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K e i n e l e i c h t e n P a K e t e
Leopold und Avraham Frank
Verantwortlich
Simone Lenz, Goethe-Institut Jerusalem
Die Autorin M. A. Caroline Jessen (Jerusalem)
schreibt ihre Dissertation »Kanon im Exil«
zur Lesekultur deutsch-jüdischer Einwanderer
im Palästina der Mandatszeit und in Israel,
betreut von Prof. Jürgen Fohrmann (Bonn)
und Prof. Joachim Schlör (Southampton).
Mit freundlicher Unterstützung durch
Dr. Irena Steinfeldt, Leitung der Abteilung
der Gerechten unter den Völkern, Yad Vashem
Dr. Noa Mkayton, Internationale Schule
für Holocaust-Studien, Yad Vashem
Theo Schwedmann, Lehrerfortbildung,
Bezirksregierung Münster
Grafikdesign
Andrea Wöhr (Rom)
»Für den Leser und Bücherfreund sind Bücher etwas
Herrliches, aber erst beim Umzug merkt man, das ihrem
geistigen auch ein sehr reales physisches Gewicht
entspricht...«1 – Doch zurücklassen wollte Avraham Frank,
der diese Zeilen 1954 in dem deutschsprachigen Blättchen
Hakidmah in Tel Aviv schrieb, die liebgewonnen Bücher
beim lästigen Wohnungswechsel auch nicht. Denn viele von
ihnen hatten – so wie die Familie Frank selbst – bereits den
weiten Weg von Stuttgart nach Erez Israel hinter sich
gebracht. Erst Jahrzehnte später wurde der lange
hinausgezögerte Abschied von den erinnerungsbeladenen
Büchern unumgänglich...
... doch von vorne: Avraham Franks Vater Leopold Frank
war 1887 in Flacht, einem kleinen Dorf in Hessen-Nassau
(heute Rheinland-Pfalz) geboren worden. Auch sein Sohn
kam dort 1923 zur Welt, bevor die Familie dann 1928 nach
Ludwigsburg und anschließend nach Stuttgart zog. Wie viele
andere jüdische Familien im Süden Deutschlands lebte die
Familie Frank noch sehr traditionsverbunden. Die jüdischen
Feiertage und Gesetze strukturierten den Alltag der Franks
– ohne dass die Familie sich von ihrer nicht-jüdischen
Umgebung abschottete. Der Vater Leopold arbeitete als
Vertreter für eine große Kölner Textilfirma, der Sohn
besuchte ein Gymnasium in Stuttgart, auf dem jüdische und
nicht-jüdische Kinder zusammen lernten.
Über die zu kurze – und durch die erzwungene
Emigration nach der Machtübernahme der Nazis
abgebrochene – Schulzeit berichtet Avraham Frank, der
heute mit seiner Frau in Jerusalem lebt, dass dieses
Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Stuttgart
allerdings zu Beginn der Dreißiger Jahren zunehmend
prekär wurde. Kleine und große Konflikte mit Schülern und
Lehrern oder abfällige Bemerkungen gehörten zur
Tagesordnung. Auch Leopold Frank wurde es zunehmend
unmöglich, seinem Beruf nachzugehen. Langjährige Kunden
brachen die Geschäftsbeziehungen ab und baten ihn, sie
nicht mehr zu besuchen.
Für Leopold Frank, der als deutscher Staatsbürger im
Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und für den die deutsche
Kultur nicht minder Heimat war wie das Judentum, brach
nach 1933 eine Welt zusammen. Nur wenige Nachbarn und
nichtjüdische Bekannte in Stuttgart hatten sich nicht von
der nationalsozialistischen Propaganda anstecken lassen.
Avraham Frank berichtet über den schweren Entschluss,
Deutschland zu verlassen: »Mein Vater war vom Hause aus
kein Zionist. Er war ein bewusster, traditioneller, jedoch
kein orthodoxer Jude, der aus einer alteingesessenen
altfrommen, im deutsch-jüdischen Sinne, Landjuden-Familie
BIOGRAPHISCHESLEOPOLD FRANK UND SEIN SOHN AVRAHAM FRANK
Die 40er Jahre - A. Frank als Angestellter derBuchhandelsfirma »Pales« in Tel Aviv.
Avraham Frank in seiner Jerusalemer Wohnung - inmitten von alten und neuen Büchern.
1 Avraham Frank: Der Umzug und die guten Bücher. In: Hakidmah, 15.10.1954, S. 8-9; hier S. 9.
Leopold und Avraham Frank
K E I N E L E I C H T E N P A K E T E
von Caroline Jessen
stammte, der die Realschule besucht hatte, eine gute
Bildung hatte, der mit Schiller in der deutschen Kultur
aufgewachsen, Unteroffizier im Ersten Weltkrieg, ein
Korrespondent der Frankfurter Zeitung war, ein Mann, der
sich sehr für die Probleme des deutschen Judentums
interessierte, aber auf Grund der Erfahrungen, die er
machen musste, [...] zur Erkenntnis kam, dass, wenn man
Deutschland verlassen musste, was er absolut früh begriffen
hatte, dann nur nach Palästina, dem Land der Väter.«2
Im Frühjahr 1936 wanderte Leopold Frank mit seiner
Frau Betty und den zwei Kindern Avraham und Chana nach
Palästina aus. Er erwarb Land und ein Haus in Migdal, einer
landwirtschaftlichen Siedlung bei Tiberias am See
Genezareth. Leopold Frank wusste um die Schwierigkeiten,
die auf Emigranten aus Deutschland wie ihn in Palästina
zukamen. Immer mehr Menschen waren seit 1933 in das
kleine Land gekommen, das kaum in der Lage war, all diese
Menschen aufzunehmen, geschweige denn ihnen Arbeit zu
bieten. Aufgrund der strengen Einreisebestimmungen der
britischen Mandatsregierung (nur für sogenannte
›Kapitalisten‹ mit 1000 Palästina-£, das waren
ca. 12000 Reichsmark, gab es eine unbegrenzte Zahl von
Visa) kamen viele jüdische Familien aus dem gehobenen
Mittelstand nach Palästina – Ärzte, Rechtsanwälte,
Wissenschaftler, Intellektuelle, die
nun als Kioskverkäufer, Kellner oder
Bauarbeiter ihren Lebensunterhalt
verdienen mussten. Die Franks
entschlossen sich aus diesem
Grund, eine neue Existenz auf dem
Land aufzubauen. Dies entsprach
auch der zionistischen Ideologie,
die in der Besiedlung, in Aufbau
und Bewirtschaftung des Landes,
die wichtigste Aufgabe der Juden in
ihrer ›altneuen‹ Heimat sah.3
Im ›Lift‹ der Familie, einem Container mit allen
Habseligkeiten und speziell für Palästina angeschafften
Dingen, befanden sich so nicht nur Kisten mit Büchern
und Fotografien, sondern Gartengeräte, eine
Futterschneidmaschine, ein Melkstuhl und andere Dinge,
die man für den Neubeginn zu brauchen glaubte.4 Doch
trotz aller Vorbereitungen ließ sich das Leben in Migdal
nur schwer meistern: Leopold Frank arbeitete von früh
morgens bis abends, hielt sich und die Familie jedoch nur
mühselig über Wasser. Darüber hinaus setzte ihm die
Isolation von deutschsprachigen Freunden und Verwandten
wie von jedwedem kulturellen Leben sehr zu. Für den
Fünfzigjährigen war die Emigration ein zu radikaler
Einschnitt. Avraham Frank erzählt, der Vater habe oft
abends allein vor dem Haus gesessen und mit sich selbst
Schach gespielt oder Gedichte zitiert. In einem Buch
schildert Joachim Schlör diese schweren Jahre im Leben der
Franks sehr eindrücklich.5 Für Leopold Frank ist Israel nie
zur Heimat geworden, zu tief saßen die Erinnerungen an das
Leben in Deutschland, an Freunde und Verwandte, denen
die rechtzeitige Flucht aus Deutschland nicht mehr gelungen
war. Zu stark war die Bindung an die deutsche Kultur, an der
Leopold Frank auch in Migdal festhielt, obschon diese Kultur
nicht in der Lage gewesen war, den Nationalsozialismus
aufzuhalten. »Die Menschen dort [in Migdal] waren ihm
fremd. [...] Er konnte sich mit niemandem aussprechen.
Hebräisch lernte er kaum. Und das Klima, 200 Meter unter
dem Meeresspiegel, die schwere, harte, landwirtschaftliche
Arbeit (er zog Bananen, Tomaten und hielt eine Kuh,
Hühner, eine gemischte Farm) bei manchmal 40 Grad in
der Sonne an den heißen, langen Sommertagen, war für
ihn gesundheitlich sehr, sehr zermürbend.«6
Ein Lesetagebuch mit dem Titel Abgeschriebenes und
Selbstgedachtes aus den späten Vierziger Jahren, als Leo
Frank bereits nach Holon gezogen war, dokumentiert
sehr konkret, was Leo Frank noch zehn Jahre nach der
Emigration aus Deutschland beschäftigte. Beinahe alle Zitate
aus Gelesenem und auch die dazugehörigen Notizen drehen
sich um Nationalismus in all seinen Variationen – dabei
ging es Leopold Frank um Deutschland wie um Israel.
Wohin hatte der Nationalismus in Deutschland geführt?
War das, was in Deutschland ab 1933 geschah, vorher
abzusehen gewesen – bei Wilhelm II, Bismarck, Nietzsche?
Welchen Weg mussten die Juden in Palästina gehen, um
endlich ein selbstständiger Staat zu werden, ohne dabei
einem fanatischen, inhumanen Nationalismus zu verfallen?
Wie sollte das Zusammenleben mit den Arabern aussehen?
Leo Frank lebte noch einige Jahre mit seiner Frau in einem
kleinen Häuschen in Holon, arbeitete sogar noch als Vertreter
und veröffentlichte kurz vor seinem Tod das kleine Büchlein
Loschen Hakodesch, das jüdisch-deutsche Ausdrücke,
Sprichwörter und Redensarten der Nassauischen Landjuden
dokumentiert.7 Die liebevoll zusammengestellte Sammlung ist
nicht nur eine Quelle für die Erforschung deutsch-jüdischer
Kulturgeschichte, sie ist zugleich ein persönliches Denkmal für
die vertriebenen und ermordeten Juden im Stuttgarter und
Frankfurter Raum. Leopold Frank starb 1962.
Avraham Frank konnte noch während der Zeit in Migdal
die Volksschule abschließen, musste dann jedoch arbeiten,
um seine Familie zu unterstützen, die in sehr bescheidenen
2 Lukas Welz: Abraham Frank. Dokumentation fuer den Irgun Olej Merkas Europa Jerusalem, August 2006 [Online-Fassung einzusehen unter der
URL: http://www.irgun-jeckes.org/?CategoryID=345&ArticleID=747&Page=1]. Siehe auch: Anne Betten/Miryam Du-Nour (Hrsg.): Wir sind die
Letzten. Fragt uns aus. Gespräche mit den Emigranten der dreißiger Jahre in Israel. Gerlingen: Bleicher 1995. Falls nicht anders vermerkt, sind
wörtliche Zitate Avraham Franks im folgenden Text Auszüge aus einem Interview, das die Verf. am 30.4.2007 in Jerusalem mit ihm führte.
3 Theodor Herzls Altneuland lieferte die literarische Utopie für diese Grundidee des Zionismus. Bis heute wird das dem Roman vorausgeschickte
Motto zitiert, das die 1902 für die meisten Juden unmöglich scheinende Schaffung eines jüdischen Staates als realisierbar postulierte:
»Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen«. – Vgl. Theodor Herzl: Altneuland. Roman. Berlin: Hermann Seemann Nachfolger 1902.
4 Vgl. Joachim Schlör: Endlich im Gelobten Land? Deutsche Juden unterwegs in eine neue Heimat. Berlin: Aufbau Verlag 2003, S. 43-49.
5 Vgl. Joachim Schlör: Endlich im Gelobten Land?, S. 190-204.
6 Lukas Welz: Avraham Frank. Dokumentation fuer den Irgun Olej Merkas Europa Jerusalem, S. 5.
7 Leopold Jehuda Frank: Loschen Hakodesch. Jüdisch-deutsche Ausdrücke, Sprichwörter und Redensarten der nassauischen Landjuden.
Cholon: Privatdruck 1961.
Im ›Lift‹ der Familie,
einem Container mit
allen Habseligkeiten
und speziell für
Palästina angeschafften
Dingen, befanden sich
nicht nur Bücher und
Fotografien...
2
Verhältnissen lebte. Doch auch der erfolgreiche Abschluss
der Volksschule war keine Selbstverständlichkeit für einen
Jungen aus Deutschland. Der Unterricht fand auf Hebräisch
statt, das Avraham Frank als Verständigungsmittel im Alltag
völlig fremd war: »Ich konnte kein richtiges Hebräisch.
[...] Ich hörte Ivrit, aber ich hatte keine Ahnung von der
Grammatik. Man sagte damals zum Beispiel »Ma la’assot«?
– »Was kann man machen?«. Ich dachte jahrelang, oder
monatelang, ich weiß nicht mehr, wie lange, Ma la’assot
wäre ein Wort. Das sind aber zwei Worte. Ma – la’assot. Ja?
What can you do about it?... Und dergleichen mehr. Das
Ivrit, das ich mitbrachte, stammte aus der Religionsstunde,
[...] war das Hebräisch des Gebetbuches.« Die ersten Jahre
in Palästina waren auch für den jungen Avraham kein
leichter Lernprozess.
Er wäre gerne weiter zur Schule gegangen, hätte am
liebsten an der Hebräischen Universität in Jerusalem
studiert. Die erzwungene Emigration entschied über den
Lebenslauf: »... ich bin Produkt einer ›gestörten Erziehung‹.
Ich habe von meinem ehemaligen deutschen Vaterland in
den Sechziger Jahren zwei Mal 5000 DM für diese ›gestörte
Erziehung‹ erhalten. Aber das hat nichts wieder gut
gemacht, denn hätte ich das Stuttgarter Karlsgymnasium
beendet, hätte ich die Universitätsausbildung in Deutschland
genießen können, oder hätte mein Vater, der in sehr, sehr
schwierigen wirtschaftlichen Zuständen hier lebte, es mir
ermöglichen können, an der Hebräischen Universität zu
studieren, was ich versuchte, aber nicht durchführen
konnte, dann wäre aus mir wahrscheinlich ein Lehrer oder
ein Professor oder ein Akademiker geworden, ich weiß es
nicht. So bin ich ein Autodidakt reinsten Wassers.«8
Avraham Frank gelangte nach mehreren kleinen ›Jobs‹
zu einer Anstellung im Buchhandel. Er arbeitete einige Jahre
für den größten Grossisten und Importeur ausländischer
Bücher, Pales Press und als Sekretär für die Vereinigung
der Buchimporteure in Tel Aviv. Diese Organisation war auf
die Initiative anderer Immigranten aus Deutschland und
Österreich hin entstanden, die kleine Buchhandlungen und
Leihbibliotheken gegründet hatten und nun versuchten, die
aus Deutschland gewohnten Standards auch in Palästina
einzuführen. Importe waren für diese Buchhändler enorm
wichtig, da sie zu ihrer Kundschaft Einwanderer und
englische Regierungsbeamte zählten, die kein bzw. nur
wenig Hebräisch lasen und sich nach deutsch- oder
englischsprachiger Lektüre sehnten.
Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948, den Avraham als
Sergeant in der israelischen Armee miterlebte, begann eine
langjährige Tätigkeit für die Jewish Agency und andere
zionistische Institutionen, die Avraham Frank in andere
Länder brachte. So reiste er unter anderem bereits 1950 für
die Jewish Agency in die USA und nach Kanada und leitete
dort verschiedene Alija-Projekte. Auch später arbeitete er für
jüdische Organisationen in den USA – eine Zeit, an die
Avraham Frank sehr gerne zurückdenkt. Doch stand die
Übersiedlung in die USA nie zur Debatte. Im Gegensatz zu
seinem Vater fühlt sich Avraham Frank dem Land, das
ihn 1936 aufgenommen und gerettet hat, eng verbunden.
Hier heiratete er 1950 seine ebenfalls aus Deutschland
stammende Frau Rita, hier leben seine drei Kinder mit ihren
Familien. Sie sprechen selbstverständlich Hebräisch, und
auch Avraham Frank lebt einen ›hebräischen‹ Alltag, der
lediglich durch die vielen Besucher aus Deutschland und die
Lektüre deutschsprachiger Bücher unterbrochen wird.
Bereits 1958 reiste Avraham Frank nach Deutschland.
Sein Vater hatte ihn, so erzählt er, gebeten, »die frühere
Heimat zu besuchen und zu sehen, was übrig geblieben war
an Friedhöfen, an zerstörten Synagogen an jüdischen
Häusern der Familie, besonders im Nassauischen, im Raum
Frankfurt. Per Zug fuhr ich von Ort zu Ort, mich überall
nach den Wohnhäusern der ehemaligen Verwandten und
den zerstörten Synagogen und den meist auch zerstörten
und geschändeten Friedhöfen umsehend, aufschreibend,
fotografierend, mich hütend, nicht jemanden, den ich
kannte, auch nur die Hand zu geben. Das brachte mich zum
ersten Mal in Kontakt mit dem Nachkriegsdeutschland [...].«9
Der ersten bedrückenden Widerbegegnung mit Deutschland
und Menschen, von denen er nicht wusste, was sie in den
Jahren 1933 bis 1945 getan hatten, folgten viele weitere
Besuche. Avraham Frank dokumentierte in den folgenden
Jahren nicht nur Friedhöfe in Württemberg und im
Frankfurter Raum und sorgte für ihre Erhaltung. Er begann
zudem im Rahmen des christlich-jüdischen Dialogs als
Redner an Vorträgen und Workshops teilzunehmen, in
Seminaren über das jüdische Leben in Süddeutschland, über
jüdische Religion und Tradition zu informieren sowie auch
Besuchergruppen aus Deutschland in Israel zu begleiten. Bis
heute führt Avraham Frank mehrmals im Monat deutsche
Besucher nach Yad Vashem, ans Tote Meer oder in die
Jerusalemer Altstadt. Außerdem erlaubt ihm der Kontakt mit
Deutschland und zu deutschen Forschern und Lehrern,
Pfarrern und Schülern, für das israelische Yakinton (das Blatt
der Einwandererorganisation der Juden aus Mitteleuropa, in
der sich Avraham Frank nach wie vor engagiert) über Aspekte
jüdischer Geschichte sowie über die Auseinandersetzung mit
der Shoah in Deutschland zu berichten.
Avraham Frank ist sich der ›Brückenfunktion‹ bewusst,
die er und andere in Deutschland geborene Israelis für die
Erinnerung an die Shoah und für die heutigen Beziehungen
zwischen Deutschen und Israelis einnehmen: »Ich bin für
alle Versuche, der jungen Generation die Augen und Ohren
zu öffnen und das Verständnis zu fördern für das, was wir,
was unsere Väter und Vorväter einstmals in Deutschland
geleistet haben und was der Staat Israel heute für uns
bedeutet. [...] Wird das nicht getan, wird das – was ich auch
verstehen kann – von vielen Israelis und Juden auf der Welt
abgelehnt, so werden wir selbst dazu beisteuern, dass in
zehn oder zwanzig Jahren all das, was auf so furchtbare Art
und Weise zerstört worden ist, völlig vergessen sein wird.«10
| LEOPOLD UND AVRAHAM FRANK |
8 Lukas Welz: Avraham Frank. Dokumentation fuer den Irgun Olej Merkas Europa Jerusalem, S. 4.
9 Ebd., S. 8.
10 Ebd., S. 8.
3
Bis vor kurzem besaß Avraham Frank eine riesige
Büchersammlung. Doch als das Ehepaar Frank 2008 aus der
geräumigen Jerusalemer Wohnung in ein Wohnheim für
ältere Menschen zog, wurde diese Sammlung zum scheinbar
unlösbaren Problem. In der alten Wohnung hatte allein die
Haggadoth-Sammlung einen ganzen Raum gefüllt. Mehr als
2500 Exemplare, kleine Bändchen, illustrierte und aufwendig
ausgestattete Bände, aus verschiedenen Jahrhunderten hatte
Avraham Frank gesammelt, die allesamt die für das Judentum
zentrale Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Ägypten
erzählen. Am ersten Festabend von Pessach wird diese
Geschichte jedes Jahr feierlich im Familienkreis verlesen.
Avraham Frank hat die Haggadoth mittlerweile schweren
Herzens einem Forschungsinstitut gestiftet. Doch danach
blieben noch Wände voller Literatur in Englisch, Deutsch
und Hebräisch. Die Kinder nahmen einige der hebräischen
Bände, Antiquariate die wertvollen Raritäten. Doch die
Gesamtausgaben der deutschen Klassiker wollte kein
Buchhändler – zu viele ähnliche Bücher landeten schon in
den letzten Jahren nach dem Tod ihrer Besitzer auf dem
antiquarischen Buchmarkt. Der Kern der Büchersammlung
machte den Umzug ins Wohnheim allerdings mit.
In der Sammlung spiegelte sich nicht nur Avrahams Interesse
an deutsch-jüdischer Geschichte, an den Biographien und
Memoiren berühmter und unbekannter Juden so wie an
klassischer hebräischer und deutscher Literatur. Eingebettet
in die Sammlung waren auch die Überreste der
umfangreichen Bibliotheken des Vaters Leopold Frank, des
Großvaters und des Onkels. Die meisten ihrer Bücher hatten
bereits Bücherschränke in Deutschland gefüllt, bevor sie den
Weg nach Palästina machten, erzählt Avraham Frank:
»Meine Eltern sind bereits im Mai 1936 ausgewandert. Sie
mussten zwar Reichsfluchtsteuer zahlen, aber sie konnten
ihr Haushaltsgut mitnehmen. Wir hatten einen Lift – heute
könnte man das einen Container nennen –, der [...] auf der
Straße stand. Mein Vater hatte alles gut vorbereitet, die
Gestapo überwachte alles, was man mitnehmen wollte,
und darunter war selbstverständlich ein großer Teil
der Bibliothek meines Vaters, einen recht beachtlichen
Teil musste er zurücklassen, aber es war für ihn
selbstverständlich, dass er [...] seine Bibliothek mitnimmt.«
In Leopold Franks Büchern spiegelt sich die ›klassische‹
deutsche Bildung. Er besaß Bücher von Schiller, Goethe und
Lessing, Nachschlagewerke und Büchmanns Zitatenschatz
des deutschen Volkes, aber auch Werke der zeitgenössischen
Schriftsteller der Weimarer Republik wie Thomas Mann,
Gerhart Hauptmann, Emil Ludwig, Romain Rolland und
Stefan Zweig. Im Gespräch erzählt Avraham Frank, dass
selbst das Goethe-Relief des Vaters den Umzug aus Stuttgart
nach Migdal und später nach Holon mitmachte.
Ein Lesetagebuch mit dem Titel Abgeschriebenes und
Selbstgedachtes, in das Leopold Frank Ende der Vierziger
Jahre Gedanken zu gelesenen Büchern, aber auch Zitate aus
diesen Büchern eintrug, gibt einen kleinen Einblick in die
Lesegewohnheiten und die Gedankenwelt eines nach
Palästina verpflanzten Europäers. Unzählige Zitate aus
gelesenen Büchern von Romain Rolland, Emil Ludwig,
Goethe und Martin Buber, aber auch vom heute
vergessenen christlichen Theologen Leonard Ragaz reihen
sich in dem Heftchen aneinander. Leopold Frank blieb dem
liberalen, humanistischen Denken des späten 18. und
frühen 19. Jahrhunderts treu, das sich für ihn besonders im
Werk Goethes zu kondensieren schien. Auch die Emigration
änderte wenig an seiner ethischen wie ästhetischen
Werteskala, die in der deutschen Bildungstradition der
Aufklärungszeit ebenso wie in der jüdischen Tradition
verankert war. Die aus Deutschland mitgenommene
Büchersammlung ersetzte Leopold Frank eine Heimat, die
er in staatlichen Konstrukten vielleicht nicht mehr fand.
Avraham Frank gehört einer anderen Generation an und
entwickelte selbstverständlich auch andere Leseinteressen als
sein Vater, dessen Bibliothek ihn allerdings als Junge in Migdal
mit Lesestoff versorgte. Denn Ende der Dreißiger Jahre an
neue deutschsprachige Literatur in Migdal zu gelangen, war
schwierig. Das Palästina-Amt riet Emigranten vor der Ausreise
nicht grundlos: »Bibliothek ordnen und alle guten Bücher
mitnehmen. Man kann sie ja lange in Kisten aufbewahren.
Zu Neuanschaffungen kommt man nicht mehr.«11
4
2. DIE LESEGEWOHNHEITEN VON LEOPOLD UND AVRAHAM FRANK
11 Die vom Palästina-Amt Berlin verteilte Liste (»Allgemeine Ratschläge«) ist abgedruckt in: Joachim Schlör: Endlich im Gelobten Land?, S. 47.
Die 50er Jahre – Mit Nachwuchs in New York.
Obschon Goethe und Schiller auch in Avraham Franks
Bücherregal nicht fehlen, steht er dem Bildungskult des
19. Jahrhunderts skeptischer gegenüber – war die ohne
diese Bildungsideologie nicht denkbare Akkulturation
(bzw. mit negativer Konnotation: ›Assimilation‹) der Juden
in Deutschland doch letztlich gescheitert. Bildung
war zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Bildungsbesitz
verkommen, der sich in dekorativen Goethe-
Gesamtausgaben und Zitate-Sammlungen dokumentierte.
Avraham Franks Generation erlebte nur noch den Verfall,
das Scheitern der großen humanistischen Ideale mit dem
aufkommenden Nationalsozialismus. Und dennoch blieben
auch für Avraham Frank die Klassiker nach der Emigration
so wichtig, dass er noch heute im Gespräch aus dem Faust
oder der Glocke zitiert.
Avraham Frank war als junger Mann »sehr auf
Franz Werfel, auf Lion Feuchtwanger, auf Josef Kastein
[...] eingestellt. Historische Romane, Biographien,
Autobiographien [...] – ich habe eine Sammlung von
200 bis 300 Biographien hier noch immer stehen, wenn
Sie sie mitnehmen wollen nach Deutschland, geb ich Sie
Ihnen gerne.«
Nicht nur Literatur zu den wichtigsten Persönlichkeiten
der zionistischen Bewegung, auch viele Memoiren und
Autobiographien von Juden, die wie die Familie Frank
aus Deutschland bzw. Österreich nach Palästina bzw. Israel
einwanderten, sind Teil der Sammlung. Sie dokumentieren
eindringlich Avraham Franks Anliegen, die Geschichte
der Fünften Alija (aber auch der bereits vor 1933
eingewanderten zionistischen ›Pioniere‹) in Erinnerung
zu halten. In den individuellen Lebensgeschichten von
Musikern, Ärzten wie Hermann Zondek, Journalisten
und Unternehmern wird die abstrakte Geschichte von
Emigration und Heimatverlust, aber auch von Neubeginn
und der Integration in eine neue Kultur spürbar.12 Diese
Bücher, obgleich materiell wie literarisch von keinem
großen Wert, wurden für Avraham Frank im Lauf der Jahre
immer wichtiger, da in ihnen auch seine Geschichte
mitverhandelt wird.
Avraham Frank wäre kein ›normaler‹ Leser, gäbe es
nicht auch Schmöker in seiner Bibliothek. Während Bände
von Rudyard Kipling und Hemingway davon berichten, was
Avraham in jungen Jahren faszinierte, zeigen die schmalen
Diogenes-Ausgaben der Donna-Leon-Krimis, dass die
literarischen Moden in Europa an ihm nicht vorbeigegangen
sind. Allerdings sollen die unzähligen deutschsprachigen
Bände nicht darüber hinwegtäuschen, dass Avraham Frank
bald nach der Einwanderung
begann, hebräische Literatur zu
lesen. Bisweilen Autoren, die er in
der Bibliothek des Vaters noch in
deutscher Übersetzung
kennengelernt hatte: »Ich habe
noch alte in Deutschland ... aus
Deutschland verstoßene [Bücher]
wenn Sie wollen, in der Bibliothek,
... werden Sie gleich sehen –
antiquarische Raritäten heute.«
5
12 Vgl. Lotte Eisenberg: Meine Gäste, Tiberias und ich. Memoiren. Jerusalem: Rubin Mass 1979; Erich Gottgetreu: Die 37. Belagerung von
Jerusalem. Ein Tagebuch aus dem Frühjahr 1948. Jerusalem: Rubin Mass 1985; Alice Schwarz-Gardos: Von Wien nach Tel Aviv. Lebensweg einer
Journalistin. Gerlingen: Bleicher 1991; Uri Toeplitz: Und Worte reichen nicht. Von der Mathematik in Deutschland zur Musik in Israel. Eine
jüdische Familiengeschichte 1812-1998. Hrsg. von E. R. Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 1999; Hermann Zondek: Auf festem Fusse.
Erinnerungen eines jüdischen Klinikers. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1973.
| LEOPOLD UND AVRAHAM FRANK |
»Ich habe eine
Sammlung von 200 bis
300 Biografien hier noch
immer stehen, wenn
Sie sie mitnehmen wollen
nach Deutschland, geb
ich sie Ihnen gerne.«
Familie Frank 1936 in Stuttgart – eine Woche vor der Auswanderung.
6
Emil Ludwig: Geschenke des Lebens Berlin: Ernst Rowohlt Verlag 1931.
Emil Ludwig war einer der beliebtesten
und erfolgreichsten Schriftsteller der
Weimarer Republik. Er gehörte neben
dem literarisch anspruchsvolleren Stefan
Zweig zu den wichtigsten Verfassern
literarischer Biographien. Heute ist Emil
Ludwig vergessen.
Biographien und historische Romane
eroberten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts
die bürgerlichen Bücherregale, da sie
Bildungswissen – Allgemeinbildung,
Prämisse für die Zugehörigkeit zur
tonangebenden Klasse des Bürgertums –
in leicht konsumierbarer Form versprachen.
In den Themen der Bücher Emil Ludwigs
spiegelt sich der Bildungskanon der
Weimarer Republik; Ludwig schrieb über
Rembrandt und Shakespeare, Bismarck
und Friedrich II – und immer wieder über
Goethe. Seine Werke halfen, den
bürgerlichen Kanon weiter festzuschreiben,
und hatten nachhaltigen Einfluss auf die
Rezeption bzw. das Image der genannten
Persönlichkeiten. Emil Ludwigs Biographien
von Politikern und Schriftstellern erlangten
insbesondere in der Weimarer Republik
Beliebtheit, weil sie Position bezogen und
ideologische Orientierung in den
schwierigen Jahren der jungen Republik
nach dem verlorenen Krieg boten. Das
machte Ludwigs Arbeiten zu dieser Zeit
jedoch auch zum roten Tuch der ›seriösen‹
akademischen Geschichtsschreibung wie der
Gegner der Weimarer Verfassung.13
Emil Ludwig sah sich selbst als ›Europäer‹ –
ein Etikett, das Ludwigs Gegner benutzen,
um dem Schriftsteller fehlenden Patriotismus
vorzuwerfen. Antisemitische Stimmen sahen
in Emil Ludwig den vaterlands- und
bindungslosen, ›zersetzenden‹ Juden,
während er weiten Kreisen des liberalen
Bürgertums nicht erst nach dem Erscheinen
seines Wilhelm II (1925) als liberaler,
humanistischer Kritiker der Wilhelminischen
Kaiserzeit galt.14
Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus
gewann die Kritik an Emil Ludwig allerdings
neue Dimensionen. Emil Ludwigs Bücher
wurden verboten und verbrannt. So lautete
einer der so genannten ›Feuersprüche‹ bei
den Bücherverbrennungen 1933: »Gegen
Verfälschung unserer Geschichte und
Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, für
Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit! Ich
übergebe der Flamme die Schriften von Emil
Ludwig und Werner Hegemann!«15 Emil
Ludwig lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in
der Schweiz, emigrierte später in die USA.
Obschon ihm jüdische Religion und Tradition
als junger Mann nie wichtig gewesen waren,
hatten ihn die Ermordung Rathenaus und
der wachsende Antisemitismus der Weimarer
Republik (der sich u. a. in Schmähbriefen
und Zeitungsartikeln über Emil Ludwig
offenbarte) zur Identifikation mit dem
Judentum bewegt: »Naturen wie mein Vater,
wie auch ich, in so kühler Stellung zur
angeborenen Konfession, wie Tausende von
christlichen Gelehrten oder Künstlern,
konnten erst durch die Empörung zur
Betonung ihres Judentums gelangen«,16
schrieb der Schriftsteller 1926 in einem
Essay über seinen Vater.
Allerdings kritisierten auch verschiedene
Zionisten Ludwigs vermeintlich ›wurzellosen
Kosmopolitismus‹, das halbherzige
Bekenntnis zum Judentum, die vermeintlich
fehlende Loyalität. Die Literaturkritik in
Palästina sah in ihm in den Dreißiger und
Vierziger Jahren ein Relikt der Weimarer
Kultur, die es abzustreifen galt, denn »Emil
Ludwig hatte viel zu geben, er hat viel
geschaffen und doch – gerade ihm fehlte,
was er in seinen Biographien bei seinen
Helden aufzuspüren suchte: die echte
Lebenslinie, die auf ein bewusstes Ziel
hinführt. Er war Jude, war Kosmopolit, war
international, war wurzellos.«17 Emil Ludwig
war in der Tat kein Zionist, und dies war
ein Hindernis für die Wertschätzung in der
offiziellen Literaturkritik Palästinas.
Andererseits verfolgte man sehr genau das
Engagement des in die USA emigrierten
Intellektuellen gegen den Nationalsozialismus,
war er doch über die Grenzen Deutschlands
hinaus anerkannt. Emil Ludwig geriet bald
nach seinem Tod 1948 in Vergessenheit,
doch hatte seine Goethe-Biographie das Bild
des Klassikers in der öffentlichen Meinung
zu diesem Zeitpunkt bereits nachhaltig
geprägt. Für die jüngere Generation waren
Emil Ludwigs Werke nur noch ein
Dokument der Weimarer Kultur – zu
zeitgebunden und literarisch anspruchslos,
um auch für die Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg politische oder ästhetische
Relevanz zu behalten.
13 Vgl. hierzu die Ausführungen Hans-Jürgen Perreys zu den Auseinandersetzungen zwischen einer politisch-kulturell dem Kaiserreich verhafteten
›Historikerzunft‹ und den liberalen, ›modernen‹ Intellektuellen der Weimarer Republik: Hans-Jürgen Perrey: Der »Fall Emil Ludwig« –
Ein Bericht über eine historiographische Kontroverse in der ausgehenden Weimarer Republik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
43 (1992), S. 169-181.
14 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus. In: Neue Rundschau, Nr. 1, Jg. 33 (1922), S. 572-590; Sebastian Ullrich: Ernst H.
Kantorowicz und Emil Ludwig: Zwei Kritiker der Weimarer Geschichtswissenschaft und die »Krisis des Historismus«. In: Sozial-Geschichte, Nr. 2,
Jg. 21 (2006), S. 7-33.
15 Jan Pieter Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München: dtv 1995; Jürgen Serke:
Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 1992; In jenen Tagen… Schriftsteller zwischen
Reichstagsbrand und Bücherverbrennung. Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1983.
16 Emil Ludwig: Mein Vater. In: Menorah Nr. 5 (1926), S. 279-283.
17 Hans Tramer: Emil Ludwig. In: MB Nr. 39, 24. September 1948, S. 6.
3. ZU DEN AUSGEWÄHLTEN BÜCHERN
7
Arnold Zweig: Der Streit um denSergeanten GrischaPotsdam: Gustav Kiepenheuer 1928.
Der Streit um den Sergeanten Grischa ist
nicht nur eines der bekanntesten Bücher des
Schriftstellers und Intellektuellen Arnold
Zweig, sondern zugleich eines der
wichtigsten literarischen Werke über den
Ersten Weltkrieg.18 Das Buch wurde zum
Bestseller der Weimarer Republik und hat
nach wie vor wenig an Aktualität, Wahrheit
und Relevanz eingebüßt. In einer
emphatischen Rezension schrieb Kurt
Tucholsky in der Weltbühne bereits 1927:
»Es ist ein gut Stück Kriegswahrheit in dem
Buch, ein Teil des Soldatenlebens der
Deutschen im Osten [...]. Es wird
wahrscheinlich mehr Menschen zum
Nachdenken über das Wesen des Krieges
bringen als alle Propagandaaufsätze der
letzten Jahre – es bohrt sehr tief und wendet
sich an ganz einfache Empfindungen; es sagt
gewissermaßen: ›Wir beide wollen uns doch
nichts vormachen, wie –?‹ Endlich einmal
wird der Krieg gar nicht diskutiert, sondern
mit einer solchen Selbstverständlichkeit
abgelehnt, wie er und seine Schlächter das
verdienen.«19 Während das Buch in der
Weimarer Republik zum Bestseller avancierte
und noch in der DDR zum Kanon
deutschsprachiger Literatur zählte, ist es
heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
Interessant ist jedoch auch die komplexe
Biographie Arnold Zweigs. 1887 im
schlesischen Glogau (heute Polen) geboren,
studierte Zweig in Breslau, Berlin und
verschiedenen deutschen Städten, erlangte
Erfolge mit ersten literarischen Arbeiten und
kämpfte als Soldat ab 1915 im deutschen
Heer in Serbien, Belgien und Frankreich. Die
Erlebnisse während des Ersten Weltkriegs
machten Zweig zum überzeugten Pazifisten.
Die Begegnungen als Soldat mit dem so
genannten ›Ostjudentum‹ weckten Zweigs
Interesse für den Zionismus. Literarischen
Niederschlag fand Zweigs Engagement für
einen sozialistischen Zionismus
beispielsweise in dem 1920 erschienen Essay
Das Ostjüdische Antlitz mit Graphiken des
Künstlers Hermann Struck. Werke Arnold
Zweigs zählen zu den interessantesten
Dokumenten der so genannten ›Jüdischen
Renaissance‹ in Deutschland. Nach der
Machtübernahme der Nationalsozialisten
immigrierte Zweig mit seiner Familie nach
Palästina. Für den linksintellektuellen
Schriftsteller, der seine Werke weiterhin in
deutscher Sprache verfasste, war die
Eingliederung in die jüdische Gemeinschaft
in Palästina und die dort entstehende
hebräische Kultur nicht einfach. Zudem
stand er der zionistischen Politik in den
darauffolgenden Jahren zunehmend
skeptisch gegenüber. Wer sich näher mit
Zweigs Leben in Haifa zwischen 1933 und
1948 beschäftigt, wird viel erfahren über die
Hoffnungen, Konflikte und Enttäuschungen
deutschsprachiger Intellektueller im Palästina
der Mandatszeit. 1948 ließ sich Zweig in
Ost-Berlin nieder, wo er bis zu seinem Tod
1968 lebte und arbeitete. Er wurde zu einem
der wichtigsten intellektuellen
Repräsentanten der DDR, war unter
anderem Präsident der Akademie der Künste
in Berlin (1950–1953), Abgeordneter der
Volkskammer der DDR, Präsident des
Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West.
Gerhard Holdheim: Palästina. Idee,Probleme, TatsachenBerlin: C.A. Schwetschke & Sohn 1929.
Das Buch ist eine von vielen Publikationen
über die zionistische Arbeit und Siedlung in
Palästina. Vorwiegend waren es zionistische
Organisationen wie der Keren Kajemeth
Lejisrael (KKL – der Jüdische Nationalfonds)
oder die Zionistische Vereinigung für
Deutschland (ZVfD), die mit solchen
Veröffentlichungen insbesondere in den
Zwanziger und Dreißiger Jahren (im Zuge
der Balfour Deklaration 1917) in
Deutschland über Ihre Arbeit informierten
und deutsche Juden für die Übersiedlung
oder doch zumindest für die finanzielle
Unterstützung des Aufbauwerks in Palästina
gewinnen wollten. So hatte Holdheim 1923
bereits ein Zionistisches Handbuch für
das Berliner Büro der ZVfD verfasst. Dass
die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung
erst infolge der Machtübernahme der
Nationalsozialisten überhaupt darüber
nachdachte, Deutschland zu verlassen,
lässt bisweilen übersehen, welche
Ideale jüdische Arbeiter, Studenten und
Intellektuelle bereits vor 1933 dazu
brachten, über eine Übersiedlung nach
Palästina bzw. ›Erez Israel‹ als Heimat des
jüdischen Volkes nachzudenken.
Vor 1933 engagierte sich nur eine
Minderheit der deutschen Juden in
zionistischen Organisationen und Vereinen,
doch gewann diese Minderheit nach 1933
mit der wachsenden Ausgrenzung von Juden
| LEOPOLD UND AVRAHAM FRANK |
18 Sol Liptzin: [Art.]: Zweig, Arnold. In: Encyclopaedia Judaica. Bd. 21. 2nd ed. Detroit: Macmillan Reference USA 2007, S. 694.
19 Peter Panter: Der Streit um den Sergeanten Grischa. In: Weltbühne, 13.12.1927, Nr. 50, S. 892.
8
aus dem gesellschaftlichen Leben in
Deutschland an Bedeutung. Gerard
Holdheim (1891–1967) gehörte zu einer
jungen Generation von Juden in der
Weimarer Republik, die mit dem deutschen
Bildungskanon aufgewachsen waren, im
Elternhaus nur wenig ›Jüdisches‹
kennengelernt hatten und sich (enttäuscht
von einer missverstandenen Emanzipation
auf Kosten jüdischer Identität) auf die Suche
nach einem ›jüdischem Leben‹, einer
›jüdischen Identität‹ machten.
Der Historiker Michael Brenner sieht im
starken Interesse der jungen Generation von
Juden in der Weimarer Republik für die
jiddische und hebräische Sprache sowie für
ostjüdische Kultur eine Suche nach
Authentizität und eine Auflehnung gegen die
Vätergeneration, die dem Judentum den
Rücken zugekehrt hatte oder sich für ihre
jüdische Herkunft schämte. Er spricht vom
»Sonderfall eines in der Weimarer
Gesellschaft verbreiteten Phänomens [...] –
der Revolte des Sohns gegen den Vater.«20
Vor dem Ersten Weltkrieg zeigte sich die
Auflehnung gegen bürgerliche Werte und
Normen in der Konjunktur von Jugend- und
Reformbewegungen, die alternative
Lebenskonzepte zu wilhelminischer
Bürgerlichkeit versprachen. Dies galt für
jüdische wie für nicht-jüdische Familien:
»Die jüdische Jugendbewegung teilte mit der
nichtjüdischen die generelle Ablehnung der
bürgerlichen Familie, wobei verschärfend
hinzu kam, daß es in jüdischen Familien
womöglich noch bürgerlicher zuging als in
vielen nichtjüdischen.«21 So nahmen die sich
für den Zionismus begeisternden
Jugendlichen die kulturelle ›Assimilation‹
ihrer Eltern auch als Anbiederung an eine
Bürgerlichkeit wahr, die in ihrer
Oberflächlichkeit und Unwahrhaftigkeit
abgelehnt werden musste.22
Wie viele andere Zionisten seiner Generation
sah Holdheim den Emanzipationsprozess
bzw. ›Assimilationsprozess‹23 der Juden in
Deutschland sehr kritisch. Dies zeigen die
ersten Kapitel des Palästina-Buchs, in denen
Holdheim ausführlich auf die sozialen und
ideologischen Voraussetzungen des
Zionismus eingeht: »Um die Aufnahme in die
christliche Gesellschaft zu erreichen, war
man bereit, die jüdische Vergangenheit zu
verleugnen und jede trennende Schranke
niederzureißen. Die gewaltigen
Auflösungstendenzen hatten einen kräftigen
Helfer in der großartigen Kulturwelle, die
das westliche Europa um die Wende des 18.
Jahrhunderts erfaßte. Mußten die politischen
Ideen der französischen Revolution mit ihren
wohlvertrauten Menschheitsparolen die
Gemüter der Juden naturgemäß entzünden
[...], so ist ihre Empfänglichkeit für die
literarischen Produkte der »Sturm-und-Drang-
Periode« ebenso verständlich. Es war – vom
Standpunkt der Volkserhaltung aus gesehen
– geradezu ein Unglück der Juden, daß ihre
Emanzipation in eine Zeit fiel, wo der
Humanismus eines Lessing, die Ethik Kants
und der klassische Romantizismus Goethes
und Schillers einen kaum wieder zu
erreichenden Kulminationspunkt geistiger
Kultur herbeiführte.«24 In etwas blumiger
Wortwahl versucht Holdheim seine
widersprüchliche Position zur deutschen
Kultur auszudrücken, deren Wertesystem er
einerseits teilte und verehrte, die er
andererseits als Wegbereiter eines
Auflösungsprozesses im Judentum werten
musste. Er kritisiert daher die
»Selbstentäußerung« der Elterngeneration,
ihren in seinen Augen verheerenden
Wunsch, »so deutsch, ja womöglich noch
deutscher als die besten christlichen
Deutschen« zu sein.25 Die Schaffung eines
»autonomen jüdischen Lebens in Palästina«26
war für ihn der einzige Weg zu einem freien
und bewusst jüdischen Leben. Allerdings war
er sich bewusst, dass er Deutschland wohl
kaum als kulturelle Heimat würde aufgeben
können: »Das Erlebnis der eingeborenen
Heimat ist ein Elementarereignis. Das Land,
in dessen Sprache man seine ersten Laute
gestammelt hat, dessen Kultur man seine
Erziehung verdankt, dessen Landschaft zum
Erlebnis wurde – es lässt Bindungen
entstehen, die kein Willensakt und keine
Anfeindung zerschneiden kann.«27 Diese
Sätze bzw. der gesamte erste Teil des Buches
zeigen sehr eindrücklich, wie konfliktreich
die Beziehungen zu jüdischer und deutscher
Kultur für viele akkulturierte Juden bereits
vor 1933 war. In den Ausführungen
Holdheims deutet sich darüber hinaus an,
dass Antisemitismus bereits in der Weimarer
Republik spürbar war und am Gelingen der
gesellschaftlichen Emanzipation zweifeln
ließ. Die nationalsozialistische
Machtübernahme verschärfte diese
Konflikte. Gerhard Holdheim wanderte 1933
nach Palästina aus, verfasste weitere
Arbeiten zum Zionismus (in deutscher
Sprache) und engagierte sich bis zu seinem
Tod in den zionistischen Zusammenschlüssen
ehemaliger deutscher Juden in Israel.
Romain Rolland: Das Leben TolstoisFrankfurt am Main: Rütten & Loening 1930.(frz. EA 1911, dt. EA 1922)
»Was Tolstoi für die junge Generation
Frankreichs und Deutschlands um 1890
geworden war, das wurde nicht wenigen
unter uns Romain Rolland während der Jahre
1914-1918: der erste Bekenner, der
Aufrüttler [...], die Stimme des Gewissens in
Europa.«28 Der Herausgeber des Leben
Tolstois übertreibt nicht: Der heute kaum
gelesene französische Autor Rolland galt als
einer der wichtigsten Intellektuellen der
Zwischenkriegszeit, seine Werke waren
annähernd so populär wie die Bestseller von
Hermann Hesse und Stefan Zweig.
Sogar der Nobelpreis für Literatur des
Kriegsjahres 1915 war an Rolland gegangen
– ein politisches Zeichen. Geehrt wurde der
Schriftsteller, vor allem jedoch der
Intellektuelle Romain Rolland. Er habe wie
20 Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München: C.H. Beck 2000, S. 13.
21 Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 59.
22 Vgl. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 60.
23 Der ursprünglich neutrale Begriff wurde insbesondere von Zionisten (wie G. Holdheim) oft pejorativ benutzt, so dass man heute,
um diese Konnotation zu vermeiden, oft vom damals nicht gebräuchlichen Begriff ›Akkulturation‹ spricht, wenn es um die kulturellen
Anpassung einer Minderheit an die sie umgebende Gesellschaft geht.
24 Gerhard Holdheim: Palästina. Idee, Probleme, Tatsachen. Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn 1929, S. 16-17.
25 Gerhard Holdheim, Palästina, S. 21.
26 Gerhard Holdheim, Palästina, S. 26.
27 Gerhard Holdheim, Palästina, S. 34.
28 Wilhelm Herzog: Vorwort. In: Romain Rolland: Das Leben Tolstois. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1930, S. IX-X.
9
kaum ein anderer in Frankreich und
Deutschland vor und während des Ersten
Weltkriegs »die Ideen der Brüderlichkeit
und der unzerstörbaren Einheit des
geistigen Europa mit höchster moralischer
Kraft aufrechterhalten«,29 hieß es in einem
Artikel zu Rollands Geburtstag 1916,
obwohl Europa sich zu diesem Zeitpunkt
schon meilenweit vom ›Ideal brüderlichen
Zusammenlebens‹ wegbewegt hatte.30
Romain Rolland setzte sich während des
Kriegs für die französisch-deutsche
Verständigung ein. Stefan Zweigs
wachsender Pazifismus war wesentlich ihm
zu verdanken. Zwischen den beiden
Schriftstellern entwickelte sich eine enge
Freundschaft, dokumentiert u. a. in Zweigs
Biographie des Franzosen.31 Rolland
und Zweig zählten in der Zeit der
Weimarer Republik zu einer Gruppe von
»Intellektuellen, die ihr bestes taten,
um die Welle von irrationalem, autoritärem
Handeln aufzuhalten« und dazu »über die
nationalen Grenzen hinweg Freundschaften
und Korrespondenzen pflegten«.32
Wie das Vorwort zum Leben Tolstois
unterstreicht, war Rollands universalistisches
Denken, seine Suche nach dem ›allgemein
Menschlichen‹ zu nicht geringem Teil
Verdienst der Werke des russischen
»Wahrheitsrigoristen« Tolstoi.
So wichtig die Stimmen von Autoren wie
Romain Rolland und Stefan Zweig während
des Ersten Weltkriegs, in der Weimarer
Republik und auch nach 1933 für viele
Leser waren, so wenig politischen Einfluss
hatten sie letztlich. Rolland starb kurz vor
Ende des zweiten Weltkriegs 1944, Zweig
nahm sich 1942 in Brasilien das Leben.
Bereits 1917 hatte er Rolland gestanden, er
fühle sich »ohnmächtig gegen den
Wahnsinn, erstickt vom Wirbelsturm der
Lügen«33 einer Welt, die er nicht mehr
verstand und deren Werte er nicht teilte.
Nach 1933 war es nicht mehr nur das
Gefühl der Ohnmacht, das ihn schwermütig
und enttäuscht zurückließ. Die Bücher
des jüdischen Schriftstellers wurden in
Deutschland verboten. Zweig emigrierte
nach London, reiste weiter in die USA,
ließ sich schließlich in Brasilien nieder.
Bücher wie Romain Rollands Leben Tolstois
scheinen Teil der von Zweig eindringlich
beschriebenen Welt von Gestern34 zu sein.
Kaum jemand liest sie heute. Für viele
Emigranten behielten die Werke – und
mehr noch: die von ihnen vertretenen
Werte – allerdings ihre Relevanz über
die Emigration hinaus. Das unterstreicht
Leopold Franks Notizbuch mit Zitaten
aus gelesenen Büchern sehr eindrücklich.
Aus dem Tolstoi-Buch hatte er sich
Bemerkungen zu Tolstois Nationalismuskritik
notiert: »Selbst die Juden, ›deren Vaterland
bis jetzt das schönste war, das ein
Mensch sich wünschen kann, – die Bibel‹,
selbst diese verfallen der Krankheit des
Zionismus, dieser sich national gebärenden
Bewegung, ›die Fleisch vom Fleische des
zeitgenössischen Europäertums ist, sein
rachitisches Kind‹.« Die abgeschriebenen
Sätze verraten nicht, wie Leopold Frank
über dieses polemische Statement gedacht
hat, doch sicher ist, dass es seine
Lebenswirklichkeit in den Vierziger
Jahren betraf – seinen Spagat zwischen
den humanistischen Idealen, der
Nationalismuskritik à la Rolland bzw.
Tolstoi und einem Zionismus, der sich in
Israel in nationale Konflikte verstrickte,
aber eben auch seine Familie und ihn
gerettet hatte.
Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und JudeBerlin: S. Fischer Verlag 1921.
»Wie hat sich dieser Mensch gequält! […] –
Qual und Unschlüssigkeit, Verzweiflung
und Selbsthaß, Verlorenheit innen und
Hohn außen. Der Lebensabriß hat etwas
Erschütterndes.«35 – Kurt Tucholskys
Kommentar lässt nicht vermuten, dass er
von einem der auflagenstärksten
Schriftsteller in der Weimarer Republik
spricht. Mit Hermann Hesse und Thomas
Mann gehörte Jakob Wassermann zu den
Bestsellern des renommierten S. Fischer
Verlags.36 Doch Wassermann selbst war
sich in diesen Jahren einer vermeintlichen
»Disharmonie« seines Lebens bewusst. Sie
war dem Dichter Anlass zum
autobiographischen Rechenschaftsbericht
Mein Weg als Deutscher und Jude.37
Dabei gehörte er zu diesem Zeitpunkt der
literarischen Elite seiner Zeit an, stand in
regem Kontakt mit Arthur Schnitzler,
Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann,
Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke.
Deren Urteil über den Kollegen fiel
gemischt aus. Man schätzte den ethischen
Impetus seiner Romane, kritisierte aber hier
und da das Zuviel an Moral bzw. die
29 Knut Beck/ Jeffrey B. Berlin/ Natascha Weschenbach-Feggeler (Hrsg.): Stefan Zweig. Briefe 1914-1919. Frankfurt am Main: Fischer 1998,
S. 401-404, hier S. 402.
30 Vgl. Michael Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten. Kohlhammer: Stuttgart 2000.
31 Vgl. Stefan Zweig: Romain Rolland. [Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. und mit Nachbemerkungen vers. von Knut Beck].
Frankfurt am Main: Fischer 1987 [EA 1922].
32 George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Frankfurt am Main/ New York:
Campus 1992, S. 83.
33 Knut Beck/ Jeffrey B. Berlin/ Natascha Weschenbach-Feggeler (Hrsg.): Stefan Zweig. Briefe 1914-1919, S. 475.
34 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. [Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. und mit Nachbemerkungen
vers. von Knut Beck]. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 1990 [dt. EA 1942].
35 Kurt Tucholsky: Jakob Wassermann und sein Werk. In: Die Weltbühne Nr. 38 (1924), S. 430.
36 Vgl. Beatrix Müller-Kampel: Jakob Wassermann. Eine biographische Collage. Wien: Mandelbaum Verlag 2007, S. 12.
37 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. Berlin: S. Fischer Verlag 1921, S. 9.
| LEOPOLD UND AVRAHAM FRANK |
10
38 Vgl. Beatrix Müller-Kampel: Jakob Wassermann, S. 214.
39 Arthur Schnitzler: Tagebücher 1928: VI 19. Zitiert aus: Beatrix Müller-Kampel: Jakob Wassermann, S. 217.
40 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 75.
41 Josef Nadler: Jakob Wassermanns Weg. In: Der Lesezirkel, Nr. 2, Jg. 11 (1923/1924), S. 15-22. hier: S. 19-20.
42 Hans Otto Horch: [Art.] Wassermann, Jakob. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Hrsg. v. Andreas Kilcher. Stuttgart/Weimar:
J.B. Metzler 2000, S. 594-599, hier: S. 598.
43 Wassermann berichtet, dieser Ausdruck seines Vaters habe ihm bereits in seiner Jugend »viel zu schaffen« gemacht, denn im Gegensatz zum
Vater »beargwöhnte« er das Wörtchen Toleranz und seine Konnotationen. – Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 10.
44 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 117.
Diskrepanz von ethischem Anspruch und
ästhetischer Leistung. Jakob Wassermann
galt als populärer, versierter Autor: er
schreibe gefällig, für ein bildungsbürgerliches
Publikum ohne große literarische
Ansprüche. In seinen beliebtesten Romanen
– Caspar Hauser oder Die Trägheit des
Herzens (1908), Das Gänsemännchen
(1915), Der Fall Maurizius (1928) –
fanden Leser allerdings ein humanistisches
Menschenbild und Werte, die in diesen
Jahren nur wenige Romanautoren so
deutlich wie Wassermann propagierten
(diese Werte hinderten ihn jedoch nicht
daran, 1914 in die allgemeine
Kriegsbegeisterung mit einzustimmen).
Werke wie Der Fall Maurizius wurden
nicht nur Bestseller, sondern ernteten selbst
großes Lob von Kollegen wie Stefan Zweig,
der so begeistert von Wassermans Buch
war, dass er es sogar dem französischen
Kollegen Romain Rolland mit Nachdruck
ans Herz legte.38 Noch heute gilt das Buch
über den unschuldig verurteilten Leonhart
Maurizius als einer der wichtigsten
Justizromane der Weimarer Republik.
Doch Wassermanns Marktgefälligkeit ließ
einige an der Substanz, der inneren
Aufrichtigkeit seiner Werke zweifeln:
»Wenn man Jacob fragte [...] – Wählen Sie
– entweder Justizreform oder neue hundert
Auflagen – seine Antwort: Hundert
Auflagen. Fragte man Zweig: Ihr Roman
verschwindet für ewig – aber Grischa ist
gerettet – seine Antwort: Grischa’s Rettung!
– Und das spürt man natürlich in den
Romanen selbst.«39 Ein vielleicht nicht ganz
gerechtes Statement Arthur Schnitzlers,
dessen Anlass Wassermanns Bedürfnis nach
Erfolg und Bestätigung waren.
Das führt zu einem Kernthema der
autobiographischen Skizze Mein Weg als
Deutscher und Jude: »Ich musste mich stets
wieder legitimieren, stets mit meinem
ganzen Vermögen einstehen wie einer,
dem es nicht erlaubt ist, sässig zu sein«,40
schreibt Wassermann über seine Stellung
als deutscher Schriftsteller und Jude.
Es traf ihn, dass jedes seiner Werke –
mit Misstrauen und den gängigen
Wertungsschablonen – als das eines Juden
wahrgenommen wurde. Und dass der
Zusatz ›jüdisch‹ Grenzen zog, wo er keine
sah. Tatsächlich geriet die Suche einiger
seiner Kritiker nach dem ›Jüdischen‹ seiner
Werke oft zur absurden Verrenkung: war
die Suche nach vermeintlich jüdischen
Charakteristika des Stils oder Themas
erfolglos, wurde der Spieß umgekehrt –
man konstatierte, der »Übergangstypus«
bzw. »Mischling« Wassermann habe »die
deutsche Gebärde mit unbegreiflicher
Sicherheit in sich aufgenommen«.41 Damit
war gesichert, dass selbst das ›Deutsche‹
an Wassermann im Grunde nur Maskerade
und Täuschung, folglich unecht war.
Mein Weg als Deutscher und Jude
erzählt sehr unvermittelt und ohne
Beschönigung von den Empfindungen
und der Identitätskrise, die solche Verdikte
und Polemiken auslösten. Es ist »ein
Grunddokument deutsch-jüdischer
Problematik im 20. Jahrhundert«42 –
vielleicht eines der wichtigsten Bücher
über die Konflikte von akkulturierten
Juden in Deutschland, denen das
»Zeitalter der Toleranz«43 Integration und
Gleichberechtigung versprochen hatte,
jedoch diese Toleranz stets nur als Duldung
unter Vorbehalt und hohen Auflagen
praktiziert hatte. So konnte Wassermann
1921 konstatieren: »Leider steht es so, daß
der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch
nicht im juristischen Sinn, so doch im
Gefühl des Volkes.«44 Dennoch glaubte
Wassermann weiter an die Ideale der
Emanzipationszeit, lehnte selbst nach der
Machtübernahme der Nationalsozialisten
den Zionismus vehement ab.
Während die offen und verdeckt
antisemitischen Wertungen von zumeist
deutsch-nationalen und konservativen
Kritikern vor 1933 eine (wenn auch nicht
ignorierbare) Stimme im Spektrum der
öffentlichen Meinung war, verboten die
Nationalsozialisten 1933 die Werke
Wassermanns. Die Bücher wie der Autor
wurden nun auch im ›juristischen‹ Sinne
für vogelfrei erklärt. Doch Wassermann
lebte zu dieser Zeit schon seit längerem in
Österreich und starb 1934 – 4 Jahre vor
dem so genannten ›Anschluss‹ Österreichs.