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Leseprobe aus: ISBN: 978-3-499-27620-0 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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ISBN: 978-3-499-27620-0Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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Kelly Moran

Wildflower SummerIn deinen Armen

Roman

Aus dem Englischen von Vanessa Lamatsch

Kyss

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Redemption».

Deutsche ErstausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, Juni 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg«Redemption» Copyright © 2017 by Kelly Moran

Redaktion Stefanie KruschandlCovergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung ShutterstockSatz aus der Dolly

Gesamtherstellung CPI books GmbH, Leck, GermanyISBN 978-3-499-27620-0

Die Rowohlt Verlage haben sich zu einer nachhaltigenBuchproduktion verpflichtet. Gemeinsam mit unseren Partnern

und Lieferanten setzen wir uns für eine klimaneutraleBuchproduktion ein, die den Erwerb von Klimazertifikaten

zur Kompensation des CO2-Ausstoßes einschließt.www.klimaneutralerverlag.de

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2Ein Versprechen. Das war es, was Nate nach der ehren-haften Entlassung aus medizinischen Gründen von Chi-cago nach Meadowlark, Wyoming, geführt hatte. Wobeiehrenhaft eher ein schlechter Witz war. Aber was nichtwar, konnte ja noch kommen – an diese Hoffnung klam-merte er sich. Auch wenn ihm irgendetwas sagte, dasser immer noch nach Absolution suchen würde, wenn ereines fernen Tages seinen letzten Atemzug tat.

Eigentlich hätte er derjenige sein sollen, der unter derErde lag, während Justin die Ehrenwache bei der Beer-digung hielt. Nicht andersherum. Und er würde für denRest seines jämmerlichen Lebens dafür büßen. Hier warer nun, wie Justin ihn gebeten hatte … doch es gab keineWiedergutmachung dafür, den Tod eines Freundes ver-ursacht zu haben.

Nate starrte aus dem riesigen Wohnzimmerfensterder dunklen Wildflower Ranch, während er darauf war-tete, dass Olivia aus dem oberen Stockwerk zurückkehr-te. Justin hatte oft über seine Familie und ihr Land ge-redet. Zum Beispiel über die unzähligen Wildblumen,die der Farm ihren Namen gegeben hatten. Im Sommerwuchsen sie so zahlreich, dass das gesamte Land biszum Horizont mit einem Blütenteppich in den schöns-ten Gelb-, Orange-, Pink- und Weißtönen bedeckt war.Und doch – irgendwie war es Justin nicht gelungen, derRanch in seinen Beschreibungen wirklich gerecht zuwerden. Nate hatte sich ein kleines Farmhaus in der Mit-te des Nirgendwo vorgestellt, umgeben von Hügeln undKühen. Er hatte ja keine Ahnung gehabt.

Es hatte ihn fünf Minuten auf seiner Maschine gekos-tet, um von der Straße aus das Haus zu erreichen. Er hät-te die Abzweigung vielleicht verpasst, wäre das schmie-

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deeiserne Schild nicht so offensichtlich gewesen. Auf dereinen Seite von Kiefern, auf der anderen von Solarlam-pen gesäumt, zog sich die Einfahrt kilometerlang hin, biser fast gedacht hatte, er würde sein Ziel nie erreichen.

Das dreistöckige Blockhaus erinnerte fast an ein Her-renhaus, wenn auch im rustikalen Stil. Zedernholz undGlas von außen, Stein und Holzakzente im Inneren. Brei-te Balken zogen sich unter hohen Decken entlang. Aneiner Wand erhob sich ein massiver gemauerter Kamin.Die Sofas und Sessel waren mit marineblauem Cord be-zogen. Die Art von Sofa, in die man sich an einem ver-schneiten Tag sinken ließ, nur um nie wieder aufstehenzu wollen. Familienfotos und Landschaftsbilder hingenan den holzverkleideten Wänden. Nate hatte bisher nurWohnzimmer und Küche zu Gesicht bekommen, doch erwar bereits beeindruckt. Auch die Küche war riesig, luf-tig und modern, mit Geräten aus rostfreiem Stahl.

Für einen Stadtjungen, der an Wolkenkratzer und Si-renen gewöhnt war – der Essen hatte horten müssen,um gerade so durchzukommen – , war das hier ein echterKulturschock. Zur Hölle, selbst der Irak hatte wenigerAnpassung erfordert.

Schritte erklangen auf der Treppe, und er drehte sichum. Der kalte Knoten aus Angst in seinem Bauch wuchszu einem ganzen Knäuel heran. Sie war die größte Über-raschung gewesen. Olivia Cattenach. Er hatte ein paarFotos von ihr gesehen, dank ihres Bruders, doch ihrgegenüberzustehen, hatte ihn vorhin getroffen wie einSchlag gegen den Kopf.

Jetzt umrundete sie das Treppengeländer am Endeder riesigen polierten Birkenholztreppe, gekleidet in lo-ckere graue Jogginghosen, pinke Socken und ein wei-ßes Tanktop. Und verdammt. Er hatte sich falsch ausge-drückt. Sie war kein Schlag. Sie war eine Wasserstoff-bombe, die direkt in seinem Solarplexus explodierte.

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Wie ihr Bruder hatte sie einen schlanken Körperbau,in ihrem Fall mit unglaublich langen Beinen. Vielleichtwäre «dürr» das richtige Wort gewesen, hätte sie nichtdiese sanft geschwungenen Hüften und die perfekt pro-portionierten Brüste. Und dieses Haar? Verdammt. Inseinen wildesten Phantasien hätte er sich kein solch leb-haftes Rotbraun vorstellen können. Es fiel seidenweichund glatt über ihre Schultern nach unten, was dafürsorgte, dass er sofort das Verlangen verspürte, seineFinger darin zu vergraben.

Sie betrat den Raum und wich seinem Blick aus. «Tutmir leid, dass du warten musstest. Wir haben heute ge-schoren, und ich war dreckig. Ich brauchte eine Du-sche.»

Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon siesprach, nickte aber trotzdem. «Kein Problem.» Als ihrBlick wieder durch den Raum huschte, setzte er sich vor-sichtig in einen der Sessel, um nicht so bedrohlich vor ihraufzuragen. Seine Größe konnte einschüchternd wirken,und er wollte ihr auf keinen Fall Angst einjagen. «DeineTante hat gesagt, sie wäre in ihrem Zimmer, falls du siebrauchst. Und der Mann, der bei dir war … Nick? Er istgegangen.» Unter Protest, obwohl Olivias Tante ihm ver-sichert hatte, dass ihre Nichte schon klarkommen wür-de.

«Nakos», korrigierte sie ihn mit einem höflichen Lä-cheln. «Er ist unser Vorarbeiter und ein guter Freund.»

Nate fragte sich, ob dieser Nakos wohl wusste, dasser nur ein Freund war. Der Typ hatte zwar nichts gesagt,ihm aber bedenklich böse Blicke zugeworfen.

Nach kurzem Zögern setzte Olivia sich auf den Ses-sel ihm gegenüber und zog die Beine unter den Körper.«Wann bist du in die Stadt gekommen?»

Smalltalk sorgte normalerweise dafür, dass er Pickelbekam, doch er mochte den Klang ihrer Stimme. So me-

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lodisch, fast singend. «Vor ungefähr einer Stunde. Ichbin direkt aus Chicago hergefahren.»

«Stammst du von dort?» Sie zog an ihrem Ohrläpp-chen, den Blick auf den Schoß gerichtet. Sie hatte es bis-her vermieden, ihm wirklich in die Augen zu sehen. Erhatte noch nicht mal ihre Farbe erkennen können, undim Augenblick wollte er nichts mehr als das.

«Ja. Aus der Southside.» Er ließ seinen Blick über diehellen Sommersprossen auf ihren Schultern gleiten. Ih-re Haut war unglaublich. Nicht wirklich hell, aber auchnicht dunkel genug, um als braun bezeichnet zu werden.Als sie bei der Erwähnung von Chicagos Problemviertelblinzelte, lehnte er sich ein wenig vor. «Bitte hab kei-ne Angst vor mir. Ich mag gebaut sein wie ein Bär, aberich bin harmlos.» Tatsächlich konnte er einen Mann auffünfzig verschiedene Arten mit bloßen Händen umbrin-gen, aber das brauchte sie nicht zu erfahren.

Schließlich richtete sie ihren Blick auf ihn. JeglicheLuft schien den Raum zu verlassen. Kornblumenblau –blauer als alles, was er bisher in seinem Leben gesehenhatte. Die Augen ihres Bruders waren auch strahlendblau gewesen, doch ihre waren … unglaublich. Die sanf-te Wölbung der Brauen und ihre langen Wimpern ließendie Augen in ihrem hübschen ovalen Gesicht noch grö-ßer wirken.

«Tut mir leid.» Sie kaute kurz auf der Unterlippe. «Alsdas letzte Mal jemand vom Militär aufgetaucht ist, wares, um …»

Um sie darüber zu informieren, dass Justin gestorbenwar. Daran hätte Nate denken müssen.

Er zwang sich dazu, die Hände nicht zu Fäusten zuballen, als er ihr mit einem Brummen zu verstehen gab,dass er begriff. «Ich möchte mich dafür entschuldigen,dass ich die Beerdigung verpasst habe. Ich war verletztund lag in einem Krankenhaus in Deutschland. Ich bin

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erst vor ein paar Wochen in die Staaten zurückgekehrt.»Er war gerade lang genug in Chicago geblieben, um einpaar Sachen von Jim abzuholen und auf seine Harley zuspringen.

«Oh.» Ihr Blick glitt über seinen Körper, als suche sienach Hinweisen auf seine Wunden. «Ich wusste nicht,dass noch jemand verletzt wurde. Ist es auch bei … beidieser Explosion passiert? Geht es dir wieder gut?»

Es würde ihm nie wieder gut gehen. «Es war dieselbeExplosion, und ich bin wieder ganz gesund. Ich hatte einpaar Splitter im Bein und in der Hüfte, die herausope-riert werden mussten.» Er wünschte sich nur, sie hättenihm auch eine Lobotomie verpasst. Die Narben und dieverbliebenen Schmerzen in seinem Bein waren einfachnicht ausreichend als Strafe.

«Also warst du bei Justin, als er gestorben ist?»Drei Meter entfernt. «Ja.» Er spürte, dass sie mehr

Details brauchte, selbst wenn sie sie nicht unbedingt hö-ren wollte. «Was weißt du über das, was passiert ist?»

Sie schluckte schwer und wandte den Blick ab. «Nur,was sie mir gesagt haben, was nicht allzu viel ist. Er wur-de in ein Gebäude geschickt, und ein Sprengsatz ist ex-plodiert. Sie haben angedeutet, dass die Mission deswe-gen schiefgelaufen ist, weil der befehlshabende Offizierfalsche Informationen ausgegeben hat.»

Manchmal war es schlimmer, die ganze Wahrheit zukennen, als nur ein paar Informationsfetzen zu besit-zen. Entweder die Army hatte sie beruhigen wollen, odersie hatte etwas missverstanden. Auf jeden Fall stimmtekaum etwas von dem, was sie gesagt hatte. Bis auf eineSache. Justins befehlshabender Offizier hatte Mist ge-baut. Und dieser Mann war Nate. Als First Lieutenantwar er Justin übergeordnet gewesen, der nur den Rangeines Second Lieutenant gehabt hatte. Es war Nates Auf-

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gabe gewesen, auf Justin aufzupassen. Und er hatte ver-sagt.

Bei Olivia würde er nicht versagen. Sie durfte nie er-fahren, welche Rolle er beim Tod ihres Bruders gespielthatte, dachte Nate. Damit er Justins Bitte erfüllen konn-te, musste Olivia ihm vertrauen. Daher wappnete er sich,um die Geschichte zu erzählen, ohne sie gleichzeitig er-neut zu durchleben.

«Wir wurden in ein winziges Dorf geschickt, um nachFlüchtlingen und Waffen zu suchen. Die meisten Gebäu-de waren zerstört, und wir hatten nicht vor, dort längerals einen Tag zu bleiben. Justin und ich haben uns zu-sammen ein Gebäude vorgenommen, während der Restunserer Einheit sich um die anderen kümmerte.»

Der Ort war eine Geisterstadt gewesen, also war Na-te davon ausgegangen, dass Justin sich geirrt hatte, alser behauptete, einen kleinen Jungen gesehen zu haben.Er hätte es besser wissen müssen, als Justin zuerst indas Gebäude zu schicken, während er selbst ein Updatean die Basis funkte. Es hatte sich herausgestellt, dassder Junge keine Fata Morgana gewesen war. Sondernein echter Achtjähriger mit einem Sprengstoffgürtel umden hageren Brustkorb.

«Wir haben die Bombe zu spät gesehen.» Nate brachder kalte Schweiß aus. Seine Hände wurden feucht.

Olivia holte zitternd Luft. Ihr Blick wirkte verschlei-ert. «Hat er … gelitten?»

«Nein. Es ging schnell.» Manchmal waren Lügen ein-fach notwendig. Justin hatte schreckliche Schmerzen er-litten. Unendliche Pein. Es hatte eine Viertelstunde ge-dauert, bis er gestorben war. Angefühlt hatte es sich wiefünfzehn Jahre, als Justin auf dem verdammten Bodengelegen hatte  – sein Körper gebrochen und blutüber-strömt. Er hatte Nates Hand umklammert, während sieauf das Evakuierungsteam gewartet hatten. Die Erinne-

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rung daran würde Nate niemals auslöschen können. «Erhat nichts gespürt.»

Olivia schloss die Augen und schien sich einen Mo-ment Zeit zu nehmen, um sich zu sammeln. Ihre Schul-tern sackten erleichtert nach unten. «Danke.» Währendin Nates Magen Säure brannte, veränderte sie ihre Po-sition im Sessel, um dann wieder ganz still dazusitzen.«Du hast gesagt, Justin hätte dir eine Nachricht für michgegeben?»

«Ja.» Er zog den Wenn-du-diese-Zeilen-liest-Brief ausseiner hinteren Hosentasche und entfaltete den Um-schlag. «Wir haben Briefe ausgetauscht, für den Fall,dass uns etwas zustößt.» Er gab ihr die Nachricht.

Sie starrte den einfachen weißen Umschlag an, demdie Elemente zugesetzt hatten, seit er geschrieben wor-den war. «Hat er noch etwas gesagt, bevor er gestorbenist?»

«Scheiße, es tut weh, Nate. Mir ist so … kalt. Küm-mere dich um meine Schwester. Versprich mir, dass dudich … um … Olivia kümmern wirst.»

«Dafür blieb keine Zeit.» Nate biss die Zähne zusam-men, um nicht zu schreien. Er wollte weglaufen. SeinenKopf mehrfach gegen die nächstbeste harte Oberflächeschlagen, um alles zu vergessen. «Als er den Brief ge-schrieben hat, hat er mich gebeten, ihn dir persönlichzu übergeben und in der Nähe zu bleiben, während duihn liest.»

Er konnte nicht abschätzen, was in den nächsten Mi-nuten passieren würde. Aber er sollte ihr etwas Raumgeben.

«Ich habe noch ein paar Sachen von Justin auf mei-nem Motorrad.» Nate stand auf. «Ich werde sie holen.Du findest mich auf der Veranda, wenn du bereit bist.»

Ihr Blick hob sich. Niemals zuvor hatte er sich drin-gender gewünscht, jemand anderes zu sein. Ein Mann,

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der Trost spendete, statt Kummer zu bereiten. Ein Mann,der die Dankbarkeit in ihren Augen wert war. Aber leiderwar er einfach nur ein Arschloch erster Güte.

«Weißt du, was drinsteht?» Ihre leise Stimme schiensich um seine Kehle zu schlingen und sie zusammenzu-pressen.

«Nein. Wir haben den Brief des anderen nicht gele-sen.» Mit zugeschnürter Brust trat er aus der Tür und indie kühle Nachtluft hinaus.

Seine Schuhe knirschten auf dem Kies, als er zu sei-ner Harley in der Einfahrt ging. Über ihm funkelten un-endlich viele Sterne. Zu viele, um sie zu zählen, undmehr, als er je zuvor gesehen hatte. In diesem Drecks-loch von Wüste hatte es jede Menge Sterne gegeben,aber nicht wie hier. Hier draußen im Niemandsland, un-gestört von den Lichtern der Stadt oder Smog –  oderExplosionen und Rauch – , erstreckte sich der Himmelscheinbar bis in die Unendlichkeit.

Und es war still. Nur das Rascheln von trockenemGras hier, das Zirpen einer Grille dort. Der gelegentlicheRuf einer Eule vollendete die Symphonie. Die Stille warfast ohrenbetäubend, wenn man bedachte, woran er ge-wöhnt war.

Nate zog eine schuhschachtelgroße Kiste vom Ge-päckträger seiner Harley, dann ließ er sich auf der Ve-randa in einen Schaukelstuhl fallen, um zu warten. Abso-lute Dunkelheit hüllte die Wildflower Ranch ein, abgese-hen vom Silber des Mondlichts. Jetzt verstand er, wiesoJustin mit solcher Begeisterung von diesem Ort gespro-chen hatte. Man konnte sich in den Schatten der Berge,den Silhouetten der Bäume und der Einsamkeit verlie-ren.

Nach ein paar Minuten hörte er das leise Geräuschvon Krallen, dann umrundete ein Hund die Hausecke.Das Tier ließ sich ungefähr zwei Meter entfernt von ihm

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nieder und starrte ihn an. Vorhin hatte Nates ganze Auf-merksamkeit Olivia gegolten, doch er meinte sich zu er-innern, dass ihr ein Hund in die Küche gefolgt war.

«Hey, Junge.» Oder Mädchen?Nate klopfte sich auf den Oberschenkel, und der

Hund trottete heran. Vorsichtig hielt Nate ihm die Handhin, dann ließ er sie sanft über das braun-weiße Fellgleiten, bis der Hund mit der Schnauze gegen sein Kniestupste, als bäte er um eine richtige Krauleinheit. Miteinem Lachen, das in seinen eigenen Ohren rau und un-geübt klang, kratzte er den Hund hinter den Ohren.

«Ich nehme an, du gehörst Olivia. Wie heißt du?»«Bones.» Besagte Besitzerin trat auf die Veranda und

schloss die Schiebetür hinter sich. «Als er noch ein Wel-pe war, hat er mir ständig Knochenreste von jedem Ka-daver gebracht, den er finden konnte. Daher der Name.»Sie setzte sich in den Stuhl neben ihm und ließ ihrenKopf nach hinten sinken. Ihre Augen wirkten verdächtigrot und geschwollen. Sie hatte sich ein Sweatshirt über-gezogen, als Schutz gegen die Kälte der Nacht.

Nate ging davon aus, dass sie reden würde, wenn siebereit war, also kraulte er weiter den Hund und musterteseine Umgebung, soweit das eben möglich war. Wenn ernoch zehn Jahre Zeit bekam, würde er sich vielleicht andie Stille und die frische Luft gewöhnen.

«Sieht aus, als hättest du bereits einen Freund gefun-den.» Sie drehte den Kopf und schenkte ihm ein trauri-ges Lächeln.

Er sah erneut auf Bones herunter. Ein guter Name.«Ich wollte immer einen Hund haben.» Stirnrunzelndklappte er den Mund wieder zu, weil er nicht verstand,wieso er ihr das erzählt hatte.

«Deine Eltern haben dir kein Haustier erlaubt?»

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Angesichts der Tatsache, dass seine Pflegefamilienschon Essen zum Privileg erklärt hatten – und das warendie anständigen gewesen – , antwortete er nicht.

«Wartet in Illinois irgendetwas auf dich? Ein Job? Fa-milie?»

Er besaß nicht mehr Dinge als das, was er auf sei-ner Harley unterbringen konnte. «Ein paar Freunde.»Nur Jim, um genau zu sein. Und da Jim sein ehemali-ger Bewährungshelfer war, sollte er ihn wahrscheinlichnicht als Freund einordnen. Aber wenn es ihn nicht gege-ben hätte, wäre Nate wahrscheinlich entweder in einerGangschießerei gestorben oder nach dem Jugendknastsofort wieder im Gefängnis gelandet. «Ich habe darübernachgedacht, eine Weile in Meadowlark zu bleiben.»

«Bist du je auf einem Pferd geritten oder hast einenTraktor gefahren?»

Zur Hölle, nein. Die Frage hätte ihn fast zum Lachengebracht. «Nein. Ich bin ein Stadtkind. Warum?»

Sie holte tief Luft und setzte ihren Schaukelstuhl inBewegung, den Blick in die Ferne gerichtet. «Nun, wenndu hier arbeiten willst, sollte ich dir wahrscheinlich einpaar Dinge beibringen.»

Er erstarrte, den Blick auf ihr Profil gerichtet. Tja… Er hatte immer gedacht, einen Mann wie ihn könntenichts mehr überraschen. Aber da hatte er sich wohl ge-irrt. Sein Plan hatte gelautet, in der Nähe zu bleiben,in der Stadt, um dort einen Job und ein Dach über demKopf zu finden. Für den Rest ihres Lebens – oder seines –wollte er aus akzeptabler Distanz über sie wachen.

Olivia sah ihn mit einem Lächeln an, das ihm fast denBoden unter den Füßen wegzog. «Also nur, falls du in-teressiert bist?»

«Ich kann einen Motor auseinanderbauen und wiederzusammensetzen. Im Notfall komme ich mit Holzarbei-

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ten klar. Ich kann Sachen reparieren. Aber ich weiß nichtdas Geringste über die Arbeit auf einer Ranch, Olivia.»

Sie zuckte mit den Achseln, als spiele das keine Rol-le. «Wie gesagt: Ich kann es dir beibringen. Einen Mannfür alles könnte ich gut gebrauchen.» Sie schluckte, undeine winzige Falte bildete sich zwischen ihren Brauen.«Ich fände es wirklich schön, wenn du bleibst.»

Was zum Teufel hatte Justin seiner Schwester in demBrief geschrieben? Olivias gesamtes Verhalten hattesich um hundertachtzig Grad gedreht. Sie war nicht län-ger zurückhaltend, sondern sah ihn direkt an, ohne eineSpur von Unbehagen oder Anspannung. Sowohl ihr Äu-ßeres als auch ihr Verhalten erinnerten so sehr an Justin,dass Nates Herz wegen des seltsamen Déjà-vu-Gefühlswie wild schlug.

Nachdenklich senkte er den Blick auf den Hund. IhrAngebot löste sein Jobproblem. Und wenn er auf derRanch arbeitete, konnte er sie genauer im Auge behal-ten. Doch er hasste die Vorstellung, Geld von ihr anzu-nehmen, egal, welche Arbeiten er auch erledigen moch-te.

«Du weißt nichts über mich.» Denn wenn sie das täte,würde sie anders handeln. «Ich könnte ein Serienverge-waltiger oder ein Juwelendieb sein.»

«Bist du das?» Ihre Lippen verzogen sich zu einemamüsierten Lächeln.

«Nein.» Durch furchtbare Umstände ein Mörder, einehemaliges Gang-Mitglied aus der Southside und insge-samt ein Loser, aber er hatte noch nie in seinem Lebenetwas gestohlen. Und er würde sich niemals einer Frauaufzwingen. «Trotzdem. Du hast mich gerade erst ge-troffen.»

«Du hast gesagt, du hättest darüber nachgedacht, inder Stadt zu bleiben. Meadowlark ist eine Farmgemein-

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de. Die Stadt hat nur dreihundert Einwohner. Es dürftedir schwerfallen, einen anderen Job zu finden.»

Und die nächstgelegene Stadt war Casper, hundert-sechzig Kilometer westlich, mal abgesehen von weiterenwinzigen Ortschaften auf dem Weg. Er seufzte und starr-te ins Leere, während er seine Optionen abwog. Es wareine Sache, in der Nähe zu bleiben, aber etwas ganz an-deres, ihr so dicht auf den Pelz zu rücken. Noch schlim-mer, sie würde ihm beibringen müssen, wie er seine ver-dammte Arbeit machen konnte.

«Justin hat gesagt, ich könne dir vertrauen. Dass duein guter Kerl bist.»

Himmel, sie war atemberaubend. Nicht wie dieseFrauen, die man auf Laufstegen oder in Hollywood fand.Nein, ihre Schönheit war hundertprozentig natürlichund daher umso kostbarer. So etwas Schönes hatte kei-nen Platz in seinem Leben.

Und verdammt, er war kein guter Kerl. Sie sollteihm nicht vertrauen. Klar, er würde sie beschützen, sieniemals verletzen und den Rest seines jämmerlichenLebens damit verbringen, ein Versprechen zu erfüllen.Aber er war so ziemlich das Gegenteil von einem Heili-gen.

«Wenn zu Hause nur ein paar Freunde auf dich war-ten, wieso probierst du es hier nicht einfach mal?» Siewiegte sich entspannt in ihrem Schaukelstuhl, Haltungund Tonfall weder drängend noch forsch. «Kann ja nichtschaden. Ehrlich, es wäre schön, einen Freund von Jus-tin in der Nähe zu haben. Das ist, als wäre ein Teil vonihm hier.»

Scheiße. Wie sollte er da noch nein sagen? Eine St-unde in ihrer Gegenwart, und er stand kurz davor, vorihr auf die Knie zu fallen – bereit, ihr jeden Wunsch zuerfüllen.

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«Okay.» Er räusperte sich. Er würde die Sache mitdem Lohn irgendwie umgehen müssen, weil er auf kei-nen Fall Geld von ihr annehmen konnte. Aus seiner Zeitin der Army hatte er genug Ersparnisse, und zusätzlichkam noch jeden Monat der Scheck mit seiner Versehr-tenrente. «Wenn du dir sicher bist.»

«Absolut.» Diesmal erreichte das Lächeln ihre blau-en Augen, was dafür sorgte, dass ihm heiß wurde. «Will-kommen an Bord.»

«Danke.» In der Hölle war garantiert ein Platz für ihnreserviert. Er verdiente es zu brennen. Nate griff nachder Kiste vor seinen Füßen und gab sie ihr. «Das sind einpaar Dinge von Justin.»

Sie ließ die Fingerspitzen über das eingeschnitzteHufeisen auf dem Deckel gleiten. «Diese Kiste habe ichnoch nie gesehen.»

Wie sollte sie auch? Aber es hätte sich angefühlt wieBatteriesäure in einer Stichwunde, wenn er ihr den Be-sitz ihres Bruders in einer Plastiktüte zurückgebrachthätte. «Ich habe die Kiste gemacht. Seine Sachen sinddadrin.»

Sie blinzelte ihn an. «Du hast das gemacht?» Ihr Blicksenkte sich auf ihren Schoß, dann ließ sie erneut dieHände über den Deckel gleiten. «Im Notfall komme ichmit Holzarbeiten klar», murmelte sie.

«Was?»«Das hast du gesagt. Das hier zeigt, dass du mehr

kannst, als einen Hammer oder eine Säge zu schwingen.Die Details sind phantastisch.»

Jim hatte Nate als Teenager das Schnitzen beige-bracht. Müßiggang ist aller Laster Anfang und so. Überdie Jahre hatte er sich mit allen Arten von Holz vertrautgemacht und war besser geworden; hatte angefangen,andere Dinge zu schnitzen. In diesem Krankenhaus in

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Deutschland war es das Einzige gewesen, was ihn beiVerstand gehalten hatte.

Sie öffnete die Kiste und blätterte ein paar Fotosdurch. Als sie eine Kette herauszog, musste sie einSchluchzen unterdrücken. «Ich wusste gar nicht, dasser die mitgenommen hat.» Tränen rannen über Olivi-as Wangen und glitzerten im Mondlicht. «Ich habe letz-te Weihnachten überall danach gesucht. Sie hat meinerMom gehört.»

Er sah von dem kleinen herzförmigen Anhänger ander Goldkette zu ihr und wieder zurück. Wenn es seinmusste, kam er mit Feuergefechten klar, mit Scharf-schützengewehren, die direkt auf seinen Kopf gerichtetwaren. Aber Olivia Cattenach, die neben ihm weinte …?Nein, das konnte er nicht ertragen. Er hatte keine Erfah-rung mit Gefühlen oder Frauen, und diese hier hatte ihnbereits um den kleinen Finger gewickelt.

Scham, Bedauern und Selbsthass zerrissen ihn inner-lich.

Er stand auf und sah sehnsüchtig zu seinem Motor-rad. «Ich werde dir, ähm … ein wenig Zeit für dich ge-ben.» Er musste sowieso ein Zimmer für die Nacht fin-den. «Wann soll ich …»

Bevor er wusste, wie ihm geschah, stellte Olivia dieKiste auf dem Stuhl ab und presste sich an ihn. Ihre Brüs-te wurden gegen seinen Oberkörper gedrückt, und ihrgesamter Körper befand sich in Kontakt mit seinem. Ererstarrte.

Schlanke Arme um seine Hüfte, Finger im Stoff sei-nes Hemds und der Kopf an seiner Brust vergraben. IhrScheitel befand sich noch ein Stück weit unter seinemKinn, als ihre Tränen sein T-Shirt befeuchteten. Der Duftihres Shampoos und etwas, was ihn an die Elemente er-innerte – Regen? – , umgab sie, und … Hölle. Bisher hatte

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er noch nie etwas erlebt, was ihn gleichzeitig so erregteund beruhigte.

«Danke.» Er meinte, ihren Atem durch den Stoff aufseiner Haut zu spüren. Er musste die Zähne zusammen-beißen, um sein aufsteigendes Interesse zu unterdrü-cken.

Luzifer gravierte da unten in der Hölle wahrschein-lich gerade Nates Namen auf einen speziellen Käfig.

Nachdem sie offensichtlich Trost brauchte und er inihrer Schuld stand, umfasste er sanft ihren Hinterkopfund legte seine andere Hand an ihr Kreuz. Bei der Be-rührung drückte sie sich noch enger an ihn. Sein Verlan-gen kämpfte in ihm mit dem verzweifelten Wunsch, siezu beschützen – vor der Welt, vor allem, was ihr vielleichtSchaden zufügen konnte, vor … ihm selbst.

«Tut mir leid.» Sie trat zurück und lächelte. Der plötz-liche Verlust ihrer Nähe ließ ihn schwanken. «Jeman-den zu treffen, der mit Justin gedient hat, und seineSachen wiederzusehen, hat mich ein wenig wahnsinnigwerden lassen.» Ihr Lachen war flüchtig und verhee-rend. «Komm. Wir sollten uns um dich kümmern.»

Kümmern? Wie? Mit einer gedächtnisauslöschendenFlasche Jack Daniels? Denn etwas anderes würde kaumhelfen.

«Kommst du?»Er schüttelte den Kopf, nur um dann festzustellen,

dass sie die Fliegengittertür zum Wohnzimmer offenhielt. «Wohin?»

«Tante Maes Zimmer liegen neben der Küche. Meinesind im zweiten Stock, also kannst du dir eines von dendrei Zimmern im ersten Stock aussuchen.»

Wie bitte? Sie wollte, dass er hier wohnte? «Ich werdemir eine Unterkunft in der Stadt besorgen.»

Ihr Grinsen sorgte dafür, dass die Welt sich um ihndrehte. «Viel Glück damit. Es gibt keine Motels.»

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Der Hund stupste Nates Hand an, als wollte er sagen:Setz dich in Bewegung, Trottel.

Schön. Er würde sich morgen früh etwas ausdenken.Bei all den Untaten, die er begangen hatte, kam es aufeine mehr auch nicht mehr an. Oder?

[...]

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