Leichte Sprache – Design für alle. Ein kritisches...

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© Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 495 Kurzbericht (Forschung/Praxis) S ABINA S IEGHART Leichte Sprache – Design für alle. Ein kritisches Statement aus der Designpraxis Abstract Makro- und Mikrotypografie haben großen Einfluss auf die Leserlichkeit und Rezeption von Texten. Die Zielgruppe von Leichter Sprache hat Schwierigkei- ten beim Aufnehmen von Sprache. Deshalb benötigt sie besondere Unterstüt- zung und eine attraktive, zum Lesen einladende Gestaltung. Bestehende Re- gelwerke sowie die Forschung zur Leichten Sprache berücksichtigen die Er- kenntnisse der Typografie nicht. Hier sehen wir ein Forschungsdesiderat: Die gestalterischen Implikationen der Kommunikation mit Leichter Sprache sind zu erforschen. Der geplante Research-through-Design-Ansatz unterstützt die Akteure durch praktische Hilfsmittel, die dann bereits durch die Zielgruppe erprobt sind. Stichwörter: Typografie, Designforschung, Kommunikation, DIN 1450 Leser- lichkeit, Barrierefreiheit, Research-through-Design, Webfonts, visuelle Gestal- tung, Templates 1 Visuelle Übersetzung entscheidet In der gesprochenen Sprache werden Pausen, Betonung, Mimik und Gestik eingesetzt, um Inhalte erfolgreich zu kommunizieren. In der geschriebenen Sprache übernehmen Design und Typografie die Funktionen des Strukturie- rens und impliziten Qualifizierens. Jede typografische Entscheidung ist mit einer Konnotation verbunden. Oder wie Hans Peter Willberg sagte: „Jede Gestaltung interpretiert, neutrale Typografie gibt es nicht, so wenig wie es neutrales Sprechen geben kann“ (Willberg/Forssman 1997). Design, Makro-

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Kurzbericht (Forschung/Praxis)

SABINA SIEGHART

Leichte Sprache – Design für alle. Ein kritisches Statement aus der Designpraxis

Abstract

Makro- und Mikrotypografie haben großen Einfluss auf die Leserlichkeit und Rezeption von Texten. Die Zielgruppe von Leichter Sprache hat Schwierigkei-ten beim Aufnehmen von Sprache. Deshalb benötigt sie besondere Unterstüt-zung und eine attraktive, zum Lesen einladende Gestaltung. Bestehende Re-gelwerke sowie die Forschung zur Leichten Sprache berücksichtigen die Er-kenntnisse der Typografie nicht. Hier sehen wir ein Forschungsdesiderat: Die gestalterischen Implikationen der Kommunikation mit Leichter Sprache sind zu erforschen. Der geplante Research-through-Design-Ansatz unterstützt die Akteure durch praktische Hilfsmittel, die dann bereits durch die Zielgruppe erprobt sind.

Stichwörter: Typografie, Designforschung, Kommunikation, DIN 1450 Leser-lichkeit, Barrierefreiheit, Research-through-Design, Webfonts, visuelle Gestal-tung, Templates

1 Visuelle Übersetzung entscheidet

In der gesprochenen Sprache werden Pausen, Betonung, Mimik und Gestik eingesetzt, um Inhalte erfolgreich zu kommunizieren. In der geschriebenen Sprache übernehmen Design und Typografie die Funktionen des Strukturie-rens und impliziten Qualifizierens. Jede typografische Entscheidung ist mit einer Konnotation verbunden. Oder wie Hans Peter Willberg sagte: „Jede Gestaltung interpretiert, neutrale Typografie gibt es nicht, so wenig wie es neutrales Sprechen geben kann“ (Willberg/Forssman 1997). Design, Makro-

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und Mikrotypografie haben großen Einfluss darauf, ob Inhalte ihr Publikum erreichen.

2 Nach der Zielgruppe fragen

Die gestalterische Umsetzung ist entscheidend für das Gelingen einer barriere-freien Kommunikation. Design fragt immer nach dem Nutzer, analysiert Ziel-gruppen. Bei der Zielgruppe von Leichter Sprache (LS) sind unter Umständen eine eingeschränkte Sehfähigkeit, geringe Lesefähigkeit, langsamere Wahr-nehmung und eine kürzere Konzentrationsspanne zu berücksichtigen. Wie wirkt sich das auf Schriftwahl, Schriftgröße etc. aus? Wenn es um Leser mit kognitiven Einschränkungen geht, gibt es bereits wertvolle empirische Er-kenntnisse aus dem Designbereich wie z.B. die DIN 1450 zu Leserlichkeit (2013), die in den Regelwerken zur LS allerdings keinen Eingang gefunden haben (s. Abb. 1).

Bei der konkreten Umsetzung, der Gestaltung des Magazins „Kultur inklu-sive!“ des Bezirks Oberbayern (2015), sollten mit einer Publikation sowohl geübte Leser auf C2-Niveau wie auch eine heterogene Zielgruppe für LS er-reicht werden.

3 Was Typografie und Design leisten

Eine erste Übersetzung brachte lange Texte, und das Regelwerk (BMAS 2014) verhinderte ein sinnvolles Layout. Unser Team fand in einem pragmatischen Austausch eine gute Lösung. Wir behandelten die LS wie eine zusätzliche Text-ebene, bedienten uns also klassischer typographischer Mittel. In der Magazinge-staltung, im Editorial Design, gehen wir nie davon aus, dass die Rezipienten alle Texte lesen. Ein Bild und eine Headline erregt die Aufmerksamkeit des Lesers. Daraufhin liest er eventuell den Fließtext. Wir legten in „Kultur inklusive!“ die LS-Texte ähnlich an wie Subheadlines oder Zitate. Sie sind nicht redundant mit dem Text in schwerer Sprache, sondern berichten mit anderen Worten und Schwerpunkten. Die Prüfgruppe von einfachverstehen.de testete das Magazin – und befand es für sehr gut. Bis heute gilt es als Referenzprojekt (s. Abb. 2).

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Makrotypografie gliedert und organisiert Text, verteilt die Information auf

der Fläche und setzt visuelle Akzente. Die räumlichen Anordnungsmuster verschiedener Textarten kehren immer wieder. Die makrotypografische Struk-tur gibt eine klare Vorinformation über die Textart. Der Leser erkennt anhand der äußeren Form, ohne den Inhalt zu lesen, ob er eine Überschrift, einen Roman, eine Speisekarte oder eine Gebrauchsanweisung vor sich hat.

Mikrotypografie schafft Hierarchien im Text und erleichtert damit den Re-zeptions- und Verständnisvorgang. Schriftgestaltung, Schriftart, Schriftmi-schung, Schriftgröße, Schriftschnitt, Zeichen-, Wort- und Zeilenabstand – diese Parameter müssen für jede Schrift, jede Zielgruppe und jede Lesesituati-on neu bestimmt werden. Jede Schrift hat zudem eine bestimmte Konnotation, einen Charakter. Wir hatten für das Magazin – übrigens abweichend von den Regeln für Leichte Sprache (BMAS 2014) – eine Serifenschrift verwendet, die „Thesis mix“ mit optimalen mikrotypografischen Einstellungen (s. Abb. 3).

4 Anwendung im Digitalen

Makro- und mikrotypografische Anwendungen kommen auch in den digitalen Medien zum Einsatz. Neuere Entwicklungen in der Typografie wie Webfonts (seit 2009) und Variable Fonts (seit 11/2016)1 verändern momentan die visuel-le Gestaltung der digitalen Medien grundlegend. Neue technische Möglichkei-ten könnten Anwender von Leichter Sprache in der Praxis unterstützen.

Bislang wird im Print- wie im Digitalbereich für Leichte Sprache nur ein ganz schmales Spektrum der typografischen Möglichkeiten genutzt. Das Know-how zu Makro- und Mikrotypografie wird im Regelwerk zur Leichten Sprache (BMAS 2014) nicht erwähnt. Wieso werden in der Praxis nicht sämt-liche Erkenntnisse zur typografischen Gestaltung genutzt?

Praktiker berichten von geringen Budgets für die unangenehme Pflichtauf-gabe LS-Teil. Vieles wird für die Zielgruppe der LS schnell selbst mit Bordmit-teln gelöst, wohingegen die Texte in schwerer Sprache von Profis ins Layout gebracht werden. Dabei bräuchte gerade die Zielgruppe, die Schwierigkeiten beim Aufnehmen von Sprache hat, besondere Unterstützung und damit eine attraktive, zum Lesen einladende Gestaltung.

............................................ 1 Zu näheren Informationen vgl. Wikipedia-Eintrag (o.A. 2016), Hudson (2016) und Typographi-

sche Gesellschaft München (o.J.).

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5 Ein klares Forschungsdesiderat

Wer sich mit der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur LS befasst, wird feststellen: Die visuelle Übersetzung, also Typografie und Design, wird schlichtweg nicht berücksichtigt. Es gibt linguistische, sozial-wissenschaftliche und IT- Forschungsprojekte, jedoch kein Forschungsprojekt im Designbereich. Hier gibt es ein Forschungsdesiderat: Ein Forschungspro-jekt im Designbereich könnte die Disziplinen zusammenbringen und das tradierte Designwissen empirisch überprüfen.

6 Vom Research-through-Design-Ansatz profitieren alle

Praxisbasierte Designforschung beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der visuellen Kommunikation. Sie kann die gestalterischen Implikati-onen der Kommunikation mit Leichter Sprache erforschen. Der Research-through-Design-Ansatz entwickelt, testet und optimiert praktische Anwen-dungen mit der Zielgruppe.

Mit der Hochschule der Künste Bern, die bereits über zehn Jahre Erfahrung in der Designforschung in den Bereichen Health Care Design, Knowledge Visualization und Social Communication verfügt, wollen wir 2017 ein For-schungsprojekt aufsetzen (vgl. auch Hochschule der Künste Bern 2016).

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Literaturverzeichnis

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BMAS (Hg.) (2014): Leichte Sprache. Ein Ratgeber. URL: http://www.bmas.de/DE/ Service/Medien/Publikationen/a752-leichte-sprache-ratgeber.html (letzter Zugriff: 25.1.2017).

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HOCHSCHULE DER KÜNSTE BERN (2016): Kommunikationsdesign. URL: https://www.hkb.bfh.ch/de/forschung/forschungsschwerpunkte/ fspkommunikationsdesign/ (letzter Zugriff: 25.1.2017).

HUDSON, JOHN (2016): Introducing OpenType Variable Fonts. URL: https://medium.com/@tiro/https-medium-com-tiro-introducing-opentype-variable-

fonts-12ba6cd2369#.pl7327t89 (letzter Zugriff: 25.1.2017). O.A. (2016): „Webtypografie“. Wikipedia-Eintrag, zuletzt geändert am 31. August 2016.

URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Webtypografie (letzter Zugriff: 25.1.2017). POOL, ALBERT-JAN (o.J.): Funktionale Serifen? URL:

http://www.designmadeingermany.de/2013/2564/ (letzter Zugriff: 25.1.2017). TYPOGRAPHISCHE GESELLSCHAFT MÜNCHEN (o.J.): Dynamic Font Day 2016. The typo-

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WILLBERG, HANS PETER/FORSSMAN, FRIEDRICH (1997): Lesetypographie. Mainz: Schmidt.

WILLBERG, HANS PETER/FORSSMAN, FRIEDRICH (1999): Erste Hilfe in Typografie. Ratge-ber für Gestaltung mit Schrift. Mainz: Schmidt.

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Anhang

Abb. 1: Vorarbeiten von Albert-Jan Pool2 zur DIN 1450 Leserlichkeit. Entscheidend ist der

Duktus der Schrift. Renaissance-Antiquas sind besser lesbar (ob serif oder grotesk) als

klassizistische Schriften.

............................................ 2 Vgl. auch seinen Artikel zu funktionalen Serifen (Pool o.J.).

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Abb. 2: Doppelseite des Magazins „Kultur inklusive!“ (Bezirk Oberbayern 2015). Aus makro-

typographischer Sicht ist entscheidend, dass die Textebenen klar unterscheidbar sind. Auf

dieser Doppelseite hat man trotz großer Textmengen das Gefühl, drei bewältigbare Blöcke zu

sehen: das Inhaltsverzeichnis links, die Textebene in Leichter Sprache sowie die zwei Textblöcke

in schwerer Sprache.

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Abb. 3: Detail aus Abb. 2. Die Schrift „Thesis mix“ ist gut lesbar, da die Öffnungen der Buch-

stabeninnenräume (1) von a, e und s groß gestaltet sind und die Buchstabenformen sich klar

unterscheiden (das „a“ hat einen komplett anderen Aufbau als das „o“). Die Serifen (2) helfen

zusätzlich die Buchstaben voneinander zu differenzieren und verstärken die Bandwirkung

einer Zeile. Neben dem Kontrast von Schrift zu Hintergrund, Mittellänge der Schrift, Strich-

stärke, Schriftweite und Laufweite ist der optimale Zeilenabstand (3) entscheidend für die Les-

barkeit des Textes.

Sabina Sieghart, Leiterin eines Büros für Kommunikationsdesign in München und Dozentin im Bereich Typografie und Editorial Design an der Fachhoch-schule Salzburg