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Carlie Sorosiak wurde in North Carolina geboren und studierte englische Literatur und kreatives Schreiben in Oxford und London. Zu ihren Lebenszielen gehört, alle sieben Kontinente zu bereisen. Außerdem ist sie Fan der Gilmore Girls und verbringt gerne ganze Tage in Museen. Momentan reist zwischen den USA und Großbritannien hin und her, wo sie lebt und arbeitet. »If Birds Fly Back« ist ihr Debütroman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

Ab 12 Jahren • Carlie SorosiakIf Birds Fly Back Über die Liebe unter Berücksichtigung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten440 Seiten • Gebunden€ 17,00 [D] € 17,50 [A] CHF 21,90Auch als E-Book erhältlich 978-3-401-60320-9

Seit ihre Schwester davonlief, sammelt Linny Geschichten. Geschichten über verschwundene Menschen, die wiederge-kehrt sind. Denn sie hofft, dass so auch ihre Schwester zurück-kommen wird. Als ihr eines Tages der verschollen geglaubte Schriftsteller Álvaro Herrera buchstäblich vor die Füße fällt, scheint ihr dies wie ein Wink des Schicksals. Im selben Moment tritt Sebastian in ihr Leben. Offenbar ist er genauso wie Linny auf der Suche. Ständig kommt er ihr in die Quere, und es scheint, als würde ausgerechnet der wunderliche Álvaro dafür sorgen, dass Linnys und Sebastians Wege sich kreuzen. Ist Sebastian der Schlüssel zu all den Rätseln und Fragen in Linnys Leben? Sollten sie und Sebastian vielleicht gerade deshalb zusammenfinden?

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Sebastian

4.

»Das ist natürlich alles hypothetisch. Was bedeutet, dass ei-nes Tages der Beweis dafür gefunden werden könnte, dass es stimmt.« Astrophysische Kuriositäten auf einen Blick, S. 340

»Tod durch Erdnussbuttertoast?«, fragt Micah, nachdem ich von mir zu Hause zu ihm geflohen bin.

»Wie tragisch ist das denn bitte?«, erwidere ich. »Ungefähr so tragisch, wie zu sterben, weil man verse-

hentlich auf einen Elektrozaun gepisst hat.«Mein Flug nach Miami geht in zwei Stunden und fünf-

undvierzig Minuten. Bis dahin fasse ich die Ereignisse des Vormittags für Micah zusammen, während er gerade da-mit beschäftigt ist, sich in Dark Ops Resolution, unserem absoluten Lieblingsvideospiel, die feindlichen Truppen vom Hals zu halten. Das Bumm-bumm-bumm halb auto-matischer Waffen dröhnt durch den Keller.

Ich habe ihm gerade mitgeteilt, dass ich den Sommer in Florida verbringen werde. Er wirkte verwirrt. Und dann wütend. Jetzt tut er so, als sei er darüber hinweg und in-teressiere sich ausschließlich dafür, die Position hinter der Brücke abzusichern.

Was ich nicht erwähnt habe, ist die kleine, vollkommen unbedeutende Tatsache, dass Álvaro Herrera mein Vater ist, bloß dass er nicht weiß, dass er mein Vater ist, und ich nur deswegen nach Miami fliege, um es ihm zu sagen.

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Nichts davon erzähle ich Micah, 1) weil sich die Worte in meinem Hals zu einem dichten Gewöll verheddert haben, 2) weil er dann durchdrehen würde und 3) weil wir nicht beide gleichzeitig durchdrehen können.

Ich meine, wo war Álvaro die ganze Zeit?

ERSTE GRUNDLAGEN FÜR EINE THEORIE ÜBER FRISCH ENTDECKTE VÄTER:Alle Hypothesen sind zulässig.

Er könnte auf mysteriöse Weise verschwunden sein wie diese Astronauten in »Testflug« – der besten Folge von Twilight Zone.

Oder er ist ein Zeitreisender: In Wahrheit war er nur ein paar Sekunden weg, aber für alle anderen erscheint es so, als wären es drei Jahre gewesen.

»Incoming! Incoming!«, schreit Micah. Das Fauchen ei-nes Granatwerfers ertönt, dann brüllt er: »Gott! Scheiße! Verdammt, verdammt, verdammt! Wo bist du nur mit dei-nen Gedanken, Alter? Wegen dir gehen wir gerade drauf.«

»Wir haben immer noch die Hälfte unserer Einheiten.« Eine Bombe explodiert. »Wir haben immer noch ein Drit-tel unserer Einheiten.«

Micahs Daumen fliegen über die Knöpfe. Er ist ein Fin-ger-Ninja. »Und du hast also vor, im Altersheim auszu-helfen? Spring nach links! Ich sagte, links! Ich wette, du lachst dir da eine heiße Achtzigjährige mit einem gesun-den Appetit auf jüngere Männer an.«

»Herrgott, Micah …«»Verdammt noch mal, Sebastian! Links! Mit L! Und

dann wird sie dir mit Haut und Haaren verfallen und dich gleich in ihr Testament aufnehmen: ›Meinem jugendlichen

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Liebhaber vermache ich meine Strickjacken und meine Golfschläger.‹«

»Ich muss gleich kotzen.«»Ich meine ja nur, du schöpfst dein Dating-Potenzial

nicht voll aus, wenn du die Über-Achtzigjährigen außer Acht lässt. Denk mal drüber nach. LINKS!«

»Schon gut, schon gut.«»Ich hab dir den Koffer mit Kondomen vollgestopft.«»Was?«»Und dein Portemonnaie. Da sind auch drei drin.

WEISST DU ALLEN ERNSTES NICHT, DASS LINKS DAS GEGENTEIL VON RECHTS IST?«

Wir schleichen geduckt um den verlassenen Vergnügungs-park. Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.

Zum Teil liegt das daran, dass ich an unseren Schulaus-flug in der achten Klasse denken muss. Wir sind zum Ca-lifornia Science Center gefahren, wo in einer Ausstellung Körper ohne Haut gezeigt wurden – nichts als Muskeln, Adern und Knochen. So fühle ich mich gerade: als hät-te man mir die Haut abgezogen. Ich fühle mich, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt worden, aber ich will nicht, dass irgendjemand dieses Chaos sieht.

Es liegt aber auch daran, dass ich diesen Sommer Tau-sende Kilometer von Micah entfernt verbringen werde und wir im Herbst dann auf verschiedene Colleges gehen werden (ich: Astrophysik an der Cal Tech, er: weiß der Geier was in Berkeley). Die Leute können sagen, was sie wollen, aber Bromances gibt es nicht bloß im Fernsehen. Wir sind seit der fünften Klasse beste Freunde, seit er von einem christlichen Missionarsehepaar adoptiert und aus einem Städtchen an der koreanischen Grenze in die USA gebracht wurde. Eine seiner Lieblingsanekdoten ist die

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über seinen Namen: »Eigentlich heiße ich Chung-Hee, aber meine Eltern fanden in ihrer unendlichen Weisheit, dass das nicht amerikanisch genug klingt, also haben sie mich stattdessen nach jemandem aus der Bibel benannt. Mir persönlich wäre ja ›Weißkopfseeadler‹ lieber gewesen. Wenn, dann richtig.«

Dazu muss man wissen, dass »wenn, dann richtig« qua-si Micahs Lebensmotto ist. So wie letztes Jahr, als er be-schloss, dass die Tatsache, dass er kein Rocker ist, ihn nicht davon abhalten müsse, wie einer auszusehen. Mit dem Er-gebnis, dass er sich die Haare hinten raspelkurz abrasierte, sie vorne aber so lang wachsen ließ, dass er sie locker hätte zum Zopf flechten können.

Irgendwie beneide ich ihn ein bisschen.Der Bildschirm versinkt in einem Meer aus Blutsprit-

zern. Micah wirft den Controller beiseite und seufzt. »Al-ter. Du bist scheiße.«

»In dem Spiel warst du immer besser als ich.«»Sag nicht ›warst‹.«»Was?«»Sag nicht ›warst‹. Das klingt, als würdest du sterben

oder so.«Ich drücke seine Schulter. »Du alter Softie.«Er schüttelt mich ab und sieht auf die Uhr. Noch zwei-

einhalb Stunden bis zum Abflug. Ich lade meinen Koffer, der, seit ich zu Hause losgegan-

gen bin, um achtundzwanzig Kondome schwerer gewor-den ist, in den Kofferraum von Micahs rostigem Ford Fi-esta. Wir kurbeln die Fenster runter und fahren los.

»Eine letzte Runde Alphabet für unterwegs?«, fragt er und klopft mit den Fingern aufs Lenkrad.

»Sicher.«

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»J«, sagt er.»Jennifer Lawrence«, antworte ich. Dieses Spiel haben

wir uns irgendwann in der Mittelstufe ausgedacht. Es geht darum, alle Mädchen aufzuzählen, die niemals mit uns schlafen werden.

»Julie«, kontert er. »Die Rothaarige aus dem Videola-den.«

»Jessica O’Conner.«»Cheerleader-Jessica?«»Jepp«, bestätige ich.»Ich weiß nicht, Mann. Mit dir würde sie vielleicht sogar

in die Kiste springen.«Micah weist bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf

hin, dass ich mal mit einer Cheerleaderin zusammen war. Flora. Eineinhalb katastrophale Monate lang, die unwie-derbringlich verloren sind. Damals hat Micah es geschafft, sich nicht weniger als hundert verschiedene Umschrei-bungen für Floras »Pompoms« einfallen zu lassen.

»Das war doch nichts Richtiges«, wende ich ein. »Ich war mehr so eine Art Projekt für sie.«

»Rede deinen Erfolg bloß nicht klein. Sie war scharf. Und damit meine ich: ultrascharf. Fast so scharf wie deine Mom.«

»Lass dir. Einen anderen. Vergleich einfallen.«»Ich mein ja nur, wenn ich deine Mom hätte, würde ich

sie garantiert nicht den ganzen Sommer allein zu Hause lassen.«

»Und ich meine, wenn du nicht aufhörst, über meine Mom zu reden, sehe ich mich gezwungen, dich im Schlaf zu ersticken.«

Micah lacht leise. »Und sie hat wirklich keine Ahnung, dass du gehst?«

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»Nö.«»Warum nicht?«»Das war eine ganz spontane Kurzschluss-Idee.«»Äh, und das findet sie … in Ordnung?«»Nö.«»Tja, da steht dir wohl ein gewaltiger Shitstorm bevor.«Am Flughafen umarme ich Micah zum Abschied. Also,

so eine Männerumarmung. Mit zweimal auf den Rücken klopfen und so. Zwei Stunden später befinde ich mich in der Luft.

EINE ALTERNATIVE FORMEL FÜR DAS FINDEN ABWESENDER VÄTER:x(y) = z, wobei x = konkrete Informationen, y = Reise zum betreffenden Subjekt und z = das Zusammenfügen von Scherben

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Linny

5.

WER: James Willis, Sänger der Band MiddlehouseWANN: 2013, nachdem er zu einem Auftritt bei den MTV Video Music Awards nicht erschienen warWARUM: Soweit ich weiß, kann niemand so genau sa-gen, warum er verschwunden ist, aber acht Tage später war er pünktlich zu einem Konzert wieder da, bei dem Middlehouse als Vorband von Maroon 5 auftraten.ANMERKUNGEN: Das Konzert fand in Orlando statt und Grace war dabei … Verbindung? (Sie meinte, es sei der beste Auftritt von Middlehouse aller Zeiten gewe-sen – und sie muss es wissen.)

Am Morgen, bevor Grace verschwand, kam sie in mein Zimmer, während ich noch schlief, und setzte mir ihre Kopfhörer auf. Das Erste, was ich sah, als ich aufwach-te, war sie, wie sie sich über mich beugte. Ihre Haare rin-gelten sich in winzigen, festen Löckchen um ihren Kopf und alles an ihr vibrierte förmlich vor Energie. Sie trug ihr Tanktop mit dem tiefen Ausschnitt, von dem sie steif und fest behauptete, dass es früher mal Joan Jett gehört hatte (das jedenfalls hatte der Typ im Secondhandladen ihr erzählt), und das die beiden Klebetattoo-Schmetterlinge, die auf ihrem Schlüsselbein tanzten, perfekt zur Geltung brachte.

»Gott sei Dank bist du endlich wach«, sagte Grace. »Ich warte schon eeewig.« Das ist auch so etwas, was mir

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fehlt – die Art, wie sie wichtige Wörter immer auf der ers-ten Silbe betont, und dazu ihre raue Stimme, die klingt wie die einer fünfunddreißigjährigen Barsängerin. Ich war jedes Mal wieder überrascht, sie aus dem Mund dieser zier-lichen, einen Meter sechzig kleinen Person zu hören.

Ich kam nicht mal dazu, sie zu fragen, was das mit den Kopfhörern sollte, weil sie mir sofort den Zeigefinger auf die Lippen legte und verkündete: »Dieser Song wird dein Leben verändern.« Ein E-Gitarren-Solo – schnell und mitreißend – dröhnte durch die Kopfhörer und ich fing an, dazu mit dem Kopf zu nicken, denn sie hatte vollkom-men recht. Als das musikalische Genie unserer Familie hat Grace in Bezug auf lebensverändernde Songs immer recht. Sie beherrscht elf verschiedene Instrumente (wenn man das Kazoo mitzählt, und das tue ich) und ist die stol-ze Besitzerin von nicht weniger als zweihundert Alben, größtenteils von Sängerinnen, die ihre Haare in den Acht-zigern bis zum Gehtnichtmehr auftoupiert trugen.

»Nicht schlecht«, sagte ich und sie hüpfte auf mir he-rum – genauer gesagt: Sie saß auf meinem Bauch, als sei ich ein übervoller Koffer, den sie zu schließen versuchte, bis ich mich geschlagen gab: »Okay, okay, er ist fantastisch.«

Daran muss ich denken und dann fällt mir wieder ein, dass sie weg ist.

Ich vermisse sie so sehr, dass es mich beinahe umhaut.Es ist acht Uhr morgens, ich stehe (mit wackligen Kni-

en) vor dem Silver Springs und warte auf Cass und Ray. Ganz in der Nähe hat sich ein Mann mit einer roten Base-ballmütze zwischen zwei Palmen postiert und fotografiert das Gebäude. Er ruft mir zu: »Würde es dir etwas ausma-chen, ein paar Schritte nach rechts zu gehen? Ich versuche, ein gutes Bild zu kriegen!«

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»Oh«, murmle ich. »Äh, na klar.«Die Nachricht von Álvaro Herreras Rückkehr verbrei-

tet sich – langsam, aber sie verbreitet sich. Laut findalvaro.com glauben bisher bloß die Hardcore-Fans, dass er am Leben ist und im Silver Springs gesichtet wurde. Ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis auch andere Leu-te herausfinden, dass die Gerüchte stimmen.

Mit angemessener Verspätung fahren Ray und Cass in Rays klapprigem Truck vor, der alt genug ist, um selbst ei-nen Platz im Silver Springs zu beanspruchen. Hier und da ist er bereits ergraut – die grüne Farbe ist abgeplatzt und das nackte Metall darunter kommt zum Vorschein. Auf dem Bürgersteig erläutern sie mir ihren Plan: Sie schlei-chen sich ein, indem sie behaupten, ihre Oma Ethel besu-chen zu wollen (die ganz bestimmt eine zauberhafte alte Dame wäre, wenn es sie denn geben würde). Dann werden sie sich mit ihren ergaunerten Besucherausweisen irgend-wo hinsetzen, von wo aus sie Álvaro Herrera aus der Fer-ne begaffen können.

»Ihr habt also vor zu lügen«, stelle ich fest und bereue es bereits, dass ich ihnen von ihm erzählt habe.

»Nur eine kleine Notlüge«, stellt Ray klar. Er zeigt aufs Gebäude. »Irgendwo dadrin gibt es garantiert eine Ethel.«

»Mag sein«, räume ich ein, »aber für mich läuft ›sich un-ter falschen Angaben Zutritt in ein Altenheim verschaffen‹ trotzdem unter ›moralisch zweifelhaft‹.«

»Mach dich mal locker, meine kleine Linzer Torte«, meint Cass und mein Herz setzt einen winzigen Schlag lang aus, weil dieser Spitzname Grace’ Erfindung war. »Wir sind su-perunauffällig beim Prominente-Beobachten.«

Wie sich herausstellt, sitzt Marla nicht am Empfang, al-so trage ich mich einfach in die Liste ein, während Cass

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und Ray hinter mir durch die Lobby huschen. Wir sehen uns im Innenhof um – kein Álvaro. Dann laufen wir die Flure ab – kein Álvaro. Schließlich verbringen wir den restlichen Morgen im Aufenthaltsraum, wo wir mit zwei älteren Damen in sackartigen kanariengelben Kleidern Pingpong spielen. Eine der beiden heißt Ethel. (Ray kriegt sich deswegen vor Kichern gar nicht mehr ein, bis Cass ihn kneift.)

Dann gibt es Mittagessen, und als wir in den Speisesaal kommen, sitzt dort Álvaro Herrera allein an einem der lan-gen Plastiktische, vor sich einen Aschenbecher, und sieht den Rauchschwaden nach, die aus seinem Mund quellen.

»Das ist er?«, fragt Ray.Ich nicke. »Starr ihn nicht so an.«Eine kleine Menschentraube hat sich gebildet und eine

Woge aus Stimmen schwappt durch den Raum. »Ist das wirklich …?« – »Ich dachte, er sei …?« – »Ich hab ihn gestern schon gesehen, aber …« Drei Pflegerinnen lehnen an der Wand hinter ihm, aber keine von ihnen macht An-stalten, ihm den Zigarillo abzunehmen.

Und dann ist da noch etwas. Noch jemand.Mir fällt ein Junge auf, in meinem Alter – oder vielleicht

ein bisschen älter –, der am Snackautomaten lehnt und uns anstarrt. Und damit meine ich wirklich anstarrt. Er sieht ein bisschen schräg aus – wie ein Puzzle, das schludrig zusammengesetzt wurde, und falls ich es richtig erkenne, steht auf seinem knallgrünen T-Shirt I Believe in Science. Er hat dunkles, wildes Haar. (Randbemerkung: »Wild« ist ein Wort, das ich nicht leichtfertig verwende. Sein Haar sieht aus wie das von Ringo Starr Mitte der Sechzigerjah-re, allerdings nachdem Ringo in einen Wirbelsturm gera-ten ist.)

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Trotzdem hat er irgendetwas an sich, weswegen ich mir in meinem eigenen Outfit plötzlich seltsam fehl am Platz vorkomme: fransige Jeansshorts und eine weite weiße Bluse, die perfekt zu dem abgeplatzten Nagellack auf mei-nen Fingern passt. Verlegen versuche ich, ein paar Locken zurückzustecken, die sich aus dem Fischgrätzopf gelöst haben, den ich mir heute Morgen nach einem verlorenen Kampf mit dem Glätteisen geflochten habe.

Ray und ich schnappen uns Tabletts und Besteck, wäh-rend Cass sich an einem der Tische niederlässt. Mit ihrem silbernen Glitzertop und ihrer dichten blonden Mähne zieht Cass normalerweise alle Blicke auf sich, doch dies-mal schenkt ihr niemand Beachtung. Und uns niederen Sterblichen schon gar nicht. Alle haben nur Augen für Ál-varo.

Eine der Küchenkräfte teilt etwas aus, das nach Hack-braten aussieht (oder ist das Truthahn?). Ray und ich set-zen uns damit zu Cass an den Tisch, die seit einer halben Stunde auf demselben Zimtkaugummi herumkaut. Ich biete ihr etwas von meiner Fleischpampe an, aber sie zeigt auf ihren Mund und sagt: »Danke, hab schon.«

»Geh hin und rede mit ihm«, drängt Ray.»Mach ich ja«, antworte ich. »Ich warte nur auf den

richtigen Moment.«Die Klimaanlage muss defekt sein, denn die Luft hier

drin fühlt sich an wie im Dschungel. In den Ecken lau-fen Ventilatoren auf Hochtouren, wodurch es summt und rauscht wie in einem Windkanal, was den Großteil des Getuschels übertönt. Álvaro kann Cass also unmöglich hören, als sie sich vorbeugt und schmatzend verkündet: »Er ist … ganz anders … als ich ihn mir vorgestellt ha-be.« … und genau in diesem Moment beginnt er, mit den

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Händen auf den Tisch zu schlagen. Ein fiebriger Aus-druck steht in seinen Augen. Sie werden ganz groß. Sein Unterkiefer mahlt. PENG, PENG, PENG. Seine flachen Hände knallen wieder und wieder aufs Plastik, wie bei ei-ner Aufziehpuppe. Ich blicke auf seinen Mund, weil ich damit rechne, dass er gleich etwas sagen – rufen, schrei-en, was auch immer – wird, aber seine Lippen bleiben fest verschlossen.

PENG, PENG, PENG.Zehn Sekunden verstreichen.PENG.Rays Hals ist knallrot angelaufen und er wirft mir im-

mer wieder einen Seitenblick zu, als wolle er sagen: Wir müssen doch was unternehmen, oder? Aber ich habe keine Ahnung, was man unternehmen sollte. Und die meisten anderen offensichtlich auch nicht. Die Einzigen, die re-agieren, sind die Pflegerinnen, die zu ihm eilen, und der rätselhafte Junge, der aus dem Raum rennt. Ich frage mich, wo er hinwill.

PENG, PENG, PENG.Nur mit vereinten Kräften und der Hilfe von Marla, die

aus dem Büro gestürmt kommt, schaffen es die Pflege-rinnen, ihn zu beruhigen. »Schon gut, Schätzchen«, sagt Marla. »Alles in Ordnung.«

Aber das ist eindeutig nicht der Fall. Irgendetwas ist hier ganz und gar nicht in Ordnung.

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DIE ZURÜCKGELASSENEN (Szene 3)

IM GARTEN DER CARSONS

LINNY (elf) und CASS (elfeinhalb) fangen Glühwürmchen. Jede von ihnen hat ein Einmachglas in der Hand und sie haben darin bereits etwa zehn Glühwürmchen gesammelt. Deren kleine Hinterteile erleuchten die Dunkelheit.

GRACE (dreizehn) kommt zur Hintertür herausgerannt, bar-fuß und schreiend. Offensichtlich stimmt etwas nicht. Die Beulen auf ihrem Rücken sind gewachsen; unter ihrer Haut zeichnen sich nun die Umrisse kleiner, spitzer Stummel ab.

GRACEIch hab gesagt, ihr sollt das lassen!

CASS(verwirrt)Was meinst du?

LINNY(schuldbewusst)Wir wollen sie ja nicht behalten. Nur ein bisschen angucken.

GRACEDas sind wilde Tiere, Linny. Lasst. Sie. Frei.

Gehorsam schrauben LINNY und CASS die Gläser auf und sehen zu, wie die blinkenden Lichter davonfliegen und ver-blassen. GRACE streckt die Hände aus und versucht, ihnen zu folgen, doch ihre Füße bleiben fest am Boden.

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