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Leseprobe aus: Ines Thorn Die Tochter des Buchdruckers Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg

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Leseprobe aus:

Ines Thorn

Die Tochter des Buchdruckers

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg

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Frankfurt, Anno Domini 1621

In der Nacht war der Wind durch die Straßen der Stadt ge-tobt, hatte gegen die Fensterläden geschlagen, Äste vonBäumen gebrochen und Abfall durch die Gassen ge-peitscht. Der Regen hatte Wege aufgeschwemmt, Fenster-beete zerstört und das Wasser im Main bis über die Ufersteigen lassen.

Jetzt, am Morgen, glitzerten einzelne Wassertropfen wieEdelsteine in der Sonne. Die Vögel sangen Lieder, von denBlumen und Bäumen stiegen betörende Düfte auf und ver-mischten sich mit dem Gestank der Stadt.

Die erste Magd trat auf die Gasse, einen Eimer in jederHand. Auf der Schwelle blieb sie stehen, stellte ihre Last abund wandte ihr Gesicht der Morgensonne zu. Dann lächel-te sie und drehte den Kopf nach der Nachbarstür, die sichquietschend aufschwang.

»Guten Morgen, Trude!«»Agathe, sei mir gegrüßt.«Die Mägde gingen nebeneinander zum Brunnen. Als sie

an der Seilerei vorüberkamen, öffnete der Meister geradedie Fensterläden seines Geschäftes. Ein Bäckerlehrling miteinem Leinensäckchen voller Brötchen schlitterte mit sei-

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nen Holzpantinen über das noch nasse Pflaster. Bellendumsprang ein Hund seine nackten Beine.

Entlang der Gasse klappten nach und nach die Holzlä-den in den oberen Stockwerken auf. Auf den Fenstersimsenlandeten dicke Federbetten und Kissen. Die Hausfrauenstemmten ihre Ellbogen darauf und riefen den Nachbarin-nen Grüße zu.

»Das war ein toller Sturm in der Nacht.«»Und ob, meine Liebe«, klang es von rechts. »Ich habe

kein Auge zugetan.«»Mir war, als heulte der Teufel im Kamin«, kam die Ant-

wort von links.Waschwasser platschte auf die Straße, die ersten Läden

warteten auf Kundschaft. Schon rollten frühe Fuhrwerkedurch die Gassen, ein Junge trieb ein Schwein vor sich her.Die Stadt war erwacht und begann zu lärmen. Überallsummte, brummte, kreischte, quietschte, rumpelte, lachte,stöhnte, schrie und zischte es. Ein gewöhnlicher Wochentaghatte begonnen.

Aber dann trat diese Frau in schwarzem Gewand undlangem Schleier aus der Tür. Ihre Faust hielt ein Kreuz um-klammert, reckte es hoch. Wer ihr begegnete, verstummte.

Reiter zügelten ihre Pferde und schlugen das Kreuzzei-chen. Mägden blieb das Kichern im Halse stecken. Einkleines Mädchen schmiegte sich eng an seine Mutter, die eshastig mit sich fortzerrte.

Es schien, als wäre der Tag in seinem Lauf erstarrt, nochbevor er so recht hatte beginnen können.

Die schwarze Frau holte tief Luft, so tief, dass sich ihrBusen vorwölbte. Kurz hielt sie inne, dann öffnete sie den

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Mund und stieß ein grässliches Geheul aus, dass den Wei-bern das Blut in den Adern gerann und die Männer dieKöpfe zwischen die Schultern duckten.

»Gero Geisenheimer ist tooooot!«, schrie sie mit schril-lem Seufzen. »Gero Geisenheimer ist gestorben.«

Aus der Haustür des Handelsunternehmens GebrüderGeisenheimer traten sechs Männer und trugen einen Sargauf ihren Schultern. Die Frauen in der Straße bekreuzigtensich und murmelten Gebete, die Männer rissen Mützenund Hüte vom Kopf.

»Gero Geisenheimer ist tooot!«In das Geschrei läutete die Totenglocke und rief zur Be-

erdigung. Gemessen schritten die Sargträger den Berg hi-nan zur Liebfrauenkirche. Ihnen folgte die Familie. Direkthinter dem Sarg gingen Lila und Arno Geisenheimer. Arnowar der Enkel des Patriarchen. Desgleichen Andreas Gei-senheimer, der mit seiner Frau Rieke folgte und am ande-ren Arm seine Mutter, Amalia Geisenheimer, hielt.

Die Männer ähnelten sich. So sehr, dass die Nachbarnihnen die Erbschaft zu gleichen Teilen gönnten. In der Fa-milie aber war es anders.

So ähnlich sich die Brüder waren, so unterschiedlich wa-ren ihre Frauen.

Lila ging hoch aufgerichtet und mit besorgtem Gesicht.Ihre Blicke wechselten zwischen dem Sarg und ihremMann, doch Arno bewahrte die Fassung.

Rieke schluchzte laut, tupfte sich die Augen und taumel-te am Arm ihres Mannes. Sie stellte eine unermesslicheTrauer vor, die sie sich nicht einmal selbst glaubte. Schwei-gend und mit geradem Rücken verfolgte Amalia Geisenhei-

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mer die Trauerfeier. Nur ab und zu warf sie ihrer Schwieger-tochter einen Blick zu und seufzte.

Den fünfen folgte Judith Geisenheimer, die angeheirate-te Großnichte Geros. Sie hielt ihre Tochter Julia fest an derHand und warf immer wieder Blicke die Hausmauern hi-nauf, als fürchte sie, den Inhalt eines Nachttopfes auf denKopf zu bekommen. Einmal stolperte sie über den Saumihres Kleides. Ein anderes Mal geriet sie aus dem Takt undstieß gegen eine Magd, die den Trauerzug beglotzte. Julianahm ihre Mutter schließlich fest am Arm.

Hinter den beiden schritten Marga und Robert. Sie wa-ren erst gestern aus Leipzig gekommen, jedoch weniger,um an der Beerdigung teilzunehmen. Lebend hatten sieGero Geisenheimer treffen wollen. Er sollte ihnen Geld lei-hen, tausend Rheinische Gulden in etwa, um der marodenDruckerei wieder auf die Beine zu helfen und die Gläubi-ger in die Flucht zu jagen, doch sie waren einige Stundenzu spät gekommen.

»Müssen wir hier mitlaufen?«, knurrte Robert.»Pscht! Natürlich müssen wir. Wir sind doch Verwandte.

Gero Geisenheimer war der Bruder meines Großvaters.Mein Großonkel also.«

»Na und, vererbt hat er dir sicher nichts. Seine habgieri-gen Enkel werden die Hand schon auf die Beute gelegt ha-ben.«

Marga sah Robert von der Seite her an, kniff die Augendabei zusammen. »Ich habe gehört, dass der Advokat gleichnach dem Leichenschmaus das Testament verlesen will.«

Diese Nachricht malte ein Lächeln um Roberts Mund.»Das ist gut«, murmelte er. »Das ist sogar sehr gut.«

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»Warum? Du sagst doch selbst, dass wir nichts zu erwar-ten haben. Was hast du vor?«

»Was soll ich schon vorhaben? Am Beerdigungstag sinddie Menschen milde gestimmt. Umso mehr, wenn ihnendie Trauer mit Goldstücken versüßt wird. An den gutenRuf werde ich erinnern und daran, dass noch kein Geisen-heimer pleite gegangen ist.«

Marga war stehen geblieben und hielt ihren Mann amArm fest. »Du willst Arno und Andreas anpumpen?«

»Was heißt anpumpen, meine Liebe? Ich wette, sie wer-den froh sein, ihrer kleinen Base aus Leipzig unter die Ar-me greifen zu dürfen.«

»Gero Geisenheimer ist tot. Der Patrizier, Ratsherr undKaufmann hat sich vorgestern Abend im Alter von un-glaublichen vierundneunzig Jahren ins Bett gelegt und istnicht mehr aufgestanden. Er hat laut gelebt und ist leise ge-storben. Gott sei seiner Seele gnädig.« Der Priester schlugdas Kreuzzeichen, schwenkte das Weihrauchfass, nahm dieSchaufel und warf Erde auf den Sarg. Dann trat er zur Sei-te, um die Hinterbliebenen Abschied nehmen zu lassen.

Rieke Geisenheimer drängte sich vor. Sie trug einschwarzes Kleid aus kostbarem Brokat, das mit goldenenFäden durchwirkt war. Ein schwarzer Halbschleier ausSpitze bedeckte ihr Gesicht. Inmitten der anderen Trau-ernden, die zumeist in ihrer Alltagskleidung gekommen wa-ren, wirkte der schwarze Schleier etwas übertrieben. Sieschluchzte laut, tupfte sich dabei immer wieder die Augen-winkel mit einem Damasttüchlein und musste sich am Armihres Gatten festhalten, um nicht mit ins Grab zu sinken.

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Andreas Geisenheimer hielt seine Frau und warf ent-schuldigende Blicke in die Trauergemeinde. Einem Ohn-machtsanfall nahe, ließ sich Rieke schließlich zur Seite füh-ren. Sie fand Halt bei Marga.

»Beerdigungen regen mich immer schrecklich auf«, teiltesie Marga mit und vergewisserte sich durch einen Rund-blick, dass die Aufmerksamkeit der Trauernden nun je-mand anderem galt. In Gedanken notierte sie, wer alles zurBeerdigung gekommen war. Die gesamte Kaufmannschaftder Stadt war anwesend, ein Großteil der Ratsherren, je-doch fehlte der zweite Bürgermeister, und Rieke nahm sichvor, herauszufinden, warum er nicht gekommen war. Dererste Bürgermeister schüttelte gerade ihrem Mann dieHand, auch der oberste Richter und der Kämmerer derStadt waren da sowie mindestens acht Zunftmeister und ei-ne Handvoll Abgesandte der bedeutenden Patriziervereini-gungen.

Zufrieden stopfte Rieke das Damasttüchlein in ihrenspitzenverzierten Ärmel und schlug den Schleier nachoben. »Ich komme mir jedes Mal so schlecht vor, weil ichnoch lebe.«

»Das ist weder deine Schuld noch dein Verdienst«, erwi-derte Marga lächelnd und sah zum Grab. Dort stand nunLila, kerzengerade, in einem Kleid, dessen vornehme Ele-ganz geradezu ins Auge fiel. Die gestickte Haube passtehervorragend dazu, als wäre sie eigens für Lila und diesenAnlass genäht worden. Lila hielt eine rote Rose in derHand, warf sie anmutig ins offene Grab. Dann trat sie zurSeite und überließ ihrem Mann den Platz. Ihr Gesicht warweiß wie frisch gefallener Schnee.

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»Wie ist sie?«, fragte Marga ihre Nachbarin. »Ich habe sienoch nicht kennengelernt.«

»Die?« Rieke warf den Kopf in den Nacken. »Sie ist voll-kommen. Ringsum untadelig und fehlerfrei. Findest dunicht?«

Sie betrachtete Marga von der Seite und runzelte dieStirn, als sie deren respektvolle Blicke sah.

Marga zuckte mit den Achseln. »Ich sehe sie heute zumersten Mal.«

»Nun, sie ist vollkommen. Glaube mir. Lila Geisenhei-mer ist bekannt dafür, ihre Dienstboten fest im Griff zu ha-ben. Und sie ist bekannt dafür, die aufregendsten Feste inihrem Haus abzuhalten, bekannt für ihren guten Ge-schmack, ihre köstliche Küche, ihr tadelloses Benehmenund ihr elegantes Auftreten. Es ist noch niemals vorgekom-men, dass sich ein Haar aus ihrer Frisur gelöst hat oder derSaum ihres Kleides beschmutzt war.

Jeder in Frankfurt hält sie für die vollkommene Frauund Mutter.«

»Jeder?«, fragte Marga zurück und erwiderte Riekes star-res Lächeln.

»Nun, ich fürchte, ein Gewitter zieht auf. Es ist zwar un-höflich, das Grab zu verlassen, bevor der letzte Gast kondo-liert hat, aber ich möchte nicht im Regen stehen.« Riekehakte ihre Leipziger Verwandte energisch unter und verließmit ihr den Friedhof. »Den Leichenschmaus werden wir imWeißen Schwan einnehmen. Wir sind ja keine Bauern, diedirekt am Grab essen und trinken. Das wäre für Leute un-seres Standes wirklich ganz und gar unangemessen.Schließlich sind wir Patrizier.«

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Als sie die Gassen der Innenstadt entlanggingen, warvon Riekes Trauer nichts mehr zu erkennen. Sie grüßte lä-chelnd nach links und nach rechts, stets bedacht, bemerktzu werden. Während ihr Mund sich öffnete und schloss, sieeinen Fuß vor den anderen setzte, mit der linken Hand ih-ren Umhang hielt und die rechte in Margas Arm gekrallthatte, waren ihre Gedanken ununterbrochen mit der Sum-me beschäftigt, die Gero ihrem Mann wohl vererbt habenmochte. Es musste viel Geld sein. Sehr viel. Gero Geisen-heimer, Ratsherr, Kaufmann, Stifter und Vorsitzender einermächtigen Frankfurter Patriziergesellschaft war ein reicherMann gewesen. Jeder wusste das. Immer war er zuerst ge-grüßt worden. Die Männer hatten die Kappen von denKöpfen gerissen, kaum, dass Gero auf die Straße trat, dieFrauen hatten mit niedergeschlagenen Augen geknickst. Esverging kein Monat, in dem nicht irgendwer anfragte, obGero nicht der Pate seines Kindes sein wollte, doch Gerohatte stets abgelehnt. Wie reich er war, wusste niemand ge-nau. Gero Geisenheimer besaß mehrere Häuser nahe desRömers, und über das Barvermögen gab es die wildestenGerüchte. Rieke runzelte die Stirn, so angestrengt dachtesie darüber nach.

Sie war eine entschlossene Frau. Schon als junges Mäd-chen hatte sie sich geschworen, einmal unermesslich reichzu sein, niemals Not leiden zu müssen. Das war auch derGrund, warum sie Andreas Geisenheimer geheiratet hatte.Schwer genug war es gewesen, seine Frau zu werden. WennRieke daran dachte, wie glanzlos ihre Kindheit und wieschwer es gewesen war, in der Frankfurter Gesellschaft Fußzu fassen, dann fand sie, dass sie den Luxus, in dem sie nun

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lebte, reichlich verdient hatte. Ihr Vater war ein Ritter ge-wesen, der so verarmt war, dass er gar seinen Titel verkau-fen musste. Ein brüchiges Rittergut ohne Vieh, dafür mitkaputten Stallungen und ertraglosen Böden, war alles, wasihrer Familie geblieben war. Im Winter zog es durch alleRitzen, und manches Mal war das Wasser im Krug amMorgen gefroren. Ihre Kleider hatten bereits Generationenvon Frauen vor ihr getragen, und ihr ganzer Schmuck be-stand aus einem einfachen schmalen Silberreif mit einemSplitter Bergkristall darin.

Riekes einziges Kapital war ihre Schönheit. Ihr samtwei-ches Haar strahlte in einem tiefen Braun, die Augen leuch-teten wie Bernstein. Das Lächeln ihrer vollen Lippen warein Versprechen, das ihre Figur noch verstärkte: schlank,aber mit den richtigen Rundungen an den entscheidendenStellen. Rieke von Gutzow war eine der attraktivsten Frau-en weit und breit. Das fand auch Andreas Geisenheimer,jedoch erst, als Rieke ihn nachdrücklich auf sich aufmerk-sam gemacht hatte. Einmal stolperte sie genau vor ihm, so-dass er sie im letzten Moment um die Hüfte fassen muss-te. Ein anderes Mal stieß sie ihn an, und er verschüttetedabei Rotwein auf ihr Brusttuch, das sogleich abgenom-men werden musste, um einer drohenden Erkältung zu-vorzukommen.

Schließlich war sie es gewesen, die Andreas einen Hei-ratsantrag gemacht hatte. Und Andreas Geisenheimer warnicht nur betört von ihrer Schönheit, sondern obendreinviel zu höflich, um ein solches Angebot auszuschlagen. AmAbend ihrer Vermählung, als sie im Mittelpunkt allerPracht stand und mit kostbaren Geschenken überhäuft

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wurde, als sie die feine Seidenunterwäsche auf ihrer Hautspürte und den wertvollen Familienschmuck an ihremHals, hatte sich Rieke Geisenheimer geschworen, dass sieniemals mehr arm sein würde. Eher sterben als zurück indas bröselnde Windhaus ihrer Kindheit! In der Hochzeits-nacht stürzte sie sich schier auf Andreas, um sogleich einenNachkommen zu zeugen, der ihre neue Stellung noch fes-ter untermauern würde. Als Mutter eines Geisenheimer-Erben würde ihr keine Not mehr etwas anhaben können.

Andreas aber, verunsichert ob der Gier seiner Frau,konnte seinen ehelichen Pflichten bedauerlicherweise nichtnachkommen. Nicht in dieser Nacht. Und auch nicht invielen Nächten danach.

»So, wir sind da«, verkündete Rieke und deutete mitdem Finger auf ein Schild, das über der Tür an einer Eisen-kette hing und einen weißen Schwan auf schwarzemGrund darstellte.

Marga stockte. »Hier findet der Leichenschmaus statt?«»Nun ja, es mag noch feinere Lokale in anderen Städten

geben, aber dies hier steht dem Römer am nächsten. DieLeute sollen doch schließlich sehen, dass wir unserenGroßvater würdig betrauern.«

»Nein, nein. Ich finde es ausgesprochen nobel und fragemich gerade, ob ich passend gekleidet bin.«

»Lass sehen.« Rieke schob Marga von sich und betrach-tete sie eingehend. Dabei fielen ihre Mundwinkel immertiefer nach unten. Sie griff nach Margas Umhang und zupf-te daran herum, richtete ihr die Haube und warf ihr dasSchultertuch so über, dass es das Kleid bedeckte. »So, jetztgeht es einigermaßen«, erklärte Rieke wenig taktvoll. »Der

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Rat der Stadt hat wieder einmal ein Verbot gegen Luxus er-lassen«, beklagte sie sich weiter und betrachtete MargasKleid missbilligend, das aus einfachem polnischen Tuchgefertigt war. »Stell dir vor, bei Hochzeiten dürfen fortannur noch hundertvierzig Gäste geladen werden. Ebensobeim Leichenschmaus. Der Genuss von Konfekt ist beiFesten ganz und gar untersagt. Und Dienstboten dürfen absofort weder Samt noch Seide tragen. In dieser Hinsichtstimme ich mit dem Rat überein. Schließlich will man jazeigen, wohin man gehört.«

Inzwischen war auch Andreas beim Schwanen ange-langt. Er nahm seine Frau beim Arm und zog sie zur Seite.»Ich möchte nicht, dass du mit deinem neuen Schmuckangibst«, sagte er. »Lila, Arno und die anderen sehen auchso, dass ich dir alles gebe, was du willst.«

Rieke riss sich los. »Alles?« Sie pustete eine vorwitzigeHaarsträhne aus der Stirn, die ihr aus der Haube gerutschtwar. »Alles? Oh, nein, mein Lieber. Faxenkram! Das Wich-tigste bist du mir bis jetzt schuldig geblieben«, erwiderte sieschneidend und wandte sich ab. Ohne sich noch einmalnach ihrem Mann umzusehen, dem die Scham die Wangengerötet hatte, schritt sie über die Schwelle.

Andreas starrte ihr fassungslos hinterher. Faxenkram hatsie gesagt, dachte er bestürzt. Kaum ist Gero unter der Er-de, benutzt sie dieses Wort. Sein Lieblingswort, geprägtvon seiner Mutter Gutta! Im hintersten Eck seiner Gedan-ken dämmerte der leise Verdacht, dass sie dieses Wort viel-leicht brauchte, um sich als richtige Geisenheimerin zufühlen, doch Andreas kam es trotzdem so vor, als hätte sieein Sakrileg begangen.

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Ofenwarmes Brot aus dunklem und aus hellem Mehl,Eierpunsch, Bier, Wein, Most, verschiedene Käse, Bratenvom Kalb und vom Rind, gesottene Hühner und Tauben,Wildbret, Gemüse, kandierte Früchte und kleine Kuchen,dazu eine riesige Gans, die rundherum mit Blattgold belegtwar, zeigten den Gästen, wie groß die Trauer der Hinter-bliebenen um den Patriarchen war.

Lila Geisenheimer fuhr mit dem Finger in den Kragenihres hochgeschlossenen Kleides. In der anderen Handhielt sie ein feines Tüchlein und tupfte sich die Stirn undden Nacken. Es war zwar erst Mai, aber sie fühlte sich be-reits wie im Hochsommer. Dazu kam die Hitze der Spei-sen. Lila fächelte sich mit einem Mundtuch Luft zu. Dabeifiel ihr Blick auf Rieke und den großzügigen Ausschnitt ih-res Kleides. Dort hing eine goldene Kette mit einem wal-nussgroßen blauen Stein.

Rieke hatte Lilas Blicke bemerkt. Jetzt beugte sie sichüber die Tafel, deutete auf ihren Schmuck und sagte solaut, dass es alle Umsitzenden gut hören konnten: »Andre-as hat mir die Kette zum Hochzeitstag geschenkt. DerStein stammt aus dem Morgenland. Es heißt, er wäre soviel wert wie eine ganze Wagenladung voll Pfeffer.«

»Sie ist schön, deine Kette«, erwiderte Lila und lächelteRieke liebenswürdig an.

Dann wandte Lila sich Judith zu, die neben ihr saß. Ju-dith Geisenheimer war achtunddreißig Jahre alt und be-reits Witwe. Ihr Mann Matthias war vor vier Jahren gestor-ben – gerade rechtzeitig, sonst hätte ihn Judith vielleichthöchstselbst umgebracht. Als Schürzenjäger bekannt, vordem kein Weiberrock sicher war, hatte er die Franzosen-

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krankheit mit nach Hause gebracht. Zum Glück hatte Ju-dith sich nicht bei ihm angesteckt. Jetzt lebte sie mit ihrerhalbwüchsigen Tochter Julia in einem ziemlich großenHaus in der Nähe des Karmeliterklosters, in der Buchgasse.Das Handelshaus ihres Mannes war mit den Handelshäu-sern von Arno und Andreas Geisenheimer verschmolzen.Die Brüder hatten Judith ausgezahlt, sodass sie nicht nurein einfaches Auskommen, sondern sogar ein sehr gutesAuskommen bis zum Ende ihres Lebens hatte.

»Geht es dir gut, meine Liebe?«Lila beugte sich zur ihr hinüber und lächelte sie an. Die

beiden Frauen gehörten durch ihre Heiraten nicht nur zurselben Familie, sondern waren überdies Freundinnen.

»Aber ja«, erwiderte Judith. »Alles ist bestens.«Der anschließende Seufzer strafte ihre Worte allerdings

Lügen.Lila legte ihre Hand auf Judiths. »Was ist? Ich bemerke

schon seit einiger Zeit, dass du etwas auf dem Herzen hast.Willst du es mir nicht sagen?«, wisperte sie und sah sichgleichzeitig nach vermeintlichen Zuhörern um.

Judith lächelte schmal. »Vielleicht ist es Zeit, mir wiedereinen Mann zu suchen«, erwiderte sie. »Es ist nicht so, dassich mich einsam fühle, nein, das nicht. Aber etwas fehlteben.«

»Findest du wirklich? Hattest du nicht geschworen, niewieder einen Mann ins Haus zu lassen?«

»Aber eine Frau ohne Mann ist nun einmal nur halb soviel wert. Lass uns ein anderes Mal darüber reden.« Judith lä-chelte, wirkte aber noch immer bedrückt. Dann betrachtetesie die anderen Trauergäste. »Ich kann noch immer nicht

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fassen, dass Gero tot ist«, sagte sie leise. »Er war es, der dieFamilie zusammengehalten hat. Nun kann jeder die Zügelschießen lassen. Es wird Mord und Totschlag geben, fürch-te ich.«

»Aber, aber!« Lila schüttelte den Kopf. »Wir sind dochkeine Barbaren aus dem Morgenland. Nichts wird gesche-hen, du wirst sehen. Alles wird sein, wie es immer war.«

Judith erwiderte Lilas Blick, öffnete den Mund, als wollesie etwas sagen, schloss ihn dann wieder. Sie mochte Lilagern, hielt sie für aufrichtig. Aber Judith wusste auch, dassLila alles, was sie in ihrem Leben nicht gebrauchen konnte,einfach zur Seite schob wie ein niedergebranntes Talglicht.Streit in der Familie gehörte dazu.

Judith konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war,als Matthias starb und sein Handelshaus aufgelöst werdenmusste. Niemand hatte die Kontorbücher finden können.So sehr man auch danach suchte, sie waren verschwunden.Von einem Tag auf den anderen. Und so hatte niemandmehr genau sagen können, was Matthias gehört hatte undwas nicht. Die letzte Warenladung aus Genua. War die be-reits bezahlt worden, oder warteten da noch Gläubiger?Welche Wechsel wurden zur nächsten Messe fällig, wer warihnen noch etwas schuldig?

Judith ahnte damals wie heute, wer die Kontorbücher zurSeite geschafft hatte, aber sie konnte nichts beweisen. Des-halb hielt sie den Mund. Streit in der Familie war etwas, dassie sich noch weniger leisten konnte als ein geringes Erbe. Sohatte sie am Ende zufrieden sein müssen mit dem, was Ge-ros Enkel ihr auszahlten. Geld hatte sie reichlich; sie musstekeine Angst vor Entbehrungen haben. Doch das war auch

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nicht ihr Problem, sondern der Gedanke daran, dass je-mand sie übervorteilt hatte. Und dieser Jemand war nichtLila gewesen, da war sie sich ganz sicher.

Judith nickte und antwortete: »Du hast recht, alles wirdsein wie immer.«

Ein Ruf eilte durch den Raum. Julia, Judiths Tochter,schien sich irgendwo gestoßen zu haben. Abrupt stand Ju-dith auf – »Du entschuldigst mich?« – und begab sich zumanderen Ende der Tafel. Unterwegs stieß sie mit einemMann zusammen.

»Oh, ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau«, sagte derMann und betrachtete Judith mit Wohlwollen. »Darfich?«, fragte er und richtete Judiths Haube, die beim Zu-sammenstoß verrutscht war. »Es ist eine Schande, dass Ihreine Haube tragen müsst«, sagte er leise. »Wäre es nichtviel schöner, wenn Ihr Euer Haar frei im Wind flattern las-sen könntet? Bei einem Spaziergang draußen vielleicht.«

Judith errötete und griff nach ihrem Kopfputz. Dann lä-chelte sie und drängte sich an dem Mann vorbei. Nach ei-nigen Schritten wandte sie sich um. Der Mann stand nocham selben Fleck und hatte ihr hinterhergesehen. Jetzt hober langsam die Hand und winkte ihr zu. Im selben Augen-blick kam Käthi Weyrauch, eine Frau aus der Nachbar-schaft, hinzu. Sie stellte sich neben den Mann, schob ihrenArm unter seinen. Erst jetzt erkannte Judith ihn. Es warder Nadelmacher Lennart Leuthold, dessen Ware das Han-delshaus Geisenheimer bis weit ins Ungarische lieferte.

Es dauerte rund zwei Stunden, bis von dem Leichen-schmaus nur noch ein paar abgenagte Knochen übrig wa-

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ren und die Krüge nichts mehr hergaben. In der niedrigenGaststube stand die Luft. Schweiß, Essensgerüche, Duft-wässer, Weindunst, alles vermischte sich zu einer Wand, diesich fast greifen ließ. Nach und nach hatten sich die Gästeverabschiedet. Nun waren die Verwandten endlich untersich. Lila fächelte sich mit einem Tüchlein Kühlung zu.Rieke hatte sich neben Judith gesetzt. »Hast du Lilas Kleidgesehen? Ich wette, da sind mindestens fünf Meter vombesten Mailänder Samt verarbeitet. Ist es nicht unwürdig,bei einer Beerdigung seinen Reichtum so zur Schau zu stel-len? Man sollte doch von einem Christenmenschen erwar-ten dürfen, dass er einmal das eigene Geschick hintan-stellt.«

Judith erwiderte nichts, konnte sich aber einen Blick aufRiekes Kette nicht verkneifen.

»Nun, wenn wir nicht die Mutter von Andreas, Geroshöchsteigene Tochter, bei uns im Hause hätten und sie auf-wendig pflegen müssten, so könnte ich wohl auch in Goldund Silber gehen.«

Judith runzelte ein wenig die Stirn und tupfte sich miteinem Tüchlein den Nacken. »Ich glaube nicht, dass deineSchwiegermutter große Ansprüche hat.«

»Ach, wenn du wüsstest, wie sehr Amalia uns das Lebenschwer macht.« Rieke winkte ab, holte tief Luft, um sichausführlich über die permanenten Sonderwünsche ihrerSchwiegermutter auszulassen. Es drängte sie danach, Ju-dith zu berichten, dass sich Amalia geweigert hatte, am Lei-chenschmaus teilzunehmen, und von einem Bedienstetennach Hause gebracht werden musste. Natürlich nur, umihr, Rieke, die Feier zu verderben.

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