Leseprobe - AISTHESIS VERLAG · 2019. 8. 13. · Jägersatzung • Das Grauen • Wort-Pantomime...

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Doris M. Fittler »Ein Kosmos der Ähnlichkeit« Frühe und späte Mimesis bei Walter Benjamin AISTHESIS VERLAG ––––––––––––––––––––––––––––––– Bielefeld 2005 Leseprobe

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  • Doris M. Fittler

    »Ein Kosmos der Ähnlichkeit«

    Frühe und späte Mimesis bei Walter Benjamin

    AISTHESIS VERLAG–––––––––––––––––––––––––––––––Bielefeld 2005

    Leseprobe

  • Abbildung auf dem Umschlag:Pablo Picasso: Die Lektüre. 1953, Öl auf Holz.

    © Aisthesis Verlag Bielefeld 2005Postfach 10 04 27, D-33504 BielefeldSatz: Germano Wallmann, [email protected]: Sievert-Druck+Service GmbH, BielefeldAlle Rechte vorbehalten

    ISBN 3-89528-494-7www.aisthesis.de

    Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

  • Inhaltsverzeichnis

    Einleitung ................................................................................................... 9

    Kapitel I: Zur Orientierung: Im Labyrinth des Werks ...................... 21Wahrheit und Darstellung • Die ungegliederte Oberfläche • Substruktur• Elemente der Substruktur • Unordnung • Übung • Sinnstufen • DerBenjamin-Leser • Das Labyrinth • Umweg als Methode • Heimat desZögernden • Zwei Schnitte durch die Weltsubstanz • Beschreibung

    Kapitel II: Ähnlichkeit als ‚Sprache‘ ...................................................... 54Urgeschichte und Moderne • Mikro- und Makrokosmos • Ähnlichkeitals Urphänomen • Gemeinschaft der Materie • Mitteilung: Der mi-metische Ursprung der Dingsprache • Nicht-imitative Ähnlichkeit •Der Mensch als Ähnlicher unter Ähnlichen • Anpassung an den Kos-mos • Ähnlichwerden als ‚Sprach‘-Akt: Antwort • Auge, Leib undLippen • Mimesis und Mythos • Mimetisches Genie

    Kapitel III: Sprache als Ähnliches .......................................................... 102Der Unsinnlichkeitscharakter der Sprache als Ähnliches • Vereinfa-chung • Depot von Weltzusammenhängen • Astrologie als okkulteÄhnlichkeitserfahrung • Flüchtigkeit • Mimetische Verspannungen •Vexierbild • Kontinua der Verwandlung • Der Name – Gegenstand ei-ner Mimesis • Der „Vergleich“ • Vergessen – Erinnern

    Kapitel IV: Anamnese des Mimesisvermögens in der Moderne: Proust und das Kind ............................................................ 146

    Teil 1: Im Banne Prousts ................................................................... 146A ) Person und Werk ................................................................................... 146Kind und greises Kind • Der französische Kulturkreis • Eine Passion •Stationen der Benjaminschen Proust-Rezeption und Superlative • Infinsteren Zeiten • Prousts Bild im Zeichen des Ähnlichen • Die Suchenach dem Gemeinsamen der Dinge • Die unscheinbare Pforte • „ZumBilde Prousts“ und „Lehre vom Ähnlichen“ • Der persische Dichter inder Pförtnerloge: Archaische Laster – Einverständnis mit sich selbst –Unter dem Laubdach der Gesellschaft • Assimilation • GesellschaftlicheFluktuationen und dichterisches Verfahren: Subversion – Komplizität –Ästhetik der Maßlosigkeit versus Klarheit der Disposition • Metaphorikals Mimikry • „Proust, der Archaist“ • Die „Pastiches“: Bann und Ent-

  • zauberung • Vollendende Mimesis • Der „Fälscher“ Hofmannsthal •Diorama und Sprachkunstwerk

    B) Lehrmeister des Erinnerns ...................................................................... 244Mimesis des Gedächtnisses • Gelebtes Leben – schöpferische Fantasie •Erinnerung bei den Alten • Der Riss im Gedächtnis • Ars memoria derModerne • A-Chronologie: Zukunft im Vergangenen • Weissagung •Verjüngung • Vergegenwärtigung • Ein Sonderfall • Erinnerung als Er-kennen von Ähnlichkeiten: Die „projektierte Ergänzung“ – Proust undFreud – Unverträgliches: Nie-Gesehenes und Doch-Erinnertes – Gleich-zeitige Ungleichzeitigkeiten • Stellae – constellatio • Flüchtigkeit • DieMetapher Erinnerung • Nicht-Identität • Namensmagie

    Teil 2: Das mimetische Genie des Kindes ....................................... 339Im Vollbesitz der Nachahmungsgabe • Kinderspiele • Verstecke •Jägersatzung • Das Grauen • Wort-Pantomime • Magie der Farben• Mimesis als Wiederholung: Transformation und Therapie

    Kapitel V: Drei wichtige Ähnlichkeitstopoi Benjamins ...................... 414

    1. Ähnlichkeit, nicht Gleichheit ......................................................... 414Differenz, Nuance • Gleichheit als geschichtliches Trugbild • DieWare – Symptom einer Krise der Wahrnehmung • Widersprüche • DieAura als Ähnliches, nicht Gleiches • Auratische Bereiche des Ähnli-chen: Natur und Kunst • Der Ähnlichkeitsstatus des Kunst-Schönen •Das „Zeitalter der Wahrnehmung“ • Proust und die Aura • Auratischesund fotografisches Gedächtnis • Die Ähnlichkeit auratischer Gedächt-nisbilder

    2. Ähnlichkeit und Entstellung .......................................................... 472A ) Entstellte Ähnlichkeit • Entstellung als Extremform der Nicht-Gleichheit • Abweichung vom Vorbild • Mimesis des Transzendierens• Entstellte Ähnlichkeit: Allegorisches oder Mimetisches? • Prousts„Matinée de Guermantes“ • Entstellung und Erinnerung • StilistischeDeformation • Wiedererkennnen

    B ) Die entstellte Welt der Kindheit • Ich-Entstellung – Kehrseite desÄhnlichwerdens • Der Kern der Dinge • Gewohnheit und ersterBlick • Gegensinn • Berlin als Vorwelt • Sprachmissverständnisse

  • 3. Kritik der Einfühlung ...................................................................... 513Falsche Mimesis • Das Ornament – die hohe Schule der Einfühlung• Substitution und Projektion • Einverleibung, nicht Einfühlung •Baudelaire – Virtuose der Einfühlung • Einfühlung in den Sieger derGeschichte

    Zusammenfassung .................................................................................... 555

    Literaturverzeichnis .................................................................................. 567

    Danksagung ................................................................................................ 579

  • Einleitung

    Der Gegenstandsbereich der Untersuchung

    Walter Benjamins zahllose Reflexionen zu Ähnlichkeit und Nachahmungim engeren Sinn, zu Korrespondenz und Gemeinschaft der Dinge durchÄhnlichkeit im weiteren Sinn konstituieren einen komplexen Raum, derin der vorliegenden Untersuchung mit des Autors eigenen Worten als ein„Kosmos der Ähnlichkeit“ vorgestellt wird (VI,192). Dieser Begriff istals Dach-Begriff zu verstehen, der eine präzise Vorstellung von der Be-schaffenheit jenes Terrains vermittelt, auf dem Benjamins Ähnlichkeits-konzept angesiedelt ist. Die Hauptmerkmale dieser Gebietsbeschaffen-heit sind seine universelle Ausdehnung, seine differenzierte Struktur undseine Teilchen-Vielzahl und -Heterogenität, die doch ein großes Ganzesbildet. Das, was jeden – wörtlich als Mikro- und Makrokosmos, meta-phorisch als wimmelndes, aber durchgestaltetes Ensemble verstandenen– Kosmos auszeichnet, ist auf bestimmende Weise auch in BenjaminsIdee einer ungeahnt weitläufigen, vielförmigen, sichtbaren und unsicht-baren, niederen und höheren Welt der Ähnlichkeit eingegangen. Dieses‚kosmologische‘ Verständnis legt das Fundament für Benjamins gesam-tes Mimesis-Konzept. Es muss für den Interpreten, für diese Untersu-chung als Ganze und für den Leser derselben richtungsweisend auchdann und dort bleiben, wo von einem Ähnlichkeitskosmos nicht (mehroder ausdrücklich) die Rede ist.

    Hinzu kommt die den Aufbau und Argumentationsgang meiner Ar-beit lenkende Beobachtung, dass diesem ‚kosmologisch‘ bestimmten Mi-mesiskonzept deutlich eine zeitlich-historische Dimension von großerBogenspannung unterlegt ist. Diese Dimension sichert ihm zusätzlicheine anthropologische Geltung von größter Reichweite und Problemati-sierungskraft: Mit dem Interesse an einer alle Lebensbereiche umfassen-den Ähnlichkeitserfahrung und primitiv manifestierten Nachahmungsga-be der ersten Menschengeschlechter, mit der Frage nach dem kultur-und sprachzeugenden Wandel dieser Ur-Gabe im Laufe der Geschichteund schließlich mit der Thematisierung ihrer späten Spontan-Anamnesein den exemplarischen Mimesisgestalten der Moderne – dem Künstler(Proust) und dem (Berliner) Kind – setzt Benjamins Konzept in der Ur-geschichte der menschlichen Gattung an und reicht bis in die zeitgenös-sische Gegenwart des 20. Jahrhunderts. Es wird also von den sowohl

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    phylogenetischen als auch ontogenetischen, archaischen und modernenImplikationen des Mimesisvermögens in Wahrnehmung, Deutung, Ver-halten und Hervorbringung die Rede sein.

    Zielsetzung der Arbeit

    Benjamins Weitwinkel-Blick für eine ganz anders als linear, kausal oderlogisch, nämlich similär, analogisch und diskontinuierlich-konstellativ or-ganisierte Welt aus vielen Teilen lässt dieselbe auf Grund der Herrschaftihres notwendigerweise polyvalenten, quirligen und schillernden Ord-nungsprinzips ‚Ähnlichkeit‘ auf beunruhigende Weise leicht als eineunstrukturierte und unordentliche, schwer greifbare Welt erscheinen.Dieser Sachverhalt konfrontiert den um Systematisierung bemühten In-terpreten fortwährend mit einer doppelten, aber immer nur simultan zulösenden Aufgabe, die sich in folgende interdependente Fragen kleidenlässt: 1. Welches ist das Wesen, der Ausdruck, die Funktionsweise, dieVielfach-Wirkung und die historische Metamorphose jener Kraft bzw.Gabe – hieße sie nun Naturgesetz, mimetisches Genie oder bloßes Nach-ahmungsvermögen –, die für Benjamin von Urbeginn an bis heute dieMacht hat, sowohl die Objekte als auch die Subjekte dieser Ähnlichkeits-welt zu je in sich selbst spezifisch mimetischen und darüber hinaus zuei-nander korrespondierenden Zentren zu disponieren? 2. Wie wird das Be-griffsspektrum ‚Ähnlichkeit und Nachahmung‘ aussehen, das einer solchräumlich, zeitlich wie qualitativ breitgefächerten Konzeption zugrundeliegt? Hat dieses Begriffsspektrum ein Zentrum und wie sieht es nachseinen Rändern hin aus? Inwieweit wird der übliche Rahmen des Be-griffsfeldes gesprengt, das auf Grund der Zahl, Unterschiedlichkeit undwechselnden Gewichtung der Anwendungsgebiete äußerste Extreme aufeiner gedachten Begriffsskala, aber auch enge, Anlass zu Verwechslun-gen gebende terminologische Nachbarschaftsverhältnisse, Unschärfenund Mehrdeutigkeiten einschließt? Welche sauber scheidenden Defini-tionen sind im Kontext-Einzelfall vorzunehmen – Definitionen, die ge-rade und erst auf Grund ihrer angestrebten Trennschärfe die BegriffeÄhnlichkeit und Nachahmung in ihrer ganzen Perspektiven-, Schichten-und Variantenvielfalt sowie in ihren unterschiedlichen Reifegraden zei-gen und imstande sind, jeweils die Leistung einer ganz bestimmten Be-griffsnuance für einen ganz bestimmten Sachverhalt zu verdeutlichen?Wie kann Benjamins Postulat erfüllt werden, demzufolge es nicht genugist, „an das zu denken, was etwa heutzutage wir in dem Begriff von Ähn-

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    lichkeit erfassen“? (II/1,205) Leitidee dieser Fragen ist die Einsicht, dassmit der Bemühung um Begriffsschärfe auch die nötige Sachschärfe – dieKontur einer überwältigenden Bandbreite mimetischer Potentiale undErzeugnisse – zu gewinnen ist.1

    Meine Untersuchung will Antworten auf diese Fragen geben und da-bei eine Erkenntnis von übergeordneter Wichtigkeit vermitteln: die, dassin Benjamins Konzept alles andere als eine „verstümmelte Version“ oder„einseitige Definition des Mimesisbegriffs“2 vorliegt, nämlich eine in ih-rer hochdifferenzierten Problematik entfaltete, reiche, annähernd inte-grale Version mit neuen, überraschenden Einsichten.

    Das Suchbild einer ‚Ordnung der Ähnlichkeit‘: sowohl Theorie-Gegenstand als auch Werk-Eigenschaft

    Bei der Erfüllung obiger Interpretationsziele war eine Eigentümlichkeitin der Benjaminschen Darstellungsweise zu berücksichtigen. Seine ‚kos-mologisch‘ wie historisch-anthropologisch konzipierte Ähnlichkeitslehreliegt in der theoretischen Geschlossenheit, in der sie hier dargestellt wird,nicht auf der Hand. Vielmehr ist sie als Suchbild in seinem Werk ver-steckt. Diese Qualität des dem Blick immer wieder entgleitenden Such-bildes stellte eine weitere interpretatorische Herausforderung dar: die,seine Latenz in Evidenz zu überführen. Sie hat die phänomenologischeund zugleich mikrologische Arbeitsweise dieser Untersuchung wesent-lich geleitet: Erst als tastend und stichprobenartig möglichst viele seinerPartikel gefunden, gesammelt, klassifiziert, einander zugeordnet odervoneinander abgegrenzt und beschrieben waren, hob sich dieses Such-

    1 Das von den Herausgebern der Bände „Benjamins Begriffe“ formulierte Anliegen, ein– was Genese, Bedeutungswandel, Nuanciertheit betrifft – breites und differenziertesPanorama einzelner Schlüsselbegriffe des Benjaminschen Denkens zu entfalten, ist –eingegrenzt auf Benjamins Gebrauch der Begriffe Ähnlichkeit und Nachahmung – inhohem Maße auch mein Anliegen. Mit der Konzentration auf dieses eine meiner bei-den Forschungshauptziele soll das in der Forschung verbreitete unbekümmerte undoft wenig textnahe Arbeiten mit Begriffs-„Pauschalisierungen“ und „voraussetzungs-losen Spekulationen“ auch für die Interpretation von Benjamins Ähnlichkeitskonzepterschwert werden. Das Bewusstsein des Benjamin-Lesers für die irritierend große Be-deutungsvielfalt dieser Begriffe, die sich schnellen Kategorisierungen entziehen, sollgeschärft und erweitert werden (Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hgg.), BenjaminsBegriffe, Frankfurt/M. 2000, S. 11).

    2 René Girard, Mythos und Gegenmythos. Zu Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘, in: Da-vid E. Wellbery (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen amBeispiel von Kleists „Das Erdbeben von Chili“, 3. Aufl., München 1985, S. 130.

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    bild eines geschichtlichen „Kosmos der Ähnlichkeit“ aus dem verwir-rend reichen Material des Benjaminschen Werks wie ein Sternbild aus ei-ner Vielzahl von Sternen deutlich konturiert heraus. So wird BenjaminsÄhnlichkeitskonzept in dieser Form des Suchbildes selbst ein mimeti-scher Gegenstand, und zwar ein ganz besonderer. Es ist das Ergebnis ei-ner fast spielerischen und zugleich das strenge Postulat der Rücksichtdes Philosophen auf Darstellung erfüllenden Sichtung einer Konfigurati-on von vielen in Raum und Zeit verstreuten verschiedenen Ähnlichkeits-phänomenen. Es ist jedoch nicht das Ergebnis einer progressiven Linea-rität und Konsequenz wissenschaftlicher Auseinandersetzung. In ihmklingt Benjamins Erkenntnistheorie der Idee als Konfiguration von Ein-zelphänomenen des Trauerspielbuchs sowie seine Geschichtsphilosophiedes Passagenwerks und der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“im Zeichen des kritischen Gedankens an, dass geschichtliche Epochensich immer nur als Konstellation ihrer ähnlichen Züge, nie als Kontinu-um oder Kausalzusammenhang von Ereignissen begegnen.

    Aus diesem Suchbild als (in einem spezifischen, nämlich konfigurati-ven Sinn) selbst mimetischer Darstellungsform einer Mimesislehre ergibtsich der zwingende Eindruck, dass der Begriff des „Kosmos der Ähn-lichkeit“ nicht nur den Gegenstand eines Theorie-Entwurfs benennt undcharakterisiert, sondern darüber hinaus auf eine insgeheime Qualität desBenjaminschen Werks selbst hinweist: Dieses ist selbst ein Kosmos derÄhnlichkeit. Es liegt ihm bei aller offenkundigen Stückelung in disparateThemen, Methoden und Genres ein bündelndes Denken zugrunde, dasgleichsam wider Willen immer wieder um die Kategorien der Ähnlich-keit, Nachahmung und Korrespondenz und ihre Gegenteile kreist unddas am Ende genau in dieser Achtsamkeit für ein untergründiges vielma-schiges Netz von mimetischen Phänomenen eine Art intermittierenderKohärenz, seinen ‚Ruhepol‘ findet. Ob Benjamin angesichts der Krisen-erfahrung der Moderne in seiner Ähnlichkeitslehre insgeheim den„dream of wholeness“3 träumte – jenen sehnsuchtsvollen, aber anrüchig‚unmodernen‘ Traum, der der Vision eines allseitigen und integralen, na-türlich-verwandtschaftlichen Zusammenhangs der Dinge – Mensch undWelt – nachhängt und sich letztendlich dem theologischen Impuls ver-

    3 Frederic Jameson, Marxism and Form. Twentieth Century Dialectical Theories of Li-terature, Princeton 1971, S. 60f., zit. nach Thomas Regehly, „Kannitverstan“ – Benja-min, Hebel und die Hermeneutik, in: Lorenz Jäger/Thomas Regehly (Hgg.), „Was niegeschrieben wurde, lesen“. Frankfurter Benjamin-Vorträge, Bielefeld 1992, S. 59-95,62.

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    dankt, wie der Engel der Geschichte „das Zerschlagene zusammen[zu]-fügen“ (I/2,697) und die verlorene Einheit der Lebenswirklichkeit, das„Weltennetz“ (VI,614), wieder scharf und beherzt ins Visier zu neh-men – , das ist eine letzte Frage, die nahe legt, dass Benjamins mimeti-sches Weltbild die andere ‚helle‘ Seite seines Ingeniums darstellt. Ist esnicht der Gegenpol zu seinem gemeinhin als allegorisch und melancho-lisch, als destruktiv-fragmentarisierend festgelegten Denken? Ja, erklärtes sich nicht aus diesem als sein Kontrast- und zugleich Komplementär-bild? An diese Fragen knüpft sich eine weitere – die, ob Benjamins inseiner Durchgängigkeit und Intensität eher untergründiges als manifestesInteresse für alle Ähnlichkeits- und Korrespondenzbeziehungen nichtdie Konzept gewordene Erinnerung an etwas tief Vergessenes und Ver-lorenes – mimetische Kräfte zur Wiederherstellung eines ursprünglichenGanzen, der alten concordia mundi oder des profanen ‚Tikkun‘ jüdischerMystik – wachzurufen versucht und so auf verschwiegene Weise seinengeschichtsphilosophisch zentralen Gedanken der kritischen Rettung imeigenen Werk realisiert. – Die Frage nach dem gegensätzlichen Nebenei-nander der zwei Brennpunkte ‚Ähnlichkeit‘ und ‚Allegorie‘ in BenjaminsDenken soll in der vorliegenden Arbeit – von einigen Überlegungen ab-gesehen – nicht beantwortet werden; sie liegt aber in der Luft und sollals Hintergrundgedanke bei der Lektüre dieser Arbeit nicht aus den Au-gen verloren werden.

    Forschungslage

    In der Forschung haben die meisten Autoren, die sich mit dem Ähnlich-keitsmotiv in Benjamins Schriften genauer beschäftigt haben, immer nurTeil- oder Einzelaspekte behandelt, nicht jedoch das verzweigte Theorie-ganze einer Ordnung der Ähnlichkeit gesehen, die sich auf rhizomatischeWeise4 auch der inneren Struktur von Benjamins Werk mitteilt. Dabeinimmt das Interesse für Benjamins mimetische Sprachtheorie nahelie-genderweise einen breiten Raum ein. Das gilt, exemplarisch herausgegrif-fen, für die Studien und Aufsätze von Gunter Gebauer/Christoph Wulf,Manfred Geier, Krista Greffrath, Alfred Hirsch, Barbara Kleiner, BettineMenke, Winfried Menninghaus und Michael Opitz. Ähnlichkeit und

    4 Der Begriff des Rhizoms ist eine wichtige Beschreibungskategorie der inneren Struk-tur von Texten bei Gilles Deleuze/Felix Guatarri, Rhizom. Aus dem Französischenvon Dagmar Berger u.a., Berlin 1977. Ich komme im Kapitel I meiner Arbeit daraufzurück.

  • 14 Einleitung

    Nachahmung als (historisches) Erfahrungs-, Verhaltens-, Deutungs- undHervorbringungsprinzip ist Teilgegenstand der Kontextstudien mit un-terschiedlichen Schwerpunkten (Kindheit, Erinnerung, Aura, Kunst, Ge-schichte) von Anna Stüssi, Marleen Stoessel, Manfred Schneider, SusanBuck-Morss und Norbert Zimmermann.5 (Nahezu) monothematischenCharakter haben die Untersuchungen von Stefan Bub, Seong Man Choi,Jörg Leinweber, Ullrich Schwarz und Sigrid Weigel. Sie seien in ihrer je-weiligen Akzentuierung kurz vorgestellt. Ich gehe dabei nach dem Er-scheinungsjahr der jeweiligen Studien vor.

    Für Jörg Leinweber liefert die „Lehre vom Ähnlichen“ als reiches Mo-tivkompendium den Schlüssel zu Benjamins Gesamtwerk. Er sieht in ihrdie expressive „sympathia rerum“ der Natur, aber auch ein breites histo-risch-anthropologisches Spektrum mimetischen Wahrnehmungs-, Äuße-rungs- und Exegesevermögens angelegt. Da aber Begriff und Prozessedes Ähnlichen in ihrer Bedeutung und Wirkung bei Benjamin weitge-hend unbeachtet bzw. unpräzisiert geblieben seien und die von ihm vor-gebrachten sprachmimesistheoretischen Paradigmen und Begriffe wieAstrologie, unsinnliche Ähnlichkeit und Verspannungen immer nur aufDefizite, Kodifizierungen oder Rudimente des ehedem intakten mimeti-schen Vermögens hinweisen, sich also für eine (Leinweber interessieren-de) praktikable Lehre oder Unterweisung im Sinne einer „systematischlehrbaren, applizierbaren Heuristik“ in Sachen Ähnlichkeit gar nicht guteignen, greift Leinweber ausgiebig zu eigenen Beispielen aus Philosophie-und Ästhetikgeschichte, Ethnologie und Astrologie(-geschichte), um dieungebrochene Vielfalt mimetischer Potentiale und Beziehungen in derKulturgeschichte als nicht-defizitäre Lehrinhalte einer mimetischen Leh-re darzulegen.6

    Das mimetische Vermögen – urgeschichtlich fundiert in einer nicht-arbiträren synthesis a priori von Mensch und Kosmos – ermöglicht desMenschen Selbst- und Welterfahrung in einem. Daher legt es für UllrichSchwarz das Fundament zu Benjamins Erfahrungstheorie und macht siezu einer spezifisch mimetischen. Als solche sei sie zugleich immer alseine gesellschaftskritische Theorie der Rettung uralter vergessener Ähnlich-keitserfahrung – der einer natürlichen Sinn-Übereinkunft und spontanen

    5 Die bibliographischen Angaben zu diesen Autoren erscheinen an der Stelle ihrer Erst-erwähnung im Untersuchungsteil.

    6 Jörg Leinweber, Mimetisches Vermögen und allegorisches Verfahren. Studien zu Wal-ter Benjamin und seiner Lehre vom Ähnlichen, Inaugural-Dissertation, Marburg 1978,S. 7, 36.

  • Einleitung 15

    Kommunikation von Mensch und Welt jenseits des neuzeitlichen Sub-jekt-Objekt-Dualismus, der Identifizierung von Fortschritt und Naturbe-herrschung und in Differenz zu den rationalistischen, verdinglichendenbürgerlichen Denk- und Sehnormen der Moderne – zu lesen. DenSchlüssel zu dieser mimetischen Erfahrungstheorie liefert für SchwarzBenjamins Sprachphilosophie, die sowohl in ihrer frühen als auch spätenFassung von der Erfahrung eines (unsinnlichen) Ähnlichkeits- und Kor-respondenzbezugs Mensch-Welt handelt, welche in der Sprache als Ar-chiv unsinnlicher Ähnlichkeit mit Welt niedergelegt sei. In ihren mime-tischen Implikationen sei diese Sprachtheorie (auch dort, wo sie sichtheologisch-mystisch gewandet) grundsätzlich anthropologisch, und dasheißt in Benjamins Verständnis: historisch zu rekonstruieren. Dieser his-torisch-anthropologische Kontext ist für Schwarz sozialisationstheore-tisch (der Sprachanthropologie Gehlens folgend) in der Ontogenese desmimetischen (Sprach-)Vermögens gegeben: als mimetische Relation vonmenschlichem Selbstausdruck und Welt(be)deutung, innerer Antriebs-energie und gegenständlicher Außenwelt. Die Sprache konstituiert eineihr eigene Ebene, wo die semantischen Potentiale je von Subjekt undObjekt konvergieren und wo die mit menschlichem Sinn belehnte Weltrepräsentiert ist. Die Sprache ist es daher auch, in der diese selbstver-ständliche Korrespondenz von innerer und äußerer Natur, Ich und Nicht-Ich wieder aktualisiert, erinnert und so gerettet werden kann. – Anderewichtige von Schwarz untersuchte Bereiche, in denen Benjamin Paradig-men für die nötige und mögliche Rettung verschütteter, auf die Ein-(Er-)Lösung ihrer utopisch-revolutionären Elemente wartender mimetischerErfahrungspotentiale sieht, sind die Lebensgeschichte des Einzelnen unddie Geschichte des Kollektivs – beide einzigartig wiederzugewinnen nachdem Modell von Prousts unwillkürlicher Erinnerung – sowie die ästheti-sche Erfahrung in ihrem generell und ideal gesellschaftlichen, d.h. integra-le, nicht-entfremdete soziokulturelle Lebensformen antizipierenden Gehalt.7

    Stefan Bub konzentriert sich in seiner Studie „Sinnenlust des Be-schreibens“ (ein Benjamin entlehnter Titel, der selbst schon dem Kon-text einer mimetischen Beziehung, der zwischen dem Beschreibendenund dem Beschriebenen entstammt) auf Benjamins literarische und theo-

    7 Vgl. Ullrich Schwarz, Rettende Kritik und antizipierte Utopie. Zum geschichtlichenGehalt ästhetischer Erfahrung in den Theorien von Jan Mukarovský, Walter Benjaminund Theodor W. Adorno, München 1981; vgl. ders., Walter Benjamin: Mimesis undErfahrung, in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philoso-phie der Gegenwart VI, Göttingen 1984, S. 43-77.

  • 16 Einleitung

    retische Prosa als einer selbst mimetisch bzw. kontrastiv dazu allego-risch bestimmten. Benjamins jeweilige Sprachgestaltung korrespondieregenau seiner jeweiligen Mimesis-Thematik – generell: den geheimenAffinitäten und Amalgamierungen disparater oder verstreuter Dinge –,indem sie sich ihr in Stil und Duktus anverwandelt und sie so unmittel-bar evoziert. Seine Theorie der Wahrnehmung und Erfahrung verschie-denartigster Ähnlichkeitsphänomene manifestiere sich mimetisch inseinem Sprachgebaren.8

    Als Gegenstand seiner Arbeit steht Seong Man Choi Benjamins weit-ausgreifende, im umfassenden Sinn humanwissenschaftliche, an die vor-platonische Tradition anknüpfende Mimesistheorie vor Augen. Diesezeichnet Choi zunächst in ihrer (frühen und späten) sprachtheoretischenFassung nach, aus der er einige jener Spezifika extrahiert, die BenjaminsMimesis- und Ähnlichkeitsverständnis generell charakterisieren (Mimesisals lebenspraktisches Vermögen; ihr Doppelcharakter als Ausdruck undDarstellung; ihre dialektische Funktionsweise und subversive Kraft; ‚Le-sen‘ und ‚Übersetzen‘ von unsinnlichen Ähnlichkeiten). In einem zwei-ten Schritt untersucht Choi am Beispiel von Benjamins Proust-, Kafka-und Kindheits-Bildern die Relevanz des über seine sprachtheoretischenImplikationen hinausführenden mimetischen Vermögens für die mensch-liche Wahrnehmung, Erfahrung, Erinnerung, Fantasie sowie für die Ben-jamin-spezifischen geschichtsphilosophischen Kategorien der Entstel-lung und Erlösung. In einem weiteren Schritt exemplifiziert Choi die immimetischen Medium ‚Sprache‘ besonders manifeste Ausdruckskraft derMimesis an Benjamins Deutung der allegorischen Formensprache desbarocken Trauerspiels und der Lyrik Baudelaires: Die Allegorie als Stilfi-gur und künstlerisches Gestaltungsprinzip ist sinnfälliger Ausdruck, mankönnte auch sagen: mimetische Wiedergabe der epochenspezifischen Auf-fassung von Geschichte als verfallene Natur. Inbegriff des Zerstückelten,mimt sie gleichsam eine ebensolche historische Erfahrung – das Lebens-gefühl und die ästhetische Sichtweise des Barock wie des Hochkapitalis-mus. Seine Untersuchung beschließt Choi mit einem Vergleich zwischenAdornos und Benjamins Mimesisbegriff.9

    Wie der Titel ihrer Studie „Entstellte Ähnlichkeit“ programmiert,grenzt Sigrid Weigel ihr Interesse an Benjamins Ähnlichkeitsdenken auf

    8 Vgl. Stefan Bub, Sinnenlust des Beschreibens. Mimetische und allegorische Gestaltungin der Prosa Walter Benjamins, Würzburg l993.

    9 Vgl. Seong Man Choi, Mimesis und historische Erfahrung. Untersuchungen zur Mi-mesistheorie Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1997.

  • Einleitung 17

    die diversen, oft nur als Spuren lesbaren Manifestationen deformierterÄhnlichkeit im Wandel sowohl von Benjamins Theorie als auch seinerDenk- und Schreibweise ein. Ihre selbstgestellte Aufgabe ist dementspre-chend eine doppelte: 1. Benjamin wird auf dem Hintergrund seinerFreud-Rezeption und seit dieser als Autor einer psychoanalytischenTheorie der Lesbarkeit entstellter Ding- und Bilder-‚Schrift‘ dargestellt,wie sie vor allem die Phänomene der Moderne schreiben. Da für Wei-gel das Paradigma dieser schwer lesbaren, weil korrumpierten und dochverräterischen ‚Schrift‘ der Dinge die getarnten (Sprach- und Bild-)Mel-dungen aus dem (unbewussten) Gedächtnis sind, ist diese Theorie derLesbarkeit entstellter Ähnlichkeiten als eine gedächtnistheoretische spe-zifizierbar. Als solche weist Weigel sie auch in Benjamins Reformulie-rungen eigener (früherer) Theoreme nach (Sprachmagie, Allegorie, Mes-sianismus). 2. Benjamins theoretische Denk- und Schreibweise – seinspezifisches Bilddenken – macht von den frühen zu den späten Arbeiteneinen Wandel in Form von Verschiebungen, Modifikationen und Ver-kehrungen durch, die nach Weigel selbst unter das ‚Gesetz‘ entstellterÄhnlichkeit – präzisierend könnte man von entstellter Selbstähnlichkeitsprechen – fallen. Die Autorin spielt dieses dynamische Denk- undSchreibverfahren für verschiedene Deutungskategorien und DenkbilderBenjamins in ihrer jeweiligen Genese durch („Leib- und Bildraum“, „dia-lektisches Bild“, Geschlechterdifferenz und Eros).10

    Die Wahlverwandtschaft Benjamin-Proust konzentriert sich in meinerArbeit auf beider Blick für die zahllosen materiellen und immateriellenÄhnlichkeits- und Korrespondenzbeziehungen innerhalb der Lebensweltund (Lebens-)Geschichte und deren von Benjamin wie Proust als Kritikverstandenen Restituierung. Diese Verwandtschaftsnähe kommt bei denAutoren, denen Prousts Wirkung auf Benjamin präsent ist, mehr oderweniger immer nur in Form von die jeweiligen Schwerpunkte ihrer Ben-jamin-Deutung affirmierenden oder beleuchtenden Überlegungen zurSprache. Breiteren Raum für eine Erhellung der Assimilation von Pro-usts Werk durch Benjamin lassen aus unterschiedlichen thematischenBlickwinkeln die Beiträge von Seong Man Choi, Krista Greffrath, Barba-ra Kleiner, Birgit Recki, Ullrich Schwarz und Peter Szondi. Die (soweitüberblickbar) bisher einzigen Monographien zur intellektuellen AffinitätBenjamin-Proust stammen von Robert Kahn und Henning Teschke.Kahn zeigt sich in seiner „étude comparée“ von Benjamins Proust-Inspi-10 Vgl. Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibwei-

    se, Frankfurt/M. 1997.

  • 18 Einleitung

    ration so entschieden überzeugt wie kein anderer Benjamin-Interpret.Zum einen die „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ in all ihren äs-thetischen, theoretischen und philosophischen Vernetzungen mit ande-ren Schriften Benjamins als kryptische „réécriture“ von „À la recherchedu temps perdu“ lesen, zum anderen „le côté Benjamin“ in seiner kom-plexen Spezifik in Prousts Werk offen legen – das sind Kahns Zielvor-stellungen. Beide so ungleichen Werke werden von Kahn verstanden alsFormulierungen des Übergangs von einer bürgerlichen Kindheitsgebor-genheit zum erwachenden Bewusstsein geschichtlicher Schrecknisse.Benjamin sei „marxo-proustien“ insofern, als er Prousts Motiv individu-ellen Erwachens geschichtsphilosophisch auf das kollektive Bewusstseinübertrage. In Kahns Auswahl unter den bekannten Benjaminschen undProustschen Themen und Motiven, die die Gemeinsamkeiten, aber auchUnterschiede zwischen dem französischen Romancier und dem deut-schen Philosophen beleuchten, spielt die Kategorie der Ähnlichkeit einesehr untergeordnete Rolle.11 – Auch Teschke bildet in seiner streng zwei-teiligen Studie unter Aufbietung der bekannten gemeinsamen Themenund Motive ‚Benjamin auf Proust, Proust auf Benjamin‘ ab. Er machtProusts „nur substruierte Begrifflichkeit“ explizit mit Hilfe von Benja-mins Begrifflichkeit bzw. verifiziert Benjamins Proust-Deutung und -Re-zeption durch Proust selbst. Ziel dessen ist es, die Differenz von Romanund Theorie zu unterlaufen. Als fokussierende Deutungsinstrumentedienen Teschke Prousts „unwillkürliche Erinnerung“ und Benjamins„dialektisches Bild“. Beide Begriffe werden sowohl parallel als auchüberkreuz je für Prousts Roman, je für Benjamins Theorie als ästheti-sche, philosophische und geschichtstheoretische Reflexionen an sich zie-hende Erfahrungs- und Erkenntniskategorien entfaltet, die den Autorzur Gewissheit einer unkonstruierten „Konvergenz“ und schließlichen„Kongruenz“ von Benjamins Theorie und Prousts Ästhetik, von beiderje „metaästhetischer und ästhetischer Wahrheit“ führen. Diese Kongru-enz gipfelt für ihn in dem Satz: „Das dialektische Bild ist zu definierenals die unwillkürliche Erinnerung der erlösten Menschheit.“ (I/3,1233) –die bildspendende mémoire involontaire als Modell der Immanenz undHistorizität des Messianischen. Teschkes Verdienst vor allen anderen In-terpreten ist es, die Bedeutung von Prousts unwillkürlicher Erinnerungbei der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten zwischen dem Vergangenenund dem Jetzt für Benjamins Theorie geschichtlicher Wahrheitserkennt-11 Robert Kahn, Images, Passages: Marcel Proust et Walter Benjamin, Éditions Kimé,

    Paris 1998, S. 8, 10, 155, 221.

  • Einleitung 19

    nis gesehen zu haben.12 – Eine systematische Untersuchung, die das gan-ze Gewicht und die Intensität der Breiten- und Tiefenwirkung Proustsfür und auf Benjamins Denken und Dichten ins Licht rückt, dies im Fo-kus des Ähnlichkeitsmotivs tut und am Ende mit dem beide nach demantiken ‚similia a similibus cognoscentes‘ verbindenden unwiderstehli-chen Hang zum ‚Philosophieren in Ähnlichkeiten‘ begründet, fehlt je-doch bisher.

    Kapitelübersicht

    Kapitel I hat innerhalb der konzeptuellen Anlage meiner Arbeit dieFunktion, in einem ‚Blick von oben‘ einen orientierenden Zugang zuBenjamins Gesamtwerk – in seiner spezifischen Formensprache verstan-den als Labyrinth, dem jedoch ein Plan zugrunde liegt – zu finden. Leit-gedanke ist dabei die als Selbstähnlichkeit deutbare Korrespondenz vonWerk-Tektonik und Werk-Gehalten, Darstellung und Wahrheit, ‚Fassa-de‘ und ‚Innenraum‘, „Tasche“ und „Inhalt“. – In den Kapiteln II, IIIund IV skizziere ich die geschichtliche Reichweite und nachhaltige Effi-zienz mimetischer Bildekräfte von der Urgeschichte bis zur Moderne indrei Stationen. Dabei wird in einem ersten Schritt Ähnlichkeit als ‚Sprache‘sowohl der Natur als auch des urgeschichtlichen Menschen konzipiert(Kap. II). In einem zweiten Schritt entfalte ich anhand einiger wichtigerBegriffe aus Benjamins früher und später Sprachphilosophie Sprache alsÄhnliches. Der Akzent liegt dabei auf der Eigenschaft der Unsinnlich-keit von Sprache als Ähnliches im Lichte der Kategorien, die den Mi-mesischarakter der Sprache in Wahrnehmung und Erinnerung als nichtmehr erkennbar qualifizieren. Darauf aufbauend, stelle ich eine theorie-genetische Beziehung zwischen der Sprache des „Namens als Gegen-stand einer Mimesis“ und der „Sprache als unsinnlicher Ähnlichkeit“ her(Kap. III). Schließlich gehe ich in einem dritten Schritt den vielfältigenÄußerungsformen der Selbstbehauptung und Wiederkehr des Ur-Mime-sisvermögens in der Moderne am Beispiel des mimetischen Genies vonProust und dem Kind nach. Dabei dient die Beschäftigung mit ProustsÄhnlichkeitswelt als Anlass für eine breitere Darstellung der wahlver-wandtschaftlichen Beziehung Benjamin-Proust (Kap. IV). – Im KapitelV werden theoretisch und praktisch-interpretatorisch drei von Benja-min selbst eingeführte Ähnlichkeitstopoi untersucht, die in ihrer mime-12 Henning Teschke, Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches

    Bild. Inaugural-Dissertation der Freien Universität Berlin, Berlin 2000, S. 110, 8.

  • 20 Einleitung

    sistheoretisch abweichenden, innovativen Eigenwilligkeit als zentral, er-hellend, wegweisend und grenzziehend für sein Mimesisverständnis an-zusehen sind. Diese Topoi – am Material der einschlägigen Schriften prü-fend durchgespielt – fixieren die beiden äußersten Enden auf der Skaladessen, was Mimesis alles vermag: kopierende Reproduktion, Gleichheitan dem einen, vollendende Mimesis, entstellte Ähnlichkeit an dem ande-ren Ende.