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MATTHIAS SACHAU ROMAN Alicia verschwindet

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M a t t h i a s s a c h a u

r o M a n

Aliciaverschwindet

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M AT T H I A S S A C H AU

AliciaverschwindetRomanInsel Verlag

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Erste Auflage 2018insel taschenbuch 4642Originalausgabe© Insel Verlag Berlin 2018Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlag: zero-media.net, MünchenUmschlagfoto: FinePic®, MünchenSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyISBN 978-3-458-36342-2

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E R S T E R T E I L

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1Die alten Ledersessel in der Bibliothek des Blander’sClub wirkten so ausladend, dass kleinere Männer be-fürchten mussten, von ihnen verschluckt zu werden.Zum Glück waren Robert Arlington-Stockwell und ichstattlich genug, um uns sicher zu fühlen. Ob die Bü-cher in den mächtigen viktorianischen Regalen um unsherum jemals gelesen wurden oder nur verhindernsollten, dass jemand fragte, warum der Raum Biblio-thek hieß,war schwer zu sagen. Ich dachte kurz anmei-neeigene, zumBerstengefüllte BücherwandzuHause.Eine wilde Ansammlung unterschiedlichster Werke,halbwegs korrekt nach Autorennamen sortiert. Wahr-scheinlichwäre eine andereOrdnung sinnvoller.Muss-te man überhaupt alle Bücher aufheben? Sollte mansich nicht lieber auf einige Lieblingswerke beschrän-ken? Ich tröstete mich damit, dass wohl jeder, der ger-ne las, diese Entscheidung seinLeben langvor sich her-schob.

Wir warteten auf unsereDrinks undplauderten. Ichfragte mich, ob sich Roberts Gesichtszüge seit unsererletzten Begegnung verändert hatten, oder ob nur dasweiße Pflaster, das Teile seiner linken Stirnhälfte ver-deckte, die gewohnten Proportionen durcheinander-brachte. Natürlich erkundigte ich mich nicht danach.Im fünftältesten Londoner Gentlemen’s Club wäre so

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ein Verhalten unangemessengewesen. Ich durfte ohne-hin nur hier sein, weil ich Roberts Gast war und zurvereinbartenZeit an einer geheimnisvollengroßen blau-en Tür in der St James’s Street mit dem richtigen Code-wort hatte glänzen können.

Auf dem blankpolierten Holztischlein vor uns stan-den eine KaraffeWasser, zwei Gläser auf ledernenUn-tersetzern und eine Kristallschale mit einer AuswahlSalzgebäck. Davor drei Fotos, die Robert mit der Bild-seite nach unten akkurat nebeneinandergelegt hatte.

»Entschuldigen Sie die Geheimniskrämerei, Doktor«,sagte er, während er uns Wasser einschenkte. »Aberwas ich Ihnen erzählenmöchte, erfordert, dass ich die-se Fotos erst nach und nach aufdecke. Sie werden baldverstehen, warum.«

Ich kannte Robert nicht gut, aber gut genug, um ihnzu mögen. Obwohl ich Anfang fünfzig und damit fastzwanzig Jahre älter war als er, hattenwir das, wasman»einengutenDraht zueinander« nennt. Alswir uns vorein paar Jahren zum ersten Mal auf dem East Coursedes Wentworth Golf Clubs begegneten – genauer ge-sagt in dem vermaledeiten Waldstück zwischen demfünften und neunten Loch, in dem wir beide nach un-seren hoffnungslos verzogenen Bällen suchten und siebeinahe verwechselten –, brauchten wir nur wenigeSätze, umdas festzustellen. Und auchwennwir uns da-nach nur gelegentlich und zufällig trafen, unser Drahthatte Bestand. Sobald wir uns bei einer der zahlreichen

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langweiligen Zusammenkünfte der British Season vonWeitemerkannten, zwinkertenwir unsüberdieKöpfeund Hutfedern hinweg zu, und ich genoss ab diesemMoment die angenehme Gewissheit, dass wenigstenseines der Gespräche an diesem Abend unterhaltsamsein würde.

Sicher, Robert war dasMusterbild eines Sloane Ran-gers, eines jener jungen Briten, die gleich mit einemganzenDutzendgoldener Löffel imMundgeborenwur-den. Die Arlington-Stockwells waren eine vollendeteMischung aus Adel, altem Geld, neuem Geld, Firmen-anteilen, Immobilien und Beziehungen bis hinauf zuden Grosvenors. Bemerkenswert war aber, dass er trotzintensiverDauerverwöhnungkeinenennenswertencha-rakterlichen Schädendavongetragenhatte. Er war sich– imGegensatz zu denmeisten anderen Söhnchen, diesich imGuards PoloClub, imBoujis und in den Logen-plätzen der Royal Opera tummelten – der Absurditätseiner Lebensumstände vollauf bewusst. Und meinBauchgefühl sagte mir, dass er tief im Inneren unzu-frieden war, allerdings ohne genau zu wissen, womit.Vielleicht war nur diese Unsicherheit der Grund, war-um er keinerlei Ambitionen zeigte, aus demKlammer-griff der Familie Arlington-Stockwell auszubrechen.

Lediglich eine einzige Fluchttür nutzte er gerne undoft. Sie führte in die relative Freiheit einer zwar strengumzäunten, aber in ihrenAusmaßendochsehrannehm-baren Spielwiese: Gespräche. Ichmuss voller Neid zu-

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geben, dass Robert ein Meister darin war. Jeder nochso langweiligenRunde konnte er mühelosmit ein paarSätzen Leben einhauchen. Er beachtete dabei penibeldie Grenzen der Konventionen, tänzelte aber biswei-len so dicht an ihnen entlang, dass man den Atem an-hielt. Gleichzeitig hatte er diewunderbareAngewohn-heit, sein eigenes Leben nicht zum Thema zu machen.Undwennanderedafür sorgten, gelang es ihmschnell,dasGesprächwieder in neue Bahnen zu lenken.Wahr-scheinlich hatte es weniger mit gutem Stil zu tun alsmit seinem Bewusstsein dafür, dass seine Vita tatsäch-lich nichts hergab, was einer Vertiefungwert gewesenwäre.

Dass Letzteres so nicht mehr stimmte, sollte mir imVerlauf des Abends klar werden. Zu diesemZeitpunktahnte ich allerdings noch nichts. ImGegenteil, nachdemRobert seine Fotos ausgebreitet hatte, fürchtete ich imStillen, dass die wohlige Spannung, die er aufgebauthatte, nicht annähernd das einlösen würde, was sie imMoment versprach. Gleichzeitig schämte ich mich übermeinen primitiven Anspruch, gut amüsiert zuwerden.Kaum angemessen für diese Verabredung, immerhinunsere erste nach jahrelangen Zufallsbegegnungen.

Ein Diener mit Tablett trat an den Tisch. Roberts ge-heimnisvolle Fotoreihe bekam Gesellschaft von einerCocktailschale und einem Tumbler. Die Cocktailschalewar seine Bestellung. Ein Gin Basil Smash, das Rezepteines deutschen Bartenders, für das ich mich bislang

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nicht erwärmen konnte. Robert hatte eine Vorliebe füralles Deutsche. Er beherrschte die Sprache fließend, zi-tierte Goethe, Mann und Kafka und zog oft provozie-rende, bewusst unfaireVergleiche zwischendeutscherund britischer Kultur. Ein Teil seiner offengelebtenGer-manophilie war sicher echter Faszination geschuldet,aber ich bin überzeugt, ein anderer Teil rührte von ei-nemtiefen,uneingestandenenWunschnachAuflehnungher.

Ich selbst begnügtemichmit einemschlichtenWhiskySour. Ich ließ die großen Eiswürfel ein paarmal kreisen,dann stießenwir an. Der erste Schluckwar,wie immer,ein Fest. Ich ließmir Zeit und genoss die nie ganz, aberin diesemFall doch nahezu perfekte Balance zwischenSäure und Süße. Robert hingegen schien es fast gleich-gültig, was er in sich hineinkippte. Ungewöhnlich fürihn. Einer Ahnung folgend, fragte ich, ob er nunmit sei-ner Geschichte anfangen wolle. Und er wollte.

»WennSie erlauben, beginne ichmit einer Frage,Dok-tor: Kennen Sie Alicia Jensen?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich kenne überhaupt keineJensens.«

Robert winkte ab. »Es hätte mich auch gewundert.Um es kurz zu machen, Alicia Jensen ist mein besterFreund. Ja, Sie haben richtig gehört: bester Freund. Ichwüsste nämlich keinen Mann, mit dem ich mich auchnur ansatzweise so gut verstehe. Einen besseren bestenFreund als sie kann ich mir nicht wünschen.«

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Roberts Tonfall war anders als sonst. Mir wurde lang-sam klar, dass er diese Geschichte nicht erzählte, weiler sie für unterhaltsam hielt. Sie lag ihm auf der Seele.Ich konntemir allerdings nicht erklären, warum er sichdamit ausgerechnet anmichwandte, einenMann,mitdem er – trotz beiderseitiger Sympathie – bisher nurlose verbunden war. Nicht dass ich etwas dagegen hat-te. ImGegenteil,wenn es eine Schwäche gibt, derer ichmich bezichtigenmüsste, dann ist esNeugier. Dennoch,warum tat er es? Hoffte er auf meinen Rat? Mir schiendiese Option am wahrscheinlichsten und ich fühltemich geschmeichelt. Wie gründlich ich mich täuschte,sollte ich erst etliche Drinks später erfahren.

Er nahm einen weiteren Schluck, atmete hörbar einund fuhr fort: »Ichmachemir große SorgenumAlicia.«

Sein gewohnt wacher, stets leicht verschmitzter Ge-sichtsausdruck war vollends gewichen. Ich sah einenMann, der mühsam Haltung bewahrte. Was auch im-mer ermit »SorgenumAlicia« gemeint hatte, es schienernst zu sein. Ich sagte die beiden Sätze, die inmeinemBeruf als Psychiater zu den Formaliengehören, die ichjedoch kaum jemals dringlicher ausgesprochen hatteals an jenemTag: »Erzählen Sie dieGeschichte vonAn-fang an.Wir haben alle Zeit derWelt.« Sein kurzes Zö-gern entgingmir nicht, und ich fügte hinzu: »Sie habenmein Wort, dass alles, was Sie mir heute berichten, sosicher bei mir aufgehoben ist, als hätten Sie es mir inmeiner Praxis anvertraut.«

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Er versuchte sich kurz in dem unmöglichen Kunst-stück, sich unbemerkt umzusehen, nahm einen letztenSchluck und fing an:

»Alicia ist verschwunden, Doktor. Ich habe sie vorgut einer Woche zum letzten Mal gesehen. Wir hatteneinenwunderbaren Abend zusammen verbracht, undamnächstenTagwar siewievomErdbodenverschluckt.Keine Reaktion mehr auf Anrufe und Nachrichten, nie-mandzuHause unddieNachbarnwussten auch nicht,wo sie steckte. Ich wollte schon zur Polizei, doch dannhabe ich einen Brief von ihr auf meinem Schreibtischgefunden. Er war bereits zwei Tage alt, das konnte ichaus der Reihenfolge schließen, in der Samuel die Posthingelegt hatte. Seit ich Zuflucht bei meiner Lebensge-fährtin Rovena suchen kann, verkehre ich nicht mehrso oft in meinem ›Sarg‹, wie ich meine Wohnung ausvielerlei Gründen nenne. Sie erinnern sich anMiss Ro-vena, nicht wahr?«

»Aber sicher, Sie hatten sie mir vergangenenWinterin der Oper vorgestellt. Und halb London spekuliert,ob Sie ihr bald einen Antrag machen.«

»Nun, ich habe inzwischen immerhin schon die Rin-ge gekauft. Doch zurück zuAli. Dass sie mir einen Briefschickte, war wirklichmerkwürdig. Gewöhnlich habenwir telefoniert und SMS geschrieben. Und sie ist, wiebereits angedeutet, keine Angehörige unserer Schnösel-kaste. Sie verdient ihrenLebensunterhalt als freie Foto-grafin und kümmert sichum alle Belange ihres Lebens

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selber. Sie muss ihren Freunden nicht regelmäßig teu-re, handgeprägte Briefbögen umdieOhren hauen, umihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten.«

Dass Robert mitten in den heiligen Hallen des Blan-der’s das Wort »Schnöselkaste« benutzte, gefiel mir. Esgab mir das aufregende Gefühl, wir wärenMitgliedereiner Verschwörung.

»Wirklich, Sie sollten Alicia einmal bei ihrer Arbeiterleben.« Er kam in Fahrt. »Sobald sie fotografiert, istsie nichtmehr ansprechbar. Sie wird einsmit ihrer Ka-mera. Keine Verrenkung ist ihr zu abenteuerlich, umdie Linse in die richtige Position zu bringen. Und wennman sie dabei beobachtet, könntemanglauben, siewärebereit, für ein gutes Bild zu töten. Nein, das ist natür-lich Unsinn. Aber – und das meine ich wirklich so –

manchmal beschleicht mich das Gefühl, sie wäre zu-mindest bereit, für ein gutes Bild zu sterben.« Er hieltkurz inne. »Siemüssenwissen, sie hortet eine geheimeSammlung von Fotos, zu denen sie … eine besondereBeziehungaufgebaut hat. Ich finde, es sind ihre besten.Aber sie lässt sie fast niemanden sehen.Manche schautsie selbst kauman. Siemachen ihrAngst, sagt sie.Dochich schweife ab. Hier, ihr Brief. Würde es Ihnen etwasausmachen, ihn sich anzusehen?«

Damit zog er einen geöffneten Umschlag aus der In-nentasche seines Jacketts und überreichte ihn mir. Ge-wöhnliche Qualität, wie man sie in jedem Schreibwa-renladen bekommt.

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»Darf ich?«»Bitte.«Ich holte den Briefbogen heraus. Er war dünn und

nicht sehr stabil, vermutlich ein Blatt aus einem StapelDruckerpapier. Ich las mit leicht gedämpfter Stimmevor:

Lieber Robert,ich muss verschwinden. Würde es Dir etwas ausmachen,

nach meiner Wohnung zu sehen?

Grüße, Ali

Die Buchstaben waren sorgfältig ausgeschrieben, ver-mutlich mit einem Kugelschreiber. Ich ließ die Wortekurz auf mich wirken. Dann sah ich Robert an, und ersprach weiter: »Dass dieser Text äußerst merkwürdigist, brauche ich Ihnenwohl kaum zu sagen, Doktor. Zu-nächst einmal: ›Ich muss verschwinden.‹ Das klingt,als wäre Ali ein Mafiakiller, der in Schwierigkeitengeraten ist. Völlig absurd. Hätte sie geschrieben: ›Ichmuss einfach mal für eine Weile verschwinden‹, wäre dasanders. Ich weiß von dem Haus auf der Isle of Port-land, das ihremverstorbenenGroßvater gehört hat. EineBruchbude, diemanmeines Erachtens besser heute alsmorgen verkaufen sollte, aber Alicia nutzt sie gern alsRückzugsort.Wenn sie ihrenText auch nurandeutungs-weise in Richtung Erholen, Ausspannen und Ruhe su-

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chen ausgeschmückt hätte, wäre für mich klar gewe-sen, dass sie auf Portland ist. Selbst bei einem schlich-ten ›ichmussmal verschwinden‹ hätte ich sie dort ver-mutet. Doch das fehlende ›mal‹ macht einen großenUnterschied, finden Sie nicht auch, Doktor? Oder hal-ten Sie mich für überspannt?«

»Ich vermute,wir sind immer noch ganz amAnfangIhrer Geschichte«, antwortete ich. »Im jetzigen Stadiumwürde ich Ihnen lediglich eingutes Gespür für Detailsattestieren. Mich selbst hätte dieser Brief sicher ähn-lich ratlos gemacht wie Sie.«

»Das beruhigt mich. Ganz ehrlich. Ich war in denletzten Tagen schon mehr als einmal an dem Punkt, andem ich mich fragte, ob ich Hirngespinsten hinterher-laufe. Doch zurück zum Brief. Fast genausomerkwür-dig wie Alicias Verschwinden fand ich die Frage: ›Wür-de es Dir etwas ausmachen, nach meiner Wohnungzu sehen?‹ Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ichihr jeden Gefallen der Welt tun würde, auch wenn siemich bisher so gut wie nie um etwas gebeten hat. Undnach derWohnung zu sehen ist auch keine ungewöhn-liche Bitte unter Freunden, wenn einer verreist. Aberausgerechnet ich? Wenn jemandem das Wohl seinerWohnung am Herzen liegt, bin ich ganz bestimmt derLetzte, dem er dieseAufgabe anvertrauen sollte. Ich ha-be keine Ahnung, wie man nach einer Wohnung sieht,ich muss mich ja noch nicht einmal um meine eigenekümmern. Ich hätte natürlich Samuel dieAufgabeüber-

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gebenkönnen, aberdashat sie nicht gemeint. IhrVerhält-nis zu Samuel war speziell. Wenn sie bei mir war, be-handelte sie ihn demonstrativ so, als sei er ein Freundund nicht der Butler. Sie forderte ihn auf, sich zu unszu setzen und mit uns zu trinken und solche Sachen.Immer eine ziemlich unangenehme Situation für Sa-muel, aber weiß der Teufel, irgendwie haben es die bei-den geschafft, sich über dieses Einladen-und-Ablehnen-Spiel anzufreunden. Wenn sie mich also fragt, ob ichnach ihrer Wohnung sehen kann, dann meint sie auchmich. Punkt.«

»Und wie sollten Sie in Miss Alicias Wohnung hin-einkommen, Robert? Hatte sie die Wohnungsschlüs-sel für Sie hinterlegt?«

»Nein, sie hatte mir ihre Wohnungsschlüssel schonvor langer Zeit anvertraut. Für den Fall, dass sie ihreverliert oder was auch immer. Ich fand das sehr schön.Nicht nur eine Geste des Vertrauens, das ist Vertrauen.Aber als Arlington-Stockwell hat man so etwas nichtnötig. Was auch immer mit dem Schlüssel für meinenSarg – der natürlich schon lange kein Schlüssel mehr,sondern eine Schlüsselkarte ist – passieren sollte, einAnruf bei Samuel oder bei unserer Sicherheitsfirmagenügt. Trotzdem habe ich auch Alicia eine Karte fürmeine Wohnung gegeben. Es hat zwar keinen prakti-schen Sinn, aber ich wollte es einfach. Es fühlt sich gutan.

Verzeihen Sie,wenn ich noch einwenig bei demThe-

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ma Schlüssel bleibe, aber Alicias Schlüssel spielten inunserer Freundschaft eine noch weitaus größere Rolle,alsmanalsAußenstehender vermutenkönnte. Ichglau-be, man nennt es Fanal oder so ähnlich. Ich trage ihreSchlüssel jedenfalls stets mit mir herum. Mein Schlüs-selbund ist jämmerlich zusammengeschrumpft, seit dieSchlüsselkarten über uns hereingebrochen sind. Rich-tige Schlüssel habe ich nur noch für meinen 65erE-Type undAliciasWohnung.Wennwir uns gestrittenhaben – und das taten wir weiß Gott oft, sie kann daswunderbar, sie ist der einzige Mensch, mit dem ichmich gerne streite –, lief das Ende meist so ab: Wir er-reichten irgendwann das Stadiumder unversöhnlichenGesprächspause, ich wartete genau zwei Sekunden,dann löste ich ihre Schlüssel von meinemBund, schobsie ihr hin und sagte: ›War’s das jetzt zwischen uns?‹Mal setzte ich dazu einen Hundeblick auf, mal grinsteich unverschämt, auf jeden Fall brachte ich sie immerzum Lachen. Sie stieß dann einen üblen Hafenarbei-terfluch aus und warf mir ihre Schlüssel an den Kopf.Manchmal auch in dieWeichteile. Ich wusste es nie vor-her, und Gnade mir Gott, wenn meine Reflexe einesTages nachlassen sollten. Doch nungenug zumThemaSchlüssel.

Nach einpaar vergeblichenVersuchen,Alicia telefo-nisch zu erreichen,machte ichmich selbstverständlichsofort – da fällt mir gerade ein, die Deutschen habenein großartiges Wort dafür: ›schnurstracks‹. Kennen

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Sie es? Nein? – Also, ich begab mich, wenn Sie erlau-ben, schnurstracks nach Highbury zu Alicias Wohnung,um nach ihr zu sehen. Und ich hoffte natürlich, dass siezu Hause sein würde. Und dass es irgendeine harm-lose Erklärung für ihren Brief und das Schweigen derletzten Tage gäbe, vielleicht sogar eine lustige.«

Robert nahm einengroßen Schluck Gin Basil Smash.Ob es am Durst lag oder ob er hoffte, dass es ihn beru-higte,war schwer zu sagen. IchgabmirMühe, nicht dasrätselhafte Pflaster auf seiner Stirn anzustarren. Als erendlich weitererzählte, war ich froh, mich wieder aufseine Augen konzentrieren zu können.

2»Kaumeine Stundenachdem ichdenBrief gelesenhat-te, stieg ich also mit zunehmend klopfendem Herzendie Treppe zu Alicias Apartment hoch. Ich kannte esvon unzähligen Besuchen. Es hat keinen Balkon, aberman kann aus dem Fenster klettern und auf einemVor-dach sitzen. Von da sieht man den Sonnenuntergang,und wenn Arsenal spielt, hört man das Stadion. Fra-gen Sie mich nicht, wie viele Abende wir dort zusam-men verbracht haben. Ich fühle mich dort viel wohlerals bei mir. Mein Sarg liegt in unserem Stadthaus inder Lyall Street. Eine Prachtimmobilie, ohne Zweifel.

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Aber leider bis unter das Dach von meiner Sippe durch-setzt. Undwas das Recht auf Privatsphäre betrifft, gel-ten bei uns sehr eigentümliche Regeln. Die elendenSchlüsselkarten sind so programmiert, dass jeder Ar-lington-Stockwell jederzeit jede beliebigeWohnung je-des anderen Arlington-Stockwells betreten kann. DieDauerbesuche meines Vater, meiner Mutter und mei-ner Tante Merlind bringen mich um. Dass ich geradesehr beschäftigt bin, nimmtmir keiner ab, denn es gibtweiß Gott niemanden in meiner Familie, der ernsthaftetwas zu tun hätte. Und den Einwand, ich sei geradeim Begriff, ein Bad zu nehmen, kann ich auch höchs-tens zweimal am Tag vorbringen. Malen Sie sich dasso schlimm aus, wie Sie wollen, Doktor. Aber glaubenSie mir, es ist noch schlimmer.

Manchmal war Ali zu Besuch und bekam diese Zu-stände mit. Ich weiß nicht, ob sie sich jemals bei mirwohlgefühlt hat. Manchmal glaube ich, sie hat sich nurironisch in der Lyall Street aufgehalten. Mein Verhält-nis zu ihrer Wohnung hingegen war das perfekte Ge-genteil. Bevor ich Rovena kennengelernt habe, war dieBude in Highbury mein wichtigster Rückzugsort undder Platz, an dem ich mich lebendig fühlte. Sie ahnennicht,wie gutmir dieGegenwart eines normalenMen-schen tat, der arbeitet, kocht und mit einer Bohrma-schine umzugehenweiß. Darüber hinaus hatte Ali einegroße Leidenschaft für das, was wir altväterlich ›dieschönenDinge des Lebens‹nennen.UnserGeschmack

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unterschied sich zwar auf manchen Gebieten ganz er-heblich, aber gerade das machte alles so wunderbar.Ein Abend, an demman abwechselndHeavyMetal undKlaviermusik von Robert Schumann hört, dazu Enten-Trüffelpastete und Bier aus der Flasche. Ich weiß, wieplakativ sich das anhört, aber genau so war es bei unsauf den Gebieten Musik und Ernährung. Bei Filmenhatten wir dagegen einen sehr ähnlichen Geschmack,und wenn es um Bücher ging, war es sogar umgekehrt:Dort war Alicia die Konservative. Sie hatte eine aus-geprägte Vorliebe für altes, hyperromantisches Zeug –

Jane Austen, Gothic Novels, diese Richtung, Sie wissenschon –, während ich Benn, Trakl und Robert Walserlas.Weil wir uns beide beharrlich weigerten, die Bücherdes anderen zu lesen, konnten wir uns nie vernünftigdarüber unterhalten, nur sticheln, was allerdings sehramüsant war.«

Erhieltkurz inne. Ichversuchte,mirMissAliciavorzu-stellen, aber es gelang nicht. Stattdessen hatte ich stän-dig Roberts Verlobte in spe vor Augen: Miss RovenaLenoir, eine sehr attraktive Mittzwanzigerin, schlank,glänzende hellbraune Haare, blaue Augen und durchund durch britisch. »So britisch, dass sie sogar einenfranzösischen Nachnamen hat«, wie Robert manchmaltreffend anmerkte. Siewar eine zurückhaltendePerson.Aber auf eine besondere Art: Sie hatte nichts Abwei-sendes. Im Gegenteil, sie forderte einen geradezu her-aus. Unbewusst hatte ichmirMiss Alicia zu Beginn von

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Roberts Erzählungwie ihreZwillingsschwester vorge-stellt. Erst als er erwähnte, dass sie bisweilen fluchte,war dieses Bild erloschen.Mein Blick blieb einmalmehran den verdeckten Fotos hängen. Ich mutmaßte, dassMiss Alicia auf einem von ihnen zu sehen sein wür-de. Damit lag ich richtig, wie sich später zeigen würde.Allerdings hatte ich noch keine Ahnung, welch tiefenSchreck mir dieses Bild einjagen würde.

Roberts wohlklingende Stimme setzte wieder ein.»Gestatten Sie mir kurz noch ein paarWorte zu AliciasWohnung: Ich habe jedes Mal ein eigenartiges Gefühl,wenn ich hineinkomme. Stellen Sie sich einen Schau-spieler vor, der sein Theater durch den Diensteingangbetritt und sich sofort mitten auf der Bühne wiederfin-det. Genauso ist es beiAli: kein Entree, keineGarderobe,kein Flur. Ohne jede Vorwarnung steht man plötzlichin einemgroßen Raum. Und dieser Raum ist alles: Kü-che, Salon,Wohnzimmer, Abstellkammer, Arbeitsplatz,Fernsehzimmer, Bar, Fitnessraum,Bibliothek,Weinkel-ler, Privatmuseum. Darüber hinaus gibt es nur nochein winziges Schlafzimmer und ein Bad, das war’s.

Ich stand also vor der Tür, klingelte, klopfte und rief,und nachdem es still blieb, schloss ich auf und trat ein.Der Raum kammir fremd vor ohne sie. Es dauerte, bisich merkte, dass ihre Abwesenheit nicht der einzigeGrund für diese Fremdheit war: Alleswar penibel auf-geräumt. So kannte ich ihreWohnungnicht.Alicia hat-te sicher keineVorliebe fürChaos, aber es lagen immer

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ein paar Dinge herum, mit denen sie sich gerade be-schäftigte, meist ihre Kamera auf dem Couchtisch, da-zu ein bisschen benutztes Geschirr in der Spüle, einPullover über einer Stuhllehne, solcheDinge. DieseAuf-geräumtheit hatte hier nichts verloren, sie machte michtraurig.

Dann erst zog ein Detail meine ganze Aufmerksam-keit auf sich: In der Mitte des perfekt aufgeräumtenZimmers – wirklich exakt in der Mitte, so dass es ei-nemgeradezu ins Auge springen musste – lag ein Buch.Ich erkannte es sofort. Wuthering Heights von EmilyBrontë. Alicias erklärtes Lieblingsbuch. Kennen Sie es,Doktor?«

»Wuthering Heights? Nun, wir haben es seinerzeit inder Schule gelesen. Möglicherweise kein schlechter Ro-man, aber ich war damals noch zu jung dafür. Außer-dem hieß eine der Hauptfiguren durch einen unglück-lichenZufallHeathcliff, genauwie ich. Sie können sichvorstellen, wie dankbar sich meine Mitschüler daraufgestürzt und Scherze auf meine Kosten gemacht ha-ben. Also, kennenwäre übertrieben. In unangenehmerErinnerung trifft es eher.«

Robert lachte kurz auf. »Ich kann Sie beruhigen, lie-ber Doktor, ich kenne es nochweniger. Allein der Titelreicht aus, um mich für alle Zeiten davon fernzuhal-ten. Abgesehen davon steht eine wertvolle Erstausga-bediesesWerks inunserer Familienbibliothek, und ichhabe gewissen Widerwillen gegen alle Bücher, die dort

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gehortet werden. Aber Ali ließ nichts auf diesen Romankommen.Als ich ihr vonunserer Erstausgabe erzählte,hat sie mich angefleht, sie ihr zu zeigen. Sie hat ernst-haft den Buchrücken geküsst. Und ich konnte sie im-mer wunderbar ärgern, wenn ich die Hacken zusam-menschlug undden deutschen Titelwie ein Feldwebelaussprach: ›Sturrrmhöhe!‹

Aber ich schweife ab. Die Frage ist: Warum lag Ali-cias verdammtes Lieblingsbuch dermaßen auffällig in-szeniert auf demFußboden?Haben Sie eine Erklärungdafür?«

Verdammtes Lieblingsbuch.Robertfluchte nur äußerstselten, aber wenn, dannkames ihmohne jedesZögernüber die Lippen.

»Nun, Robert, ich denke, man muss nicht SherlockHolmes sein, um zu erkennen, dass jemand – vermut-lich Miss Alicia – wollte, dass jemand anderes – ver-mutlich Sie – das Buch dort findet. Miss Alicias Bitte,Sie mögen nach ihrer Wohnung sehen, bekäme damitgewissermaßen einen poetischen Doppelsinn, findenSie nicht?«

»Ich gebe Ihnen in allen Punkten recht, Doktor. Undgroßartig, dass Sie ausgerechnet Sherlock Holmes er-wähnen. Auf ihn wollte ich als Nächstes zu sprechenkommen. Haben Sie die Serie Sherlock gesehen?«

»Nein, tut mir leid.«»EinMeisterwerk. Alicia und ich haben viel Zeit da-

mit verbracht. Also: Für einen Sherlock-Kenner ist ein

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Gegenstand,der einsam inderMitte einesRaums liegt,ein klarerVerweis auf Staffel eins, Folgedrei:Das großeSpiel. Moriaty stellt Holmes dort – quasi zumAufwär-men – kriminalistische Rätsel und wenn Sherlock sienicht rechtzeitig löst, tötet er Geiseln. Das erste Rätselbesteht aus einem Paar Turnschuhe, das mitten in ei-nem verlassenen Zimmer auf dem Boden steht. Aliciaund ich haben diese Folge fast ein Dutzend Mal gese-hen. Am Ende löst Sherlock nur durch Untersuchungdieser Treter einen zwanzig Jahre alten Mordfall.«

»Ich verstehe. Und Sie glauben, dass Miss Alicia Ih-nen ebenfalls ein Rätsel aufgeben wollte, nur mit ei-nem hoffentlich weniger tragischen Hintergrund?«

»Für eineWeile glaubte ich an ein Rätsel, Doktor. In-zwischen weiß ich allerdings überhaupt nicht mehr,was ich glauben soll.«

Roberts angespannte Stimmung, die er im Eifer desErzählens für kurze Zeit verloren hatte, kehrte spür-bar zurück.

»Zunächst wagte ich es kaum,michdemBuchzunä-hern. Ich ignorierte es und bemühte mich, stattdessennach der Wohnung zu sehen. Ich hatte keine Ahnung,was zu tunwar, aber Durchlüften schienmir eine guteIdee. Eine denkbar einfacheAufgabe, aber mitmeinenjeder Arbeit entwöhnten Schnöselhänden machte ichselbst daraus eine Slapsticknummer. Bis ich den Schließ-mechanismus ihrer alten Fenstergriffe verstanden hat-te, klemmte ichmir mehrfach die Finger, und beim an-

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schließenden Versuch, die Pflanzen zu gießen, sorgteich für beträchtliche Überschwemmungen. Das Buchschien mich dabei die ganze Zeit zu beobachten – lä-cheln Sie ruhig. Nachdem alles getanwar, wasmir sinn-voll erschien, und ich alle dabei von mir angerichtetenVerwüstungen beseitigt hatte, schaute ich bei denNach-barnvorbei.Vergeblich, niemandwusste,woAliciawar.Also kehrte ich in die Wohnung zurück und hob end-lich das Buch auf. Ich habe es dabei. Wenn Sie gestat-ten, würde ich es Ihnen gerne zeigen.«

Mit einer schwungvollenBewegung fasste Robert inseine elegante schwarze Ledermappe und überreich-te mir einen schlichten Hardcoverband vonWutheringHeights. Der Schutzumschlag fehlte, sonst konnte ichnichts Besonderes erkennen.Auf demBuchrückenwa-ren Autorin und Titel in kleinen Goldbuchstaben ein-geprägt. Ich strich über den mit grauweißem Stoff über-zogenen Buchdeckel und schlug das Werk auf.

»Nun, was soll ich sagen? Die Seiten lassen sich leichtumblättern, es ist offenbar mehrmals gelesen worden.Und es sieht so aus, als hätte Miss Alicia es manchmalin einer Tasche herumgetragen, die Ecken sind leichtabgestoßen. Dennoch ist es in einem gepflegten Zu-stand. Typisch für ein Lieblingsbuch, würde ich sagen.Mehr kann ich aber beim besten Willen nicht heraus-lesen, wenn Sie mir dieses ärmliche Wortspiel verzei-hen.«

»Trösten Sie sich, Doktor, mir ging es genauso. Und

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das, obwohl ichmirwesentlichmehrZeit nehmenkonn-te als Sie. Ich habe jede einzelne der über vierhundertSeiten angesehen. Es gab keine unterstrichenen Wör-ter oder Buchstaben, keine Lesezeichen, keine Eselsoh-ren und keine Notizen. Und ich nehme vorweg, dassnicht einmal ein Experte von Scotland Yard etwas ent-deckt hat, den ich später in meiner Ratlosigkeit dankVerbindungen meiner Familie hinzuziehen konnte.«

»Was ist mit dem Schutzumschlag?«»Alicia hat ihn sofort weggeworfen, nachdem sie das

Buch gekauft hatte. Sie hasste ihn. Ich erinnere mich,dass darauf eine Frau auf einer Anhöhe zu sehen war.Mit geschlossenen Augen reckte sie ihr Gesicht demSturmwind entgegen, der ihr Haar zerzaust. Und denKlappentext hasste Ali nochmehr. Sie hattemir verbo-ten, ihn zu lesen; er sei noch schlimmer als das Bild.«

»Also kannte Miss Alicia das Buch schon, bevor siediese Ausgabe kaufte?«

»Aber ja. Sie hatte davor eine völlig zerfledderte Ta-schenbuchausgabe. Ich wollte ihr unsere Erstausgabeschenken, aber noch bevor ich mit meinem Vater dar-über verhandeln konnte, hatte sie sich schon das neueBuchgekauft, undder richtigeZeitpunkt schienmir ver-passt. Zumindest vorerst.«

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