-)Historiographie einfügt und somitselbst zur Zeitgeschichte wird. Auch für ein besseres Verstehen des Selbst-erlebten ist eine enge Verknüpfung mit der wissenschaftlichen Histori-ographie unentbehrlich. Daraus ergibt sich die Struktur des Buches:Man muß zeigen, was das Selbsterlebte mit den gleichzeitig eingetrete-nen „großen Ereignissen“ der Geschichte verbindet. Ich erzähle erlebteGeschichten und bestimme immer wieder meine Position im „Zeitstrahl“anhand von Orientierungspunkten der „objektiven Geschichte“: DasErlebte soll durch synchron zugeordnete Schlüsselereignisse der Zeitge-schichte in diese eingebracht werden.

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Der Wertestandpunkt: Individualismus und Privatsphäre

Der Darstellung von Ereignisketten und Zustandsveränderungen sowieden Versuchen, diese zu erklären, fügt der Historiker oft eine Bewer-tung hinzu. Es kann durchaus legitim sein, infolge der Narratio zu ei-nem durch diese begründeten Werturteil zu kommen. Wenn eine Bewer-tung erfolgt, dann sollte stets auch das dabei verwendete Bewertungs-system angegeben werden. Nur so kann der Leser herausfinden, ob dieArgumente konsistent sind, und er kann sich fragen, ob er sich denWertmaßstäben anschließt oder nicht. Das Wertsystem selbst ist ja nurdann kritisierbar, wenn es explizit gemacht wurde. Damit der Leser zumeinen Wertvorstellungen kritisch Stellung nehmen kann, will ich siebereits in der Einleitung offenlegen, mindestens umreißen. So kann erdas, was er dann für ein Vorurteil hielte, diskontieren.

Rückblickend darf ich feststellen, daß es in meinem Leben bezüglichdes Wertsystems einen roten Faden gibt. Aus der prägenden Kinderzeithabe ich fürs ganze Leben die Einstellung behalten, daß das Individuumautonom ist und selbst dafür zu sorgen hat, daß es seine Individualitätbewahrt, daß es also für das Recht auf sich selbst, für die self-ownership,kämpfen muß. Eigentum in diesem Sinn und Individualität sind zweiSeiten derselben Medaille. Dieser wie angeborene Individualismus warund ist eine Schutzimpfung gegen jede Art von kollektivistisch-totalitä-rer Versuchung. Das 20. Jahrhundert wurde vom kollektivistischen To-talitarismus dominiert und zwar von zwei seiner Varianten: vom Kom-munismus, genauer dem internationalen Sozialismus sowjetrussischerProvenienz, und vom deutschen Nationalsozialismus, einem Sozialis-mus mit nationalistischer Verbrämung. Weil sie einander so ähnlichwaren, bekämpften sie einander so grimmig. Für mich waren beideAnathemata, aber ich verstand zumindest, daß der erstere weit mehrinterventionistisch als das letztere war, wenn auch ideologisch bessermaskiert.

Mein Individualismus war strikt und bestimmte auch meinen Alltag.Ich erwähne diesen autobiographischen Zug in der Einleitung, weil erverständlich macht, daß ich bei den Gelegenheiten, bei denen ich aufden Lauf der Dinge einwirken konnte pour corriger la fortune, immerim Sinne der individualistischen, freiheitsliebenden Maxime gehandelthabe. Große Menschenansammlungen waren mir nie geheuer. Sogarkollektive Spiele wie Fußball oder Handball habe ich, wenn möglich,gemieden. Wenn es die Jahreszeit erlaubte, war ich mit meinem Doppel-

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zweier auf dem Fluß meiner Heimatstadt unterwegs, wobei ich mirmeine Gesellschaft aussuchen konnte. Auch beim Militär konnte ichnach der Rekruten- und Ausbildungszeit meine Individualität weitge-hend bewahren: als Kampfpilot hatte ich meine kleine Viererbesatzung,eine verschworene Gemeinschaft, die gemeinsam überlebte oder ge-meinsam starb; als Jagdflieger saß man ohnedies in seiner einsitzigenMaschine – für einen Einzelgänger ideal. Als Motto für diesen Lebens-stil gilt Epikurs meistzitierte Maxime: Lebe privatissime!

Die Weltsicht: Die Rolle des Zufalls

In meinem Leben hat der Zufall oft die entscheidende Rolle gespieltund rückblickend habe ich den Eindruck, daß es mir nur selten möglichwar, auf den Lauf der Dinge entscheidend einzuwirken. Aber auch inder Geschichte kann die Rolle des Zufalls kaum überschätzt werden.Auch meine Erinnerungen werden das zeigen. Deshalb sollte ich in derEinleitung sagen, wie ich den Ausdruck gebrauche: Mit „Zufall“ meineich das Ereignis, daß zwei, voneinander unabhängige, das heißt, nichtmiteinander verbundene Kausalketten sich an einem bestimmten Punktberühren oder überschneiden. Wir können diesen Punkt nicht voraus-sagen und nicht einmal im nachhinein erklären. Dieses Unvermögenberuht nicht auf Mangel an Wissen, sondern es liegt tiefer. Auch derfiktive Laplace’sche Geist könnte das nicht, prinzipiell nicht. Zufall indiesem Sinn ist also ein ontologischer und kein erkenntnistheoretischerBegriff. Ein Beispiel mag das beleuchten. Bei einem Set von Billardbäl-len auf einer ebenen Fläche mit einem durchschnittlichen Abstand voneinem Meter, das von einem zusätzlichen Ball getroffen wird, läßt sichbereits nach acht Kollisionen nicht mehr sagen, ob der neunte Ball ge-troffen oder verfehlt wird – wie der Spieler die Bälle auch arrangierenmag, er kann nie sicher sein. Gemäß der Standardauffassung der Physikwird das System bereits nach acht Kollisionen indeterministisch aufGrund von Quantumseffekten – was zeige, daß auch makroskopischeSysteme indeterministisch werden können.

Vom Standpunkt des Individuums ist der Zufall das, was einem „zu-fällt“. Natürlich hat der Zufall viele Namen, wie „Schicksal“ (von „Gott“geschickt), „Fatum“, „Kismet“, „Brahma“, „Himarmene“ usf. In derAntike war „Moira“ die Mächtigste von allen; die eigentlichen Götter,auch Zeus, Jupiter, Odin, waren der Moira nachgeordnet. Über ihnen

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waltete das Schicksal, die Dämmerung, die Götterdämmerung. In derchristlichen Weltsicht heißt es „Vorsehung“ – von Ferguson aus der Schot-tischen Schule (wer hätte das von der Schottischen Schule gedacht!?)bis zu Hegel und Hitler.1 Mir ist „Schutzengel“ am sympathischsten,denn er ist privat und paßt zur Geisteshaltung eines Individualisten.Leider hat der Heilige Vater im Jahre 2003 erklärt, nur vier Engel trü-gen Namen (diejenigen, die in meiner Kindheit als „Erzengel“ bezeich-net wurden), alle anderen wären anonym. Schade. Natürlich kann auchein Schutzengel, der keinen Namen trägt, wirkungsvoll sein. Bloß, dasProblem ist, wie rufe ich meinen Schutzengel an, wenn er keinen Na-men hat? Es sei denn, der Schutzengel halte von sich aus ständigenKontakt – hoffen wir’s.

Vorschau oder:Die Struktur des Lebenslaufs prägt

die Struktur der Memoiren

In Kapitel 1 werden die prägenden Phasen meiner Kindheit und meinertatsächlich „goldenen“ Jugend geschildert. Der „Zufall“ der Geburt.Die Jugendzeit in Südmähren, damals ein Teil des gerade entstandenenartifiziellen Gebildes Tschechoslowakei, in einem Milieu und einer At-mosphäre, die emotional „altösterreichisch“ war. Die glückliche Jugend-zeit, in der, jedenfalls anfangs, und besonders aus der Perspektive desJugendlichen, mit dem tschechischen Element ein friedliches Zusam-menleben möglich war. Der Katholizismus spielte in den frühen Jahreneine wichtige Rolle, insbesondere seine Rituale.

Kapitel 2 befaßt sich mit der späteren Jugendzeit, den späten 20erJahren und den 1930er Jahren. Es ist vor allem ein Inventar der Lebens-möglichkeiten eines jungen „Mitteleuropäers“ – also den Lebens-möglichkeiten in der Tschechoslowakei und in ihren Nachbarländern,in Österreich und Deutschland. Naturgemäß liegt der Schwerpunkt aufder Tschechoslowakei. In der Zeit, in der ich dort lebte, begann ich,den Staat als Institution und Organisation wahrzunehmen. Ich erlebte,wie das Versprechen, man werde eine Republik nach dem Vorbild derSchweiz schaffen, massiv gebrochen wurde. Unter Beneš verwandeltesich die CSR, nachdem sie kurzfristig liberale Züge gezeigt hatte, ineine totalitäre Demokratie – was 1938 auch im britischen Parlamentausdrücklich festgestellt wurde. In beiden Versailler Kreationen, denVielvölkerstaaten Tschechoslowakei und Jugoslawien, war die Entwick-

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lung die gleiche: die größte Minorität wollte den Staat in einen Natio-nalstaat verwandeln – die Tschechen strebten eine Großtschechei an,die Serben ein Großserbien (Beneš und Milosevics). Die Unterdrückungder Minderheiten hatte 1938 schließlich zu einer kafkaesken Situationvon Schikanen geführt, so daß die deutschsprachige Bevölkerung dasEnde der Ersten Republik und den Anschluß an den Gau „Niederdonau“als echte Befreiung empfand.

Kapitel 3 erzählt von der Zeit vom Herbst 1938 bis zu meiner Ein-berufung im Herbst 1940. Es berichtet, wie die Neuordnung aus derSicht des Gymnasiasten tatsächlich empfunden wurde. Frühzeitig be-gann ich den Staat als solchen als „stationären Banditen mit Diebstahl-monopol“ zu begreifen und zu vermuten, daß er eine Organisation ist,die außer diesem Monopol auch noch einige schlimmere besitzt.

Kapitel 4, das Hauptkapitel, gilt meiner Zeit in der Luftwaffe, dennsie ist selbstverständlich die dramatischste Zeit meiner Erinnerungen.Meine Abscheu vor dem Militär war gemildert durch meine Liebe zurFliegerei. Ich erlebte die Kriegszeit als Kampfpilot und später als Jagd-flieger. Diese Jahre, im Alter zwischen neunzehn und vierundzwanzig,waren die prägenden Jahre. Intellektuell waren sie verlorene Jahre, diebeste Lebenszeit unwiderruflich vertan. Aber ich muß zugeben, daß siefür den abenteuerlustigen Jungen eine einmalige Gelegenheit zum Aben-teuer boten. Auch eine Gelegenheit, eine neue Einstellung zu Lebenund Tod zu gewinnen – wenn man nie weiß, ob es noch ein Morgengibt, lernt man, in den Tag hinein zu leben, lernt das carpe diem. Wie-derum gab es eine Reihe von Zufällen, glücklichen Zufällen, vor allem,daß ich diese Zeit im Westen verbringen konnte, in zivilisierten Gegen-den, bei Paris, Brüssel und Prag. Gegen Ende des Krieges eine Abkom-mandierung an die Luftkriegsakademie Berlin-Gatow, nahe dem Zen-trum des Zyklons. Das war übrigens das erste und einzige Mal, daß ichin Deutschland stationiert war. Es folgte die nächste große Zäsur inmeinem Leben – diesmal durch mein aktives Eingreifen pour corriger lafortune: die Desertion nach Schweden am 18. April 1945 (zwei Tagevor „Führers“ Geburtstag). Sie war riskant, aber erfolgreich, weil be-gleitet von einer Reihe von glücklichen Zufällen. Den Zerfall des „Drit-ten Reiches“ (das dritte Erlebnis des „sinkenden Schiffes“) habe ich alsonicht mehr vollständig miterlebt. Und das Erleben der unmittelbarenNachkriegszeit mit ihren Gefahren und Demütigungen, mit Vertreibung,Hunger und Zwangsarbeit – die zum typischen Erlebnis meiner Gene-ration zählt – habe ich durch die geglückte Flucht vermeiden können.

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Im Kapitel 5 folgt – unter Berücksichtigung der Nachkriegsära – einRückblick auf die drastischen Veränderungen in der Welt, die sich imVerlaufe meines Lebens zugetragen haben. Es fokussiert die Zeit nachdem Krieg. In der Retrospektive dominiert der Eindruck der „sinken-den Schiffe“: Dank der Erzählungen der Elterngeneration habe ich mirals Kind stellvertretend den Untergang der Monarchie vorstellen kön-nen. Den Untergang der Tschechoslowakei 1938 und die Zerstörungdes „Dritten Reiches“ 1945 habe ich als Zeitzeuge beobachtet. Unddann habe ich miterlebt, wie Schweden, das unmittelbar nach dem Krieg,gemessen an Einkommen, per capita eines der reichsten Länder derWelt war, 1947 von der Sozialdemokratie beinahe in eine Planwirt-schaft nach sowjetischem Muster verwandelt worden wäre. Als dieseGefahr von der Opposition erfolgreich abgewehrt worden war, ver-wandelte sich der Sozialismus im Sinne von zentralistischer Planwirt-schaft in den schleichenden Sozialismus. Roland Baaders Kreide für denWolf (1991) beschreibt diese Maskierung: Der Wolf frißt Kreide undbestreut seine Pfoten mit Mehl. Der Sozialdemokratismus trieb das Landin den Ruin, geistig und finanziell,2 was natürlich auch den Alltag ver-änderte. Besonders deutlich wurde das im sozialisierten Gesundheits-system, das buchstäblich zusammenbrach. Das Land wurde auf dieseWeise unwirtlich bis „unbewohnbar“.3 Es gab einen Massenexodus derProduktiven, des wertvollsten Humankapitals: von Unternehmern (wieden Gründern von IKEA und Tetra Pak), von Ingenieuren, Ärzten usf.Sie alle stimmten mit den Füßen ab. Der Wettbewerb bleibt das besteund vermutlich einzige Mittel, die Macht zu zähmen. So lernte ich dasenorme Zerstörungspotential des Sozialdemokratismus (in allen Partei-en) kennen. Was Schweden vor dem Schlimmsten rettete, war, daß esals Exportland dem globalen Wettbewerb ausgesetzt war. Nun war esauch für uns an der Zeit, wieder Koffer zu packen, das sinkende Schiffzu verlassen, und weiterzuwandern. Wir, meine Frau und ich, gingenzunächst nach Amerika und landeten schließlich – wiederum weitge-hend zufallsbedingt – in der BRD, wo wir eine Nische, ein Zuhause undneue Freunde gefunden haben.

Unser Mikrokosmos ist in Ordnung, die Umgebung betrachte ichnur als Beobachter, oft mit Erstaunen oder Gruseln. Der Staat ist eineBeute des Parteienkartells geworden, dafür haben Willy Brandt (SPD)und Helmut Kohl (CDU) gesorgt. (Aber es gab auch Bundeskanzler, diefür die BRD Glücksfälle waren: Konrad Adenauer, CDU, und HelmutSchmidt, SPD.) Die BRD ist ein weiteres „sinkendes Schiff“. Sie ist eine

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Partitokratie mit demokratischer Fassade und totalitären Zügen – inder Behandlung von öffentlich geäußerten Behauptungen über Zeitge-schichte, die offiziell als falsch gelten, sowie in der Geschichtspolitikläßt sich das am besten beobachten. Gerd Habermann hat den Zustandder BRD von heute mit dem Niedergang Roms verglichen und vielepositive Aspekte der Analogie aufgezeigt.4 Als wir einwanderten, waruns bekannt, daß sich die BRD und Schweden seit langem auf derselbenschiefen Ebene befanden. Aber da die Sinkgeschwindigkeit der BRDdamals geringer war als diejenige Schwedens, wagten wir das Risikoder Immigration, denn wir nahmen an, die restliche Sinkzeit würde fürunsere Lebenserwartung ausreichen – wir waren ja bereits im sechstenLebensjahrzehnt. Reiche kommen und vergehen, und in diesem Sinnsind alle irgendwann einmal „sinkende Schiffe“. Was ich hier mit die-sem Ausdruck meine, ist ein Niedergang innerhalb einer – gemessen ander Zeitdimension eines Menschenlebens – überschaubaren Periode.Da ich kein Weltverbesserer bin, stört mich das nicht sonderlich. Dasganze Leben war ich lieber Beobachter als Akteur. Dieser Memoiren-band entspringt denn auch teilweise dem Bestreben, die Beobachtungzu schärfen und einiges davon „zu Papier zu bringen“.

In Kapitel 6, „Nachwort“, wird dargestellt, wieviele Fehler und Irr-tümer in der Einschätzung historischer Ereignisse ich später korrigie-ren mußte. Aber auch Kontinuitäten zeigen sich. Beides lädt zu existen-tiellen Betrachtungen ein.

Die Auswahl der Erinnerungen ist selbstverständlich subjektiv. Einwichtiges Kriterium ist die Abrufbarkeit des Erlebten, die, wie wir wis-sen, kausal vom Gewicht der affektiven Komponente des Erlebnissesabhängt. Zusammenfassend: Diesen Erinnerungen werden Schlüssel-ereignisse der Geschichte zugeordnet. Daraus ergibt sich die oben er-wähnte synchrone Struktur: die Mikrogeschichte wird auf die Blaupauseder Makrogeschichte gelegt; im Vordergrund steht das Selbsterlebte, unddie zugeordneten Schlüsselereignisse der Makrogeschichte geben Anlaßzu Reflexionen über die Zeitgeschichte.

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Ein gelernter Heimatloser

Da mein Lebenslauf das chronologische Gerüst des Buches darstellt, istes angebracht, bereits in der Einleitung noch einige weitere biographi-sche Daten zu „verraten“. Wie bereits erwähnt, wirkte in meinem El-ternhaus die alte Monarchie atmosphärisch nach. In meiner Jugendzeiterlebte ich noch den Abendglanz des klassischen Liberalismus in Euro-pa. Während des Krieges hatte ich das Glück, abgesehen von einemkurzen Debüt in der Ägäis, immer im Westen zu sein, nie an der Ost-front. Kurz vor Torschluß setzte ich mich auf dem Luftweg ins neutraleSchweden ab, erwarb die schwedische Staatsbürgerschaft, sobald dasmöglich war, fand dort meine Frau und gewann auch das schwedischeVolk lieb. Mein akademisches Studium absolvierte ich in Schweden,und begann dort ebenfalls meine akademische Karriere. Den für meineGeneration typischen Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit –Demütigung und Hunger, Vertreibung, und für Millionen von Solda-ten, aber auch von Zivilisten, jahrelange Kriegsgefangenschaft undZwangsarbeit in Rußland oder Frankreich, massenhaftes Sterben in Ei-senhowers Gefangenenlagern oder in französischen Gefangenenlagern– dem allen konnte ich dadurch aus dem Wege gehen. Nach dem 8. Mai1945 kamen mehr Deutsche ums Leben als während der Kriegszeit: gutdrei Millionen bei Flucht und Vertreibung durch Russen, Polen, Tsche-chen, Serben usf., eine Million Kriegsgefangene durch Hunger und Seu-chen in amerikanischen und französischen Lagern, die Hungertoten derZivilbevölkerung werden auf zwei Millionen geschätzt.

Ich bewunderte und bewundere die Generation der Deutschen, diedieses Land aus einem Trümmerhaufen zur wichtigsten VolkswirtschaftEuropas gemacht haben – aber eben nur diese Generation, nicht dienachfolgenden. Der einzige Fehler dieser Generation war, daß sie ihreKinder nicht erziehen konnten, vor der „Re-education“, der „Charakter-wäsche“ (Caspar von Schrenck-Notzing), nicht schützen konnte. Dielängste Periode meines Lebens habe ich in Schweden verbracht. Im sechs-ten Jahrzehnt folgte ich einem lockenden Ruf an einen hervorragendausgestatteten Lehrstuhl in Wissenschaftstheorie an die Ruhr-Universi-tät Bochum (die damals praktisch noch eine alte Ordinarienuniversitätwar), der beruflich mehr Freiheit bot als das Gegenstück in den USA.So kam es, daß meine Frau und ich uns im Nachfolgerstaat des besieg-ten Staates, in der BRD, ansiedelten. Wenn man keine Berühmtheit ist,dann geht man eben dorthin, wo einem beruflich die besten Bedingun-

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gen geboten werden. Auch diese Veränderung der Lebensumstände be-ruhte, wie das meiste in meinem Leben, zum großen Teil auf Zufällen.Ob es die richtige Entscheidung war, kann man nicht wissen, da mandie Entwicklung der anderen Option nicht kennt. Da ich vorher nurinsgesamt knapp zwei Monate in Deutschland gewesen war, und auchda nur im Ghetto militärischer Unterkünfte, kannte ich das Land über-haupt nicht und bin also ein echter Zugereister. Ich kam direkt von derSUNY at Stony Brook in Long Island, der Eliteuniversität der StateUniversity of New York, mit meiner schwedischen Frau, einem schwe-dischen Paß und fast vergessenen Deutschkenntnissen aus einem alt-österreichischen Sprachmilieu. Meine ersten Seminare liefen auf Eng-lisch, da ich zwei Assistenten mitgebracht hatte, von denen keinerDeutsch konnte. Die Ruhruniversität war „liberal“ im guten Sinn desWortes.

Wohnland und Vaterland

Die Heimat ist Fremde geworden, aber die Fremde nicht Heimat. LangeZeit habe ich meiner hiesigen Umgebung kaum Aufmerksamkeit ge-schenkt. Ein an sich trivialer, aber bezeichnender Vorfall, der in derErinnerung auftaucht, kann das beleuchten. Anläßlich der deutschenFassung der Resultate eines Kolloquiums, das ich organisiert hatte, stelltesich die Verlagsfrage und ein prominenter deutscher Kollege nannte alswichtigstes Kriterium für die Wahl des Verlages: „Einen Verlag mög-lichst weit weg von Suhrkamp!“ Ich verstand gar nichts und rätselte,was er damit gemeint haben könnte. Ich hatte nur für mein Fach gelebt,viele wissenschaftliche Kolloquien organisiert (deretwegen ich im Ver-lauf des Jahres mehrmals über den Atlantik zu reisen pflegte), hatte einweltweites Kontaktnetz außerhalb der BRD aufgebaut, und mich ummein hiesiges politisch kulturelles Umfeld nicht gekümmert. Die BRDwar mein Wohnland geworden, aber ich kannte ihren Charakter kaum.

Ob ich ein Vaterland habe oder hatte? Wohl kaum. Braucht man einsolches? Ein Individualist kann sich auf die tröstliche Sentenz aus derAntike berufen: „Ein rechter Mann trägt, wohin immer er geht (odergehen muß) sein eigenes Vaterland mit sich; sein Inneres – sozusagen:sein Seelengrund – birgt alles, was sein ist.“ Auch Benjamin FranklinsDiktum verdient hier zitiert zu werden: Where liberty dwells, there ismy country. Dort, wo man eine Nische gefunden hat, ist man zu Hause.Auch hier muß ich wohl ein paar autobiographische Andeutungen ein-

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flechten, damit der Leser weiß, was auf ihn zukommt. Als ich am19. April 1945 in Schweden landete, war mir, neben meinem Front-fliegerausweis nur eine Brieftasche mit Briefen und Fotos geblieben. Ichfühlte keinen Verlust. Die eben beschworene antike Spruchweisheit desOmnia mea mecum porto bewährte sich – ich war ein stolzer Bettler.Für die Generation der Eltern war der Spruch kein Trost. Meine Hei-matstadt Znaim in Südmähren, die sich immer als ein Vorort von Wienverstand, liegt nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, aber aufder falschen Seite. Anfang Mai 1945 wurden meine Mutter und Groß-mutter aus der Heimat, in der die Familien Jahrhunderte gelebt hatten,vertrieben, mit zwanzig Kilogramm Gepäck (selbstverständlich ohneWertsachen) – praktisch von allen irdischen Gütern befreit. Eine gewis-se romantische Nostalgie ist geblieben an die Vorstellung eines „Alt-österreichs“ – denn ein Land, das es nicht mehr gibt, so vielleicht niegab, kann nicht enttäuschen.

Die Rhetorik der „Spitzenpolitiker“:Der Beginn meines Interesses fürdie Geschichtspolitik der BRD

Die Rhetorik der „Spitzenpolitiker“ bestärkte meinen Vorsatz, mich fürdie Geschichtspolitik der BRD zu interessieren. „Befreit“, dieser ironischoder zynisch klingende Ausdruck, den ich im vorvorletzten Satz ver-wendet habe, entstammt einem Diktum, das mich als dem „Zugereis-ten“ seinerzeit verblüffte. Im Jahre 1985, nunmehr in der BRD woh-nend, erfuhr ich von der berühmt berüchtigten Rede des damaligenBundespräsidenten zum vierzigsten Jahrestag der Kapitulation gegenü-ber der Sowjetunion (die Kapitulation gegenüber den Westalliierten waram 7. Mai gewesen). Ich möchte seinen Namen hier nicht einmal er-wähnen – die Monatszeitschrift Chronicles nannte ihn lickspittle5 (Spei-chellecker, was phonetisch gut zu seinem Namen paßt). In dieser Redewird der 8. Mai 1945 pauschal zum Tag der „Befreiung“ erklärt, alsoauch (neben den vielen, die ein noch schlimmeres Schicksal traf) für dieGeneration meiner Eltern, und die Vertreibung der Sudentendeutschenals eine „unfreiwillige Wanderschaft“ bezeichnet (allerdings eine nichtganz ungefährliche, denn gut eine Viertelmillion von ihnen wurde da-bei auch von ihrem Leben befreit). Diese Charakterisierung des Ereig-nisses ist wohl als Satire zu verstehen, wenn wir Verhöhnung und Bös-willigkeit ausschließen.

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Was diesen lokalen Aspekt betrifft, möchte ich darauf hinweisen,daß das soeben angeführte Beispiel von der Vertreibung zeigt, daß dieBewertung eines geschichtlichen Ereignisses vom Zeitpunkt abhängt, andem sie vorgenommen wird. (Das gilt jedenfalls für eine Bewertung, dienur die Folgen berücksichtigt, eine sogenannte konsequentialistischeBewertung.) Für die Generation meiner Eltern und Großeltern war dieVertreibung eine Katastrophe, der zweite Weltuntergang – der erste warfür sie der Untergang der Monarchie gewesen. Aus der Perspektive derKindergeneration war sie ein Glücksfall: Wenn meine Mutter nicht ver-trieben worden wäre, dann wäre ich zu den „mütterlichen Fleischtöp-fen“ zurückgekehrt und hinter dem Eisernen Vorhang gefangen gewe-sen; ich hätte dann nicht mehr in die relativ freie Welt entkommenkönnen. Unter dem Eindruck dieser Einsicht bin ich im Prinzip bereit,den Vertreibern eine kleine Kompensation für ihre Dienstleistung zubezahlen.6

Als „befreit“ galten in jener ominösen Rede auch all die Millionen,die erst nach der Kapitulation ermordet wurden, all jene, die im Gulagauf Nimmerwiedersehen verschwanden, aber auch diejenigen, etwasGlücklicheren, die nach zehn Jahren Zwangsarbeit in die ihnen mittler-weile fremd gewordene Heimat zurückkehren durften. Als „befreit“galten die siebzehn Millionen Menschen in der größten Vertreibungder Geschichte und all jene, die in den Massakern umgekommen sind –umgekommen im Zusammenhang mit dem, was man heute als ethniccleansing bezeichnet. Als „befreit“ galten schließlich auch die Millio-nen, die in der sowjetisch besetzten Zone nahtlos von einem Totalita-rismus in den nächsten gerieten. Ein Ausrutscher, eine momentane Ver-wirrung des Herrn Bundespräsidenten? Keineswegs. Die Rede war keinEinzelfall, sie war bloß besonders drastisch und ist deshalb als Vorzeige-beispiel geeignet. Der Alt-Bundeskanzler Willy Brandt hatte die Ver-treibung als „Bevölkerungstransfer“ verharmlost. Der BundeskanzlerDr. Kohl, der begnadete Spätgeborene, wartete als Amateurhistoriker(er wurde zwar in Politologie promoviert, aber mit einer schlichtenhistoriographischen Dissertation, weit unter dem Niveau einer Magister-arbeit) sogar mit einer als Entschuldigung mißbrauchten Ursachener-klärung für die Vertreibung auf: Die Vertreibung sei ein „verständli-cher“ Racheakt für die NS-Verbrechen während der Zeit des Protekto-rats gewesen. Die Prager Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Her-zog war dann ein Echo der Worte Kohls. Beide „Spitzenpolitiker“ igno-rierten souverän die bekannten historischen Tatsachen: nämlich die

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Tatsache, daß Beneš die Vertreibung bereits 1919 ausdrücklich und fei-erlich zum Ziel erklärte hatte,7 ein Ziel, das dann von Beneš und Stalin1943 in Moskau feierlich paraphiert wurde, und daß sogar sudenten-deutsche Juden (z.B. Magda Körbler, die spätere US-AußenministerinMadeleine Albright), die überlebt hatten – an denen man wohl kaumRache für NS Verbrechen nehmen konnte – ebenfalls enteignet undvertrieben wurden (und bis heute keine Restitution erhalten haben). Eswird außerdem verschwiegen, daß während der Zeit des Protektoratseine durchgehende Kollaboration seitens der Tschechen bestand – wasnoch heute in Tschechien das Tabuthema Nummer Eins ist – und daßBöhmen und Mähren diejenigen Gebiete waren, die am wenigsten un-ter den Kriegsverhältnissen gelitten hatten.8 Diese Spitzenpolitiker Rhe-torik ging quer durch die Parteien. Was kümmert diese Politiker dieWahrheit?

Das Bemerkenswerteste an diesem Phänomen ist, daß es keine laut-starken Proteste gab. Es zeigt, wie effektiv die verordnete Zeitgeschichts-Amnesie war und ist, und wie sehr Aufklärung not tut. Die Art undWeise, in der höchste Repräsentanten meines neuen Wohnlandes überdie jüngste Geschichte sprachen, ihre Anmaßung von zeitgeschichtli-chem Unwissen (wenn wir Böswilligkeit ausschließen) weckte ein inmir schlummerndes Interesse an Zeitgeschichte. Als Emeritus begannich allmählich, mich in meiner intellektuellen Umgebung umzusehenund war erstaunt über die Verschmutzung dieser Umwelt in Bezug aufZeitgeschichte – man denke nur an den „Historikerstreit“, den ErnstTopitsch treffend als „Historikerskandal“ (oder „Habermas-Kontrover-se“) bezeichnet hat. So wurde die Sprachfanfare „Befreiung“ und diedamit verbundene Rhetorik für mich zur Anregung und zum Anstoß.

Genau besehen, stellt sich das Politikergeschwätz allerdings alsSchaumschlägerei heraus, denn in Wirklichkeit wird hier nur ein Be-weis dafür erbracht, daß der Sieg der Sieger so total war, wie er nur seinkonnte: Der amerikanische Publizist Walter Lippmann hat es auf denPunkt gebracht, als er in bezug auf die Geschichtspolitik der Alliiertenqua „Umerziehung“ oder „Gehirnwäsche“ lapidar feststellte: Der Siegüber ein Land ist erst dann vollständig, wenn die Kriegspropaganda derSieger Eingang in die Schulbücher des besiegten Landes gefunden hatund diese Schulbuchweisheiten auch von den Leuten als Staatswahrheitengeglaubt werden. Als Priester der neuen Politischen Religion arbeitendie Linksintellektuellen mit Enthusiasmus an Geschichtsklitterungen undführen dabei auch vor, wie man sogar mit wahren Sätzen, mittels Aus-

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lassung und Insinuationen, trefflich lügen kann. Gut ein halbes Jahr-hundert nach Kriegsschluß konnten diese „Staats-Intellektuellen“ diealte Kriegspropaganda sogar noch steigern. Der amerikanische Histori-ker Ralph Raico hat diese Entwicklung in einem meisterhaften Artikelanalysiert. Er trägt den bezeichnenden Titel Nazifying the Germans.9

Jedenfalls trugen die Dikta der Bonner Politiker wesentlich dazubei, daß ich ein aufklärendes Buch über Zeitgeschichte, ein Buch, dasErlebtes mit Reflexionen über Schlüsselereignisse der Zeitgeschichte,als dringend notwendig empfand. Die Politiker agieren als Vorbeter deraktuellen politischen Religion. Sie wollen Zustimmung, um Stimmenzu fangen, und zu diesem Zweck müssen sie die herrschende Stimmungausdrücken. Aber sie haben diese Stimmung selbst gemacht – „Was Ihrden Geist der Zeiten heißt, das ist der Herren eigner Geist“ (Faust) –und zwar mit Hilfe der Medien, allen voran der öffentlich-rechtlichen,zwangsfinanzierten Medien, die als Zeitgeistverstärker fungieren. Soentsteht die veröffentlichte Meinung, die sich von der öffentlichenMeinung und der Meinung der Wissenschaft oft drastisch unterschei-det (Beispiel „Phänomen Goldhagen“).10

Und wo bleibt das Vaterland?

Doch zurück zu unserer Frage, ob man ein Vaterland braucht. Die Ein-stellung des Durchschnittbürgers zum Vaterland hat sich im Laufe mei-ner Lebenszeit, also in einer relativ kurzen Zeitspanne, drastisch verän-dert (was in Kapitel 1 behandelt wird). Eltern und Großeltern warenbereit, für ihren Staat, für die Habsburg-Monarchie, Opfer zu bringen(„Gold gab ich für Eisen.“). Für sie galt noch das Schiller-Zitat. Schillersingt bekanntlich im „Tell“: „Ans Vaterland, ans teure, schließ Dich an,dort sind die Wurzeln Deiner Kraft …“. Allerdings muß auch der ge-lernte Heimatlose in einem Punkt Schiller zustimmen: in bezug auf „teu-er“ hat Schiller nicht nur Recht, sondern sein Diktum wird immer aktu-eller! Teuer – wenngleich in anderer Bedeutung – ist und war der Steuer-staat stets und allemal, und er wird sogar ständig teuerer. Eine Staats-quote von mehr als dem halben Bruttoinlandsprodukt hätte sich Schil-ler nicht einmal vorstellen können. Aus meiner Schweden-Erfahrungkann ich über spektakuläre Fälle berichten, die seinerzeit weltweit Auf-sehen erregten, da es sich um zwei Berühmtheiten handelte: wie imJahr 1974 eine Marginalsteuer von 102 Prozent [„Fall“ Astrid Lindgren]und sogar von über 130 Prozent [Ingmar Bergman]. Die Kinder- und

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Jugendbuchautorin schrieb daraufhin ein Tendenzmärchen, das die Re-gierung Palme stürzte (!), und der Regisseur Bergman emigrierte. DieSchweizer sind Schiller ewig dankbar dafür, daß er ihnen mit dem „Tell“ihren Nationalmythos, ihr Freiheitssymbol, gegeben hat.11 Alle meineWohnländer waren zwar teuer, aber mir nicht teuer – ein Vaterland imSinne von my own country habe ich nie gehabt. Und jetzt ist es zu spät,ein solches noch zu bekommen. Es scheint in der modernen, globali-sierten Welt auch gar nicht mehr notwendig zu sein, so etwas zu haben.Ein Paß dagegen ist notwendig, sonst sind Reisen nahezu unmöglich,was ich erfahren mußte, als ich ein paar Jahre staatenlos war.

In welcher Sprache soll ich schreiben?

Eine Muttersprache hingegen hat jeder Mensch, eben die Sprache sei-ner Mutter. Die Sprache gehört zur Heimat, deren Erinnerung man insich trägt. Sie kann allerdings überlagert werden von einer anderenSprache, je nachdem wie sich der Lebensweg gestaltet. Mein erstes „tech-nisches“ Problem bei diesem Buch der Erinnerungen war: In welcherSprache soll ich schreiben? Um zu erklären, warum sich mir diese Fragestellte, muß ich abermals ins Autobiographische eintauchen. Als Hei-matvertriebener und Wanderer bin ich, wie gesagt, eben ein gelernterHeimatloser. Meine Frau ist Schwedin; wir lebten die meiste Zeit inSchweden, dann auch in den USA, kurzfristig in Japan, und waren vielauf Reisen. Vom Sommer 1945 bis etwa Mitte der 1960er Jahre, alsogut zwanzig Jahre lang, hatte ich für Deutsch praktisch keine Verwen-dung (außer in ein paar Briefen) und daher die Sprache schon teilweiseverloren. Meine Wissenschaftssprache war und ist die lingua francaEnglisch, meine derzeitige Umgangssprache ein nunmehr aufgefrisch-tes Deutsch. (Ein berühmter Schriftsteller-Emigrant klagte: „Ich bin ina hell of a fix, weil ich Deutsch und Englisch vermix.“) Zuhause, dasheißt mit meiner Frau, sprachen wir Schwedisch, und seit einem Gast-semester in Tokio einigten wir uns – nachdem meine Frau Englisch als„Haushaltsprache“ (wegen des Einkaufens) abgelehnt hatte – auf einMischmasch von Deutsch, Schwedisch und Englisch, je nachdem wel-che idiomatische Phrase oder Metapher sich gerade einstellt. Jede Spra-che hat ihre besonderen Stärken; manchmal ist eine Metapher in einerbestimmten Sprache viel lebendiger als in allen anderen in Frage kom-menden Sprachen, diese Sprache bietet sich dann im Moment geradezu

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an. Die Sprachen waren für mich Kommunikationsmedien, nicht mehr;als Denkinstrument taugt ein Sprachengemisch ausgezeichnet.

Als ich Anstrengungen machte, wieder in das deutsche Sprachmilieuhinein zu kommen, wunderte ich mich über die in den öffentlich-recht-lichen Medien (neben der Geschichtsklitterung) betriebene „Verhun-zung der deutschen Sprache“. (Der Terminus stammt von Schopenhau-ers Senilia [1852-1860], und ich frage mich, ob es damals so schlimmgewesen war wie heute?)12 Kurz, ich kam zurück in eine beschädigte,entfremdete Sprachwelt. Es ist, wie wenn man einen Schrank mit sei-nen alten Kleidern öffnete, die Kleider zwar vorfindet, aber etwas ver-ändert, versehen mit diversem Angenähten, mit Lappen und Borten.Mit Erstaunen stellte ich auch fest, daß sich die deutsche Nation imoffiziellen Kontext buchstäblich von ihrer eigenen Sprache distanziert.13

Wir lebten schon einige Jahre in Deutschland, bevor es uns gelang,von Schwedisch auf Deutsch umzustellen. Wenn wir uns in deutscherGesellschaft befanden, war es kein Kunststück, deutsch zu sprechen;aber, wenn wir allein waren und deutsch redeten, war es uns peinlich,einander plötzlich in einer anderen Sprache anzusprechen. MeinenZustand nenne ich „zwischensprachig“: er hat den Vorteil, daß man anmehreren Kulturmilieus teilhaben kann, und den Nachteil, daß mankeine Sprache völlig beherrscht.

Da zeitgeschichtliche Betrachtungen eigentlich nur Geschichten,Anekdoten, Plaudereien sein können, bietet sich meine derzeitige Um-gangssprache an. Also habe ich mich entschlossen, auf Deutsch zu schrei-ben. Ob die Entscheidung für Deutsch richtig war, ist ungewiß. Viel-leicht will die Majorität der Deutschen von der Zeitgeschichte gar nichtswissen, während viele Englischsprachige durchaus genug Sympathie ha-ben, um solche Memoiren zu lesen. Es besteht da ein Wissensdefizitüber die historischen Entwicklungen auf der ehemaligen Feindseite. Dasmeinten zumindest ein paar amerikanische und australische Freunde,die ich bei der Sprachwahl um Rat bat. Die Wahl der Sprache schränktunweigerlich den Leserkreis ein. Überhaupt variieren Art und Umfangdessen, was man aus der Erinnerung aufschreibt, stets mit dem imagi-nierten Leser!

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Erinnern und Vergessen

Aus dem Meer der Erinnerung retten sich einige affektiv beladene Er-lebnisse, glücklicherweise vor allem die netten. (Das wird besonders inden Kapiteln 1 und 4 deutlich.) Johann Strauß’ Operette „Die Fleder-maus“ behandelt das Thema „Erinnerung und Vergessen“ in dem un-sterblichen Refrain „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu än-dern ist.“ Er paßt zum Motto meiner „Memoiren“, was übrigens auchfür die scherzhafte Abwandlung gilt: „Glücklich ist, wer vergißt, daßihm nicht zu helfen ist.“ Ohnehin gilt, daß ein Beobachter, der ein Ob-jekt im außerwissenschaftlichen Kontext beschreibt, dabei unweigerlichauch sich selbst beschreibt. Die Wissenschaft sagt uns, daß Erinnerun-gen, die oft auftauchen, für die Engramme bestehen, vom Gedächtnisweiterbearbeitet werden, daß die Engramme sich verändern, und daßdeshalb Augenzeugenberichte und an sich glaubwürdige Zeitzeugen fehl-bar sind, wie alles Menschliche. Das Gedächtnis vermengt Gegenwärti-ges mit Vergangenem zu neuen Erinnerungen (How we create ourselvesthrough memory). Manche Erinnerungen sind geschönt; Sigmund Freudbezeichnet das Phänomen als „benefizientes Vergessen“. Das ist aller-dings für dieses Buch kein Malheur, denn die bürokratisch-präzise Daten-abfolge meiner Biographie könnte den Leser nur langweilen. Das Genreist Narration, Anekdoten und manchmal daran sich anschließende Re-flexionen – keinesfalls „Confessiones“. Natürlich will ich nur das er-zählen, was Bestandteil meiner eigenen Lebensgeschichte geworden ist.Insofern erzähle ich als ein Zeitgenosse meiner selbst.

Oft stellt sich eine Erinnerung spontan ein (il me souvient) – MarcelProust, der große Erzähler des nicht bewußten Gedächtnisses. SeineMadeleine Episode ist zum Inbegriff für die mémoire involontaire(réminiscences involontaires) geworden. Der Geschmack des Gebäcks,in Lindenblütentee getaucht, ruft seine Kindheitserinnerungen wach.Ich habe ein ähnliches Erlebnis. Das Krähen eines Hahns ruft bei mirsofort ein Bild hervor: Ich schaue von den Fenstern des Frainer Schlos-ses, wo ich als Kind oft meine Ferien verbrachte, auf das Dorf hinunter,sehe wie die Bauern im Fluß, in der Thaya, an einer seichten Stelle diePferde waschen, ein Wagen über die Brücke rollt und ich höre die Ge-räusche. Und dann kräht eben auch der Hahn (und nicht nur „zumzweiten Mal“). Das Stadtkind hörte ja sonst nie einen Hahn krähen.

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Von den Schlüsselereignissen der Geschichtezu den Reflexionen

Die dem Erlebten zugeordneten Schlüsselereignisse laden nicht nur zuReflexionen ein, sondern sie machen ein Nachdenken darüber gerade-zu notwendig – sonst kann man ihre Bedeutung für den Gang der Ge-schichte nicht richtig einschätzen. Deshalb werde ich zu den wichtigs-ten Schlüsselereignissen Betrachtungen über den Spielraum der Akteu-re, ihren Informationsstand und die Folgen ihrer Handlungen anstel-len. Dabei muß ich mich selbstverständlich an die historiographischeFachliteratur halten und eine sorgfältige Auswahl treffen. In Anbetrachtder Geschichtspolitik in der BRD werde ich mich vor allem an eng-lischsprachige Fachliteratur halten. In diesem Zusammenhang möchteich auch auf die Unterscheidung zwischen Geschichtsforschung und Ge-schichtsschreibung aufmerksam machen: Der Geschichtsforscher be-schreibt und erklärt vergangene Ereignisse und ist ausschließlich demErkenntnisfortschritt und daher der Wahrheit verpflichtet, während derGeschichtsschreiber an außerwissenschaftlichen Zielen orientiert ist.Wenn seine Darstellungen politisch korrekt sind, haben sie gute Aus-sicht, von den jeweils „Mächtigen“ (seien es Dynastien, dominierendepolitische Parteien oder Instanzen der Universitätspolitik und der Ver-gabe von Förderungsgeldern und dotierten Preisen) für ihre Zweckeverwendet und entsprechend honoriert zu werden. Die Geschichtsschrei-bung orientiert sich daher an der aktuellen politischen Religion.14

„Verfassungsreligiosität“ führt zu Geschichtstheologie

Die Geschichtspolitik hat sich als Geschichtstheologie entpuppt. DieBRD ist mittlerweile ein Glaubensstaat geworden;15 eine Zivilreligionbeherrscht die Szene. In bezug auf Geschichte entwickelte sich eine ArtGeschichtstheologie, deren Annahmen zunehmend zu den staatlich ge-schützten „Werten“ gezählt werden. Diese genießen zumindest teilwei-se einen strafrechtlichen Schutz (§ 130 Abs. 3 StGB). Der quasi-religiö-se Charakter zeigt sich vor allem in der sogenannten Vergangenheits-bewältigung. Er manifestiert sich deutlich in Parteiverbotsbegründungenund Geheimdienstmitteilungen. Für eine weltliche Demokratie sind dieAntworten auf zeitgeschichtliche Fragen rechtlich völlig irrelevant. Ineinem Glaubensstaat, in einer Theokratie (wie im Iran) oder einer

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Ideokratie (wie in der BRD), sind gewisse Antworten eine Ketzerei.Beispiele für solche Fragen sind, wer für den Ausbruch des ZweitenWeltkriegs verantwortlich ist, wie hoch die Anzahl der unter der Ver-antwortung des Vorgängerregimes Ermordeten ist. Politisch inkorrekteAntworten werden nicht widerlegt, sondern formell oder informell sank-tioniert. Etwa „Bestreitung der deutschen Kriegsschuld“ oder die „Ver-neinung der Einmaligkeit der Opferzahlen“ führen zur Perhorreszierungals „Revisionismus“, „Relativierung“, „Verharmlosung“ usw. Schüßl-burner zeigt, daß es bereits bei den „Berufsverboten“ (gegen „links“)von Bedeutung war, ob sich die Verdächtigen zu den Grundwerten „be-kannten“ und diese Bekenntnisse glaubhaft waren. Eine Verfassung, dieman verbal „verletzen“ kann, ist kein Rechtstext mehr, sondern eintheologisches Dokument. Die ganze Werteordnungslehre tendiert da-hin, Kant zu widerrufen. Wahrscheinlich dürfte es aber das Schicksalvon Demokratien sein, notwendigerweise zu einer Art Religion zu wer-den. Dies war schon in Athen so (Prozeß gegen Sokrates, wozu meinesErachtens I. Stone das Richtige geschrieben hat). Der amerikanischePhilosoph des Pragmatismus, John Dewey, hat diese Entwicklung be-reits im Jahre 1920 vorausgesagt mit seinem Diktum: Once we committo pursuing democracy, it will take on religious value.16

Vergangenes ist zwar endgültig, aber – wie Samuel Butler bemerkt:God cannot alter the past, historians can. Wer die Macht hat, kann dieGeschichte verfälschen. Wo die Vergangenheit zur Identitätsstiftung ein-gesetzt wird, ist die Legendenbildung meist nicht weit. Die jeweils Mäch-tigen bestellen Geschichtsschreiber, die ein Geschichtsbild projizieren,das von der classe politique und deren intellektuellen Heloten als „volks-pädagogisch“ erwünscht bewertet wird. Diese Intellektuellen werdenzu Staatsphilosophen; sie werden entsprechend belohnt, gefeiert undmit Preisen überschüttet. (J. Habermas, der einstige Assistent vonAdorno, der einflußreichste der „Frankfurter Schule“ ist der Prototyp.)Es sind diese Intellektuellen, die Roland Baader in seinem Buch Tot-gedacht. Warum Intellektuelle unsere Welt zerstören17 aufs Korn nimmt.Stimmt das von ihnen projizierte Bild mit Fakten nicht überein – um soschlimmer für die Fakten. Geschichtsauffassungen sind, wenn schonnicht Stütze einer politischen Monopolherrschaft, so doch Orientie-rungen gesellschaftlicher „Lager“, mithin ein Gut, das öffentlich um-stritten ist.18 Die Folge ist der Verlust jeglichen Respekts vor Wahrheit.Für den politisch Korrekten gilt: Eine Aussage über die Vergangenheitist wahr (falsch) genau dann, wenn der erwartete Effekt ihrer Rezeption

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volkspädagogisch erwünscht (unerwünscht) ist. Ob diese Aussage einezutreffende Darstellung ist, spielt keine Rolle. Im Kampf gegen die poli-tisch korrekten Geschichtsklitterer (die nicht nur die elektronischen Me-dien beherrschen) können Zeitzeugenerinnerungen ihren Beitrag leisten– und das zu tun, ist, wie gesagt, eines der Ziele meines Buches. Deshalbmuß ich mich auch mit der Frage befassen, was diese Leute motiviert.

Ein Autor lebt im Kontext der Zeit, in einem bestimmten kulturel-len und politischen Umfeld. Deshalb versuche ich, beim Schreiben eineHistorisierung des eigenen Denkens vorzunehmen. Ohne ein Abgleitenin die ephemere Tagespolitik darf auf bestimmte Tendenzen hingewie-sen werden, welche die Atmosphäre der intellektuellen und politischenUmwelt kennzeichnen. Das ältere Naturrecht, das weltliche und geisti-ge Macht unter einen Hut brachte, wurde später durch das jüngereNaturrecht abgelöst. Die Trennung der beiden Mächte war erfolgt unddas Naturrecht beanspruchte „nur“ mehr, Normen vorzugeben, welchedie staatliche Gesetzgebung zu berücksichtigen hatte. Der Einfluß derchristlichen Kirchen ging fortlaufend zurück, und schließlich wurdensie weitgehend ersetzt durch eine neue politische Religion, die beson-ders im deutschen Sprachraum eine enorme Konformität durchgesetzthat. Wer die Wahrheitsansprüche dieser politischen Religion nicht an-erkennt, wird als Ketzer verfolgt. Das heißt, die Säkularisierung – inBezug auf die aktuelle politische Religion – ist in manchen Bereichenrückgängig gemacht worden. Wenn die Wahrheit – im Sinne der zutref-fenden Darstellung eines Satzes – mißachtet, durch Wirksamkeit oderKonsens ersetzt wird, dann geht auch bald die Freiheit verloren. Dasmuß einen Freund der Freiheit beunruhigen, auch wenn ihn die davoninsbesondere betroffenen Bereiche der Zeitgeschichte nicht speziell in-teressieren.

Wider die „politische Korrektheit“

Wenn man in der offiziellen und offiziösen Szene mit so viel Geschichts-klitterungen berieselt wird, dann stellt sich die Frage: Sind die Ge-schichtsfälschung, Mythenbildungen usf. die Folgen böswilligen oderignoranten Handelns oder gibt es noch andere Motive? Die Verdrän-gung oder Verfälschung der geschichtlichen Wahrheit ist für deren Ver-ursacher dann zweckrational, wenn diese die damit verbundenen Kosten(irregeführte Öffentlichkeit, Untergrabung des Respekts vor Wahrheit)

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als geringer bewerten als die „politischen Kosten“, die mit Hilfe derFälschungen vermieden werden (multipliziert mit der Wahrscheinlich-keit, daß diese „Kosten“ tatsächlich eintreten). Unter „politischenKosten“ verstehe ich hier den Druck, den weite Kreise der Öffentlich-keit auf Politiker, Medienmächtige, und die Journaille ausüben wür-den, wenn sie sich – nun im Besitze der Wahrheit – auch für derenöffentliche Anerkennung einsetzen würden.

Diese Memoiren werden in ihrer Gesamtheit und im Detail poli-tisch unkorrekt sein. Wer zu den Quellen will, muß gegen den Stromschwimmen, nur so kann er sich von der verordneten geschichtlichenAmnesie befreien, nur so für die Verdrängung und Verfälschung dergeschichtlichen Wahrheit ein Gespür bekommen. Den Leser lade ichein, gleich mir, gegenüber den Geschichtspolitikern und den Vertreternder Politischen Korrektheit den göttlichen Dante zu zitieren: Non ticurar di lor, ma guarda e passa. – Scher Dich nicht um sie, doch sei aufder Hut und geh vorbei.

Anmerkungen1 Wenn der Mensch wie bei den Christen nur auf die unerforschliche Gnade

des Allmächtigen hoffen kann, dann wird er endgültig zum Sklaven. Zudiesem Sacrificium intellectus war die Antike nicht bereit, und die heutigeGeneration der jungen Denker wird wohl noch weniger dazu bereit sein.

2 Nach der Pro-Kopf-Einkommensstatistik von Maddison (OECD, 2002) warbereits 1950 Schweden weit abgesunken: in Schweden $ 6738 (US-$, PPP),in der Schweiz $ 9064, in den USA $ 9561, selbst England lag mit $ 6907vorn. Man soll das Zerstörungspotential der Sozialdemokraten (in ALLENParteien) nicht unterschätzen.

3 Roland Huntford’s Buch mit dem treffenden Titel The New Totalitarians.[London, 1971] beschreibt diese Entwicklung.

4 In einem brillanten Essay, „Der Untergang des Römischen Reiches“, in einemvon Roland Baader herausgegebenen Sammelband Die Enkel des Perikles(1995). (In einem Fax erklärte Ernst Jünger (damals in seinem 101. Jahr)seine Zustimmung zu Habermanns Analyse.)

5 Chronicles. A Magazine of American Culture vom Januar 1997, S. 16.6 Als Dr. Václav Klaus von dieser Einstellung hörte, wirkte er verblüfft. Diese

Verblüffung habe ich eigentlich nicht verstanden, denn meine Bewertung istrational begründet. Andererseits begreife ich sehr wohl, daß er als Staatsprä-sident von Tschechien alles Sudentendeutsche offiziell a limine verdammenmuß. Politiker zu sein hat eben immer seine Kosten. Wenn die Massenmedi-

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en einer Bevölkerung jahrzehntelang ein bestimmtes Geschichtsbild verord-net haben, dann ist es für einen Politiker gefährlich, ja tödlich, dieses Ge-schichtsbild auch nur anzuzweifeln. Auch hier zeigt sich, was ich im TextGeschichtstheologie genannt habe.

7 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung war bereits 1918 geplant, 1938von Beneš gefordert, und von der Londoner Exilregierung mit den Alliier-ten vereinbart. Als Alternative war 1919 eine zweite Option im Gespräch:„... bevor Deutschland sich seiner besinnt, (wird) das ganz böhmische Ge-biet ohne jede Gewalt tschechisiert sein … Wenn dieser Prozeß nicht schnellgenug vonstatten geht, schreiten wir zur Aussiedlung des deutschen Ele-ments, …“ (Josef L. Stehule, „Ceskoslovensky stát v mezinarodním pravu astyku“, Praha 1919, abgedruckt in „Odsun“, München 2000). Die Vorberei-tungen der Vertreibung: Sie war seit 1919 beabsichtigt, aber zunächst un-durchführbar. Ab dem Sommer 1939 konnte Beneš für seinen Herzenswunscheinen Teil der englischen Führung gewinnen. Sir Robert Vansittart plädiertebereits im Januar 1940 für die Umsiedlung der Sudetendeutschen ins „Alt-reich“. 1943 erlaubte es die historische Situation Beneš, die Realisierung des„ethnic cleansing“ vorzubereiten (wobei nur Churchill zuerst Widersprucheinlegte). Gegen den Wunsch Churchills, der den Verrat an den Polen vor-aussah, reiste Beneš nach Moskau, versprach Molotow die Zustimmung destschechischen Staaten zu Stalins Herrschaft über Polen und Ungarn und er-hielt dafür von Stalin dessen Zustimmung zur Vertreibung – allerdings nichtin schriftlicher Form. Beneš ist Vorläufer und Vorbild von Milosevicz.

8 Diese Länder hatten auch nicht unter den Terrorbombardements (die etwa700.000 Deutschen das Leben gekostet hat) zu leiden. Erst am 26. April1945, also zu einem Zeitpunkt als der Krieg praktisch zu Ende war,hat ein britischer Luftangriff auf Pilsen quasi im letzten Moment Tschechenumgebracht. Ich vermute, daß es sich dabei um eine symbolische Gestedes Whiskytrinkers Churchill gegen das Symbol der Biertrinker – „Pilsner“(!) – gehandelt haben könnte.

9 The Chronicles. An American Culture Magazine, January 1997, S. 15-17.10 „Goldhagen-Phänomen“ – s. dazu: Birn und Rieß in Geschichte in Wissen-

schaft und Unterricht 49(2):80-95, 1998) – ist ein Vorzeigebeispiel, wie dieMedien versuchen, eine Massenhysterie zu erzeugen. Es wurde eingeleitetdurch das Hamburger Wochenblatt Die Zeit und dann durch die Öffentlich-Rechtlichen zum Medienereignis erster Güte hochgespielt. Goldhagen, einAssistent (assistent professor), legte eine Dissertation vor: Hitler’s WillingExecutioners. Es setzt die Goebbels’sche Propaganda fort, genau wie dieÖffentlich-Rechtlichen in der BRD es tun, nämlich die Mythe von der Ein-heit zwischen Volk und Führung im Dritten Reich zu behaupten. Seine Haupt-these ist, daß „die Deutschen“ genetisch Antisemiten sind. Diese rassistischeDoktrin gefiel den BRD-Medien außerordentlich. Selbst Spekulationen über-einen „genetischen Defekt“ der Deutschen wurden angestellt (Birn und Rieß,

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op. cit., S. 83). Goldhagens Buch wurde von der Fachwelt einstimmig abge-lehnt. Die deutschen Medien bejubelten es jedoch, denn es paßte so gut zuihrem Anliegen (der „Grundversorgung“ des Volkes an Desinformation),das Volk zu hysterisieren. Birn und Rieß schreiben, daß es ihres Wissens dererste Fall ist, in dem die Medien – insbesondere die elektronischen staatli-chen Medien – die Meinung einer ganzen Berufsgruppe ignorieren, so daßeine drastische Diskrepanz zwischen der Welt in Realität und Medienrealitätauftritt.

11 Die Fiskalquote, also die Steuern und Abgaben in Prozenten des Brutto-inlandsprodukts) hat im Jahr 2002 31.3 % erreicht. Mag die Schweiz auchordnungspolitisch auf der schiefen Ebene sein, verglichen mit den Nachbar-ländern ist sie eine Oase der Freiheit, respektiert das „Recht auf sich selbst“auch im Alltag, vom Bankkundengeheimnis bis zur aktiven Sterbehilfe. Aufdie Schweizer war ich daher immer neidisch und wäre liebend gerne einEidgenosse geworden.

12 Ein paar Beispiele der aktuellen Verhunzung: anstelle von „enthält“ schreibtder politisch Korrekte (z. B. die Bundespressestelle) „beinhaltet“ (mit gleichzwei Präfixen); Gewinne genügen nicht mehr, es müssen „Zugewinne“ sein,ein Vorfall wird nicht geklärt, sondern „abgeklärt“ (früher waren nur alteLeute abgeklärt), anstelle von nachempfinden heißt es „nachvollziehen“,selbst wenn das logisch unmöglich ist, die Handlung nachzuvollziehen. An-stelle von „etwa“ schreibt der Neudeutsche „in etwa“, eine Gebühr wirdnicht „erhöht“, sie wird „angehoben“, der Fliesendecker sagt: „Ich werdedie Fliesen abdecken“ und ich antworte erschrocken: „Nicht abdecken, bit-te zudecken!“ Ein Auto wird nicht gekauft, sondern angekauft, nicht gemie-tet, sondern angemietet. Diese Krankheit könnte man „Präfixitis“ nennen.Wörter, die bisher geschlechtsneutral waren, wie Künstler, Student, bekom-men plötzlich ein Genus, was die Sprache verarmt: „Sie ist der größte Lyri-ker des Jahrhunderts“ ist ein größeres Lob als „Sie ist die größte Lyrikerindes Jahrhunderts“. Wenn man das Wort „Lyriker“ geschlechtsspezifischmacht, wird es schwierig, die Distinktion zu machen.

13 Daß das der Fall ist, sieht man daran, die Deutschen eine Art „Umzug insEnglische“ vorführen. Die Deutsche Telekom geht voran, indem sie Lokal-gespräche „City Call“ nennt usf.; 1994 beschloß die Gesellschaft DeutscherChemiker, in ihren traditionsreichen Zeitschriften Liebigs Annalen und Che-mische Berichte nur noch englischsprachige Beiträge zuzulassen. In der Phy-sik spielte sich Analoges ab. Das erscheint vernünftig. Eher unvernünftigerscheint es, wenn bei der Universitätsrektorenkonferenz 1997 in Dresdenosteuropäische und baltische Gelehrte ihren deutschen Kollegen zum Ge-brauch ihrer Muttersprache ermuntern müssen. Als die Sprachencharta derEU beschlossen wurde, war die Kohl-Regierung an der Stellung des Deut-schen uninteressiert (dabei kann Dr. Kohl sich in keiner einzigen Fremd-sprache verständigen – allerdings gelingt es ihm auch kaum, in seiner Mut-

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tersprache längere, korrekte Sätze zu bilden). In den EU-Texten gehörtDeutsch nicht zu den offiziellen Sprachen, obwohl die BRD als Nettozahlermehr beiträgt als England und Frankreich zusammen – was deutsche Regie-rungen nicht stört. Die BRD scheint überhaupt ein seltsamer Riesenzwergzu sein: Obgleich es der zweitgrößte Beitragszahler ist, wird Deutschland inder „Charta der Vereinten Nationen“ nach wie vor als „Feindstaat“ bezeich-net.

14 Der Begriff „politische Religion“ ist seit 1938 im Gebrauch (Erich Voegelin),Raymond Aron 1939 sprach von „religion séculière“; die klassische Arbeitüber den Topos ist das von Hans Maier herausgegebene dreibändige WerkTotalitarismus und Politische Religionen. (Verlag Schöningh, 1996/97 und2003). Kennzeichen einer politischen Religion ist ein oberster, „höchster“,absoluter Wert, der zur Rückkehr zur Einheit von Kult und Polis, von Reli-gion und Herrschaft führt, kurz zur politisch instrumentalisierten Theolo-gie. Die Alternative zum Dualismus von weltlich und geistlich ist der Totali-tarismus (Rabbiner Jacob Taubes). In dem Maße, in dem in einem Staat einepolitische Religion wirksam ist, gibt es dort auch totalitäre Züge. In derBRD (oder „DDR-light“ [Günter Zehm]) – einer Partitokratie mit demokra-tischer Fassade – dominiert eine politische Religion die Medien und daherdas intellektuelle Klima. Die Meinungsfreiheit ist in gewissen Bereichen ab-geschafft, und es zeigen sich manche totalitären Züge. In den Abschnitten,die sich mit Geschichtsschreibung und Geschichtsbild befassen, ist Ideolo-giekritik daher ein unentbehrliches intellektuelles Werkzeug.

15 Vgl. J. Schüßlburner 2004.16 Dewey, J. 1920. The Reconstruction in Philosophy. New York, NY: Holt,

S. 210.17 Gräfelfing: Resch Verlag, 2002.18 Umstritten: gestritten wird manchmal auch mit seltsamen Vorwürfen, ge-

nauer gesagt, mit Anwürfen und sonstigen Würfen: So wurden in Rom 1996auf die Terrasse der Wohnung des Zeithistorikers Renzo de Felice zwei Mo-lotowcocktails geworfen. Die Temperatur des Meinungsklimas in der BRDzeigt sich im „Historikerstreit“ (1986/87). Der Hauptexponent dieses Streits,der weltbekannte Historiker Ernst Nolte, wurde 1994 mit Tränengas atta-ckiert. (Baets, A. de. 2002. Censorship of Historical Thought: A World Guide1945-2000. Westport/London: Greenwood Press.)