Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große...

35
Leseprobe aus: ISBN: 978-3-499-27348-3 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

Transcript of Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große...

Page 1: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Leseprobe aus:

ISBN: 978-3-499-27348-3Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

Page 2: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main,war Jurist und lebt seit 1980 in seiner Geburtsstadt alsSchriftsteller. Sein erster Roman «Das Bett» erschien1983; seitdem sind zehn weitere hochgelobte Romaneentstanden, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti undEssays. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a.erhielt Martin Mosebach die Goetheplakette der StadtFrankfurt am Main, den Heinrich-von-Kleist-Preis, denGroßen Literaturpreis der Bayerischen Akademie derSchönen Künste und den Georg-Büchner-Preis.

«Mit wenigen Strichen, auf knappstem Raum, zeigtuns Mosebach die alte und die neue Welt in einemlabilen Schwebezustand … Sein Roman ist eine Formerzählerischer Landnahme und führt uns vor, was Literatureigentlich ist: eine Reise ins Blaue hinein, für den Autorebenso wie für den Leser.»

Lutz Hagestedt, Frankfurter Rundschau

«Das Vergnügen bei der Lektüre dieses Romans … gleichtjenem Hörgenuss, den man bei Mozarts ‹MusikalischemSpaß› oder Carla Bleys ‹Musique Mechanique› haben kann:alles sehr schräg und sehr amüsant.» Andreas Isenschmid,Die Zeit

«Ein begnadeter Stilist.» Neue Zürcher Zeitung

Page 3: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Martin Mosebach

Der NebelfürstRoman

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Page 4: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, Oktober 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg

Die Originalausgabe erschien 2001 imVerlag Eichborn AG, Frankfurt am Main.

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, MünchenUmschlagabbildung Cina F. Sommerfeld

Innentypographie Daniel SauthoffSatz Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978 3 499 27348 3

Page 5: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Der Nebelfürst

Page 6: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Inhalt

1 Die Droschke bremst, die Dame stürzt2 Frühstück in der Pension «Tannenzapfen»3 Schoeps folgt seiner inneren Stimme4 Die Helgoland wird bemannt5 Spiele beim Warten6 Am Rand der Wasserwüste7 Die schwarzweißroten Pfähle8 Gefahr von den Altgäubigen9 Internationaler Spannungszustand10 Funksprüche aus Berlin und Sankt Petersburg11 Warum nicht König Hugo?12 Ein Titel wird geboren13 Der große Mann wird erkannt14 Ein Bild von sich machen15 Morgenstunde im «Monopol»16 Die Bären-Insel wird auf die Füße gestellt17 Kommen und Gehen im «Monopol»18 Im Schumann-Theater19 Der Franzose in Not20 Eine Aufmerksamkeit unter Freunden21 Vormittag eines Tycoon22 Aug in Aug mit der Gefahr23 Die Lobby übt Druck aus24 Lerner macht Kolonialpolitik25 Himmelssphären in Schwerin26 Die Fernen beherrschen27 Das Athletenstück mit Frau Bankdirektor28 «Bankgeschäft W. Kohrs» wird tätig29 Auf der Durchreise30 Alexanders Geheimnis31 Die weiße Hölle32 Erinnerungen an Capri

Page 7: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

33 In höchster Not zum Zoo34 Das Logbuch der Willem Barents35 Die Bären-Insel auf die Staffelei36 Der Kongreß der Meeresbiologen37 Frau Hanhaus macht eine Rochade38 Das unilaterale Nebelhorn39 Die Königin von Saba40 Der Fahrplan der Hurtig-Route41 Die Petersburger Schlittenfahrt42 Eine goldene ZukunftInhalt

Page 8: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

1Die Droschke bremst,

die Dame stürztEin paar Schritte aus der kleinen Familienwelt heraus, undman war so weit weg, als sei man ausgewandert. Auswan-dern, das war ein schöner Plan. Leider war Theodor Ler-ner kein Engländer, denen stand die halbe Welt offen, dennsie gehörte ihnen. Aber es gab auch Argentinien, wo manRinder züchten, Brasilien, wo man Kaffee anbauen, Pana-ma, wo man eine Reederei betreiben konnte. Andere gin-gen nach Rußland und handelten dort mit Zucker und Indi-go. Das verwandelte sich dann alles in lauteres Gold. Wennsolche Leute zurückkehrten, bewohnten sie in Wiesbadenoder Godesberg Villen mit Türmen und Terrassengärtenund ruhten ihren am Anblick des Außerordentlichen müdegewordenen Blick an der milden Rheinlandschaft aus.

Theodor Lerner fand, daß er gut schreibe. Man konn-te auch Reiseschriftsteller werden. Solche Leute ritten aufElephanten zur Tigerjagd und führten ihr Journal beimSchein der blakenden Karbidlampe. Die Leserschaft zuHaus ließ sie zu höchsten Ehren gelangen. Reisebücher lasmit Respekt selbst Vetter Valentin Neukirch, der strengeBergswerksdirektor, der Lerner stets untüchtiges Plänema-chen vorwarf. Einstweilen versuchte Theodor Lerner sichmit Aufträgen vom Berliner Lokalanzeiger. Man schickteihn aus, wenn es irgendwo brannte. Das war wörtlich zuverstehen. Lerner hatte nun schon elf Brände geschildert.Die ersten waren ein Erlebnis. Man stand in der gebanntstarrenden Menge, hatte kalte Füße, zugleich wehte derFeuersbrodem herüber, Funken stoben, ein Balken krach-te, an einem Fenster erschien eine Verzweifelte im Nacht-hemd und warf ihr Kind in das aufgespannte Sprungtuch.

8

Page 9: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Lerners atemlose Berichte kamen in der Redaktion rechtgut an. Man sah ihn als Spezialisten für solche Fälle. Würdeganz Berlin niederbrennen müssen, bis er eine neue Aufga-be bekam?

Der sorgenzerfurchte Chefredakteur hatte kein Ohr fürLerner. Die Auflage stagnierte. «Wir brauchen etwas Exklu-sives, man muß uns das Blatt aus den Fingern reißen», mur-melte der elegante Mann, zu dem Sorgen gar nicht paßten.Er war gerade zum «Schönsten Mann des Berliner Presse-balls» gewählt worden. Das Damenkomitee war von Partei-gängerinnen durchsetzt.

«Wissen Sie, wo Ingenieur André ist?» Lerner wußtees nicht. Ingenieur André war vor drei Monaten mit einerMontgolfiere aufgebrochen. Er wollte den Nordpol überflie-gen.

«Wie erkennt er den denn von oben?» fragte Lerner. Erschien sich vorzustellen, daß am Nordpol ein hübscher Obe-lisk oder eine aus Eisblöcken gebildete Pyramide stehe. BeiGemälden von Napoleons Überquerung des Sankt-Bern-hard-Passes lag verwittert zu den Hufen des sich aufbäu-menden Rosses eine Steintafel, auf der «Hannibal» stand.Lag am Nordpol am Ende auch solches archäologischeFundgut, von Eskimos oder Wikingern vor tausend Jahrendort aufgepflanzt?

«Sie sind rührend», sagte der Chefredakteur mit demsilbrig durchzogenen Schnurrbart. Lerner kannte einen gu-ten Trick. Wenn er fürchten mußte, mit einer Bemerkungseine Ahnungslosigkeit zu verraten, machte er dazu stetsdie Miene, als habe er einen Spaß gemacht. Immerhin be-saß er ein Gefühl dafür, wann er sich auf unsicheren Bodenbegab. Der Chefredakteur wurde jetzt abgelenkt.

«Nein, sagen Sie der Dame, daß ich sie nicht empfangenkann», sagte er zu seinem Sekretär, der die Tür zum Vor-zimmer hatte offenstehen lassen. Draußen war ein Schat-ten wie von einer hochgewachsenen Frau mit bedeuten-

9

Page 10: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

dem Hut, großer Büste und raumverdrängenden Stoffmas-sen am Leib zu erkennen. Der bloße Schatten kündigte et-was Bedeutendes an. In den Hafen des Vorzimmers warein fünfmastiges Schlachtschiff eingelaufen. Lerner staun-te, daß man einen solchen Besuch einfach beiseite schiebenkonnte.

«Diese Person bringt immer irgendwelches Materialan, will irgendwelche skandalösen Briefwechsel verkaufen,Erinnerungen von russischen Spionen, Liebesbriefe aller-höchster Personen, aber entweder sind die Sachen zu teu-er, oder sie hat sie dann doch nicht, oder es ist nichts Rech-tes – und ich will jetzt etwas über Ingenieur André im Blatthaben.»

«Wie schreibt man über einen Verschollenen?» fragteLerner. «Ein Verschollener zeichnet sich doch gerade da-durch aus, daß er weg ist und niemand weiß, wo. Das Bio-graphische und die Vorbereitung der Expedition ist von al-len Blättern schon vielfach durchgekaut worden, und jetztist er eben verschwunden.»

Niemandsland – gab es das auf der Erde? Ein Land, dasniemandem gehörte und das keinen Weg und Steg hatte,vielleicht nicht einmal ein Oben und Unten? Man durch-schritt eine Grenze, eine Nebelmauer und sank ins Boden-lose, in eine Lawine aus Pulverschnee, in der man nichtserkannte, in der es aber seltsam hell blieb wie an einemnebelverhangenen Wintertag. Gehörte zum Niemandslandnicht auch, daß seine Grenzen nicht bekannt waren?

«Man müßte André suchen», sagte der Chefredakteur.Das taten zwar schon einige Leute. Sie waren so weise, ihmnicht zu Luft zu folgen, sondern mit Hundeschlitten undauf Skiern. So waren diese Helden photographiert wordenund so hatten die Leser sie im Gedächtnis. Jetzt waren auchsie verschwunden. So sensationell solche Geschichten klan-gen, für die Presse gaben sie nicht viel her. Man entfach-te erst eine Riesenaufregung und dann blieb das Material

10

Page 11: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

zum Nachlegen aus. Eine zerfetzte Ballonhülle würde wo-möglich alles sein, was die Rettungsexpedition nach Hausebrachte. Der Ingenieur fiel den Eisbären anheim. Ein Grabfür Ingenieur André würde es ebensowenig geben wie ei-nen Obelisken am Nordpol.

«Ja, Lerner, kriegen Sie raus, wo André ist! Suchen SieAndré!» Das war ein Ausbruch der Bitterkeit, eine sati-risch-kaustische Theaterspielerei des Chefredakteurs. Ler-ner verstand diese Worte auch als Anklage. Der Chefredak-teur wollte ihm bedeuten, daß er zu gar nichts gut sei – fürdie tägliche Arbeit vielleicht, bei der ihn Hunderte erset-zen konnten, aber nicht, wenn es um die Rettung des Blat-tes ging. Der Chefredakteur fand solche Ausbrüche erzie-herisch. Den einen spornten sie an, dem anderen wiesensie seinen Platz zu. In Treptow brannte es in einem Anilin-werk, meldete der Sekretär. Es genügte ein einziger Blickdes Chefredakteurs, Lerner aus dem Zimmer und auf denWeg zu weisen.

Draußen regnete es. Zum Glück stand vor dem Zeitungs-haus des Lokalanzeigers eine Droschke. Der Verkehr wardurch den abendlichen Schauer in die größte Verwirrunggeraten. Auto- und Pferdedroschken schoben sich neben-einander her, immerfort liefen Leute zwischen die Wagen,um auf die andere Seite zu gelangen. Wasser floß über dieWindschutzscheibe. Lerner saß kaum, die Droschke warkaum angefahren, da erhob sich riesengroß durch die Was-serfluten auf der Windschutzscheibe vor dem Kühler desAutos eine Gestalt, wankte und fiel.

Dem Fahrer entfuhr ein erschrecktes Schimpfwort. Erbremste. Lerner sprang heraus. Vor dem Auto lag eine Da-me im Nassen. Der hochgetürmte Hut saß noch auf ihremgroßen Kopf, war aber verrutscht. Der Regenschirm wardavongeflogen und rollte der Fahrbahnmitte zu.

«Es geht», sagte die Dame mit erstaunlich fester Stim-me, als sie ihren Retter erblickte. Er half ihr auf. Sie war

11

Page 12: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

schwer, ließ ihn das aber so wenig wie möglich spüren. DieDame hinkte leicht, als er sie zum Wagenschlag begleitete.Ob er sie irgendwo hinbringen dürfe? Er selbst sei auf demWeg nach Treptow. Dort brenne die Anilinfabrik.

«Die Anilinfabrik?» sagte die Dame, die schon dabei war,ihren Hut zu richten. Den tropfnassen Schirm brachte derChauffeur. «Die Anilinfabrik ist schon gelöscht. Das war einFehlalarm, nicht wahr?» Dies sagte sie zum Chauffeur, derdie Glasscheibe zum Fond noch nicht geschlossen hatte.

«Weeß ick nix von», antwortete der Mann mürrisch. Är-ger über den Unfall und Erleichterung mischten sich in ihm.Dies war der nicht so seltene Fall, daß eine Bekundungdes Nichtwissens eine Behauptung bestätigte. Im Fond warjetzt klar, daß es in Treptow nicht brannte und auch garnicht gebrannt hatte. Im Warmen entfaltete sich der Duft,der aus den Kleidern und dem Haar der Dame stieg, Rosenund Zimt. Jung war sie nicht mehr, obwohl ihr Gesicht ju-gendlich glatt und ihre Augen frisch und gesund waren.

Wo sie wohne? Das Auto durfte immer noch nicht anfah-ren. Das sei es ja, sagte die Dame. Eben erst sei sie in Berlinangekommen, von engen Freunden – «Sie kennen vielleichtHerrn Rittmeister Bepler?» – eingeladen, und nun sei beiBeplers niemand zu Hause, unerklärlich. Da saß sie, Ler-ners Opfer – denn einem Herrn war das Ungeschick seinesChauffeurs stets anzurechnen – , und sollte nun mit beschä-digtem Knöchel eine Heimstatt suchen. So sprach sie dasnicht aus. Diese Frau jammerte nicht. Das war ganz einfachihre Situation.

An Lerners Ritterlichkeit zu appellieren war stets vonguten Chancen begleitet. Lerner war ritterlich, oder besser,er wollte es gern sein. Er sah sich gern als ausgesprochenritterlichen Mann. Hier hatte er das richtige Gegenüber.Die Dame wußte Ritterlichkeit, auch in leicht demonstrati-ver Form, zu schätzen.

12

Page 13: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

«Wohin geht es nu?» fragte der Chauffeur, wieder mitvoller Brust mürrisch.

Es ging nach Wilmersdorf, in die Pension «Tannenzap-fen», in der Lerner seit vier Wochen wohnte. Dort war ge-rade ein Zimmer freigeworden, denn der langjährige GastHauptmann Richter, Veteran von 1871, hatte in hohem Al-ter geheiratet.

«In dieser Pension heiraten alle, die komischsten Kno-chen», sagte die Wirtin zu Lerner. «Auch Sie gehen nochweg.» Und so fand denn, kurze Zeit später, in dem noch garnicht richtig gelüfteten Zimmer des Hauptmanns am Tischmit der Fransendecke unter dem Öldruck von Leonardo daVincis «Letztem Abendmahl» – die Postkarten von Mädchenin Unterwäsche hatte der Hauptmann von der Tapete her-untergenommen – beim Lampenschein schon eine lauschi-ge Teestunde statt.

Man machte sich bekannt. Die Dame war hochinteres-siert an Lerners beruflichem Wirken. Sie könne ohne Zei-tung nicht leben. Sie verschlinge die Zeitung. Ihre Stimmewar warm. Sie war zwar gewichtig, aber elegant. BraunerTaft breitete sich um sie aus. Das graue Haar war voll undsah wie eine gepuderte Rokokoperücke aus, so frisch wardas Gesicht darunter. Für Lerners Geschmack war sie zualt und zu schwer, aber seltsam, das spielte auf einmal kei-ne Rolle. Sie war nicht ein bißchen kokett.

«Sie ist natürlich», dachte Lerner, und «natürlich» hießauf einmal sehr viel mehr und machte vieles, das eben nochferngelegen hatte, möglich. Das Hineingleiten in einen lan-gen Kuß war wie eine sanfte Fortsetzung des Gesprächs.

Lerners Hände tasteten sich voran. Es gelang ihm einWiderhäkchen zu lösen. Das Häkchen hüpfte wie von selbstbeiseite. Mit den Fingern fühlte er ihre Haut, weich wie einim Glas schwimmender Eidotter.

Ihre Hand legte sich um sein Handgelenk und zog es mitentschiedener Kraft, aber langsam zurück.

13

Page 14: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

«Wir sind uns sympathisch», sagte Frau Hanhaus, «aberdas Weitere lassen wir. Ich habe Wichtigeres mit Ihnen vor.Diese Dinge können das Geschäft oft unnötig schwerma-chen.» Sanft, fest und mit einem kameradschaftlichen Lä-cheln war das gesagt. Dies Lächeln schaffte den Übergang.Lerner war ihr dankbar. Der Kuß hatte nach etwas Fademgeschmeckt, das ihn jetzt nicht störte, später aber störendgeworden wäre. Als sie ihn an die Tür begleitete und er ihrzum Abschied die Hand küßte, sah er im Halbdunkel, gegendie Funzel im Zimmer, ihren Schattenriß.

«Ist das die Frau aus dem Büro des Chefredakteurs?»dachte er in seinem Zimmer. Konnten zwei Schatten sichso gleichen? Plötzlich war Frau Hanhaus dagewesen. Plötz-lich? Vielleicht war sie immer schon anwesend, unsichtbar,und entschied nur, wann sich den anderen die Augen für sieöffneten. Und dann war sie plötzlich da.

14

Page 15: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

2Frühstück in der

Pension «Tannenzapfen»Frau Hanhaus hatte etwas Mütterliches, vor allem aber warsie Mutter. Nach der ersten Nacht in der Pension «Tan-nenzapfen» stellte sich heraus, daß sie so allein in Berlinnicht gewesen wäre, trotz des unbegreiflichen Betragensdieser Rittmeister Beplers im Grunewald draußen. Ihr Sohnvielmehr war es, der die Nacht buchstäblich mutterseelen-allein in Berlin verbringen mußte. Unter dem großen Ein-druck ihrer Gegenwart konnten Fragen zu ihren Erklärun-gen jedoch nicht aufkommen. Diese eben noch hochbedeu-tenden Beplers mit ihrem Vermögen, ihrer Villa, ihren mon-dänen Verbindungen spielten jetzt überhaupt keine Rollemehr. Ohne daß Groll hinter diesem Desinteresse stand, wa-ren diese Leute jetzt erst einmal abgeschrieben. Die Gru-newaldvilla wurde durch die Pension «Tannenzapfen» imvierten Stock links vollständig verdrängt.

Frau Grantzow, die Wirtin, war gemütvoll, eine nichtmißtrauische, nicht zänkische Pensionswirtin, die ihre Gäs-te nicht übelwollend klassifizierte. Sie half Frau Hanhausmit manchem Toiletteartikel aus, denn abgesehen von ei-ner großen Handtasche war die Dame ja ohne Gepäck an-gekommen. So stattlich und gebietend erschien sie mit ih-rer grauen Haartour und dem braunen Taft, daß man siesich anders als mit Schrankkoffern reisend gar nicht vor-stellen konnte. Und am nächsten Morgen war sie kein biß-chen ramponiert, wie der Mensch, der ohne seine Sieben-sachen übernachtet hat, sonst auszusehen pflegt. Das Haarwar frisch getürmt. Frau Grantzow hatte schwesterlicheDienste geleistet. Dabei führten die Frauen ein Gespräch,das zur vollständigen Hingabe von Frau Grantzow führte,

15

Page 16: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

während sie Hände voll Haarnadeln in die kräftigen Wellenversenkte.

«Viele heute machen den Fehler», so lehrte Frau Han-haus später einmal, «ihre Aufmerksamkeit nur wohlhaben-den, einflußreichen Personen zuzuwenden, damit man seinPulver nicht bei Habenichtsen verschossen hat, wenn esgilt, bei Mächtigen Eindruck zu machen. Ich behaupte, daßsolche Leute eben nicht genügend Pulver besitzen. Schlach-ten kann man gewinnen –  ich meine Schlachten des Le-bens – , wenn man die Laufburschen, die Tabaktrafikanten,die Etagenkellner, die Näherinnen, die Dentisten und diePensionswirtinnen auf seiner Seite hat. Mancher hat schongesagt: Ich kenne den Oberbürgermeister, und ist an einemkleinen Wachtmeister gescheitert.»

Gemeinsam mit Frau Grantzow und ihrem verdrossenenuckermärkischen Dienstmädchen begann nach dem Frisie-ren das Möbelrücken, wie es Frau Hanhaus an jedem Orthielt, an dem sie ein wenig verweilte. Lerner erwachte voneinem mächtigen Klagelaut aus tiefster gequälter Brust be-gleitet von überirdischem Klingen und Singen. Das war dergroße Spiegelschrank, der nebenan durchaus von seinemPlatz neben dem Bett an die andere Wand geschoben wer-den mußte.

«Fühlen Sie, wie großzügig und geräumig alles wird undwie gut Ihre Stücke zur Geltung kommen, wenn wir Leo-nardo tiefer und ‹Spätes Glück› ganz abhängen? Sie müs-sen wissen, ich halte nichts von solchem Spätem Glück, je-de Minute darauf zu warten, ist vertan.»

«Meinen Sie?» seufzte Frau Grantzow. Frau Hanhaushatte einen empfindlichen Punkt berührt, aber sie machtedas stets wie ein guter Arzt, daß es weh und zugleich guttat.

Als Lerner zum Frühstück erschien, das in einem läng-lichen düsteren Durchgangsraum vor der Küche gedecktwar, lagen auf dem mit Krümeln und gebrauchten Kaf-

16

Page 17: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

feetassen nicht sehr einladend wirkenden Tisch mehrereschon auseinandergefallene Berliner Zeitungen.

«Großfeuer in Treptow», las Lerner im Berliner Börsen-courier, «Anilinfabrik in Flammen» hieß es in der Tages-post, «Explosion in Treptow» in der Vossischen Zeitung. ImLokalanzeiger stand an entsprechender Stelle: «Steht dieErweiterung des Berliner Zoos bevor?»

Lerner durchblätterte das Zeitungswirrsal mit fliegen-den Händen. Was er las, stülpte sein Bild von der Wirklich-keit um. Es wurde ihm plötzlich klar, daß er den Brand inTreptow wirklich für ausgeschlossen gehalten hatte. Mit ei-nem einzigen Wort hatte Frau Hanhaus, von ihrem Sturzkaum aufgestanden, regentropfensprühend wie ihr Schirm,jede Möglichkeit eines solchen Brandes in ihm zunichte ge-macht. Er war so vor den Kopf geschlagen, daß er nichtshervorbrachte.

Frau Hanhaus frühstückte mit Appetit. Auf ihr Hörnchenfiel ein brauner Tropfen Apfelkrautsirup. Jetzt durfte Lernervon ihrem Sohn erfahren. Sie habe nach ihm geschickt underwarte Alexander gegen Mittag. Lerner war immer nochvor den Kopf geschlagen. Mochte sie doch eine vielköpfigeSippschaft nachziehen. Seines Bleibens hier war ohnehinnicht länger. Frau Grantzow trat ein, zu Ehren von FrauHanhaus in einer reich gerüschten Schürze.

«Es ist von der Redaktion antelephoniert worden», sagtesie streng. «Wenn ich gewußt hätte, daß Sie hier sind … »

«Was haben Sie gesagt?» murmelte Lerner matt.«Daß Herr Lerner noch in den Federn liegt», antwortete

die Wirtin mit einer Treuherzigkeit, als wolle sie UhlandsGedicht «Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr … »aufsagen.

Nun, das machte nun auch nichts mehr. Das Bild, dasbeim Lokalanzeiger von ihm bestand, wurde nur vollständi-ger. Packte er seine Sachen jetzt gleich, oder vertat er noch

17

Page 18: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

ein paar Tage in Berlin? Fuhr er zu Bruder Ferdinand? Wiewurde er dort empfangen?

«Die Zeitungen sind voll», sagte Frau Hanhaus genieße-risch. Sie habe, wie jeden Morgen, auch heute schon «diePressearbeit» geleistet.

«Der Brand in Treptow», sagte Lerner leise und legteseinen Kopf in die Hände. Es war kein Vorwurf in diesenWorten. Wer wollte in diesem heimtückischen Spiel mit fal-schen Gewißheiten gegen eine hörnchenfrühstückende Da-me Vorwürfe erheben? Die Dämonen waren hier am Werk.Wie eine Billardkugel hatte er einen dämonischen Stoß be-kommen, der ihn aus der richtigen Bahn, auf der er sich be-fand, hinausschleuderte. War er nicht eben noch mit seinenBrandreportagen herzlich unzufrieden? Empfand er sichnicht gestern noch beim Lokalanzeiger auf totem Gleis?Jetzt kam es ihm vor, als habe seine Zukunft in dieser Arbeitgelegen. Der Chefredakteur war in der Erinnerung plötzlichviel angenehmer. Ein weltläufiger Mann, hatte doch auchals Lokalreporter angefangen, sprach auch offen davon. Ersehe sich als Kollegen seiner jungen Leute. Dieser Zeitungs-dienst war für Lerner jetzt, wo er davon Abschied zu neh-men hatte, eine romantische, geradezu abenteuerliche Tä-tigkeit. Dieses alarmierte Aufbrechen zu den Katastrophen!Dieses In-die-Tasten-Greifen zur tiefen Nacht! Die zynischeLustigkeit des Reportervölkchens, denen imponierte nichts.

«Wollen Sie hören, was ich hier herausgefunden habe?Ein Aufsatz, der reines Gold wert ist», sagte Frau Hanhaus,ergriff mit großer weißer Hand – sie trug einen Amethyst,der schön zu ihrem braunen Kleid paßte – die raschelndeZeitung, mit der anderen klappte sie ihre Lorgnette aus.

«Das ist etwas für Sie. Sie werden noch glücklich sein,daß wir heute morgen hier zusammengesessen haben, jun-ger Mann.» Und nun begann sie aus dem Wirtschaftsteildes Berliner Börsencouriers einen längeren, nüchtern refe-rierenden Artikel über die Aktivitäten des Deutschen Hoch-

18

Page 19: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

seefischereivereins vorzulesen, mit warmer, sprechgeübterStimme, leicht dramatischem Tonfall und bedeutungsvollenBlicken, die sie, in kleinen Pausen, Lerner zuwarf, als seiihr Zuhörer über den Sensationswert der Nachricht schonlängst im Bilde.

Es ging  – ja worum ging es? Das rauschte an Ler-ner in seinem versteinerten Unglück weitgehend vorbei.Der Deutsche Hochseefischereiverein tat sich nach neuenFanggründen für Kabeljau und Goldbarsch um und kreuz-te nun auch dort, wo ohnehin die meisten Fangflotten sichherumtrieben, im hohen Norden nämlich, in den unwirt-lichen Zonen zwischen Norwegen und dem Nordpol, wodie Inseln oder Eisschollen die drolligsten Namen trugen:Franz-Joseph-Land hieß etwa solch ein verfrorenes Fleck-chen, wahrscheinlich größer als ganz Berlin, aber nur vonSeehunden und Pinguinen bevölkert. Dort jedenfalls hatteman vom Brand in Treptow nichts gehört, auch nicht vomblamablen Ende eines fixen Reporters. Auf solchen Inselnmachten die Fischkutter halt. Dort errichteten sie Vorrats-schuppen. Dort trockneten sie Fisch. Dort mußten sie wohlauch überwintern, wenn der Winter zu früh hereinbrachund der Heimweg vom Treibeis abgeschnitten war. Einedieser Inseln hieß die Bären-Insel. Dort machten offenbarBraunbären oder Grizzly- oder Eisbären den deutschen Fi-schern Konkurrenz.

«Die herrenlose Bären-Insel», las Frau Hanhaus mit ge-radezu drohender Betonung – «Merken Sie sich das Wort‹herrenlos›!» fügte sie mit hochgezogenen Augenbrauenhinzu. Das Wort «herrenlos» kannte Lerner nur im Zusam-menhang mit Hunden. Herrenlose Hunde wurden vom Hun-defänger eingefangen. Große herrenlose Hunde bekamendie Altwarenhändler für ihre Hundekarren, auf denen sichdie alten Zeitungen und die Knochen stapelten. Herrenloswar etwas Unattraktives, Armseliges. Was keinen Herrn be-saß, das wollte kein Herr besitzen.

19

Page 20: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Nein, ganz im Gegenteil. Die Bären-Insel sei herrenlos,weil es zu viele Herren gebe, die daran Interesse anmelde-ten, Norwegen, Rußland und England bisher, deren diplo-matische Balance jedoch so prekär sei, daß niemand denersten Schritt wage.

Und warum sollte sich jemand um solch einen Fel-sen zwischen der Strafgefangeneninsel Nowaja Semlja undSpitzbergen kümmern?

«Das war bis jetzt ein Geheimnis, ist ab jetzt aber keinesmehr», sagte Frau Hanhaus mit einer verheißungsvollenMärchenstimme, als lüfte sie dies Geheimnis für ihn ganz al-lein und habe es nicht der Zeitung entnommen. Bei den Aus-schachtungsarbeiten für das Fundament eines der Fischla-gerhäuser war man unmittelbar unter einer dünnen Erd-schicht auf Kohle gestoßen. Steinkohle vorzüglicher Quali-tät! Sie hielt vor Erregung den Atem an: Steinkohle.

«Von mir aus Ostereier», rief Theodor Lerner jetzt wü-tend. Der Panzer der Verzweiflung fiel von ihm ab. Er warzornig. Steinkohle bei den Eisbären. Er habe wahrhaft an-dere Sorgen.

«Sie waren es, die mich abgehalten hat, nach Treptow zufahren. Die Anilinfabrik ist ausgebrannt. Das Feuer war erstnach fünf Stunden unter Kontrolle. Ein Feuerwehrmann istverunglückt. Ein Kessel ist in die Luft geflogen. Die An-wohner mußten die Häuser verlassen. Der ganze StadtteilTreptow stand auf dem Kopf. Und Sie haben mir erklärt,dort brenne es gar nicht. Woher wußten Sie das? Hat dasauch in der Zeitung gestanden? Ich bin Reporter. Ich habeversagt – wegen Ihnen! Sie haben meine Existenz zerstört.Meine Stellung dort war wacklig, aber solch ein Versagenläßt einem Volontär niemand durchgehen – zu Recht. Bittelassen Sie mich jetzt mit der Kohle von der Eisbäreninselin Frieden.» Das alles kam sehr scharf und gefährlich. DieSätze zischten und knallten nur so. Er hatte Lust, Frau Han-haus den Berliner Lokalanzeiger ganz buchstäblich um die

20

Page 21: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

vollen, faltenlosen Wangen zu schlagen, genau dieses Blattmit der Zoo-Meldung, die nur so nach Verlegenheit stank.Was heute morgen in der Redaktion los war, konnte einesolche Frau überhaupt nicht begreifen. Wer war sie eigent-lich? Woher nahm sie sich das Recht heraus, Täuschungund Verwirrung in fremde Leben zu tragen?

«Gute Frage!» hätte Lerners alter Onkel mit der weißenSchnurrbartbürste gerufen. Gut war eine Frage, die nicht,oder nicht ohne weiteres zu beantworten war, so hielt esjedenfalls dieser Onkel. Theodor Lerners Zorn hätte für ei-ne lange Tirade, auch für Handgreiflichkeiten ausgereicht.Frau Hanhaus schien das zu wissen, ja zu bewundern. Siesaß da mit vorgewölbter Büste, von festem Lockenwerk um-rahmt, und sah ihn offen und herzlich an. Sie war jetzt we-der die Frau einer schwachen Minute, wie gestern abend,noch die frische Kameradin. Anerkennung und Würde gin-gen von ihr aus. Das blieb Lerner selbst in seinem Furornicht verborgen. Er war neugierig. Das war seine Stärkeund seine Schwäche. Was würde sie antworten?

Sie pflichte ihm bei, und zwar in jedem Punkt, begannFrau Hanhaus ihre vom Ausdruck starker Intelligenz undGeistesgegenwart getragene Erwiderung. Was Herr Lernerübersehe – wenn er den Hinweis erlaube – , sei nur, daß esihr gerade und ausschließlich um seine Position in der Zei-tung zu tun sei. Was sie darlegen wolle, sei nicht in einemWort gesagt, soviel aber jetzt schon: der Aufsatz im Börsen-courier ziele exakt auf ihn mit seinen Möglichkeiten als Re-dakteur.

«Das bin ich nicht und werde ich jetzt auch nicht mehrwerden!» fuhr er gereizt dazwischen.

«Hoffentlich», antwortete sie überraschend schnell undentschieden. Jetzt streckte sie die Amethysthand in die Luftund ließ den Stein funkeln. Den Zeigefinger der anderenHand legte sie auf den Daumen.

21

Page 22: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

«Erstens, Ingenieur André ist seit Monaten mit seinemLuftballon im Eismeer verschwunden. Zweitens» – der Zei-gefinger kam an die Reihe – , «der Berliner Lokalanzeigerbraucht Stoff für eine André-Reportage; drittens» – der Mit-telfinger – , «auf die Suche nach André gehen Sie; viertens»– der Ringfinger mit dem violetten Stein – , «der BerlinerLokalanzeiger chartert Ihnen zu diesem Zweck ein Schiff;fünftens» – der kleine Finger – , «Sie passieren auf der Fahrtdie Bären-Insel und nehmen sie in Ihr Eigentum. Sechstens– dafür habe ich keinen Finger – , Sie werden ein neuer Gul-benkian, ein Henckel-Donnersmarck, ein Rockefeller. Sieverlassen jetzt den Frühstückstisch und begeben sich in dieRedaktion. Dort legen Sie dem Chefredakteur die erstenvier Punkte dar … »

Lerner sprang empört auf. Der mit geschnitztem Eichen-laub bekrönte Stuhl drohte umzufallen. «Das ist der reineWahnsinn.»

Frau Hanhaus schwieg, aber hielt ihn fest im Auge.

22

Page 23: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

3Schoeps folgt seiner

inneren StimmeZu dritt hatten die Studenten sich photographieren lassen:Hartknoch und Quitte lehnten in Sesseln, Schoeps stütztesich auf Hartknochs Schulter, die andere Hand jongliertedie Bernstein-Zigarettenspitze. Orange und Grasgrün, dieFarben der Burschenschaft Francofurtia, waren auf Mütz-chen und Bändern mit Buntstift eingezeichnet.

Kluge Muselmanen fürchten, daß ihnen beim Photogra-phieren die Seele weggefangen wird. Es war, als sei diesesBurschenschafts-Jugend-Bild Beweis für solch eine magischeinfangende und festfrierende Kraft. Wie die drei Herrensich vor der Linse gelümmelt hatten, waren sie aneinanderkleben geblieben.

Dabei war aus allen, wie man so sagt, «etwas» gewor-den. Quitte hatte das elterliche Kaufhaus erheblich vergrö-ßert. Hartknoch war Primarius und gefragter Herzspezia-list, Schoeps schließlich Chefredakteur des Berliner Lokal-anzeigers, eine namhafte Figur des Hauptstadtlebens, an-ders als seine beiden Freunde nicht verheiratet, mit denkraftvollen Silberfäden im Schnurrbart aber ein gefragterJunggeselle.

Daß einer von ihnen nicht heiratete, entsprach einernicht weiter fixierten Übereinkunft. Es war einfach beque-mer, wenn ein Junggeselle die gemeinsamen Vergnügun-gen vorbereitete und überwachte. Dem Primarius Hart-bloch hätte es nicht angestanden, als Mieter der stillenWohnung in Zehlendorf aufzutreten, zu der alle drei Her-ren einen Schlüssel besaßen. Wer in dieser Wohnung un-tergebracht wurde, der mußte einverstanden und gewär-tig sein, daß die drei Herren einzeln oder auch gemein-

23

Page 24: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

sam, angemeldet oder unversehens dort eintrafen. In dieserWohnung herrschte der reinste Kommunismus, wie die dreiHerren sich häufig mit herzlichem Gelächter versicherten.Chefredakteur Schoeps hatte als der Literat und Ästhet derdrei Burschenschaftler die Ausstattung des verschwiege-nen Quartiers übernommen. Von Nordafrika-Reisen mitge-brachte Kelims an den Wänden des Rauchzimmers schufendie Atmosphäre eines düsteren Zeltes. Darin blitzten Mes-singtabletts und reich gravierte Wasserpfeifen. Dolche inziselierten Scheiden, ein Kamelsattel, bunte Likörflaschenmit ebenso bunten kleinen Gläsern und voluminöse Kissenwaren nach und nach herbeigeschafft worden. Die Ampelwarf ein vielfach gebrochenes Licht an die Stuckdecke. DasFenster blieb meistens verhängt.

Das große Bett im Nebenzimmer hatte eine eigenarti-ge Vorrichtung. An den Bettpfosten schwangen geschweif-te Spiegel wie Türen in den Angeln. Wer in diesem Bett lagund die Spiegeltüren hinter sich schloß, dem war, als hät-ten sich ihm an allen Körperteilen Augen geöffnet, so vielwar plötzlich zu sehen. Und wem all die Arme und Beine ge-hörten, war schon kaum mehr festzustellen. Den drei Bur-schenschaftlern war an solchem Durcheinander gelegen.Die Zehlendorfer Wohnung mit ihren verhängten Fensternsollte keine Dauerbewohner, genauer: Bewohnerinnen ha-ben. So war es von Anfang an beschlossen.

So wurde es seit neuestem aber nicht mehr gehalten.Die junge Frau, die gegenwärtig in dem Spiegeltürenbettschlief; schlug häufig die schweren Vorhänge zurück undließ Licht und Luft in die Zimmer.

«Das ist nicht so gut», sagte Schoeps, als er sie von derStraße her am Fenster sah. Warum sei das nicht so gut?Die Antwort lag nahe, wurde aber nicht ausgesprochen.Der Betrieb in der Zehlendorfer Wohnung beruhte auf demUnausgesprochenen. Wer sich diesen Regeln nicht fügte,der fand sich aus der schönen Regelmäßigkeit bald ausge-

24

Page 25: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

schlossen. Die Entfernung von Frauen, die zeigten, daß siedie Grundbedingungen des Zusammenseins nicht einzuhal-ten gedachten – die unauffällige Annäherung an die Woh-nung und das Verbot, einen der drei Schlüsselinhaber zubevorzugen oder zu benachteiligen  – , oblag Schoeps. Ersorgte dafür, daß Damen das marokkanische Rauchkabi-nett nur betraten, wenn er etwas gegen sie in der Hand hat-te. Es ging nicht darum, irgend jemanden zu irgend etwaszu zwingen, aber die Sicherheit geachteter bürgerlicherExistenzen wollte schließlich auch bedacht sein. Quitte hat-te Töchter. Hartknoch stand im Lichte der Öffentlichkeit.Wenn das kleine Gedicht mit der Bitte «Grüß mich nicht Un-ter den Linden» nicht längst Volksgut gewesen wäre, hät-te Schoeps sein Autor sein mögen. Dies Gedicht war ge-radezu die Bundeshymne der drei Burschenschaftler. Jetztaber wollte diese diebische Freude, jenes Triumphgefühl,das mit dem Gedanken an dies Verslein verbunden war, beiSchoeps nicht mehr aufkommen.

Puppa Schmedecke, von Quitte Puppili, von HartknochPuppi genannt, war Schoeps Unter den Linden in ihrem ge-streiften hellen Frühlingskostüm, das er selbst hatte ma-chen lassen, entgegengekommen, hatte ihn voll ins Augegefaßt und nicht nur nicht gegrüßt, sondern auch nichtdas kleinste Erkennungszeichen gegeben, obwohl er sieflehend ansah und dabei, wie er sich wütend eingestand,wahrscheinlich recht dümmlich wirkte.

Schoeps mußte sich eingestehen, daß ihm die Herr-schaft über das reibungslose Kommen und Gehen in derZehlendorfer Wohnung entglitten war. Er hatte die Zügeldort nicht mehr in der Hand. Und warum? Weil er sichselbst nicht mehr im Griff hatte, wie er voll Bitterkeit dach-te, als er Puppa hinterhersah und sie sich nicht ein einzigesMal umdrehte. Noch hatten die anderen Schlüsselinhabernicht begriffen, was geschehen war – zum Glück – oder zunoch größerem Unglück? Wenn Schoeps wußte, daß Quit-

25

Page 26: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

te oder Hartknoch soeben in Zehlendorf von ihrem Schlüs-selrecht Gebrauch machten, wurde ihm geradezu übel. Dasüber ein Jahrzehnt gepflegte Vergnügen delikater Schwä-gerschaft war mit einem Schlag vergangen. Die bloße Erin-nerung daran war peinlich und widerwärtig. Entspannungvon verantwortungsvoller Tagesmühe hatte das Schlaf- undRauchkabinett in zeitlosem Ampeldämmern einst verhei-ßen.

Chefredakteur Schoeps verausgabte sich in der Redakti-on des Berliner Lokalanzeigers. Er war ein ruheloser Chef –nicht geradezu von Einfällen berstend, er glaubte sogar,daß ihm eher wenig einfiel – , aber kritisch und sogar nör-gelnd und höchst ungemütlich. Die Methode bestand dar-in, seine Schreiber derart unter Druck zu setzen, daß da-bei gleichsam physikalisch deren Einfälle freigesetzt wur-den. Wenn er im Sturmschritt ohne Jackett, mit gesträub-tem Haar und einem Bündel schmieriger Druckfahnen einRedakteursbüro betrat, war es, als halte seine Hand keinraschelndes Papier, sondern ein zuckendes Blitzbündel, umes auf einen unfähigen Knecht zu schleudern. Vernichtendsein Tadel, prunkend sein Lob, aber um Schoeps mit derSonne in ihrem Auf- und Untergehen, in ihrem Sengen undWärmen zu vergleichen, hätte der Rhythmus seiner Ab- undZuwendung mehr Gravitas besitzen müssen. SchoepsensSonne ging auf und unter wie ein Ball dotzt.

«Berliner Tempo, der Pulsschlag einer neuen Zeit», daswurde in den Redaktionsstuben des Berliner Lokalanzei-gers weniger stolz als seufzend ausgesprochen. Es kam beider unablässigen Aufregung auch gar nicht immer sovielheraus. Neuerdings wandten sich sogar kleine Teile des Pu-blikums von Schoepsens Schlachtenlärm ab. Ins Gewichtfiel die Schrumpfung des Abonnements noch nicht, aberbei der Eigentümerfamilie wurden die Augenbrauen zusam-mengezogen.

26

Page 27: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Puppa Schmedecke von allen Seiten zu betrachten, vonPuppa Schmedecke von allen Seiten bedrängt und über-schwemmt zu sein, das wäre vor kurzem noch SchoepsensSoldatenlohn für den Tagesverdruß gewesen. Neuerdingsaber machten sich der Zeitungsärger und eine oft genugbis zur Verzweiflung gesteigerte Unruhe beim Gedanken anZehlendorf und Puppa gefährliche Konkurrenz. Was nachder Gemeinüberzeugung der drei Burschenschaftler nie-mals hätte eintreten dürfen, war nun eingetreten. Mit denbeiden anderen reden kam nicht in Frage  – «Lieber denTod», dachte Chefredakteur Schoeps. Der Tod hatte für ihn,wie er verwundert bemerkte, seinen großen Schrecken ver-loren. Tod war nicht mehr das Schlimmstvorstellbare. DasSchlimmstvorstellbare war, wenn Puppa Schmedecke sichvon einem Augenblick auf den anderen abwandte.

Schoeps staunte über sich. Wenn Puppa viel sprach, bil-deten sich Speichelbläschen in ihren Mundwinkeln, waser eigentlich nicht mochte und sogar ein wenig abstoßendfand, und nun sah er diese Bläschen mit dem Wunsch, siewegzuküssen. Die Frauen, die durch die Zehlendorfer Kabi-nette zogen, in die eigenen Angelegenheiten, gar den Berufeinzuweihen, war im Kreis der Burschenschaftler bis zurUndenkbarkeit verpönt, schon aus Diskretion, aber auchum den Reiz des Doppellebens auszukosten, die künstlicheGeschichtslosigkeit im Zeichen der Wollust, aber nun fühlteSchoeps das dringende Bedürfnis, Puppa an seinem Lebendraußen teilnehmen zu lassen. Wenn Quitte und Hartknochgehört hätten, wie ihr alter Freund Redaktionsinterna vorPuppa ausbreitete, das hätte ein Kopfschütteln gegeben.

Aus solchen Geständnissen sollte natürlich die Botschaftsprechen: «Ich behandle dich wie einen Menschen. Ich ge-he mit dir wie mit einer Ebenbürtigen um. Ich liefere michdir ohne Vorbehalt aus.» Verstand Puppa diese Botschaft?Manchmal hörte sie gern zu, nackt im Spiegelkäfig des Bet-tes oder im japanischen Neglige auf den marokkanischen

27

Page 28: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Polstern. Schoeps fühlte sich vor ihr zur gleichen Dramatikverpflichtet wie vor den Redakteuren. Sie gab längst Rat-schläge, und er war für diese Anteilnahme so dankbar, daßer schwor, alles zu befolgen, was sie für richtig hielt.

«In der Redaktion bin ich inzwischen dem offenen Wahn-sinn ausgesetzt», erklärte er Puppa. «Der Kerl, der mir denBrand in Treptow vertrödelt hat – eine Katastrophe, derenAusmaß noch gar nicht richtig abzusehen ist – , rennt mirmit neuen Aberwitzigkeiten die Bude ein. Ich sage: Lerner,was wollen Sie hier noch, verschwinden Sie! Und er ant-wortet: Jawohl verschwinden, aber an den Nordpol und miteinem Schiff der Zeitung! Ich sage: Ich soll ein Schiff fürSie chartern, Mann? Jawohl, ein Schiff, sagt er.»

«Wieso ein Schiff?» fragte Puppa. Sie interessiert sich,frohlockte Schoeps. So abwegig sei das nicht, antwortete ervoll Wichtigkeit und skizzierte das spurlose Verschwindendes unglücklichen Ingenieurs André mit seinem Luftballon.Ein Stoff sei das schon. Material stecke da schon drin. Dashabe dieser Möchtegern-Reporter schon richtig gesehen.Aber man werde zum Teufel doch nicht gerade einen Non-valeur, einen Nutnick, eine Null mit eigenem Schiff in denNorden senden!

Wen aber sonst?Nun, gewiß nicht diesen Mann. Das kam mit jupiterhaf-

ter Wucht aus dem Olymp der Redaktion.Wußte Puppa, wie sehr ihm das Herz klopfte?Fragen über Fragen. Erhielt Theodor Lerner sein Schiff

schließlich nur, weil Puppa die Friseuse von Frau Hanhauswar? Wurde die Welt gelenkt, wie der kleine Moritz sichdas vorstellte, als der Lehrer vom «Unterrockregiment» derfranzösischen Königsmaitressen sprach? Inzwischen warMoritz Schoeps erwachsen. Dankbar dachte er, wie nettPuppa wurde, wenn er tat, was sie befahl.

28

Page 29: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

4Die Helgoland wird bemannt

Man sagt, Messer Cristóbal Colón habe die Mannschaft sei-ner Santa Maria in den andalusischen Gefängnissen wer-ben müssen. Hidalgos, die Ehre und Vermögen im Spielverloren hatten, Messerstecher, Duellhansel, Taschendie-be, Vergewaltiger, Pfaffen, die ihr Gelübde gebrochen hat-ten, hätten sein Schiff vollgemacht. Nun war die Santa Ma-ria ein kleines Schiff, kleiner sogar als die allerdings mitDampfeskraft über die Meere reisende Helgoland. So vieleVerbrecher, wie die romantische Legende in den niedrigenGelassen versammelt sehen will, paßten auf diese Nußscha-le gar nicht darauf, so daß man allenfalls vermuten darf, je-der einzelne Matrose sei wegen mehrerer Verbrechen ge-sucht gewesen. Es drückte sich in dieser Weigerung der an-ständigen Bourgeoisie, des sich redlich nährenden Bauern-standes, der frommen Mönche und soliden Landbesitzer,sich auf die Planken eines Schiffleins wie der Santa Mariazu begeben, nicht um eine Handelsreise zu machen, Rom zubesuchen, die Seeräuber und Mamelucken aufs Haupt zuschlagen, sondern mit unbekanntem Ziel auf unbekannterRoute wahnhaft ins Blaue zu segeln, kein Mangel an Mut,an heroischen Tugenden oder Unternehmungslust aus, son-dern nur die schiere Vernunft. Diese Vernunft lehrte, mansolle kein sicheres Gut für ein ungewisses aufgeben. Werein Landgut, Weib und Kind, eine ordentliche Profession,liebende Eltern, berechtigte Hoffnungen auf ein zu erwar-tendes Vermögen besaß, mußte ja ein Narr sein, sich aufdie Santa Maria zu begeben.

So wie dies Vorhaben nun einmal notgedrungen aussah,lockte es niemanden, der einen Ofen, und das heißt Hausund Hof besaß, aus diesem und hinter jenem hervor. Zudiesem Aufbruch ins Unbestimmte fanden sich nur Leute,

29

Page 30: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

die etwas Allzubestimmtes hinter sich ließen: das schwarzeElend, die Schande, die Strafe. Da ist es leicht, sich überdie Besatzung der Santa Maria moralisch zu erheben.

Für die alltäglichen Geschäfte einer Regierung oder ei-nes Handelshauses werden Staat und Familie immer gutberaten sein, sich an bewährte, wohlbekannte, erfahrenePersönlichkeiten zu halten. Nun stellt die Geschichte abergelegentlich, stets überraschend, neben den üblichen Fallden unüblichen. Ließe sich eine solche erfolgreiche, eh-renwerte, erfahrene Persönlichkeit mit einem solchen Fallein, so besäße sie nicht die beschriebenen günstigen Eigen-schaften. Da der Takt, den die Geschichte anzuschlagen be-liebt, jedoch fordert, daß einer das gefährliche und unsi-chere Werk übernimmt, schöpfen die Nationen in ernsterLage aus einem geheimen Schatz, den jede von ihnen be-sitzt. Und zwar muß tief geschöpft werden, denn man willan den Bodensatz heran, wo das Gelichter, Bankrotteure,Abenteurer, die Wahnsinnigen, aus dem Amt Gejagten sit-zen. Der Reichtum einer Nation an großen Staatsmännern,genialen Kaufleuten und Gelehrten wird stets ergänzt voneinem wohlverschlossenen Fundus an Lumpen und Versa-gern, der in den Stunden der Ungewißheit, des Hasards,der Gefahr aufgeschlossen werden kann.

Frau Hanhaus, die zwar keinen Staat lenkte, sich einersolchen Last aber gewachsen fühlte, war mit dieser Weis-heit vertraut, drückte sie aber anders aus. Sie hatte eineSchwäche für Leute, die in der Gesellschaft «gescheiterteExistenzen» genannt werden. Wenn sie von einem Gene-ral las, der wegen des Rumors sittlicher Verfehlungen ausdem Amt schied, suchte sie im Handbuch der militärischenChargen augenblicklich den Werdegang dieses Mannes zu-sammen und trat mit ihm in Verbindung. Bankrotte Ban-kiers, abgewählte Abgeordnete, verurteilte Versicherungs-betrüger, im Streit mit dem Minister entlassene Diplomatenzogen sie förmlich an. Ihre Berechnung war einfach. Die-

30

Page 31: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

se Leute hatten in Rängen agiert, die ihr sonst unzugäng-lich waren, weil die Tradition solche Ämter mit kunstvollenBastionen umgeben hatte. Nun zerstörte der Skandal ihreeinst glänzende Herausgehobenheit. An dem einst mit Ehr-furcht betrachteten Standbild durfte nun jeder menschlicheHund das Bein heben. Alle Freunde waren fern. Der einstGefeierte stand allein und schutzlos da, keinen Verteidigerzur Seite. Und jetzt drang Frau Hanhaus plötzlich leicht zuihm vor, in sein Sanatorium, sein Exil, seine Jagdhütte, sei-ne Zelle im Untersuchungsgefängnis. Hier hörte er sie an,hier schüttete er ihr sein Herz aus und fand ein nie versie-gendes Verständnis.

Aber was brachte dies Trösten und Anhören, währendder Gescheiterte in der Ecke stand? Ein gestürzter Mäch-tiger besaß oft immer noch Möglichkeiten, Dankbarkeit zuzeigen. Manche seiner Verbindungen waren zerrissen, an-dere ruhten aber nur. Man konnte jetzt nichts für den Un-glücklichen tun, verlor ihn aber nicht aus dem Auge undließ Zeit verstreichen. Wer oben gewesen war, wußte, wasoben gespielt wurde. Man konnte ihn ausfragen. Ein einst-mals versiegelter Mund sprach jetzt ungehemmt. Frau Han-haus sammelte Informationen. Oft wuchs aus der beiläufi-gen Bemerkung eines solchen Cidevant eine faszinierendeGeschäftsidee. Manchmal erlebten die Gefallenen eine Auf-erstehung. Sie waren aus dem Fleisch der Einflußreichengemacht, das ließ sich nicht auf Dauer unterdrücken. Wennsie rehabilitiert wurden, waren sie für Frau Hanhaus aller-dings verloren, denn dann dachten sie an die Zeit in derHölle nicht gern zurück und versuchten die Bekanntschaf-ten dort unten zu vergessen. Aber auch in den Zeiten desUnglücks gab es erstaunlich viele Leute, die den Sturz garnicht mitbekamen und von den Titeln und der im Glanz er-worbenen Statur ungestört beeindruckt blieben. Frau Han-haus fand, daß der Mensch nicht so schlecht sei, wie Sek-tenprediger oder Philosophen manchmal behaupteten. Man

31

Page 32: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

stürzte sich auf fremdes Leid, weidete sich daran, genoßdie Schadenfreude in vollen Zügen – das gab es freilich undschön war es nicht. Aber wie viele Leute zeigten auch Mit-gefühl und wieviel mehr waren an fremdem Auf und Ab ein-fach desinteressiert, schauten kaum hin und hatten schnellalles vergessen.

Wie schnell überhaupt alles vergessen war! Dafür hatteFrau Hanhaus, auch in ihrem eigenen Leben, schon wun-dersame Bestätigungen erfahren. Sie selbst war es, dieleicht vergaß, Kränkungen ohnehin, die brauchte sie garnicht zu vergessen, die nahm sie gar nicht erst zur Kenntnis.

Als es darum ging, das Rettungsexpeditions-Corps aufder Helgoland für die Suche nach Ingenieur André zusam-menzustellen, mußte sie aber dennoch ein wenig ihr Ge-dächtnis bemühen. Chefredakteur Schoeps war nun gewon-nen, er drängte sogar, damit Ingenieur André nicht, wäh-rend man sich in Vorbereitungen erging und alles gar nichtgründlich genug bedenken konnte, allein nach Hause fand.Herr Schoeps hatte, was nahelag, zunächst die Vorstellung,noch andere Herren aus der Redaktion des Berliner Lokal-anzeigers in den hohen Norden zu senden. Er dachte vor al-lem auch an Photographen und Zeichner, um das Anschau-ungsbedürfnis der Abonnenten zu stillen.

«Wenn wir solche von Schoeps abhängigen Lichtbildnerund Zeichner auf die Helgoland lassen, holen wir uns dieMeuterei an Bord. Wie erklären Sie solchen Leuten, daßes uns um die Bären-Insel geht – denn der großartige Inge-nieur André ist, wie sich jeder hier mit einer Zeitung in derHand schon sagen kann, längst vom Eisbären gefressen undjedenfalls in sehr reduziertem, nicht mehr rettungsfähigemZustand.» Zum Glück war der bereitstehende Photograph,ein gewisser Knecht, nicht seefest und schauderte bei demGedanken, wochenlangem Geschaukel ausgesetzt zu sein.Ein gewisser Malkowski drängte sich der Expedition gera-

32

Page 33: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

dezu auf, sowie das Vorhaben in der Zeitung herum war,aber Schoeps schätzte ihn nicht.

«Bei Malkowski sieht der Nordpol aus wie die Sahara»,sagte er abfällig und vergaß dabei, daß das bei vielen, ja,den meisten Photographen so sein würde. Das gewellteWeiß von Schnee und Sand ähnelte sich gerade auf größereDistanz verflixt, da halfen nur geschickt ins Bild gebrach-te Kamele oder Schlittenhunde bei der Zuordnung der Bil-der. Es war ein Glück, daß im Lokalanzeiger unversehensEifersucht entstand. Alle möglichen Leute kamen plötzlichauf den Einfall, bei der Suche Andres unentbehrlich zu sein.Daß manche davon erheblich besser schrieben als Lerner,änderte nicht, daß sie sich durch ihren Eifer gegenseitigblockierten. Schließlich war Chefredakteur Schoeps froh,daß niemand aus der Zeitung mitfuhr, denn Lerner warnicht einmal Redakteur, es war eine Art Sonderauftrag undgriff in das Gefüge in Berlin nicht ein, und wenn Lerner sichbewährte, dann konnte man weitersehen. Zusagen für dieZukunft wurden ganz ausdrücklich nicht gemacht.

Als Photographen zauberte Frau Hanhaus einen mür-rischen schnurrbärtigen Junggesellen hervor, dessen Be-kanntschaft sie gemacht hatte, als sie versuchte, gewisseSonderposten aus den belgischen Zinngruben im Kongo zuverkaufen. Möllmann, so hieß der Ingenieur, hatte mehrereJahre im Kongo gelebt und war ohne Vermögen, dafür abertrunksüchtig zurückgekehrt. In Redefluß, und zwar übel-launigen, geriet er nur, wenn er ein paar Flaschen, gleich-gültig wovon, geleert hatte. Er vertrug sehr viel. Von FrauHanhaus hatte er eine Photographie gemacht, die sie inder für sie vorteilhaftesten Haltung, in einem Korbsessellehnend, zeigte. Er photographierte aus Neigung und be-saß eine große Sammlung von Bildern barbusiger kongole-sischer Damen, aus der er wohl auch verkaufte. Nie ruhteein freudloserer Sammlerblick als der seine auf einer sol-chen Bildfolge. Bei Möllmann glaubte man, daß ihn nur das

33

Page 34: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

technische Moment des gesamten Photographiervorgangesbewegte. Wenn er mit dem Kopf unter dem schwarzen Tuchverschwand, verließ er die Welt und verbarg sich in einemdunklen Brunnen, den das kreisrunde Tageslichtlein am En-de nur schwach erleuchtete. Auf Bilder, die da entstehenmochten, kam es ihm anscheinend überhaupt nicht an.

«Das Ideale an Möllmann», sagte Frau Hanhaus, nach-dem sie ihn mit Lerner in einem Kaffeehaus zusammen-gebracht hatte – Möllmann mißfiel Lerner auf den erstenBlick, Lerner hingegen war Möllmann, wie gleichfalls zuerkennen war, höchst gleichgültig – , «das Ideale an Möll-mann: er ist Bergbauingenieur und kann photographieren.Wir sparen auf der kleinen Helgoland einen ganzen Mann,wenn wir ihn nehmen. Außerdem ist er frei und froh, wenner ein paar Kröten verdient.» Die würdige Frau Hanhausüberraschte durch den Gebrauch von Jargonausdrücken fürGeld, auch Mäuse, Kies und Pusemanke fielen, aber nurfür die lästigerweise benötigten Alltagsbeträge, nie für denherrlichen, außerordentlichen Gewinn, der am Ende allenWirkens stand. Daß Möllmann durch irgend etwas froh zumachen sei, war unwahrscheinlich. Lerner vermutete, daßes der dichte, über die Oberlippe hängende Schnurrbartwar, der schwammartig allen Freudenüberfluß vor Möll-manns Nase aufsaugte. In diesem übermäßig genährtenBart hing nicht nur der Morgenkaffee, sondern wohl auchvieles von den Eindrücken, die nicht in Möllmanns Geist ge-langten.

Nun aber der Kapitän, der wichtigste Mann, dessen mansich sicher sein mußte, wenn das Abweichen von den dün-nen Spuren des Ingenieurs André ohne Friktionen verlau-fen sollte. Da hatte Frau Hanhaus einen Herrn in petto, derin allem das Gegenteil Möllmanns war. Korvettenkapitän a. D. Hugo Rüdiger hatte keinen Schnurrbart, sondern einenzweizipfligen Vollbart, der gleichsam ein großes W form-te, das Monogramm des Kaisers, die Krone darüber bildete

34

Page 35: Leseprobe aus - medien.ubitweb.demedien.ubitweb.de/pdfzentrale/978/349/927/Lese... · 13 Der große Mann wird erkannt 14 Ein Bild von sich machen 15 Morgenstunde im «Monopol» 16

Rüdigers ausdrucksvolles, niemals unbewegtes Gesicht. WoMöllmann schwieg, sprach Rüdiger. Wo Möllmann stumpfwar, war Rüdiger reizbar. Und diese Reizbarkeit war es, dieihn um seine Korvette und seinen soldatischen Beruf ge-bracht hatte, obwohl er mit allen Fasern daran hing. Dastat einen Schrei in seinem ganzen Leib, als er von diesemBeruf getrennt wurde, wie man beim Zerreißen von Seidevom «Seidenschrei» spricht. Wie aber war ein Mann, des-sen Reizbarkeit seinem Lebensglück das Bein gestellt hat-te, überhaupt die steile Offiziersleiter hinaufgeklettert? Aufderen unteren Stufen sind Wutausbrüche, Jähzornsanfälle,Haßtiraden, cholerische Zustände und ähnliche Entrückt-heiten dem Fortkommen keineswegs förderlich, vielmehrwerden Selbstverleugnung, Schweigen, Disziplin, klaglosesHinnehmen von Ungerechtigkeiten als Standestugendenerwartet. Die schrankenlose Beredsamkeit und die zu Hef-tigkeit führende Überempfindlichkeit hatten sich bei Kapi-tän Rüdiger denn auch erst spät entwickelt, zunächst nurim Häuslichen, bis Frau Korvettenkapitän Rüdiger die ge-meinsame Wohnung verließ und in ihr Elternhaus zurück-kehrte, daraufhin aber ganz entschieden und kraftvoll auchim Dienst. Es gab Stimmen, die behaupteten, Korvettenka-pitän Rüdiger sei verrückt geworden. Das Kommando aufder Helgoland nahm er an, als sei sie das Flaggschiff derKaiserlichen Flotte. Das Vorhaben, das Frau Hanhaus ihmbehutsam entschleierte, erregte ihn, obwohl er hier seltsamverschwiegen blieb. Lerner war für ihn keine ernstzuneh-mende Größe. Kapitän Rüdiger hingegen weckte in Lernerdie Erinnerung an die Angst, die ihm als Knabe der Niko-laus eingejagt hatte.

[...]

35