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1. Einleitung Kosten- und qualitätsbewusste Fertigungsingenieure beobachten mit beson- derer Aufmerksamkeit, wie der Anteil der umformenden Prozesse bei der Herstellung von Serienteilen zunimmt. Außer den klassischen Vorzügen – z.B. die außergewöhnlichen Eigenschaften von Schmiedeteilen – ist es vor allem das Denken in Fertigungsfolgen und Substitionsmöglichkeiten, das die Chan- cen der Umformtechnik offenbart, Fertigungsschritte der Nachbearbeitung zu beschleunigen oder einzusparen und Gestalterzeugung mit Eigenschaftsver- besserung zu verbinden. Die Verfahren der Umformtechnik sind in der DIN 8582 zusammengefasst und nach ihrer „Beanspruchung“, d. h. den überwiegend wirksamen Span- nungen, gegliedert. Unabhängig hiervon folgt dieses Buch der in der Praxis üblichen Einteilung zwischen Massiv- und Blechumformung. Kaltmassivumformung und Schmiedetechnik ermöglichen durch die er- höhte Arbeitsgenauigkeit die Herstellung einbaufertiger Teile. Oft bietet solch eine Verfahrenssubstitution nicht nur Kosten- sondern auch Produktvortei- le. Die günstige Gefügeausrichtung und die daraus resultierende höhere Be- triebsfestigkeit der Werkstücke gestatten eine geringere Dimensionierung oh- ne Herabsetzung der Belastbarkeit. Im Automobilbau wird diese Entwick- lung bei Achsen, Getriebewellen und Naben im Hinblick auf den Leichtbau genutzt. Die Massivumformung bietet vielfältige Möglichkeiten zur anwen- dungsgerechten Bauteilgestaltung. Die dazu verwendeten Verfahren der Mas- sivumformung werden in diesem Buch anhand von Beispielen vorgestellt. Die Basis für eine breite Anwendung der Blechumformung wurde im 18. Jahrhundert durch das Walzen von Eisen-Feinblechen geschaffen. Hohl- teile, die bereits im Mittelalter von „Fingerhütern“ und „Schellenmachern“ erzeugt worden waren, wurden in zunehmendem Maß durch Ziehen mit Hilfe von Vorrichtungen hergestellt, aus denen im 19. Jahrhundert die Ziehpressen entstanden. Zusammen mit der Entwicklung des Flussstahls waren damit die Grundlagen für den großindustriellen Einsatz der Verfahren der Blechumfor- mung insbesondere des Tiefziehens geschaffen, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts durch den steigenden Bedarf der Automobilindustrie einen entscheidenden Impuls erhielten. Intensive Arbeiten auf dem Gebiet der Werkstofftechnik und Verfahrens- entwicklung führten die Blechumformung zu einem Stand, der es ermöglicht,

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1. Einleitung

Kosten- und qualitätsbewusste Fertigungsingenieure beobachten mit beson-derer Aufmerksamkeit, wie der Anteil der umformenden Prozesse bei derHerstellung von Serienteilen zunimmt. Außer den klassischen Vorzügen – z. B.die außergewöhnlichen Eigenschaften von Schmiedeteilen – ist es vor allemdas Denken in Fertigungsfolgen und Substitionsmöglichkeiten, das die Chan-cen der Umformtechnik offenbart, Fertigungsschritte der Nachbearbeitung zubeschleunigen oder einzusparen und Gestalterzeugung mit Eigenschaftsver-besserung zu verbinden.

Die Verfahren der Umformtechnik sind in der DIN 8582 zusammengefasstund nach ihrer „Beanspruchung“, d. h. den überwiegend wirksamen Span-nungen, gegliedert. Unabhängig hiervon folgt dieses Buch der in der Praxisüblichen Einteilung zwischen Massiv- und Blechumformung.

Kaltmassivumformung und Schmiedetechnik ermöglichen durch die er-höhte Arbeitsgenauigkeit die Herstellung einbaufertiger Teile. Oft bietet solcheine Verfahrenssubstitution nicht nur Kosten- sondern auch Produktvortei-le. Die günstige Gefügeausrichtung und die daraus resultierende höhere Be-triebsfestigkeit der Werkstücke gestatten eine geringere Dimensionierung oh-ne Herabsetzung der Belastbarkeit. Im Automobilbau wird diese Entwick-lung bei Achsen, Getriebewellen und Naben im Hinblick auf den Leichtbaugenutzt. Die Massivumformung bietet vielfältige Möglichkeiten zur anwen-dungsgerechten Bauteilgestaltung. Die dazu verwendeten Verfahren der Mas-sivumformung werden in diesem Buch anhand von Beispielen vorgestellt.

Die Basis für eine breite Anwendung der Blechumformung wurde im18. Jahrhundert durch das Walzen von Eisen-Feinblechen geschaffen. Hohl-teile, die bereits im Mittelalter von „Fingerhütern“ und „Schellenmachern“erzeugt worden waren, wurden in zunehmendem Maß durch Ziehen mit Hilfevon Vorrichtungen hergestellt, aus denen im 19. Jahrhundert die Ziehpressenentstanden. Zusammen mit der Entwicklung des Flussstahls waren damit dieGrundlagen für den großindustriellen Einsatz der Verfahren der Blechumfor-mung insbesondere des Tiefziehens geschaffen, die in den 20er Jahren desletzten Jahrhunderts durch den steigenden Bedarf der Automobilindustrieeinen entscheidenden Impuls erhielten.

Intensive Arbeiten auf dem Gebiet der Werkstofftechnik und Verfahrens-entwicklung führten die Blechumformung zu einem Stand, der es ermöglicht,

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2 1 Einleitung

Bauteile aus Blech zu fertigen, die früher nur durch Gießen, Schmieden odermittels spanender Verfahren herstellbar waren.

Durch die Weiterentwicklung von Werkzeugen, Werkstoffen und Maschi-nen gelang es, die Flexibilität einiger Verfahren so weit zu steigern, dassauch mittlere und kleine Stückzahlen wirtschaftlich gefertigt werden können.Darüber hinaus konnten weitere Anwendungsgebiete erschlossen werden, dieden konventionellen Verfahren aus wirtschaftlichen oder technischen Gründenbisher versagt waren. Die Blechumformung steht dabei in ständigem Wett-bewerb mit anderen Technologien und Werkstoffen, insbesondere mit denVerfahren der Kunststofftechnik und ihren Produkten.

Mit der Finite Elemente Methode (FEM) steht dem Anwender ein Hilfs-mittel zur Bauteil-Prozessauslegung zur Verfügung, dass schon in der Phaseder Produktentwicklung zu bedeutenden Kosteneinsparungen beitragen kann.

Für die Weiterentwicklung der Umformverfahren und das Auffinden neu-er Einsatzgebiete ist die Kenntnis der Umformeigenschaften der zu verar-beitenden Werkstoffe von grundlegender Bedeutung. Neben den bekanntenWerkstoffkenngrößen wurden hierzu in der Praxis Prüfverfahren und Kenn-werte erarbeitet, die mit den gemeinsamen Grundlagen der Blech- und derMassivumformung den Auftakt dieses Buches darstellen.

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2. Grundlagen

2.1 Einleitung

Die Verfahrensgruppe Umformen wird im Folgenden näher vorgestellt. Zu Be-ginn wird dabei eine Reihe grundlegender Fragestellungen der Umformtechnikbehandelt, um auf dieser Grundlage die bezogenen technologischen Eigenar-ten verstehen, einordnen und bewerten zu können. Im Mittelpunkt stehender umzuformende Werkstoff und sein plastisches Verhalten unter mechani-scher Beanspruchung und unter Einwirkung von Temperatur. Dieses Kapiteldient dem Verständnis des Werkstoffverhaltens unter verschiedenen Bean-spruchungen, wie sie innerahlb der Umformtechnik auftreten. Dazu werdendie grundlegenden Erkenntnisse der Metallkunde und der Plastizitätstheorieebenso erläutert, wie die tribologischen Verhältnisse zwischen Werkzeug undWerkstück. Des Weiteren werden die verschiedenen Ermittlungsmöglichkeitenfür die Materialdaten von Werkstückwerkstoffen beschrieben und verschiede-ne rechnerische Lösungsmöglichkeiten für plastizitätstheoretische Problemeaufgezeigt. So sollen dem Ingenieur fertigungstechnische Gestaltungsweisenfür Umformvorgänge aufgezeigt werden.

2.2 Metallkundliche Grundlagen zur Erfassung desWerkstoffzustands

2.2.1 Aufbau der Kristalle

Die Metalle nehmen den größten Anteil bei den Werkstückwerkstoffen ein undbestehen aus Atomen, die metallisch gebunden sind. Gemeinsames Kennzei-chen aller Eisenmetalle und Nichteisenmetalle ist der kristalline Aufbau, d. h.die regelmäßige, feste Anordnung der Atome. Die Metallphysik hat Modell-vorstellungen der Kristallstruktur entwickelt, wie sie in Abbildung 2.1 inatomistischer und makroskopischer Betrachtung am Beispiel der Elementar-zelle des α-Eisens dargestellt sind.

Die meisten Metalle liegen im kubischen oder im hexagonalen Kristallsys-tem vor. Bei dem kubischen Kristallsystem wird zwischen einem raum- undeinem flächenzentrierten Gitteraufbau unterschieden. Beispiele für kubisch

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Abbildung 2.1: Atomistische und makroskopische Betrachtung des Metallaufbaus;rechts unten: Gefüge schematisch und real

raumzentrierte (krz) Gitter sind ferritischer Stahl, Chrom (Cr), Wolfram (W),Molybdän (Mo), Vanadium (V), Niob (Nb) und Tantal (Ta). AustenitischerStahl, Aluminium (Al), Kupfer (Cu), Nickel (Ni), Silber (Ag), Platin (Pt),Gold (Au) und Blei (Pb) sind Beispiele für eine kubisch flächenzentrierte (kfz)Kristallstruktur. Magnesium (Mg), Zink (Zn) und Beryllium (Be) sind hexa-gonal (hdP) aufgebaut. Manche Metalle können verschiedene Gitterstruktu-ren aufweisen. So ist Titan (Ti) unterhalb 1155 K hexagonal orientiert undoberhalb dieser Temperatur wandelt es sich in eine kubisch raumzentrierteStruktur um. Ähnlich verhält es sich mit Eisen (Fe). Bei Raumtemperaturbesitzt Eisen eine krz-Gitterstruktur, bei 1184 K (911 °C) wandelt sich diesein eine kfz-Gitterstruktur um. Oberhalb von 1665 K (1392 °C) weist Eisenwieder eine kubisch raumzentrierte Kristallstruktur auf.

Die Elementarzelle ist die kleinste geometrisch zusammenhängende Ein-heit eines Kristallgitters. Die Gitterkonstanten liegen für eine große Anzahlvon Metallen im Bereich von 0,2 bis 0,5 nm. Setzt man gedanklich in allendrei Raumkoordinaten Elementarzellen aneinander, entsteht ein Kristallgit-ter, siehe Abbildung 2.1 oben links. Grundsätzlich sind in der Elementarzelledie wichtigsten Gesetzmäßigkeiten und Eigenschaften des gesamten Kristallsbereits enthalten. Durch das geometrische Aneinanderreihen von Elementar-zellen entstehen Idealkristalle, d. h. fehlerfreie Kristalle, die in der Praxis nichtauftreten. Die realen Raumgitter der Metalle weisen eine Vielzahl von Ab-weichungen (Gitterfehler) auf. Grundsätzlich unterscheidet man drei Artenvon Gitterfehlern:

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• Nulldimensionale Gitterfehler (punktförmige Gitterfehler): Sind Atomeauf Zwischengitterplätzen eingelagert, spricht man von Zwischengittera-tomen. Werden Atomplätze von Fremdatomen besetzt, spricht man vonAustausch- oder Substitutionsatomen. Befinden sich Fremdatome auf Zwi-schengitterplätzen werden sie Einlagerungsatome genannt. Plätze, die nichtmit Atomen besetzt sind, bezeichnet man als Leerstellen. Die Leerstellen,bzw. die Leerstellendichte, sind insbesondere für thermisch aktivierte Vor-gänge, wie z. B. die Diffusion, von Bedeutung.

• Eindimensionale Gitterfehler: Eindimensionale Gitterfehler sind linienför-mige Strukturfehler (Versetzungen), siehe Abbildung 2.3. Die wichtigs-ten Versetzungen sind Stufenversetzungen und Schraubenversetzungen. InAbbildung 2.3 ist schematisch eine Stufenversetzung gezeigt. Versetzungenermöglichen die plastische Formgebung und sind daher von besonderer Be-deutung.

• Zweidimensionale Gitterfehler: Zweidimensionale Gitterfehler resultierenaus Oberflächeneffekten. Die wichtigsten zweidimensionalen Gitterfehlersind Korngrenzen und Phasengrenzflächen. Die Kristallisation aus demflüssigen Zustand beginnt im Allgemeinen an vielen verschiedenen Stellen.Ausgehend von Keimen wachsen die Kristalle aufeinander zu. Trifft einKristall in der Wachstumsphase auf einen zweiten Kristall (entweder ausdem flüssigen Zustand oder auch bei der Rekristallisation), bilden die Git-terebenen im Allgemeinen einen größeren Winkel zueinander. Es entstehenGroßwinkelkorngrenzen, oder im Allgemeinen Sprachgebrauch: Korngren-zen.

Aufgrund der Gitterfehler unterscheiden sich Realkristalle und Idealkris-talle erheblich. So liegt die Zugfestigkeit des Eisens zB. mehr als zwei Zehner-potenzen unter der theoretisch für den Idealkristall möglichen Festigkeit. EineErklärung für diese Zusammenhänge wurde erst möglich, als die Wirkung derGitterbaufehler grundsätzlich verstanden wurde, so dass entsprechende Mo-dellvorstellungen aufgestellt werden konnten, auf die im folgenden Kapitelgenauer eingegangen wird.

In den Elementarzellen sind die Abstände der Atome untereinander inverschiedenen Richtungen unterschiedlich, siehe Abbildung 2.1 oben rechts.Hieraus kann bereits abgeleitet werden, dass auch bestimmte Eigenschaftender Metalle richtungsabhängig sind. Weiterhin können durch bestimmte Her-stellverfahren, z. B. durch eine gerichtete Erstarrung beim Abkühlen oderauch durch Walzverfahren, Kristallite in bestimmte Richtungen orientiertwerden. Dies bezeichnet man als Textur. Die Folge von Texturen ist, dass dieWerkstoffeigenschaften richtungsabhängig sind. Diese Richtungsabhängigkeitbezeichnet man als Anisotropie. Eiseneinkristalle besitzen je nach Orientie-rung Elastizitätsmodule zwischen 130 GPa und 290 GPa. In vielkristallinenWerkstoffen sind die Kristallite häufig statistisch regellos verteilt. Nach außenerscheint der Werkstoff dann im Allgemeinen isotrop (quasiisotrop).

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Beim Erstarren technischer Schmelzen werden Verunreinigungen größten-teils vor der Erstarrungsfront hergeschoben und sammeln sich an den Korn-grenzen. Abbildung 2.1 (unten rechts) zeigt ein Gefüge schematisch und einreales Gefüge, so wie es nach einem metallografischen Schliff im Lichtmi-kroskop zu erkennen ist. Zu sehen sind Form, Größe und Anordnung derKristalle, nicht jedoch deren innere Struktur.

2.2.2 Elastische und plastische Formänderung der Kristalle

Die Formänderung eines Körpers geschieht durch äußere Kräfte, die an demKörper angreifen. Hierbei wird die Formänderung in eine elastische und eineplastische Dehnung unterteilt.

Bildet sich der deformierte Körper nach Aufhebung der äußeren Belas-tung vollständig zur Ausgangsform und -abmessung zurück, so handelt essich um ein elastische Dehnung. Diese ergibt sich aus einer Verschiebungder Atome aus ihrer stabilen Gleichgewichtslage, indem sie ein Minimum anpotenzieller Energie aufweisen, siehe Abbildung 2.2. Der Betrag der jewei-ligen Verschiebung ist kleiner als ein Atomabstand. Aus der Festigkeitslehreist zur funktionalen Beschreibung dieses Vorgangs das Hooke’sche Gesetz füreine Zug- und Druckbelastung bekannt.

σ = E · ε (2.1)

Bei Einwirkung einer Schubspannung τ ergibt sich für die hervorgerufeneSchiebung γ folgender linearer Zusammenhang:

τ = G · γ . (2.2)

In der Umformtechnik ist die elastische Formänderung gegenüber derplastischen Formänderung im Allgemeinen sehr gering. Die elastische For-mänderung kann deshalb häufig vernachlässigt werden. Eine unerwünschteEigenschaft des elastischen Verhaltens beim Umformen ist als Rückfederungbekannt. Dieses Phänomen tritt insbesondere beim Tiefziehen großflächigerBauteile auf. Auf diese Problematiken wird im Kapitel 4.1 näher eingegangen.

Bei der plastischen Formänderung kommt es zu einer Verschiebung derAtome in eine neue Lage des stabilen Gleichgewichts. Der Betrag der Ver-schiebung kann bedeutend größer als ein Atomabstand sein, und die Formän-derung bleibt nach Aufhebung der äußeren Kräfte erhalten. Die Metallkun-de kennt im Wesentlichen zwei Mechanismen der plastischen Formänderung:Gleitung (Translation) und Zwillingsbildung, siehe Abbildung 2.2. Zur Be-trachtung dieser Vorgänge geht man zunächst vom Einkristall aus, so dassunterschiedliche Orientierung und Korngrenzen unberücksichtigt bleiben.

Bei der mechanischen Zwillingsbildung handelt es sich um eine Verschie-bung von Atomen, die auf Ebenen parallel zur Zwillingsebene liegen. Der

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Abbildung 2.2: Atomistische Darstellung der elastischen und plastischen Verfor-mung des Kristallgitters

Betrag der Verschiebung ist proportional dem Abstand dieser Ebenen vonder Zwillingsebene. Der Gitterbereich, der durch Zwillingsbildung deformiertist, erscheint als Spiegelung des nicht deformierten Bereichs an der Zwillings-ebene. Im Vergleich zur Gleitung erfordert das Auslösen der Zwillingsbildungverhältnismäßig hohe äußere Spannungen. Sie wird daher seltener beobach-tet. Eine Ausnahme bilden hier die hexagonalen und kubisch raumzentriertenMetalle sowie Metalle unter schlagartiger Beanspruchung.

Dagegen ist der Mechanismus der Gleitung in der Umformtechnik von grö-ßerer Bedeutung. Die atomistische Deutung dieses Vorgangs besagt, dass gan-ze Gitterbereiche entlang einer Gleitebene gegeneinander verschoben werden.Der Betrag der Verschiebung beträgt ein u. U. großes ganzzahliges Vielfachesdes Atomabstands. Hierzu muss eine Schubspannung aufgebracht werden, dieausreicht, die elastischen Rückstellkräfte zu überwinden.

Die zwischen-atomaren Bindungskräfte sind in den am dichtesten besetz-ten Gitterebenen am geringsten. Gleitung wird also bei gegebener äußererKraft dort zuerst einsetzen, wo die resultierende Schubspannung am größtenist (im einachsigen Zugversuch z. B. unter 45° zur Zugrichtung) und gleich-zeitig günstig orientierte, dicht besetzte Gleitebenen vorhanden sind.

Anzahl und Orientierung der möglichen Gleitebenen sind in den verschie-denen Kristallsystemen unterschiedlich. So weist ein hexagonales Gitter nureine Gleitebene, eine kubisch flächenzentrierte Gitterstruktur vier nicht par-allele Gleitebenen auf. Gleitebenen und Gleitrichtungen bilden zusammendas Gleitsystem (kfz: 12; krz: 12; hdp: 3). So ist z. B. zu erklären, dass Eisen,Kupfer und Aluminium, d. h. Metalle mit einem kubischen Kristallaufbau,

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besser verformbar sind als Zink und Magnesium, die einen hexagonalen Git-teraufbau aufweisen.

Als elementarer Mechanismus der Gleitung wird in der Metallphysik dieVersetzungswanderung angenommen. Abbildung 2.3 zeigt links als Beispieleine Stufenversetzung im Schnitt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass dieAtomreihe „2“ zusätzlich in die sonst regelmäßige kubische Gitterstruktureingeschoben ist. Es genügt nun bereits eine geringe Schubspannung, um dasAtom „A“ mit den darunter liegenden Atomen in die Reihe „2“ zu verschieben.Die Fehlstelle ist damit nach links gerückt. Dieser Vorgang wiederholt sichmehrmals, bis die Fehlstelle den betrachteten Gitterbereich verlassen hat undalle Atome der Gleitebene einen Platzwechsel vorgenommen haben.

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Abbildung 2.3: Atomistische Darstellung plastischer Verformung als Versetzungs-wanderung

Da in diesem Fall eine einzelne Atomreihe und nicht eine ganze Ebenewandert, ist die zum Einsatz der Gleitung erforderliche kritische Schubspan-nung gering, deren theoretisch berechneter Wert gut mit experimentellen Er-gebnissen übereinstimmt.

Für die Belange der Umformtechnik ist oft eine anschaulichere Vorstellungnützlich, in der das Werkstoffvolumen als ein Kartenstapel aus Gitterschich-ten und dazwischenliegenden Gleitebenen verstanden wird. Abbildung 2.4stellt für diese Modellvorstellung das Werkstoffverhalten unter Zug, Druckund Scherung dar.

Mit fortschreitender Kaltumformung wird bei Metallen eine Verände-rung der Festigkeitswerte beobachtet, siehe Abbildung 2.5. Die Zugfestig-

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Abbildung 2.4: Vereinfachte Darstellung von Gleitvorgängen am Einkristall

keit (Rm), Dehngrenze (Rp) und Härte (HB) steigen, während die Bruchein-schnürung (Z) und die Gleichmaßdehnung (A10) fallen.

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Abbildung 2.5: Einfluss des Umformgrades auf Festigkeits- und Verformungskenn-werte bei der Kaltumformung am Beispiel von Nickel

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Dieses Verhalten nennt man Kaltverfestigung. Die durch das Gitter wan-dernden Versetzungen behindern sich gegenseitig oder stauen sich an Korn-grenzen und Phasengrenzflächen auf. Außerdem erhöht sich die Versetzungs-dichte mit fortschreitender Umformung. Um das plastische Fließen dennochaufrecht zu erhalten, müssen auch ungünstigere Gleitsysteme aktiviert wer-den. Der Kraftbedarf steigt, die Gleitmöglichkeiten (Duktilität) nehmen ab.Beim Erreichen von Versagensgrenzen des Werkstückwerkstoffs treten Ris-se auf oder es kommt zum Bruch. Das Metall ist versprödet. Die Abhän-gigkeit der zum Fließen erforderlichen Spannung kf vom Umformgrad wirddurch Fließkurven dargestellt. Die Fließspannung ist diejenige Spannung, diezur Einleitung des plastischen Fließens und zur Überwindung der Verfesti-gung aufgebracht werden muss, siehe Abbildung 2.6. Die Fließspannung istneben dem Umformgrad auch von der Kristallart und Kristallorientierung(Abbildung 2.7) sowie von der Umformgeschwindigkeit und der Umform-temperatur abhängig. Auf den Einfluss von Umformgeschwindigkeiten undUmformtemperaturen wird in späteren Kapiteln detailliert eingegangen. DieSteigung der Fließkurven über dem Umformgrad ist ein Maß für die Verfes-tigung. Sie hängt auch vom Gittertyp ab und wird wesentlich durch Legie-rungselemente beeinflusst. Bei bestimmten Werkstoffen können auch durchden Umformvorgang Änderungen im Kristallgitter initiiert werden, die dieKaltverfestigung verstärken. Dies tritt z. B. dann auf, wenn durch die Gleit-vorgänge Umformmartensit entsteht.

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Abbildung 2.6: Schematischer Verlauf der Fließkurve eines Einkristalls

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Abbildung 2.7: Einfluss von Art und Orientierung der Kristalle auf das Fließver-halten

2.2.3 Rekristallisation

Unter technischen Gesichtspunkten wird ein Umformvorgang durch die Fließ-fähigkeit, das Formänderungsvermögen des Werkstoffs und die hierfür aufzu-bringenden Energien beschrieben. Um die technologischen Kenngrößen desUmformens richtig bewerten zu können, müssen auch die wichtigsten Werk-stoffvorgänge auf atomarer Ebene verstanden werden. Hier spielen insbeson-dere thermisch aktivierte Prozesse und Veränderungen im Metallgitter beihöheren Temperaturen eine wichtige Rolle. Im Gleichgewicht ändert sich einStoffsystem nicht mehr. Durch eine plastische Umformung wird der Energi-einhalt des Werkstoffs deutlich erhöht. Es sind hauptsächlich die Versetzun-gen, die elastische Verzerrungen des Gitters hervorrufen. Mit zunehmenderUmformung, d. h. mit Erhöhung der Versetzungsdichte, wird ein steigenderUngleichgewichtszustand erzeugt. Bei Erwärmung streben die Atome wie-der den Gleichgewichtszustand an, je höher die Temperatur, umso schnellerläuft dieser Vorgang ab. Grundsätzlich sind zwei Vorgänge zu unterscheiden:die Kristallerholung und Rekristallisation, siehe Abbildung 2.8. Bei beidenVorgängen handelt es sich um thermisch aktivierte Platzwechselprozesse imGitter. Um die Vorgänge zu initiieren, muss eine bestimmte Energieschwelleüberwunden werden, die als Aktivierungsenergie bezeichnet wird.

Die bei der plastischen Formgebung aufgewandte Energie wird zum großenTeil in Wärme umgewandelt. Der Rest bleibt im Gitter als innere Energie,als elastische Verzerrungsenergie des Gitters, gespeichert. Für die Umfor-mung von Bedeutung sind Zwillinge und Versetzungen sowie Leerstellen undZwischengitteratome. Der größte Anteil der elastischen Verzerrungsenergiegeht auf die Versetzungen zurück, deren Anzahl sich bei der Kaltumfor-mung deutlich erhöht. Mit Überschreiten der Aktivierungsenergie kommt es

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Abbildung 2.8: Auswirkung von Kristallerholung und Rekristallisation auf Zugfes-tigkeit und Dehnung eines kaltverformten Werkstoffs

zu einem Ausheilen und Umordnen der Gitterdefekte. Die Gitterfehler rea-gieren auch miteinander, indem sich z. B. entgegengesetzte Versetzungen ineiner Gleitebene aufheben können. Gleichgerichtete Versetzungen wandernin energieärmere Positionen und bilden Subkorngrenzen. Die regellos ver-teilten Versetzungen ordnen sich in Reihen an, so entstehen innerhalb derKörner Kleinwinkelkorngrenzen. Dieser Vorgang wird auch als Polygonisati-on bezeichnet. Für die technische Anwendung wichtig ist, dass diese Vorgän-ge zwar ausschließlich auf atomarer Ebene ablaufen, aber dennoch bereitsVeränderungen in wichtigen makroskopischen Eigenschaften des Werkstoffsbewirken, siehe Abbildung 2.8. Innere Spannungen werden abgebaut und dieBruchdehnung und Zugfestigkeit sinken leicht, allerdings bleibt das Verfor-mungsgefüge bei der Kristallerholung grundsätzlich erhalten. Die Ausprä-gung der Kristallerholung ist neben dem Vorhandensein von Fremdatomenwesentlich vom Umformgrad, der Versetzungsdichte (Kaltverfestigung) undder Temperatur abhängig. Mit Erhöhung der Temperatur schreiten die Er-holungsprozesse weiter fort, weil Versetzungen nun auch durch Einsetzen vonDiffusion kletterfähig werden. Während die mechanischen Eigenschaften beider Kristallerholung nur relativ gering verändert werden, erreichen andereWerkstoffeigenschaften, wie die elektrische Leitfähigkeit und der elektrischeWiderstand, bereits in der Erholungsphase praktisch wieder ihre Ursprungs-werte. Außerdem werden Eigenspannungen durch Kristallerholung deutlichabgebaut.

Bei einer weiteren Temperaturerhöhung dienen diese Bereiche als Keimeeiner vollständigen Neuordnung des Gefüges. Jetzt werden neue Kornbereiche

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sichtbar, die alten Körner und das Umformgefüge werden vollständig auf-gezehrt, siehe Abbildung 2.8. Es entsteht ein völlig neues, entspanntes undverzerrungsarmes Ausgangsgefüge. Die von verschiedenen Stellen aufeinan-der zuwachsenden Kristallisationsfronten bilden neue Korngrenzen, Korngrö-ßen und Kornformen. Der wichtigste Vorgang hierbei ist die Bewegung derKorngrenzen. Die Korngröße ist eine Funktion des Umformgrades und derRekristallisationstemperatur, siehe Abbildung 2.9. Aus diesem Diagrammkönnen für das Umformen und die Rekristallisation folgende grundsätzlicheAussagen abgeleitet werden:

• Der Umformgrad muss einen gewissen Mindestwert überschreiten.• Bei sonst gleichen Bedingungen führen geringe Umformgrade zu gröberen

Korngrößen; durch hohe Umformgrade entstehen feinkörnige Gefüge.• Die Rekristallisationstemperatur muss einen gewissen Mindestwert über-

schreiten.• Bei höheren Umformgraden setzt die Rekristallisation bei niedrigeren Tem-

peraturen ein.

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Abbildung 2.9: Einfluss von Umformgrad und Temperatur auf die Korngröße beiRekristallisation [EISE66]

Diese zusammenfassenden Aussagen machen deutlich, dass die Rekristalli-sationstemperatur TR keine feste Werkstoffkenngröße ist. Dennoch kann manals Anhaltswert von folgendem Zusammenhang ausgehen [GOTT98]:

TR ≈ 0, 4 · TS , (2.3)

hierin ist die Schmelztemperatur TS des Metalls in Kelvin einzusetzen.Häufig sind nach der Rekristallisation vorherige Verformungstexturen

aufgelöst. Unter bestimmten Verformungsbedingungen und bei bestimmten

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14 2 Grundlagen

Werkstoffen kann es allerdings auch sein, dass die Verformungstextur auchnach dem Rekristallisieren noch erhalten ist. Man spricht dann von Rekristal-lisationstexturen. Im Allgemeinen sind Texturen unerwünscht, weil sie aniso-trope Eigenschaften nach sich ziehen. Bei einem praktischen Anwendungsfallaus dem Motorenbereich sind sie allerdings von großer Bedeutung. So werdenin FeSi-Magnetblechen durch das Glühen Texturen erzeugt, bei denen spätergeringere Ummagnetisierungsverluste auftreten.

In der Umformtechnik ist die Rekristallisation von zentraler Bedeutung.Vielfach kann nicht bis zu dem durch die Fertigungsaufgabe vorgegebenenGrad umgeformt werden, weil entweder die zur Verfügung stehende Pres-senkraft nicht ausreicht, um auch bei fortschreitender Kaltverfestigung nochplastisches Fließen aufrechtzuerhalten, oder weil das Umformvermögen desWerkstoffs erschöpft ist und erste Risse auftreten.

Es ist dann möglich, durch Rekristallisationsglühen das ursprüngliche,unverformte Gefüge wieder herzustellen und in einer zweiten Stufe den Um-formvorgang am duktilen Werkstoff mit geringer Pressenkraft fortzuführen.Für die Fließkurve bedeutet dies eine Verschiebung auf der Abszisse, sieheAbbildung 2.10. Prinzipiell ist der Wechsel von Kaltumformung und Re-kristallisation beliebig oft wiederholbar.

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Abbildung 2.10: Spannungsbedarf bei Kaltumformung mit zwischengeschaltetemRekristallisationsglühen

Wichtig ist bei der Wärmebehandlung allerdings eine genaue Kontrolleder Bedingungen. Wie aus der schematischen Darstellung in Abbildung 2.9ersichtlich ist, wird das rekristallisierte Gefüge bei „kritischen“ Kombinatio-nen von Temperatur und Umformgrad sehr grobkörnig, was sich nachteiligauf die späteren Bauteileigenschaften auswirkt. Die Neigung zur Grobkorn-

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2.2 Metallkundliche Grundlagen zur Erfassung des Werkstoffzustands 15

bildung wird ebenfalls durch den Gehalt an Kohlenstoff und sonstigen Legie-rungselementen beeinflusst. Mit steigendem C-Gehalt flacht das Maximumder Korngröße jedoch schnell ab, so dass oberhalb eines C-Gehalt von 0,3%extremes Grobkorn nicht mehr entsteht [EISE66].

2.2.4 Abgrenzung zwischen Kalt- und Warmumformung

Eine in der Praxis häufig angewandte Definition für Kalt- und Warmumfor-mung ist folgende:

Bei der Warmumformung liegt die Umformtemperatur oberhalb der Re-kristallisationstemperatur; bei der Kaltumformung liegt die Umformtempera-tur unterhalb der Rekristallisationstemperatur. Da Metalle sehr unterschied-liche Rekristallisationstemperaturen haben, führt diese Definition häufig zuMissverständnissen. Mit Gleichung 2.3 ergibt sich für reines Eisen z. B. eineRekristallisationstemperatur von ca. 450℃ (TR ≈(1536 K + 273 K) · 0,4 =723K ). Blei hat einen Schmelzpunkt von TS = 327 ℃, damit liegt die Re-kristallisationstemperatur von Blei bei etwa 3 ℃. Ein Umformen bei Raum-temperatur bedeutet für Blei bereits eine Warmumformung.

Eine genauere Definition der Warmumformung berücksichtigt die Rekris-tallisationsgeschwindigkeit und die Umformgeschwindigkeit. Sie besagt, dassWarmumformung dann vorliegt, wenn die Rekristallisationsgeschwindigkeitgrößer als die Umformgeschwindigkeit ist. In diesem Fall wird das Gefügeständig neu gebildet und es tritt keine Kaltverfestigung auf. Bei niedrigenUmformgeschwindigkeiten würde die Fließspannung dann vom Umformgradunabhängig sein, siehe Abbildung 2.11 unten. Bei sehr großen Umform-geschwindigkeiten oberhalb der Rekristallisationstemperatur kann allerdingsdie zur Rekristallisation notwendige Zeit nicht ausreichend sein, um die durchUmformung hervorgerufenen Kaltverfestigungsvorgänge rückgängig zu ma-chen. In diesem Fall steigt die Fließspannung über dem Umformgrad, obwohloberhalb von TR umgeformt wird, siehe Abbildung 2.11 mitte. Dieses Verhal-ten kann dann wichtig werden, wenn bei Temperaturen um TR mit hohenUmformgeschwindigkeiten (Beschleunigungen) gearbeitet wird, wie es z. B.bei bestimmten Schmiedeprozessen in der Halbwarmumformung (siehe auchKapitel 3.2) auftreten kann.

Eine andere wichtige Werkstoffeigenschaft kann dann technisch genutztwerden, wenn zwar oberhalb der Rekristallisationstemperatur umgeformtwird, jetzt allerdings mit ausgesprochen niedrigen Umformgeschwindigkei-ten. Aufgrund der hohen thermischen Beweglichkeit beteiligen sich jetzt nichtnur die im Inneren eines Kristalls vorhandenen Atome an Umordnungsvor-gängen, sondern auch die wesentlich schwächer eingebundenen Atome an denKorngrenzen am Abbau der Gitterverspannungen. Es kann Korngrenzenglei-ten auftreten, das bei manchen metallischen Werkstoffen in einer sehr großenplastischen Formänderungsfähigkeit mündet. Man bezeichnet dieses Verhal-ten auch als Superplastizität. Voraussetzung hierfür sind feinkörnige Gefüge,eine geeignete Temperaturführung und niedrige Umformgeschwindigkeiten,

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Abbildung 2.11: Einfluss von Umformtemperatur und -geschwindigkeit auf den Ver-lauf der Fließkurve

siehe auch Kapitel 3.4.3 und 4.6.2. Bei superplastischen Werkstoffen kannbei geringen Umformgeschwindigkeiten der Umformgrad mehrere 100% be-tragen. Eine wesentliche Grundvoraussetzung ist, dass die Ausgangskorngrö-ße des Werkstoffes sehr klein ist und sich auch während des Umformens nichtvergröbert. Deshalb muss zur Aufrechterhaltung der Superplastizität einezweite Phase im Werkstoff vorhanden sein. Günstig sind eutektische odereutektoide Legierungen.

In der Praxis wird die Kaltumformung in vielen Fällen der Warmumfor-mung vorgezogen. Als Vorteile gelten:

• kein Energieaufwand für die Erwärmung,• geringe Werkzeugbaustoffkosten,• geringer Einfluss der Umformgeschwindigkeit,• keine Werkstoffverluste und Nachbehandlungen wegen Zunderbildung,• keine Maßfehler durch Schwindung,• bessere Oberflächengüte und• Festigkeitssteigerung des Bauteils.

Aus den Nachteilen, wie

• größerer Kraft- und Arbeitsbedarf und• begrenztes Umformvermögen

wird verständlich, dass in der Regel erst dann zur Warmumformung übergan-gen wird, wenn zu hohe Kräfte beim Kaltumformen einen Werkzeugbruch

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2.3 Plastomechanische Grundlagen 17

bzw. eine Überlastung der Maschine befürchten lassen, oder wenn die Be-anspruchbarkeit des Werkstoffs die geforderte Formänderung nicht zulässt.Auch dann ist zu prüfen, ob eine stufenweise Kaltumformung mit jeweiligemRekristallisationsglühen wirtschaftlicher ist.

2.3 Plastomechanische Grundlagen

2.3.1 Gegenüberstellung von Kristallphysik undKontinuumsmechanik

Für die plastische Formgebung metallischer Werkstückwerkstoffe sind meistgroße Kräfte bzw. Drücke erforderlich, so dass man sich bei der Auslegungvon Umformprozessen mit einem geeigneten Rechenverfahren davon über-zeugen muss, ob der angestrebte Prozess mit den vorhandenen Maschinenund Werkzeugen überhaupt realisierbar ist und der Werkstückwerkstoff diegeplante Formänderung zulässt. Außerdem möchte man in vielen Fällen wis-sen, wie sich die mechanischen Eigenschaften des Werkstücks durch den Um-formprozess ändern. Eine Möglichkeit wäre, die kristallphysikalischen Vor-gänge auf atomarer Ebene zu modellieren und zur Basis von Rechenmodellenzu machen. Dies geschieht mit molekulardynamischen Rechenansätzen [RA-PA04]. Diese sind für die fertigungstechnische Praxis noch nicht ausreichendentwickelt, finden jedoch in der Forschung Anwendung. Für die praktischeAnwendung wird der Werkstückwerkstoff als ein homogenes Kontinuum an-genommen, in dem die physikalischen Größen durch Raum- und Zeitkoordina-ten beschrieben werden und ihre Funktionen stetig und differenzierbar sind.Die mit diesen Randbedingungen auftretenden Fehler sind im Allgemeinentolerierbar. Ohne tiefer auf die mathematischen Einzelheiten plastomechani-scher Lösungsmethoden einzugehen, werden im Folgenden die physikalischenZusammenhänge dargestellt, die für ein Verständnis umformtechnischer Vor-gänge erforderlich sind.

2.3.2 Der Spannungszustand

Die Kraft, die das Umformwerkzeug auf das Werkstück ausübt, erzeugt imInnern des Werkstücks einen Spannungszustand. Dieser ist im Gegensatz zurvektoriellen Kraft (Tensor erster Stufe) eine doppelt gerichtete Größe, alsoein Tensor zweiter Stufe. Zur allgemeinen Beschreibung des Spannungstensorsmüssen sechs seiner Komponenten, nämlich die Normalspannungen

σx, σy, σz

und die Schubspannungen

τxy = τyx, τxz = τzx, τyz = τzy