Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie · 2020. 7. 15. · 16 1 Entwicklungsphysiologie des...

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Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.) Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie

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Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.)

LeitfadenPhysiotherapiein der Pädiatrie

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12 1 Entwicklungsphysiologie des Kindes

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1.1.3 10. bis 18. LebensmonatBei einer idealen motorischen Entwicklung sieht man die verschiedenen hier be-schriebenen Haltungs- und Bewegungsmuster binnen weniger Wochen. Die Rei-henfolge kann dabei variieren.

Reifes Krabbeln – mit 10 LebensmonatenZu Beginn des Krabbeln s mit ca. 8 Le-bensmonaten kann es sein, dass das Kind noch ein unreifes Krabbeln zeigt. Das Becken ist noch nach ventral ge-kippt, die Wirbelsäule in ihren Ab-schnitten nicht physiologisch extendiert und es ist eine assoziierte Dorsalextensi-on der oberen Sprunggelenke bei der Flexionsbewegung der Beine zu beob-achten.Merkmale des reifen Krabbelns (▶ Abb. 1.14):• Kreuzkoordinierte Fortbewegung• Leichte Außenrotation in den

Schlüsselgelenken der Extremitäten• Wirbelsäule um die Körperlängs-

achse gestreckt gehalten• Füße in Plantarfl exion

ZangengriffIm 9. Lebensmonat steht dem Säugling der Zangengriff zur Verfügung. Das Kind greift nun mit den Fingerspitzen von Zeigefi nger und Daumen nach sehr kleinen Gegenständen. Die Endphalan-gen sind dabei gebeugt. Der Daumen ist in Opposition (▶ Abb. 1.15).

Abb. 1.13 Sichere Seitenlage [G705]

Abb. 1.14 Reifes Krabbeln [P236]

Abb. 1.15 Zangengriff mit 10 Lebensmo-naten [G705]

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13 1.1 Ideale motorische Entwicklung

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Langsitz – mit 9–10 LebensmonatenAus dem Bestreben heraus, sich nach oben zu orientieren, kommt das Kind in den Langsitz.Zu den Merkmalen des Langsitz gehö-ren (▶ Abb. 1.16):• Stützpunkte sind die Tubera ossis

Ischii• Die Hände sind frei zum Spielen

und Untersuchen von Gegenstän-den

• Wirbelsäule wird um die Körper-längsachse gestreckt gehalten

Die kleine Stützfl äche in dieser Aus-gangsstellung verlangt dem Kind eine andere Haltungssteuerung gegen die Schwerkraft ab. Den sicheren Langsitz kann das Kind durch fl ießende Bewe-gungen über den Seitsitz einnehmen und auch wieder aufl ösen.

MerkeEin frühzeitiges Hinsetzen des Kindes, ohne dass das Kind diese Position eigenständig einnehmen kann, führt zu einer Überbelastung der Wirbelsäu-le und kann zu Haltungsmängeln führen.

Entwicklung in die Vertikale – mit 10 LebensmonatenZu Beginn zieht sich das Kind über die Arme hoch, die nun mehr als 135° Flexion angehoben werden können, und kommt dann über einen kurzfristigen Kniestand in den Stand. Später erst geschieht das Auf-stehen über die Füße (▶ Abb. 1.17).Zu Beginn dieser Entwicklung zeigen sich folgende Merkmale:• Das Kind orientiert sich zu einer

Seite (Gesichtsseite)• Der Arm dieser Seite greift nach

vorne/oben• Gleichzeitig wird der kontralaterale

Fuß auf Höhe des gesichtsseitigen Knies aufgestellt

• Kreuzkoordiniertes Muster, was in den Raum nach oben transportiert wird

MerkeBei vorangegangenen Asymmetrien ist das Aufstehen häufi g nur über eine Seite zu beobachten. Dies ist dann als abnorm zu bewerten und sollte weiter untersucht werden.

Abb. 1.16 Langsitz [P236]

Abb. 1.17 Aufstehen aus dem Fortbewe-gungsmuster des Krabbelns [P236]

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Seitliches Gehen – mit 10–11 LebensmonatenDas seitliche Gehen ist ein kreuzkoordiniertes Fortbewegungsmuster.Wir sehen immer wieder eine trianguläre Stützfl äche zwischen den Extremitäten. Die Fortbewegung ist zu beiden Seiten möglich und wird über die Arme eingelei-tet. (▶ Abb. 1.18)

MerkeDie Füße sollten beim Seitlichen Gehen nach vorne schauen. Dreht der Kör-per bei der Fortbewegung konstant zu einer Seite auf, ist dies als abnorm zu bewerten und sollte genauer untersucht werden.

Aufdrehen in den Raum mit 11 LebensmonatenDas Kind braucht nun nur eine Hand zum Halten, sodass es sich mit dem Körper in den Raum aufdrehen kann (▶ Abb. 1.19). Dies sollte über beide Seiten gleicher-maßen möglich sein.

„Küstenschifffahrt“ mit 10–12 LebensmonatenDas Kind kann nun bei dem seitlichen Gehen von einem Gegenstand zum ande-ren übergreifen (▶ Abb. 1.20).

Abb. 1.18 Seitliches Gehen [P236] Abb. 1.19 Aufdrehen in den Raum [P236]

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15 1.1 Ideale motorische Entwicklung

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Freies Gehen mit 12–18 Lebensmo-natenBei den ersten freien Gehschritten wird sich das Kind in die Arme der Eltern retten. Häufi g ist zu Beginn ein Anhal-ten und auch Richtungswechsel nicht möglich.Erst nach einiger Zeit ist es möglich zu stoppen oder die Richtung zu wechseln. Nun spricht man vom freien Gehen (▶ Abb. 1.21). Tipps zum ersten Schuhkauf ▶ 5.4.

Klinischer Hinweis• Eine Ventralkippung des Be-

ckens ist bis zum 3. Lebens-jahr ein physiologischer Aus-druck des freien Gehens.

• Ein Knick-Senkfuß kann bei einem gesunden Kind bis zum 3. Lebensjahr als physiolo-gisch bewertet werden.

• Das Armpendel entsteht erst Monate nach Beginn des frei-en Gehens.

1.1.4 Älter als 18 LebensmonateDer Grundstein der motorischen Entwicklung ist gelegt. Das Kind nutzt und fes-tigt seine motorischen Fähigkeiten, um seine Neugier an der Umgebung zu stillen.

3. LebensjahrBei der bipedalen Fortbewegung ist bei dem Kind nun ein Quer- und Längsgewöl-be des Fußes zu erkennen. Das Becken steht beim freien Gehen in einer Mittelstel-

Abb. 1.20 Küstenschiffahrt [G705]

Abb. 1.21 Freie bipedale Fortbewegung (die ersten Schritte) [P236]

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lung. Mit 3 Jahren kann das Kind auf einer Seite länger als 3 Sekunden auf einem Bein stehen und kleine Sprünge machen.Am Ende des dritten Lebensjahres ist eine erste Fangbereitschaft eines Balles mit beiden Händen zu erkennen.

4. LebensjahrMit 4 Jahren kann das Kind auf beiden Seiten länger als 3 Sekunden auf einem Bein stehen und mit geschlossenen Beinen springen. Das Kind kann nun die Treppe frei reziprok rauf- und runtergehen.

LiteraturEbelt-Paprotny G, Preis R. Leitfaden Physiotherapie. 6. A. München: Elsevier/Urban u.

Fischer, 2012.Illing S, Claßen M. Klinik Leitfaden Pädiatrie. 9. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer,

2013.Kienzle-Müller B, Wilke-Kaltenbach G. Babys in Bewegung. 1. A. München: Elsevier/

Urban u. Fischer, 2008.Orth H. Das Kind in der Vojta-Therapie. 3. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer,

2017.Vojta V. Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter. 9. A. Internationale

Vojta Gesellschaft e. V., 2017.Vojta V, Schweitzer E. Die Entdeckung der idealen Motorik. 1. A. München: Pfl aum,

2009.Zukunft-Huber B. Der kleine Fuß ganz groß. 2. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer,

2011.

1.2 Psychomotorische EntwicklungStephanie Burgenger

Die Psychomotorik befasst sich mit der Verbindung von körperlich-motorischen und psychisch-geistigen Prozessen. Das Zusammenspiel von Bewegung und Wahrnehmung beeinfl usst sowohl die motorische als auch die sozial-emotionale Entwicklung.

Entwicklungsverlauf von psychomotorischen Fähigkeiten• Neuromotorik (bis 3. LM): Frühkindliche Reaktionen stehen im Vorder-

grund (▶ 1.1.1)• Sensomotorik (ab dem 3. LM): Verbindung von Wahrnehmung und Bewe-

gung, koordinative Fähigkeiten entwickeln sich (erste koordinative Fähigkei-ten sind: Hand-Hand-Koordination, Hand-Mund Koordination, Hand-Knie-Koordination, Hand-Fuß-Koordination ▶ 1.1.1)

• Psychomotorik (intensiv im 2. und 3. LJ):– Verbindung von Bewegung und Psyche – Gefühle werden stark motorisch

ausgedrückt (z. B. Wutausbrüche mit auf den Boden werfen)– Entwicklung der Ich-Kompetenz steht im Vordergrund Abgrenzung

von anderen Personen• Soziomotorik (ab dem 3. LJ – bis zum Schulalter): Ein angepasstes und an-

gemessenes Verhalten gegenüber anderen Personen/in Gruppen entwickelt sich zur Sozialkompetenz.

Bewegung ist die Voraussetzung für eine ganzheitliche Entwicklung. Durch die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt kann diese erst begriff en und wei-tere Kompetenzen erworben werden (▶ Tab. 1.1).

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17 1.2 Psychomotorische Entwicklung

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Das Durchführen von Tätigkeiten beinhaltet verschiedene Funktionen, durch die das Kind sich in unterschiedlichen Bereichen weiterentwickeln kann (▶ Tab. 1.2).Dabei können sich in ein und derselben Handlung mehrere Funktionen überlap-pen bzw. ergänzen.

Tab. 1.1 Entwicklung aufgrund von Bewegungserfahrungen

Entwicklungs-bereich

Fähigkeiten

Sensorische Entwicklung

• Orientierung zur Zeit, zum Raum und an Personen• Informationsaufnahme und -verarbeitung von sensorischen Rei-

zen (auditiv, visuell, olfaktorisch, gustatorisch, taktil, vestibulär, propriozeptiv, räumlich-visuell)

• Körperschema

Körperliche Entwicklung

• Entwicklung von Muskulatur, Kraft, Ausdauer, Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit

Motorische Entwicklung

• Körperorganisation• Handlungs- und Bewegungsplanung• Koordinative Fähigkeiten

Kognitive Entwicklung

• Aufmerksamkeit fokussieren und lenken• Abstraktionsvermögen• Kognitive Flexibilität (ändern von Strategien und Denkansätzen,

Problemlösestrategien)• Sprachliche und mathematische Kompetenzen• Einfache und Mehrfachaufgaben übernehmen und bearbeiten• Merkfähigkeit

Emotionale Entwicklung

• Psychische Stabilität (Ausgeglichenheit, Ruhe)• Selbstvertrauen• Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen• Motivation• Impulskontrolle• Frustrationstoleranz

Soziale Entwicklung

• Adaptationsfähigkeit – auf neue Erfahrungen/Situationen ange-messen agieren bzw. reagieren

• Eigene Bedürfnisse erkennen, durchsetzen und zurückstellen• Verantwortung übernehmen• Rücksichtnahme/Toleranz• Regelverständnis

Tab. 1.2 Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern

Personale Funktionen

Den eigenen Körper und damit sich selbst besser kennenlernen, sich mit den körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen und ein Bild von sich selbst entwickeln

Soziale Funktionen

Mit anderen gemeinsam etwas tun, mit und gegeneinander spie-len, sich mit anderen absprechen, nachgeben und durchsetzen

Produktive Funktionen

Selbst etwas machen, herstellen, mit dem eigenen Körper etwas hervorbringen (z. B. eine sportliche Fertigkeit wie einen Handstand oder einen Tanz)

Expressive Funktionen

Gefühle und Empfi ndungen in Bewegung ausdrücken, körperlich ausleben und ggf. verarbeiten

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18 1 Entwicklungsphysiologie des Kindes

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LiteraturAyres AJ. Bausteine der kindlichen Entwicklung. 4. A. Berlin: Springer; 2002.Zimmer R. Handbuch der Bewegungserziehung. Grundlagen für Ausbildung und päd-

agogische Praxis. Freiburg: Herder; 2014.

1.3 Feinmotorische EntwicklungMaike Heidtmann

Die Entwicklung der feinmotorischen Fähigkeiten beginnt mit dem Tag der Ge-burt und wird in Kapitel ▶ 1.1 zur motorischen Entwicklung gesondert dargestellt.In diesem Kapitel geht es um die fein- und grafomotorische Entwicklung ab dem 12. Lebensmonat:• Feinmotorik : motorischen Fähigkeiten eines Kindes bezogen auf seine Fin-

ger, Zehen und Gesicht (sehr präzise, kleine Bewegungen, bei denen Kraft do-sierung eine große Rolle spielt)

• Grafomotorik : Stift haltung und Strichführung (Schreiben und Malen sind komplexe, feinmotorische Tätigkeiten, welche eine diff erenzierte, manuelle Koordination voraussetzt)

12. Monat bis 18. MonatDas Kind versucht, Gegenstände mit den Händen zu untersuchen. In dieser Zeit bilden sich zwei wichtige Vorläuferfertigkeiten zum Schreiben heraus. Das ad-äquate Festhalten und Loslassen.

Feinmotorische Entwicklung• Das Kind isst mit dem Löff el im Faustgriff und• Legt das Essen mit den Fingern auf den Löff el.• Zwei Klötzchen können nach Auff orderung und Zeigen aufeinandergesetzt

werden.• Gegenstand wird in ein Gefäß gelegt oder herausgeholt.• Kind gibt Gegenstand auf Verlangen aus der Hand („Bitte-Danke“-Spiel).• Komplexere feinmotorische Verrichtungen gelingen (z. B. Auspacken eines

Bonbons).

Tab. 1.2 Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern (Forts.)

Impressive Funktionen

Gefühle wie Lust, Freude, Erschöpfung sowie Energie empfi nden und in Bewegung erfahren

Explorative Funktionen

Die dingliche und räumliche Umwelt kennenlernen und sich er-schließen, sich mit Objekten und Geräten auseinandersetzen und ihre Eigenschaften erfassen, sich den Umweltanforderungen an-passen bzw. sie sich passend machen

Komparative Funktionen

Sich mit anderen vergleichen, sich mit anderen messen, wetteifern und dabei sowohl Siege verarbeiten als auch Niederlagen ertragen lernen

Adaptive Funktionen

Belastungen ertragen, die körperlichen Grenzen kennenlernen und die Leistungsfähigkeit steigern, sich selbst gesetzten und von au-ßen gestellten Anforderungen anpassen

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19 1.3 Feinmotorische Entwicklung

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Grafomotorische Entwicklung• Kritzeleien entstehen unwillkürlich.• Das Kind beginnt sich für Mal- und Schreibutensilien zu interessieren, wenn

andere Personen diese zum Malen und Schreiben benutzen (Nachahmungs-verhalten).

• Es wird versucht, in verschiedensten Körperpositionen zu malen.• Beim Kritzeln wird das obere Ende des Schreibgeräts umfasst, der Unterarm

ist hierbei nicht auf dem Tisch bzw. auf der Unterlage abgelegt.

1,5 bis 2 JahreIn dieser Zeit wird beim Spielen eine Hand bevorzugt und die andere Hand zum Halten genutzt.

Feinmotorische Entwicklung• Große Perlen können aufgefädelt werden.• Buchseiten können umgeblättert werden.• Aufschrauben von Gefäßen beginnt.• Kind trinkt alleine beidhändig aus einem Becher.

Grafomotorische Entwicklung• Stift wird noch zwischen beiden Händen gewechselt, wobei keine Hand unbe-

dingt als Haltehand dient.• Die bleibende Linie wird entdeckt.• Striche werden immer wieder neu begonnen, es kommt jedoch noch zu kei-

ner gezielten Verbindung.• Kreisende Linien zeigen eine sich weiter entwickelte Motorik.• Schreibbewegungen werden aus Schulter- und Ellenbogengelenk geführt.

2 JahreIn dieser Zeit zeigt sich deutlicher, welche Hand die Kinder als Arbeitshand und welche als Haltehand verwenden. Hand und Augen arbeiten für kurze Sequenzen koordiniert zusammen.

Feinmotorische Entwicklung• Die ersten Bauten aus Duplo Steinen gelingen nun sicher.• Das Kind kann den Deckel einer Flasche oder einen Wasserhahn auf-und zu-

drehen.

Grafomotorische Entwicklung• Blattfüllende Spiralen entstehen.• Das Kind versucht, aus Spiralen einen Kreis zu malen.

3 JahreIn dieser Zeit beginnt vermehrt der Gebrauch von Papier, Stift en und Kleber.

Feinmotorische Entwicklung• Das Kind öff net und schließt große Knöpfe und Reißverschlüsse,• malt verstärkt im Dreipunktgriff ,• schneidet mit der Schere großzügige Formen und• kann mit Papier und Kleber basteln.

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5.6 Craniomandibuläres SystemHeidi Orth, Corinna E. Zimmermann

Zum craniomandibulären System gehören:Im engeren Sinne• Oberkiefer (OK/Maxilla)• Unterkiefer (UK/Mandibula)• Zähne• Zunge• Kiefergelenke (KG) mit Gelenkkapsel und Bändern• die sie bewegenden MuskelnIm weiteren Sinne• Wechselbeziehungen zu Wirbelsäule (WS) und ZNS

MerkeMaxilla, Mandibula und Kiefergelenk bilden eine Funktionseinheit mit dem Cranium. Deshalb wird diese Funktion als Craniomandibuläre Funktion, ihre Störung als Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD ) bezeichnet.

5.6.1 Postnatale Gebissentwicklung in drei PhasenMilchgebissphase (Geburt bis 2,5. Lebensjahr, LJ)• Durchbruch der Milchzähne, danach Ruhephase, lediglich Attrition (Zahnab-

rieb), Lückenbildung• Bisshebung im 14.–18. Lebensmonat (LM) (Vergrößerung des Abstands OK/

UK)Frühe Wechselgebissphase (5.–8. LJ)• Durchbruch der Inzisivi und 1. Molaren (6-Jahr-Molaren)• Bisshebung• Wechsel vom Kleinkind zum Kind, danach RuhephaseSpäte Wechselgebissphase (10.–13. LJ)• Wechsel der Stützzone (Seitenzahnbereich)• Durchbruch der 2. Molaren (12-Jahr-Molaren)• Bisshebung• Wechsel vom Kind zum Jugendlichen• Durchbruch der Weisheitszähne erst nach dem 16. LebensjahrDie Okklusion (Schlussbiss mit maximalem Zahnkontakt) verändert sich in die-sen drei Phasen (▶ Abb. 5.16). Danach erfolgt eine selbstregulierende Feineinstel-lung der Okklusion im bleibenden Gebiss:• Der Aufb au der Okklusion vollzieht sich zwischen dem 10. und 15. LJ. Dabei

sind Abweichungen von bis zu 3 Jahren möglich. In dieser Zeit steigt die Inzi-denz craniomandibulärer Funktionsstörungen.

• Die Entwicklung der Kieferform und der Zahnstellung hängt wesentlich von gesunden Milchzähnen, der Zungenlage und ihrer Funktion sowie dem Schluckvorgang ab.

• Eine normale Okklusion kann sich bei gestörter Funktion nicht einstellen. Okklusale Störungen sind oft Folge, nicht Ursache einer CMD.

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243 5.6 Craniomandibuläres System

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5.6.2 Funktionelle Anatomie von Kiefergelenk und KaumuskulaturDie Kenntnis der funktionellen Anatomie des Kiefergelenks und der relevanten (Kau-) Muskulatur ist für das Verständnis einer CMD essenziell.

KiefergelenkDie Kiefergelenk e (KG) sind über die Mandibula miteinander verbunden und be-wegen sich in Abhängigkeit voneinander. Sie verbinden die (bewegliche) Mandi-bula mit dem Cranium. Da sie in direkter Wechselbeziehung mit den Funktionen des cranio-zervikalen Übergangs von C0, C1 und C2 (den sog. „Kopfgelenken“) stehen, können die KG funktionell als „oberstes Kopfgelenk“ angesehen werden.Aufb au• Gelenkpfanne (Fossa glenoidalis) mit Tuberculum articulare des Os tempora-

le• Gelenkkopf/Kondylus (Caput mandibulae des Processus condylaris)• Diskus (Discus articularis) gleicht die inkongruenten Kontaktfl ächen aus und

teilt das Gelenk in ein oberes und unteres Kompartiment. Er ist mit Bändern mit der Gelenkkapsel verbunden:– Posteriores Band (bilaminäre Zone, reich an Gefäßen/Nervenendigungen)– Anteriores Band (verbunden mit Gelenkkapsel und M. pterygoideus late-

ralis)

Abb. 5.16 Milchgebiss und Erwachsenengebiss, jeweils mit Durchbruchzeitpunkt der einzelnen Zähne [L190]

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244 5 Störungsbilder in der Orthopädie

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• Gelenkkapsel aus elastischen Fasern umfasst locker und weit das Gelenk und wird durch die Bindegewebszüge des Ligamentum mediale und laterale ver-stärkt

• Weitere Bänder: Ligg. stylomandibulare und sphenomandibulare

FunktionBei Mundöff nung, Protrusion, Laterotrusion fi nden folgende Bewegungen statt (▶ Abb. 5.17):• Rotation um eine Transversalachse im unteren Kompartiment zwischen Dis-

kus und Kondylus und• Translation in der Sagittalen im oberen Kompartiment zwischen Fossa/Tu-

berculum und Diskus

MerkeEine Bewegung in einem KG geht immer mit einer Bewegung des kontra-lateralen Gelenks einher.

Beim Kauen (Mastikation) fi ndet eine komplexe rhythmische dreidimensionale Bewegung in beiden Kiefergelenken statt. Die Auf- und Ab-Bewegung wird dabei mit einer Seitwärtsbewegung kombiniert.Der Kauakt dient dabei der• Zerkleinerung von fester Nahrung,• Bildung eines schluckbaren Bissens (Bolus) und der• Durchmischung des entstehenden Speisebreis mit Speichel als Vorbereitung

der Verdauung.

a

b

c

Abb. 5.17 Bewegungsablauf im Kiefergelenk (KG): schematische Darstellung des rech-ten KG bei Mundöffnung (von links nach rechts) und Mundschließen (von rechts nach links)a) Normaler Bewegungsablauf im KGb) Bewegungsablauf bei anteriorer Diskusverlagerung mit Reposition des Kondylusc) Bewegungsablauf bei anteriorer Diskusverlagerung ohne Reposition des Kondy-lus und Blockade der Translationsbewegung [P487/L231]

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MerkeJede Bewegung der Mandibula wird über die Kopf-/Halsmuskulatur stabili-siert. Störungen der Kopf- und Körperhaltung beeinfl ussen regelmäßig die Kaumuskulatur.

KaumuskulaturDie folgende Tabelle zeigt die Funktion der Kaumuskulatur für die Unterkieferbe-wegungen (▶ Tab. 5.11):

5.6.3 Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)Eine CMD ist eine Funktionsstörung von Kaumuskulatur, Kiefergelenk und/oder Okklusion und den dazugehörigen Strukturen im Mund-, Kopf- und Halsbereich.

KlinikSchmerzen:• Kaumuskel-/Kiefergelenkschmerz• Parafunktioneller Zahnschmerz• Übertragener Gesichtsschmerz in Schläfe, Auge, Ohr, Wange, ZähnenFunktionsstörungen:• Schmerzhaft e oder nicht schmerzhaft e Bewegungseinschränkungen (asym-

metrische oder eingeschränkte Mundöff nung, MÖ)• Hypermobilität oder Koordinationsstörung im KGGeräusche bei Funktion:• Knacken/Knirschen im KGVorkontakte und Gleithindernisse der Zähne bei:• Okklusion• ArtikulationMissempfi ndungen:• Taubheitsgefühl• Brennen der Mundschleimhaut/Zunge• Globusgefühl im Hals• Engegefühl beim Atmen

Tab. 5.11 Funktion der Kaumuskulatur

Muskel Mund-schluss

Mund-öffnung

Pro-trusion

Re-trusion

Latero-trusion

M. masseter pars superfi cialis X X X

M. masseter pars profunda X

M. temporalis anterior X

M. temporalis medialis et posterior X X

M. pterygoideus medialis X X

M. pterygoideus lateralis X X X

M. digastricus X X X

Infrahyoidale Muskulatur X X

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• Schluckbeschwerden• Tinnitus• Schwindel

Klinischer HinweisDas Vorliegen einer CMD ist wahrscheinlich, wenn mindestens zwei der fol-genden Symptome vorliegen:• Schmerzen der Kaumuskulatur• Limitationen bei der Mundöff nung• Kiefergelenkgeräusche• Störungen der OkklusionBei Kindern und Jugendlichen sind CMD-bedingte Schmerzen der Kaumus-kulatur im Vergleich zum Erwachsenen eher selten. Sie treten meist tempo-rär auf und sind physiotherapeutisch gut behandelbar.

EpidemiologieMindestens 5 % der Kinder und Jugendlichen haben unerkannte Kiefergelenkprob-leme. Die Prävalenz von CMD bei Kindern nimmt kontinuierlich vom Kleinkind zum Jugendlichen zu, v. a. ab dem10. LJ (von 10 % im 10. LJ auf 30 % im 15. LJ), pa-rallel zur Gebissentwicklung. Aus präventiver Sicht gilt es, möglichst frühzeitig ätio-logische Faktoren einer CMD zu erkennen, da unerkannte Funktionsstörungen im (frühen) Kindesalter ein Risiko für eine CMD beim Erwachsenen darstellen können.

ÄtiologieEine CMD ist stets multifaktoriell (anatomisch, funktionell, bio-psycho-sozial) bedingt. Mögliche Ursachen sind:Arthrogen:• Fehlbildungen• Entzündungen• Verlagerungen des Kondylus• Diskopathie• Degenerative Veränderungen• Systemische ErkrankungenMyogen:• Dysfunktion von Kau- und Kauhilfsmuskulatur• Erhöhter TonusOkklusal:• Störungen der Okklusion• Parafunktionen (Sammelbegriff für einen nicht natürlichen Gebrauch des

Kauorgans)Vertebragen:• Fehlhaltungen/Fehlfunktionen, v. a. der HWS• Cranio-zervikale Dysfunktion• Cranio-sakrale DysfunktionPsychogen:• Emotionaler Stress (z. B. hohe Ansprüche an sich, Selbstständigkeitskonfl ikt,

mangelndes Selbstwertgefühl, Missbrauch)• Frühere Schmerzerfahrungen• Depression• Posttraumatische Belastungsstörung

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247 5.6 Craniomandibuläres System

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Weitere potenzielle Faktoren:• Symmetriestörungen (genetisch bedingt oder erworben)• Fehlbildungen (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kiefergelenkankylose)• Syndrome (z. B. Down [▶ 9.1], Pierre-Robin, Marfan [▶ 9.6])• Zentrale Koordinationsstörungen mit und ohne Asymmetrie (▶ 6.1)• Infantile Zerebralparesen (z. B. Spastik, Dyskinesie [▶ 6.1])• Habits (z. B. Wangen-/Lippensaugen, Zungenpressen)• Durchbruch der Weisheitszähne

Klinischer HinweisDen häufi gsten Funktionsstörungen des Kiefergelenks liegt eine gestörte Vorschubbewegung des Komplexes Fossa/Tuberculum-Diskus-Kondylus zugrunde. Hier besteht die Gefahr der• Kondylusluxation bei MÖ durch Hypermobilität des Kondylus (Kondy-

lushypermobilität) und der• Diskusluxation (gestörte Ruhelage des Diskus) mit/ohne Reposition des

Kondylus bei MÖ.

ExpertenwissenVor einer kieferorthopädischen Behandlung (KFO) sollte eine CMD ausge-schlossen werden, denn eine latente CMD kann sich im Rahmen einer KFO verschlechtern. Die KFO ist jedoch nicht die Ursache der Störung.

Ärztliche DiagnostikSiehe auch unten: Physiotherapeutischer BefundDentale Befunde:• Massive, nicht alterstypische Abrasionen (Schliff facetten)• Veränderter Okklusionsschall• Verlust der Eckzahnführung• Okklusionshindernisse bei Laterotrusion• Vorkontakte, Balancekontakte• Anterior oder seitlich off ener Biss• Einseitiger KreuzbissBildgebende Diagnostik (Röntgen, MRT) indiziert bei:• Fehlbildungen• Verlagerungen des Kondylus• Diskopathie• Degenerativen Veränderungen• TumorenDiff erenzialdiagnosen:• Neuralgien• Entzündungen innerhalb/außerhalb des Kausystems• Kopfschmerzen anderer Genese:

– Vaskuläre Erkrankungen (inkl. Migräne ([▶ 6.5])– Medikamenteninduzierter Kopfschmerz– Spannungskopfschmerz– Nicht korrigierte Refraktionsanomalien (Fehlsichtigkeit)

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248 5 Störungsbilder in der Orthopädie

5

5.6.4 Arthrogene Befunde einer CMD

Retralverlagerung des Kondylus• Die Retralverlagerung des Kondylus ist die häufi gste funktionelle KG-Störung

bei Kindern und Jugendlichen.• Sie führt zu einer höheren Belastung der bilaminären Zone mit Ausdünnung

des posterioren Bandapparates und kann eine anteromediale Diskusverlage-rung (DV) ▶ Abb. 5.17 zur Folge haben.

Befunde:• Intraartikuläre Druckempfi ndlichkeit• Initiales Knacken in einem/beiden KG• Limitation der UK-Bewegung, Defl exion, Deviation• Hohe Aktivität der UK-Retraktoren (M. digastricus, M. temporalis pars pos-

terior, suprahyoidale Muskulatur)• Tiefer Biss (refl ektorische Retrallage des Kondylus)• Vorkontakte im Frontzahnbereich• Typischerweise gleitet der UK beim Sprechen nach ventral

Ärztliche Behandlung• Bei Retralverlagerung mit anteromedialer DV ohne Reposition: umgekehrter

Hippokrates-Griff • Bei Retralverlagerung mit anteromedialer DV mit Reposition: Positionie-

rungsschiene im UK ganztägig über 3–6 Monate, UK dabei leicht ventral der Position des Knackens

Posteriore Diskusverlagerung• Die posteriore Diskusverlagerung liegt meist bei Hypermobilität eines oder

beider KG durch starke Belastungen (Kirschen, Pressen) vor.• Der Kondylus befi ndet sich bei MÖ vor dem Diskus und reponiert in Okklu-

sion wieder.Befunde:• Intermediäres bis terminales Knacken• Der Ausschluss einer anteromedialen DV erfolgt durch ein MRT!

Ärztliche Behandlung• Bewegungsraum des Kondylus begrenzen• KG entlasten• Äquilibrierungsschiene in zentrischer Kondylenposition

Kiefergelenkkompression und Osteoarthrose• Eine Kiefergelenkkompression mit strukturellen Veränderungen im Sinne ei-

ner Osteoarthrose ist auch bei Kindern möglich!Befund: Steifi gkeit der KG beim Aufwachen (v. a. nach nächtlichem Knirschen und Pressen)

Ärztliche Behandlung• Antirheumatika• Entspannungsübungen• Physiotherapie• Dekompressionsschiene (betroff enes Gelenk 0,3–0,9 mm; gesundes Gelenk

0,3–0,6 mm) für 2–6 Wochen 24 Stunden pro Tag, danach nur noch bei ho-her Belastung durch Pressen oder Knirschen

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249 5.6 Craniomandibuläres System

5

BruxismusBruxismus ist eine vom Hirnstamm initiierte, autonome rhythmische Kaumus-kelaktivität, die zu Knirschen oder Pressen zwischen den Zähnen bzw. zum Pres-sen der Kiefer aufeinander führt. Man unterscheidet:Schlafb ruxismus:• In Verbindung mit Schlaf-Arousal-Reaktionen• Zur Sicherung geöff neter Atemwege• Bei Kindern häufi g: Prävalenz zwischen 14–18 %Wachbruxismus:• Im Kleinkindalter physiologisch (Feinabstimmung der Okklusion)• Mit Durchbruch der bleibenden Zähne sollten die Knirschgeräusche rückläu-

fi g sein

Ärztliche BehandlungZum Schutz der Zahnhartsubstanz und zur Entlastung der KG kann im bleiben-den Gebiss eine Aufb issschiene eingesetzt werden.

Klinischer HinweisBruxismus kann bei Kindern und Jugendlichen ein Zeichen von Stress (An-spannung, Angst, Überforderung) sein. Bei Zerebralparesen ist Bruxismus durch die zentrale Koordinationsstörung bedingt.Ob Bruxismus ein Risikofaktor für die Entstehung einer CMD ist, wird kontrovers diskutiert, es besteht kein linearer Ursache-Wirkungs-Zusam-menhang.

Physiotherapeutischer BefundAnamnese:• Allgemeine Erkrankungen, Wirbelsäulenerkrankungen (▶ 5.5)• Trauma (inkl. Operationen), Tinnitus, Schwindel, Schnarchen, Schlaf-/

Wachbruxismus• Störung der Sprechmotorik• Fehlbildungen (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kiefergelenkankylose)• Vorzeitiger Milchzahnverlust, kieferorthopädische Behandlung, bevorzugte

Kauseite (einseitig), Zahnelongation• Schmerzen beim Abbeißen, Kauen, Öff nen des Mundes, in der Schläfenregi-

on, im Schulter/Nackenbereich, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Schluckbe-schwerden

• Informationen aus der frühkindlichen motorischen Entwicklung können zu-sätzliche Hinweise auf „eingeübte“ motorische Fehlfunktionen geben:– Besonderheiten bei der Geburt (z. B. Zange, Saugglocke)– Asymmetrien in der Körper-/Kopfh altung– Blockierung/Einschränkung der Kopfdrehung (z. B. zu einer Seite)– Auff älligkeiten der Mundmotorik (Nahrungsaufnahme, Lautbildung), ge-

störtes Schluckverhalten– Schnuller nach dem 2. LJ

Inspektion:• Beurteilung der spontanen Haltung und Bewegung: Stellung von Becken, WS,

Schultergürtel und Kopf in der Frontal-/Sagittalebene (▶ 1.1, ▶ 2.4)• Gestörter Kau- und/oder Schluckakt, viszerales Schlucken nach dem 4. LJ,

(physiologisch bis zum 3. LJ, ▶ 1.4)• Wangen-, Lippen-, Zungen-Impressionen bei Habits

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250 5 Störungsbilder in der Orthopädie

5

Palpation:• Schmerzen und/oder erhöhter Tonus/Triggerpunkte der Kau-, Kauhilfs-,

Hals-, Schulter- und Nackenmuskulatur bei Palpation• Passive Endbeweglichkeit des KG („Endgefühl“):

– Weich-elastisch (= Muskulatur)– Fest-elastisch (= Bandapparat)– Hart-elastisch (= Knorpel)– Hart-unelastisch (= Knochen)

• Kiefergelenkgeräusche (Palpation über Kondylus, Knacken und/oder Reiben):– Bei Diskusverlagerung durch Vor- oder Rückbewegung des Kondylus

über das posteriore Band des Diskus entsteht ein „hartes Knacken“– Bei Kollision des gespannten Lig. laterale mit dem lateralen Kondyluspol

entsteht ein „weiches“ Knacken– Bei Schädigung bis hin zur Perforation des Diskus durch Knirschen und/

oder Pressen entsteht ein „Reiben“, hart-unelastisch (= Knochen)Funktionsüberprüfung:• Eingeschränkte Beweglichkeit der HWS: Flexion, Extension, Rotation, Seit-

neigung (aktiv, passiv, resistiv)• Eingeschränkte MÖ (< 33 mm Schneidekantendistanz)• Asymmetrische MÖ (Deviation oder Defl exion > 2 mm gegenüber Vertikalen)• Eingeschränkte Vor- und Seitbewegung des UK

PhysiotherapieZieleDie Ziele müssen dem Alter entsprechend angepasst werden:• Lösen von Weichteilblockaden• Aktivieren des Schluckakts (Koordination) in Wechselfunktion mit dem Sta-

bilisieren der Haltung in WS, Schultergürtel, Becken• Muskuläres Gleichgewicht in Körper-Kopf-Haltung/Bewegung herstellen

und stabilisieren• Schmerzen reduzieren• Gelenkfunktion koordiniert aktivieren• Strukturelle Veränderungen des KG und der umgebenden Strukturen (wie

Muskulatur, Bänder und Faszien) verhindern• Kauen und Schlucken während der Nahrungsaufnahme bewusstmachen und

ggf. verändern

MaßnahmenKleinkinder• Osteopathie (▶ 3.4); Manualtherapeutische Techniken (▶ 3.3)• Vojta-Th erapie, Stimuli/Widerstand am Kopf (Kausystem als Teilmuster im

globalen Muster beachten) (▶ 3.2)Kinder, JugendlicheVorbereitende physikalische Maßnahmen:• Wärme (z. B. Infrarot, „heiße“ Rolle bei verspannter Muskulatur)• Kälte (z. B. Eiswasserpackung bei Entzündungen, Schwellungen)• MassagetechnikenPhysiotherapeutische Maßnahmen:• Manualtherapeutische Techniken (▶ 3.3); Osteopathie (▶ 3.4)• Vojtatherapie (Kausystem als Teilmuster des globalen Körpermusters aktivie-

ren, Stimuli und Widerstände am Kopf) (▶ 3.2)

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251 5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder

5

• Haltungs- und Bewegungsschulung• Häusliches Übungsprogramm

LiteraturAhlers MO. Jackstat HA. Zahnärztliche klinische Funktionsanalyse. In: Ahlers MO, Jack-

stat HA (Hrsg.) Klinische Funktionsanalyse. Hamburg: dentaConcept, 2011. S. 141–291.

Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie: Bruxismus: Ätiologie, Diagnostik und Therapie. http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/DGFDT_Wissenschaftliche_Mitteilung_Bruxismus.pdf (letzter Zugriff: 14.1.2018)

Friedrich P., Waschke J. Sobotta, Atlas der Anatomie. 24. A. München: Elsevier, 2017.Fernandez de Sena M et al. Prevalence of temporomandibular dysfunction in children

and adolescents. Rev Paul Pediatr 2013; 32 (4): 538–45.Freesmeyer WB, Jenatschke F. Beziehungen zwischen kieferorthopädischer Therapie

und Kiefergelenk – Vorgehen in der täglichen Praxis. Kieferorthop. 2005; 19 (3): 223–230.

Kohlbach W. Anatomie der Zähne und des kraniofazialen Systems. 1. A. Berlin: Quintessence, 2007.

England M. A. Farbatlas der Embryologie. 1. A. Stuttgart: Schattauer, 1985.Orth H. Das Kind in der Vojta-Therapie. 3. A. München: Elsevier, 2017.

5.7 Andere orthopädische KrankheitsbilderNina Derkum, Ute Hammerschmidt, Janine Koch

Die Krankeitsbilder dieses Kapitels wurden nach ihrer klinischen Relevanz ausge-sucht. Sowohl die Arthrogryposis multiplex congenita als auch die Osteogenesis imperfecta verlangen ein interdisziplinäres Behandlungskonzept mit funktionie-renden Schnittstellen. Die Alltagsrelevanz kindlicher Frakturen steht außer Frage.

5.7.1 Arthrogryposis multiplex congenitaDie Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) kann in sehr unterschiedlicher Ausprägung auft reten und ist nicht heilbar. Sie verläuft nicht progredient und kommt etwa einmal auf 3.000 Geburten vor. Typisch sind Kontrakturen, die je nach Krankheitstyp an allen Gelenken auft reten können.

ÄtiologieDie Ursachen sind vielfältig:• Punktmutation am Zinkfi nger-Gen• Pränatale Infektionen• Medikamente in der Schwangerschaft • Zentral bedingt/Fehlbildung von Nerven

KlinikDie unterschiedlichen Ausprägungsgrade können folgendermaßen klassifi ziert werden:• Typ 1: normale geistige und sensorische Entwicklung, keine weiteren Fehlbil-

dungen– Typ 1a: betroff en sind vor allem Hände und Füße– Typ 1b: betroff en sind die Extremitäten inkl. Schultern und Hüft en

• Typ 2: zusätzlich weitere Fehlbildungen an Blase, Kopf, Wirbelsäule, Bauch-decke

• Typ 3: zwingend Wirbelsäulenfehlbildungen, Fehlbildungen des ZNS

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252 5 Störungsbilder in der Orthopädie

5

Symptome:• Kontrakturen der Gelenke, häufi g der Extremitäten• Skoliose (primär, sekundär durch die Kontrakturen anderer Gelenke [▶ 5.5.4])• Muskelatrophien (▶ 6.3.1)• Motorische Entwicklungsverzögerung

Ärztliche DiagnostikNeben der Ursachenforschung (genetische Untersuchung, Untersuchung auf prä-natale Infektionen) steht die Suche nach verdeckten Fehlbildungen im Vorder-grund. Dazu fi ndet die bildgebende Diagnostik des Gehirns statt (zunächst Sono-grafi e) und dann ggf. der Wirbelsäule. Mittels weiterer Sonografi e wird auf mögli-che Organfehlbildungen hin untersucht.Die radiologische Darstellung der Gelenke ist zunächst nachrangig, da sie oft we-nig aussagekräft ig ist. Sie sollte in der Regel erst durch einen erfahrenen Orthopä-den eingeleitet werden, sobald es um die Planung einer operativen Th erapie geht (z. B. beim Klumpfuß ▶ 5.4.1).

Ärztliche BehandlungEs fi ndet vor allem die konservative Behandlung durch die Verordnung von Phy-siotherapie statt.Bei einigen massiven Fehlstellungen (sowie ggf. bei Erschöpfung der physiothera-peutischen Möglichkeiten) stehen operative Maßnahmen (z. B. Sehnenverlänge-rung mittels Z-Naht) zur Verfügung. Diese kommen jedoch selten zum Einsatz.Ziel ist es, die Gelenkfunktion im globalen Muster im Sinne der Teilhabe zu ver-bessern.

Physiotherapeutischer Befund• Anamnese:

– Familienanamnese– Geburt– Medizinische Voruntersuchungen und Ergebnisse– Schmerzen

• Inspektion:– Körperproportionen– Gelenke: Schwellungen, sichtbare Deformitäten, Dysproportionen– Muskelatrophien– Alltagsaktivitäten (z. B. Essen, Schreiben, Treppen steigen, Kämmen)

• Palpation– Haut– Muskulatur– Gelenke

• Spontanmotorik in Haltung und Bewegung (▶ 1.1, ▶ 2.4)• Längenmessung der Extremitäten (rechts und links, sowie der Acren)• Bewegungstest

– Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit vor allem der Extremitäten– Messung des Bewegungsausmaßes der Gelenke (▶ s. Umschlagseite)– Muskelfunktionstest (▶ 2.5)– Vorlauf im Stand/Sitz– Schober/Ott (▶ 2.6)

• Lagereaktionen (▶ 2.8.2)• Refl exe (▶ 2.8.1)

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253 5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder

5

Klinischer HinweisLagereaktionen: Es sind Abweichungen von den normalen Reaktionen zu erwarten, da aufgrund der Kontrakturen eine physiologische Reaktion nicht möglich ist.Refl exe: Da keine Erkrankung des ZNS vorliegt, sind normale Refl exe zu erwarten.

PhysiotherapieZieleDa bei der AMC keine Heilung zu erwarten ist, liegt das Hauptziel in der Erarbei-tung der größtmöglichen Selbstständigkeit der Kinder, sodass eine Teilhabe am alltäglichen Leben möglich ist.Dazu dienen folgende Nahziele:• Erhalt bzw. Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit• Aktivierung, Kräft igung und auch Dehnung der Muskulatur• Erarbeitung von ADLs• Beratung des Kindes/der Familien bei der Hilfsmittelversorgung

MerkeEin früher Beginn der Th erapie ist wichtig, um das bestmögliche Ergebnis zu erreichen.

Maßnahmen• Neurophysiologische Behandlungen:

– Vojta (▶ 3.2); Bobath (▶ 3.1)– Bei älteren Kindern nach PNF zur Anbahnung physiologischer Bewe-

gungsmuster• Fußtherapie nach Zukunft -Huber (▶ 3.10)• Manuelle Th erapie der Extremitäten und der Wirbelsäule (▶ 3.4)• Dehnung verkürzter Muskulatur• Training auf Vibrationsplatten (▶ 3.13)• Gezielte Tapeanlagen mit elastischem Tape (▶ 3.14)• Hilfsmittelversorgung (so viel wie nötig, so wenig wie möglich, ▶ 10.3., ▶ 10.4).• Hippotherapie (▶ 3.12)

ExpertenwissenSind deutliche Kontrakturen an den oberen Extremitäten zu erkennen, ist eine unterstützende Ergotherapie sinnvoll. Auf diese Weise kann die Hand-funktion weiter zu streichen verbessert werden.

5.7.2 Osteogenesis imperfectaDie Osteogenesis imperfecta (OI) ist eine angeborene Knochenstoff wechselstö-rung. Sie geht einher mit• Vermehrter Knochenbrüchigkeit• Reduzierter Knochenmasse• Skelettdeformierungen

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254 5 Störungsbilder in der Orthopädie

5

ÄtiologieUrsächlich ist meist eine genetisch bedingte Veränderung des Kollagen Typ 1. Die meisten verantwortlichen Gene sind bekannt und können nachgewiesen werden.Es kommt zu einem Ungleichgewicht im Knochenumbauprozess, bei dem die Ak-tivität der Osteoklasten die der Osteoblasten übersteigt. Auf diese Weise wird mehr Knochen abgebaut als wiederaufgebaut und der Knochen wird brüchig.Außerdem gibt es Formen, bei denen eine OI unabhängig von der Kollagenbil-dung hervorgerufen wird: Durch gestörte Reifungsprozesse von Osteoklasten und Osteoplasten ist das Zusammenspiel der Umbauprozesse gestört. Auch hier wird der Knochen brüchig.

Klinischer HinweisDas Kollagen „Typ 1“ ist auch Bestandteil von anderen Bindegewebsstruktu-ren wie Gefäßwänden, Sehnen und Bändern, sodass es ebenfalls zu einer Schwäche in diesen Bindegewebsstrukturen kommen kann.

KlinikDie klinische Ausprägung ist sehr variabel. Neben sehr milden Formen mit nur wenigen Frakturen im Kindesalter existieren schwere Verläufe, teils mit intraute-rinem Fruchttod.Typisch sind:• Neigung zu Frakturen bei hoher Knochenbrüchigkeit (insbesondere in der

Zeit der Aufrichtung)• Knochendeformationen, z. B.

– Verkürzung und Deformierung proximaler Extremitätenknochen– Schädelknochen– Rippen (mit der Folge einer eingeschränkten Lungenfunktion)

• Häufi gkeit der Frakturen nimmt in der Pubertät ab• Hypermobile Gelenke• Neigung zu Luxationen• Hämatomneigung• Blaue Skleren

Ärztliche DiagnostikBei entsprechendem Verdacht wird eine (molekular-)genetische Untersuchung eingeleitet. Bei negativem Befund kann eine Osteogenesis imperfecta jedoch nicht ausgeschlossen werden, sodass die Diagnose klinisch gestellt werden muss.Im Verlauf ist immer wieder Röntgendiagnostik erforderlich, um mögliche Frak-turen und deren Heilungsverlauf beurteilen zu können.

Ärztliche BehandlungSchwere Formen der OI (mehrere Frakturen pro Jahr):Die ärztliche Behandlung schwerer Formen besteht aus intravenösen Bisphospho-naten, denn diese binden sich an die Knochenoberfl äche und bewirken eine Apo-ptose (Zelltod) der Osteoklasten (knochenabbauenden Zellen):1. Der übersteigerte Knochenabbauprozess wird auf diese Weise gestoppt.2. Es kommt zu einer Zunahme der Knochenmasse und -festigkeit,3. einer Abnahme der Frakturrate,4. chronische Knochenschmerzen nehmen ab und die5. Mobilität wird hierdurch verbessert.

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255 5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder

5

MerkeDie Th erapie ist besonders in der Phase des Wachstums eff ektiv und weniger in der Pubertät. Da die Erkrankung in der Regel mit der Pubertät zur Ruhe kommt, kann diese Th erapieform dann beendet werden.

Behandlung einfacher Frakturen:Einfache Frakturen werden konservativ behandelt. Dabei ist die Dauer der Hei-lung nicht länger als beim gesunden Patienten.

MerkeAuf Muskelatrophie und Abbau der Knochenmasse im Gips muss geachtet werden.

Behandlung dislozierter Frakturen:Mittelgradig bis schwer dislozierte Frakturen der Röhrenknochen können mittels Teleskopmarknägeln behandelt werden. Diese spießen durch beide Epiphysenfu-gen und wachsen mit dem Knochen mit. Sie sind einer Behandlung mittels Fixa-teur externe vorzuziehen. Weitere Indikationen für Marknägel sind:• Häufi ge Frakturen am selben Knochen• Pseudarthrose

Physiotherapeutischer Befund• Anamnese (medizinisch, sozial)• Inspektion:

– Haltung und Bewegung im globalen Muster entsprechend der Spontan-motorik (▶ 1.1, ▶ 2.4)

– Haut (z. B. bläulich)• Palpation:

– Haut, pastös– Muskelstruktur

• Funktionsuntersuchungen (▶ 2.6):– Längenmessungen der Extremitäten– Wenn nötig Umfangmessungen– Gelenkbeweglichkeit (▶ s. Umschlagseite)– Messung der Muskelkraft (▶ 2.5)– Assessments, z. B. GMFM, Timed up & go-Test (▶ 2.7)

MerkeVorsicht mit manipulativen Techniken und Untersuchungsmethoden, denn die Gefahr einer Fraktur ist dabei sehr groß.

PhysiotherapieZiele• Vermeidung von weiterem Knochenabbau• Erhalt und Verbesserung der Mobilität• Anbahnung physiologischer Haltungs- und Bewegungsmuster• Zurückhaltende Kräft igung der Muskulatur• Frakturenprophylaxe

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373 9.1 Trisomie 21

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9.1 Trisomie 21Die Trisomie 21 (auch Down-Syndrom ) ist mit einer Prävalenz von etwa 0,15 % die häufi gste numerische Chromosomenabweichung. Sie kennzeichnet sich durch unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome wie einer mentalen Beeinträchti-gung, einem typischen äußeren Erscheinungsbild, einer Muskelhypotonie und Organfehlbildungen.

Ätiologie• Bei der freien Trisomie 21 (95 % der Fälle) liegt ein zusätzliches freies Chro-

mosom 21 vor.• Bei der Translokationstrisomie 21 (3–4 % der Fälle) ist ein überschüssiges Chro-

mosom 21 oder ein Teil davon mit einem anderen Chromosom transloziert.• Bei der Mosaiktrisomie 21 (1–2 % der Fälle) ist eine Zelllinie mit freier Triso-

mie gepaart mit einem normalen Chromosomensatz.

KlinikIn der Klinik zeigen sich craniofaziale Auff älligkeiten (▶ Abb. 9.1):• Bachyzephalus: kurzer Kopf mit abgefl achtem Hinterkopf (bei spätem Be-

handlungsbeginn)• Hypertelorismus: verbreiterter Augenabstand• Mongoloide Lidspalte: lateral ansteigende Lidspalten• Epikantus: sichelförmige Augenfalte am inneren Augenrand• Breite Nasenwurzel mit kleiner Nase• Off ener Mund mit großer, hervorstehender und gefurchter Zunge (Makro-

glossie)• Tiefer Ohransatz mit kleinen, rundlichen Ohren• Kurzer HalsEs zeigen sich außerdem Auff älligkeiten an den Extremitäten:• Kleine Hände und Füße mit kurzen Fingern und Zehen• Sandalenlücke: großer Abstand zw. erstem und zweiten Zeh• 4-Finger-Furche: durchgehende Linie auf der Handinnenfl ächeEs können Auff älligkeiten der Körper-strukturen auft reten:• Muskuläre Hypotonie• Hypermobile Gelenke (insbesonde-

re atlanto-axiales Kopfgelenk, Wir-belsäule, Hüft e, Patella und Sprung-gelenke)

• Vorgewölbter Bauch mit Rektusdia-stase auf Grund von Bindegewebs-schwäche und undiff erenzierter Bauchmuskulatur

• Narben- und Leistenbrüche• Verdauungsproblematiken (wie

Obstipation)Auff älligkeiten der inneren Organe:• Herzfehler (> 50 %)• Anomalien des Verdauungstrakts• Erhöhte Infektanfälligkeit• Sehstörungen• Etwa 20-fach erhöhtes Leukämieri-

siko

Abb. 9.1 Trisomie 21 – Craniofaziale Auffälligkeiten [O1074]

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374 9 Genetische Erkrankungen

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Abweichungen der kindlichen Entwicklungsphysiologie:• Geistige Retardierung (v. a. des abstrakten Denkens)• Verlangsamte motorische Entwicklung• Zentrale Koordinationsstörungen mit Asymmetrien (▶ 6.1)• Minderwuchs

Klinischer HinweisOft zeigen sich aufgrund der Hypotonie und der großen Zunge Schwierigkei-ten beim Essen und Trinken sowie eine verzögerte Sprachentwicklung. Logo-pädie ist hier hilfreich, um diese Problematiken anzugehen und die Sprach-entwicklung zu fördern.

Ärztliche DiagnostikZu den pränatalen Maßnahmen gehören die Nackentransparenzmessung in der 12. SSW, Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) oder Chorionzottenbiopsie (Plazenta-Punktion) mit Chromosomenanalyse.Postnatal kann die Verdachtsdiagnose durch typisches Erscheinungsbild, Chro-mosomenanalyse bestätigt werden.

Ärztliche BehandlungEine kausale Th erapie der Trisomie 21 ist nicht möglich. Organfehlbildungen wie Herzfehler, Darmverschlüsse und Leistenbrüche werden operativ behandelt. In-fektionen (z. B. der Atemwege) können medikamentös behandelt werden.

Physiotherapeutischer BefundAuf Grund des stark variierenden Krankheitsbildes muss abhängig vom Alter des Kindes ein individueller physiotherapeutischer Befund angefertigt werden.• Motorischer Entwicklungsstand

– Beurteilung der Spontanmotorik (▶2.4)– Validierte Grenzsteine der Entwicklung nach Michaelis und Niemann– Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen (ICF-CY)

(▶ 2.10.2): Muskeltonus, Aufrichtungsfähigkeit Rumpf, Stabilisation von Hüft e, Knie und Fuß, Stützfähigkeit obere Extremität, Koordination, Aus-dauer

– Lagereaktion nach Vojta (▶ 2.8.2)– Testung der Frühkindlichen Refl exe (▶ 2.8.1)

• Kognitiver Entwicklungsstand (Spielentwicklung nach Piaget ▶ 1.5)

PhysiotherapieZiele0–18 Monate (freier Gang):• Physiologische Bewegungsmuster (u. a. Bauchlage, Drehen, Robben, Krab-

beln, Sitz, Stand und Positionswechsel, ▶ 1.1)• Tonusaufb au und physiologische Aufrichtung:

– Aufrichtung und Stabilisation des Rumpfes, zunächst in horizontalen Po-sitionen (Bauchlage, Vierfüßlerstand), in die Vertikale folgend (Sitz, Stand)

– Stützfunktion der oberen und unteren Extremität– Symmetrie des Rumpfes

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375 9.2 Prader-Willi-Syndrom

9

1,5–5 Jahre:• Zielgerichtete Wahrnehmung, Verarbeitung und Integration sensorischer

Reize (Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung)• Aufrichtung der Wirbelsäule, des Beckens und der Beinachsen im Stand und

Gang• Kontrolle und Koordination komplexer Willkürbewegungen (wie bipedale

und monopedale Sprünge, Koordination der Körperhälft en und Kreuzen der Mittellinie)

• Rotation um die Körperlängsachse• Selbstständigkeit im Alltag (Körperpfl ege, An- und Auskleiden, Nahrungs-

aufnahme)Ab 5 Jahren:• Visuomotorik: Hand-Auge-Koordination zum zielgerichteten Fangen und

Werfen, Schreiben, bimanuellen Besteckgebrauch, Schleife binden, Brote schmieren etc.

• Vermeidung von Fehlstellungen (wie Skoliosen, Fuß- und Beinfehlstellungen)• Kräft igung und Stabilisation von Rumpf, Hüft e, Knie und Sprunggelenken• Ausdauerfähigkeit

MaßnahmenDie aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes sehr vielfältigen Maßnahmen beruhen auf neurophysiologischen Konzepten und werden je nach Zielsetzung ausgewählt:• Unterstützung der motorischen Entwicklung nach Bobath und/oder Vojta

(▶ 3.1 und ▶ 3.2)• Anleitung von Handling im Alltag nach Bobath (▶ 3.1)• Orofaziale Stimulation nach Castillo Morales (▶ 3.8)• Psychomotorische Entwicklungsförderung (▶ 3.7)• Sensorische Integrationstherapie (▶ 3.6)• Tiergestützte Th erapie und Hippotherapie (▶ 3.11 und ▶ 3.12)

ExpertenwissenInterdisziplinäre ZusammenarbeitIm Säuglings- und Kleinkindalter sollte die Entwicklung des Spiel- und Sozi-alverhaltens sowie der kognitiven Fähigkeiten von Heilpädagogen unter-stützt werden.Um im Kindergarten- und Schulkindalter gezielte Handlungen zu trainieren und kognitive Fähigkeiten zu stärken, kommt die Ergotherapie zum Einsatz.Eine frühzeitige und komplexe Unterstützung hilft dem Kind, seine Potenzi-ale nutzen und später ein möglichst selbstständiges Leben führen zu können. Dabei sollten die Th erapien aufeinander aufb auen und maximal 2 Th erapie-formen gleichzeitig stattfi nden.

9.2 Prader-Willi-SyndromDas Prader-Willi-Syndrom ist mit einer Prävalenz von etwa 1:20.000 eine seltene genetische Erkrankung. Sie ist durch eine ausgeprägte Muskelhypotonie, eine Ess-störung (die zur Adipositas führen kann), einer mentalen Retardierung und einer Unterentwicklung der Geschlechtsorgane gekennzeichnet.

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376 9 Genetische Erkrankungen

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ÄtiologieEine mögliche Ursache ist eine Genmutation auf Chromosom 15:• Deletion: Teil des väterlichen Chromosoms fehlt• Uniparentale Disomie: Chromosom 15 der Mutter liegt zweimal vor• Imprinting-Fehler: Fehlerhaft e Prägung der Gene auf dem väterlichen Chro-

mosom 15Außerdem können Anomalien im Hypothalamus zugrunde liegen, die zu einer mangelnden Hormonausschüttung führen.

KlinikDas klinische Erscheinungsbild wird in einem Bewertungsschema nach Holm et al. (1993) deutlich. Zusätzlich gibt es al-tersspezifi sche Kennzeichen (▶ Abb. 9.2).Säuglinge und Kleinkinder:• Intrauterin: klein, verminderte feta-

le Bewegungen und abnorme Ge-burtslage führen meist zur Kaiser-schnittentbindung

• Schläft viel, hypoton• Motorische Entwicklungsverzöge-

rungenAb dem 2. Lebensjahr:• Gefahr der Hyperphagie (übermä-

ßige Nahrungsaufnahme) aufgrund fehlender Sättigung (Gefahr von Gewichtszunahme und Adipositas)

• Diabetes mellitus Typ 2 als mögli-che Folge von Adipositas

• Kognitive Einschränkungen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

• Mögliche Folgen: Skoliose (▶ 5.5.4), Kyphose (M. Scheuermann, ▶ 5.5.5)

Klinischer HinweisDa die infantile muskuläre Hypotonie als Hauptkennzeichen des Prader-Willi-Syndroms viele andere Ursachen haben kann, müssen Diff erenzialdia-gnosen in Betracht gezogen werden. Ein sehr ähnliches Erscheinungsbild zeigt das Angelmann-Syndrom, sodass nur eine molekulare Analyse das konkrete Krankheitsbild diff erenzieren kann.

Ärztliche DiagnostikEs existiert ein Bewertungsschema, um die Diagnose zu erleichtern (▶ Tab. 9.2). Es kann jedoch nur eine molekulargenetische Analyse die eindeutige Diagnosestel-lung liefern.

Abb. 9.2 Prader-Willi-Syndrom – Klini-sche Auffälligkeiten [O1075]

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377 9.2 Prader-Willi-Syndrom

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Ärztliche BehandlungZuerst steht die Verordnung von Physiotherapie und Logopädie im Vordergrund.Bereits im Säuglingsalter beginnt die Gabe von Wachstumshormonen, die bis zum Abschluss des Längenwachstums stattfi ndet. Sie hat einen positiven Einfl uss auf den Minderwuchs, eine Abnahme der Fettmasse und eine Zunahme der Muskel-masse, sodass eine gesteigerte Kraft und Ausdauer sichtbar werden.

Physiotherapeutischer BefundMotorischer Entwicklungsstand:• Beurteilung der Spontanmotorik ▶ 2.4• Validierte Grenzsteine der Entwicklung nach Michaelis und Niemann• Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen (ICF-CY)

(▶ 2.10.2): Muskeltonus, Aufrichtungsfähigkeit Rumpf, Stabilisation von Hüf-te, Knie und Fuß, Stützfähigkeit obere Extremität, Koordination, Ausdauer

• Lagereaktionen nach Vojta ▶ 2.8.2• Testung der Frühkindlichen Refl exe ▶ 2.8.1Kognitiver Entwicklungsstand (Spielentwicklung nach Piaget, ▶ 1.5)Ab dem 2. Lebensjahr: Haltungsbefund (v. a. der Wirbelsäule hinsichtlich Skoli-ose, Kyphose ▶ 5.5)

Tab. 9.2 Bewertungskriterien nach Holm et al. (1993)

Hauptkriterien Nebenkriterien

Neonatale und infantile Muskelhypotonie Herabgesetzte fötale Kindsbewegungen

Fütterungsprobleme in Säuglingsalter Charakteristische Verhaltensauffälligkei-ten, Wutanfälle, gewalttätige Ausbrüche

Übermäßige und schnelle Gewichtszunah-me nach dem 12. LM und vor dem 6. LJ

Schlafstörungen

Charakteristische Merkmale des Gesichts (Langköpfi gkeit, schmales Gesicht, man-delförmige Augen, klein wirkender Mund mit schmaler Oberlippe, nach unten gezo-gene Mundwinkel)

Minderwuchs

Hypogonadismus Hypopigmentierung

Globale Entwicklungsverzögerungen, ge-ringfügige bis mittelschwere mentale Re-tardierung

Kleine Hände und/oder Füße

Hyperphagie (fehlende Sättigung) Schmale Hände mit geradem Ellenbogen

Deletion des Chromosomenabschnitts 15q11–13

Abnormitäten des Auges (Sehstörungen)

Dicker, visköser Speichel mit Verkrus-tungen in den Mundwinkeln

Artikulationsprobleme

Hautkratzen

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378 9 Genetische Erkrankungen

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PhysiotherapieZiele0–24 Monate (freier Gang):• Physiologische Bewegungsmuster (u. a. Bauchlage, Drehen, Robben, Krab-

beln, Sitz, Stand und Positionswechsel, ▶ 1.1)• Tonusaufb au und physiologische Aufrichtung

– Aufrichtung und Stabilisation des Rumpfes, zunächst in horizontalen Po-sitionen (Bauchlage, VFST), folgend in der Vertikalen (Sitz, Stand)

– Stützfunktion der oberen und Extremität– Symmetrie vom Rumpf

• Sicherung und Erleichterung der NahrungsaufnahmeAb dem 2. Lebensjahr:• Erhalt bzw. Erarbeitung der Rumpfsymmetrie• Gewichtsregulation durch Bewegung• Zielgerichtete Wahrnehmung, Verarbeitung und Integration sensorischer

Reize (Eigen- und Fremdwahrnehmung) (▶ 3.6)• Aufrichtung der Wirbelsäule, des Beckens und der Beinachsen im Stand und

Gang• Kontrolle und Koordination komplexer Willkürbewegungen (wie bipedale

und monopedale Sprünge, Koordination der Körperhälft en und Kreuzen der Mittellinie)

• Selbstständigkeit im Alltag (Körperpfl ege, An- und Auskleiden, Nahrungs-aufnahme)

• Visuomotorik: Hand-Auge-Koordination zum zielgerichteten Fangen und Werfen, Schreiben, bimanuellen Besteckgebrauch, Schleife binden, Brote schmieren etc.

• Vermeidung skoliotischer Fehlstellungen

Expertenwissen„Physio meets Ernährungsberatung“Da das auff ällige Essverhalten zu einer Adipositas führen kann, ist eine enge Zusammenarbeit von Physiotherapeuten und Diätassistenten notwendig. Ein gut abgestimmter Ernährungs- und Bewegungsplan ist essenziell, um die Ge-wichtszunahme und daraus resultierende Folgen wie Diabetes zu minimieren.

Maßnahmen• Unterstützung der motorischen Entwicklung nach Bobath und/oder Vojta

(▶ 3.1 und ▶ 3.2)• Anleitung von Handling im Alltag nach Bobath (▶ 3.1)• Orofaziale Stimulation nach Castillo Morales (▶ 3.8)• Psychomotorische Entwicklungsförderung (▶ 3.7)• Sensorische Integrationstherapie (▶ 3.6)• Erstellung von Trainingsprogrammen zur körperlichen Aktivierung• Skoliosebehandlung nach Schroth (▶ 3.9), Vojta, Bobath (▶ 3.1 und ▶ 3.2)• Fußbehandlung nach Zukunft -Huber (▶ 3.10)• Vibrationsplattentraining (▶ 3.13)

LiteraturHolm VA, Cassidy SB, Butler MG, Hanchett JM, Greenswag LR, Whitman B Y, Green-

berg F. Prader Willi Syndrome: Concensus diagnostic criteria. Pediatrics, 1993; 91,398–402.

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379 9.3 Cri-du-Chat-Syndrom

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9.3 Cri-du-Chat-SyndromDas Cri-du-Chat-Syndrom , auch Katzenschrei-Syndrom oder 5p-Syndrom ge-nannt, hat seinen Namen auf Grund der Katzenschrei ähnlichen Laute im Säug-lingsalter.

ÄtiologieZugrunde liegt eine strukturelle Chromosomenanomalie mit einem partiellen Fehlen von genetischem Material am kurzen Arm von Chromosom 5.

Klinik• Katzenschrei ähnliche Laute im Säuglingsalter, hohe Stimmlage im späteren

Alter• Mikrozephalie• Saug- und Schluckschwierigkeiten• Motorische und kognitive Beeinträchtigungen• Muskuläre Hypotonie• Fehlhaltungen Wirbelsäule (Skoliose, Kyphose ▶ 5.5)• Fußfehlstellungen (▶ 5.4)• Häufi g Unruhe, Hyperaktivität, Konzentrations- und Aufmerksamkeits-

schwäche

Ärztlich DiagnostikDie Bestätigung kann durch eine zytogenetische Untersuchung erfolgen.

Ärztliche BehandlungDas Cri-du-Chat-Syndrom ist nicht ursächlich behandelbar. Maßnahmen bezie-hen sich vor allem auf die Verordnung von Frühförderung, Physiotherapie und Logopädie.

Physiotherapeutischer Befund• Motorischer Entwicklungsstand

– Beurteilung der Spontanmotorik (▶ 2.4)– Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen (ICF-CY

▶ 2.10.2): Muskeltonus, Aufrichtungsfähigkeit Rumpf, Koordination• Haltungsbefund, v. a. Wirbelsäule und Füße• Kognitiver Entwicklungsstand (▶ 1.5)

Physiotherapeutischer BefundZiele• Physiologische Bewegungsmuster anbahnen (u. a. Bauchlage, Drehen, Rob-

ben, Krabbeln, Sitz, Stand und Positionswechsel, ▶ 1.1)• Tonusaufb au und physiologische Aufrichtung

– Symmetrische Aufrichtung und Stabilisation des Rumpfes– Physiologische Bein- und Fußachsen

• Zielgerichtete Wahrnehmung, Verarbeitung und Integration sensorischer Reize• Erleichterung der Nahrungsaufnahme

Maßnahmen• Unterstützung der motorischen Entwicklung nach Bobath und/oder Vojta

(▶ 3.1 und ▶ 3.2)• Anleitung von Handling im Alltag nach Bobath (▶ 3.1)

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380 9 Genetische Erkrankungen

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• Orofaziale Stimulation nach Castil-lo Morales (▶ 3.8)

• Sensorische Integrationstherapie (▶ 3.6)

• Tiergestützte Th erapie und Hippo-therapie (▶ 3.11 und ▶ 3.12, ▶ Abb. 9.3)

9.4 Klinefelter-SyndromDas Klinefelter-Syndrom ist eine ange-borene numerische Chromosomenstö-rung beim männlichen Geschlecht. Diese hat Auswirkung auf eine Unter-funktion der Gonaden (Hoden) und führt zu einem Testosteronmangel.

ÄtiologieEs liegt eine numerische Chromosomenstörung mit einem zusätzlichen X-Chro-mosomen (Chromosomensatz 47, XXY) zugrunde.

Klinik• Hypogonadismus (Unterfunktion der Hoden)• Vermehrtes Längenwachstum (v. a. der Beine)• Verzögerte motorische Entwicklung• Muskelhypotonie• Sprachentwicklungsverzögerungen• Geringe Behaarung, vergrößerte Brustdrüsen• Aufgrund der fehlenden männlichen Merkmale kann es zu Zurückweisungen

durch Gleichaltrige kommen und somit zu Verhaltensauff älligkeiten und mangelndem Selbstvertrauen

• Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten mit Lese-Rechtschreibschwäche

Ärztliche Diagnostik• Chromosomenanalyse bereits pränatal möglich• Abklärungspunkt in der Vorsorgeuntersuchung für Jugendliche• Häufi g Diagnosestellung erst im Erwachsenenalter bei Kinderwunsch

Ärztliche BehandlungKontrolle des Hormonspiegels und eventuelle Gabe von Testosteron fi nden be-reits zu Beginn der Pubertät statt.

Physiotherapeutischer Befund• Motorischer Entwicklungsstand

– Beurteilung der Spontanmotorik (▶ 2.4)– Validierte Grenzsteine der Entwicklung nach Michaelis und Niemann– Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen (ICF-CY)

(▶ 2.10.2): Muskeltonus, Aufrichtungsfähigkeit Rumpf, Muskelkraft , Ko-ordination, Ausdauer

Abb. 9.3 Cri-du-Chat – 8-jähriger Junge beim Reiten [O1076]

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381 9.5 Achondroplasie

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PhysiotherapieZiele• Anbahnung physiologischer Bewegungsmuster (u. a. Bauchlage, Drehen,

Robben, Krabbeln, Sitz, Stand und Positionswechsel, ▶ 1.1)• Steigerung von Muskelkraft , Kraft ausdauer und Koordination für eine alters-

gerechte Leistungsfähigkeit

Maßnahmen• Unterstützung der motorischen Entwicklung nach Bobath und/oder Vojta

(▶ 3.1 und ▶ 3.2)• Erstellung von Trainingsprogrammen zur Steigerung von Muskelkraft , Aus-

dauer und Koordination

9.5 AchondroplasieDie Achondroplasie (auch: Chondrodysplasie) ist eine genetisch bedingte Form der Skelettdysplasie, die durch Kleinwuchs gekennzeichnet ist.

ÄtiologieIn 80 % liegt eine spontane Neumutation mit einer Punktmutation auf dem Wachstumsfaktor Gen (FGFR-3) mit Auswirkung auf eine mangelnde Knorpel-bildung und früher Verknöcherung vor.Bei einem Anteil von 20 % liegt eine autosomal dominant vererbte Mutation vor.

KlinikHauptsymptom ist der dysproportionale Minderwuchs bei fast normaler Rumpfl änge und verkürzten Extremitäten (v. a. der Oberschenkel und Oberarme). Die Körpergröße liegt bei Erwachsenen im Durchschnitt zwischen 120–130 cm (▶ Abb. 9.4).Weitere körperliche Auff älligkeiten:• Vorgewölbte Stirn• Tiefe Nasenwurzel• Kurze Finger• Genua vara oder Genua valga (▶ 5.3)• Hyperlordose und verstärke BWS-Kyphose (▶ 5.5)• Muskelhypotonie (Entwicklungsverzögerungen)Mögliche Komplikationen:• Apnoe (kurze Atemaussetzer)• Gefahr von Spinalkanalstenosen, die zu Lähmungen führen können• Infekte der oberen Atemwege und des Mittelohrs aufgrund kleinem Gehör-

gang und großen Gaumenmandeln

Ärztliche DiagnostikPränatal fi nden sich erste Anzeichen im Ultraschall (großer Kopf/verkürzter Oberschenkel).Postnatal entsteht die Verdachtsdiagnose durch das klinische Erscheinungsbild und kann über das charakteristische Röntgenbild und Genuntersuchung mittels einer Blutprobe bestätigt werden.

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Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie 2018. 452 S., 104 Abb., kt.

ISBN: 978-3-437-45417-2 | € [D] 44,- / € [A] 45,30

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder im Elsevier-Webshop

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Ob in Klinik, Praxis oder Reha-Zentrum – dieser Leitfaden deckt die ganze Bandbreite der

Physiotherapie in der Pädiatrie ab. Alle großen Bereiche wie Neonatologie, Orthopädie,

Neurologie, Innere Medizin und auch Onkologie sowie genetische Erkrankungen werden

umfassend besprochen.

Erklärt wird zunächst die Entwicklungsphysiologie des Kindes – mit umfangreichen Tabellen zum

schnellen Nachschlagen. Sie erfahren alles, was Sie über eine gründliche Befunderhebung und

die verschiedenen Therapiemöglichkeiten diverser Erkrankungen wissen müssen.

Vorgestellt werden außerdem die verschiedenen Konzepte – von Bobath, Castillo Morales bis zu

Osteopathie und Vojta.