Thieme: verstehen & pflegen 4, Prävention und Rehabilitation · 250...

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250 Prophylaxen: Prävention in der Pflege BAND 4 12 Dekubitusprophylaxe Astrid Hammer, Elke Kobbert Übersicht Einleitung · 250 12.1 Dekubitus · 251 12.1.1 Pathophysiologie des Dekubitus · 251 12.1.2 Lokalisationen des Dekubitus · 255 12.1.3 Einteilung der Dekubituskategorien · 256 12.1.4 Differenzialdiagnostik · 258 12.1.5 Auswirkungen eines Dekubitus · 259 12.2 Einschätzen des Dekubitusrisikos · 259 12.2.1 Assessmentinstrumente anwenden · 260 12.2.2 Dekubitusrisikoskalen einsetzen · 260 12.3 Maßnahmen der Dekubitusprophylaxe · 265 12.3.1 Informieren, beraten und anleiten · 265 12.3.2 Druck entlasten durch Bewegungsförderung · 265 12.3.3 Druckverteilende Hilfsmittel einsetzen · 269 12.3.4 Risikofaktoren ausschalten bzw. minimieren · 271 12.4 Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege · 272 12.5 Fallstudie und Pflegediagnose · 274 12.6 Juristische Aspekte · 275 Fazit · 276 Literatur · 276 Schlüsselbegriffe Dekubitus Druck und Scherkräfte Dekubituskategorien Dekubitusrisikoeinschätzung Druckentlastung Druckreduzierung Schräglagerung Mikro-, Makrolagerung Expertenstandard Einleitung Ein Dekubitus gehört zu den häufigsten und gefürch- tetsten Komplikationen körperlicher Immobilität. Er ist mit Leid und Schmerzen und damit mit schwer- wiegenden Einschränkungen der Gesundheit und Lebensqualität für die betroffene Person verbunden. Laut Robert Koch-Institut entwickeln jährlich in Deutschland mehr als 400 000 Personen einen be- handlungsbedürftigen Dekubitus (RKI, 2004). Damit ist auch die wirtschaftliche Bedeutung der Behand- lung eines Dekubitus enorm: Laut Schätzungen ent- stehen jährlich Therapiekosten in Höhe von 1 – 2 Mrd. Euro. Dies sind alles Gründe, weshalb der Ent- stehung eines Dekubitus zwingend vorgebeugt wer- den muss. Auch der erste Expertenstandard, der vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwick- lung in der Pflege (DNQP) entwickelt, kon- sentiert und modellhaft implementiert und im Jahr 2000 in Osnabrück vorgestellt wurde (s. a. Bd. 1, S. 203), behandelte das Thema Dekubitusprophylaxe in der Pflege. Eine intensive Überarbeitung und Ak- tualisierung dieses Standards erfolgte im Jahr 2010. Menschen mit dem Risiko für eine Dekubitusentste- hung sind in allen Handlungsfeldern der Pflege zu finden. Pflegenden kommt im Rahmen des diagnos- tischen Prozesses die Aufgabe zu, das Dekubitusrisi- ko bei dem jeweiligen Pflegeempfänger individuell einzuschätzen, geeignete Maßnahmen der Prophyla- xe auszuwählen, geplant umzusetzen und das Ergeb- nis zu evaluieren. aus: Lauber u.a., verstehen & pflegen 4, Prävention und Rehabilitation (ISBN 9783131286130), 2012 Georg Thieme Verlag KG

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250 Prophylaxen: Prävention in der Pflege B A N D 4

12 DekubitusprophylaxeAstrid Hammer, Elke Kobbert

Übersicht

Einleitung · 25012.1 Dekubitus · 25112.1.1 Pathophysiologie des Dekubitus · 25112.1.2 Lokalisationen des Dekubitus · 25512.1.3 Einteilung der Dekubituskategorien · 25612.1.4 Differenzialdiagnostik · 25812.1.5 Auswirkungen eines Dekubitus · 25912.2 Einschätzen des Dekubitusrisikos · 25912.2.1 Assessmentinstrumente anwenden · 26012.2.2 Dekubitusrisikoskalen einsetzen · 26012.3 Maßnahmen der

Dekubitusprophylaxe · 26512.3.1 Informieren, beraten und anleiten · 26512.3.2 Druck entlasten durch

Bewegungsförderung · 26512.3.3 Druckverteilende Hilfsmittel

einsetzen · 26912.3.4 Risikofaktoren ausschalten bzw.

minimieren · 27112.4 Expertenstandard Dekubitusprophylaxe

in der Pflege · 27212.5 Fallstudie und Pflegediagnose · 27412.6 Juristische Aspekte · 275

Fazit · 276Literatur · 276

Schlüsselbegriffe

� Dekubitus� Druck und Scherkräfte� Dekubituskategorien� Dekubitusrisikoeinschätzung� Druckentlastung� Druckreduzierung� Schräglagerung� Mikro-, Makrolagerung� Expertenstandard

Einleitung

Ein Dekubitus gehört zu den häufigsten und gefürch-tetsten Komplikationen körperlicher Immobilität. Erist mit Leid und Schmerzen und damit mit schwer-

wiegenden Einschränkungen der Gesundheit undLebensqualität für die betroffene Person verbunden.Laut Robert Koch-Institut entwickeln jährlich inDeutschland mehr als 400000 Personen einen be-handlungsbedürftigen Dekubitus (RKI, 2004). Damitist auch die wirtschaftliche Bedeutung der Behand-lung eines Dekubitus enorm: Laut Schätzungen ent-stehen jährlich Therapiekosten in Höhe von 1–2Mrd. Euro. Dies sind alles Gründe, weshalb der Ent-stehung eines Dekubitus zwingend vorgebeugt wer-den muss.

Auch der erste Expertenstandard, der vomDeutschen Netzwerk für Qualitätsentwick-lung in der Pflege (DNQP) entwickelt, kon-

sentiert und modellhaft implementiert und im Jahr2000 in Osnabrück vorgestellt wurde (s. a. Bd. 1,S. 203), behandelte das Thema Dekubitusprophylaxein der Pflege. Eine intensive Überarbeitung und Ak-tualisierung dieses Standards erfolgte im Jahr 2010.

Menschen mit dem Risiko für eine Dekubitusentste-hung sind in allen Handlungsfeldern der Pflege zufinden. Pflegenden kommt im Rahmen des diagnos-tischen Prozesses die Aufgabe zu, das Dekubitusrisi-ko bei dem jeweiligen Pflegeempfänger individuelleinzuschätzen, geeignete Maßnahmen der Prophyla-xe auszuwählen, geplant umzusetzen und das Ergeb-nis zu evaluieren.

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251B A N D 4 Prophylaxen: Prävention in der Pflege

12.1 Dekubitus

Das European Pressure Ulcer Advisory Panel (EPUAP)und das amerikanische National Pressure Ulcer Advi-sory Panel (NPUAP) haben in einer 4-jährigen Zu-sammenarbeit Leitlinien für die klinische Praxis zurPrävention und Behandlung von Dekubitus erarbei-tet und veröffentlicht.

„Ein � Dekubitus ist eine lokal begrenzte Schä-digung der Haut und/oder des darunterliegen-den Gewebes, in der Regel über knöchernen

Vorsprüngen, infolge von Druck oder von Druck inKombination mit Scherkräften. Es gibt eine Reiheweiterer faktoren, welche tatsächlich oder mutmaß-lich mit Dekubitus assoziiert sind; deren Bedeutungist aber noch zu klären.“ (internationale Definitionnach NPUAP und EPUAP, 2009, S. 7)

Anhand der Definition wird deutlich, dass bis heutedie Entstehungsmechanismen für einen Dekubitusnicht gänzlich geklärt sind.

Ein Dekubitus entsteht durch lang einwirken-den Druck und schädigt das tiefer gelegeneGewebe infolge einer Minderdurchblutung. Er

entsteht v.a. über Knochenvorsprüngen. Es ist eineSekundärerkrankung, die sich infolge von Immobili-tät in Verbindung mit anderen prädisponierendenFaktoren entwickelt.

Der Begriff Dekubitus kann vom lateinischen Wort„decubare“ (= liegen) abgeleitet werden und bedeu-tet das „Sichdurchliegen“ des Kranken. SynonymeBezeichnungen sind Dekubitalulkus, Dekubitalge-schwür oder Druckgeschwür.

Bei der Entstehung eines Dekubitus werdendurch Druckeinwirkung auf Haut und die betroffe-nen Gewebeabschnitte kleinste Gefäße kompri-miert. Die Mikrozirkulation wird unterbrochen, so-dass das Gewebe nicht mehr bzw. nur noch ungenü-gend mit Nährstoffen versorgt wird und Stoffwech-selabbauprodukte nicht abtransportiert werdenkönnen. Dauert eine lokale Ischämie, d. h. eine räum-lich begrenzte Minderdurchblutung länger als 2Stunden an, besteht die Gefahr, dass das Gewebe ne-krotisch wird, d.h. die betroffenen Gewebezellen ab-sterben. Dekubitalulzera treten i.d.R. bei Personenmit bestimmten Risikofaktoren und an bestimmtenKörperregionen auf. In Abhängigkeit vom Ausmaß

der Gewebeschädigung werden verschiedene Deku-bituskategorien unterschieden.

Im Gegensatz zu Erwachsenen gibt es zumThema Dekubitusprophylaxe bei Kindernsehr wenig Untersuchungen und Literatur.

Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass dieHauptursachen und Entstehungsmechanismen füreinen Dekubitus bei Kindern und Erwachsenengleich sind.

12.1.1 Pathophysiologie des DekubitusDie Entstehung eines Dekubitus wird im Wesentli-chen von vier Ursachen begünstigt:1. der Druck, mit dem ein Körper auf einer Unterlage

aufliegt und der Gegendruck, der durch das Wi-derlager der festen Strukturen dieser Körperre-gionen erzeugt wird,

2. Scherkräfte, die auf einen Körper einwirken,3. die Zeit, in der der Körper dem Druck ausgesetzt

ist,4. individuelle Risikofaktoren der betreffenden Per-

son.

DruckDie Hauptursache für die Entstehung eines Dekubi-tus ist die Druckeinwirkung auf Gewebepartien, z. B.durch das Aufliegen des Körpers auf einer Unterlage.Druck erzeugt aber gleichzeitig auch einen Gegen-druck. Das passiert dann, wenn z. B. die Knochen alsWiderlager dienen und diese ihrerseits Kapillargefä-ße abdrücken.

Haut und Körperfaszie mit ihrem hohen Anteilkollagener Fasern sind gegenüber physikalischenDruckeinwirkungen im Vergleich zu Fett- und Mus-kelgewebe relativ widerstandsfähig. Neue Untersu-chungen zeigen, dass das tiefe Muskelgewebe emp-findlicher auf Druck reagiert als Fettgewebe oder dieoberflächliche Haut (Schröder, 2011) und somit häu-fig zuerst geschädigt wird. Damit ist davon auszuge-hen, dass ein Dekubitus nicht nur an der Hautober-fläche entsteht, sondern die Hautschädigung im Ge-webeinneren beginnen kann. Bei vorerst noch intak-ter Haut kann dann bereits eine Gewebeschädigungder tieferen Schichten vorliegen.

Durch den Auflagedruck bzw. durch den entste-henden Gegendruck werden kleinste Gefäße kom-primiert und sowohl die arterielle Durchblutung alsauch der venöse Blutabfluss unterbrochen. Dabei

12.1 Dekubitus

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252 Prophylaxen: Prävention in der Pflege B A N D 4

Abb. 12.1 Entstehungsmechanismus eines Dekubitus (nach:Neander, 1993)

12 Dekubitusprophylaxe

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spielt die Höhe des entstehenden Drucks eine ganzentscheidende Rolle: Sobald der Druck auf die Kapil-laren größer ist als der mittlere Blutdruck von etwa25–35mmHg, wird die Mikrozirkulation in den Ka-pillaren unterbrochen.

Ein Dekubitus kann relativ schnell inner-halb weniger Stunden entstehen. Grund-sätzlich gilt: Kurzzeitige, hohe Druckein-

wirkungen können das Gewebe stärker schädigen alslang andauernde geringe Druckeinwirkungen. Damitist die Höhe der Druckeinwirkung bedeutsam.

Ischämie. Durch die Störung der Mikrozirkulationkommt es zu einer Mangelversorgung des Gewebesmit Nährstoffen und Sauerstoff sowie einem unzu-reichenden venösen Abtransport von Kohlendioxidund anderen Stoffwechselendprodukten aus dembetreffenden Gewebe (Abb. 12.1). Dieser Vorgangwird als Ischämie bezeichnet.

Metabolische Azidose. Durch die andauernde Ischä-mie entwickelt sich im Gewebe eine metabolische

Azidose, d.h., durch die Anhäufung von sauren Stoff-wechselprodukten verschiebt sich das Säure-Basen-Gleichgewicht zur sauren Seite. Die Wasserstoff-ionen-Konzentration steigt und damit sinkt der pH-Wert unter 7,38. Durch diese Übersäuerung werdendas lokale Gewebe und die Kapillaren geschädigt. DieAzidose führt zunächst zu einer Arteriolendilatation,einer Erweiterung der vor den Kapillaren liegendenkleinsten Arterien. Mit dieser Gefäßerweiterung solldem bestehenden Durchblutungsmangel entgegen-gewirkt werden. Gleichzeitig verursacht die Azidosejedoch eine erhöhte Gefäßpermeabilität, d.h. die Ge-fäßmembranen werden durchlässig.

Ödem. Diese Gefäßpermeabilität führt zu einer Volu-menverschiebung aus dem Gefäßinnenraum in dasInterstitium, den Zellzwischenräumen. Es entstehtein Ödem in der betroffenen Geweberegion, durchdas die Kapillaren weiter komprimiert werden. Dieentstandene Rötung lässt sich dann nicht mehr weg-drücken.

In dem vorgeschädigten Gebiet kann dieDurchblutung durch äußere Maßnahmen,(z.B. durch eine Massage des betroffenen

Gewebes) nicht verbessert werden, da eine lokaleSchädigung der Gefäße vorliegt. Eine mechanischoder chemisch (z.B. durch hyerämisierende Salben)ausgelöste Durchblutungsförderung erhöht denStoffwechsel in dem betroffenen Gebiet und es fallenvermehrt Stoffwechselendprodukte an, die die meta-bolische Azidose und somit die Kapillarschädigungverstärken.

Gefäßthrombosierung, Nekrosenbildung. Die Kapil-larkomprimierung und die dadurch bedingte Blut-strömungsverlangsamung fördern eine Gefäß-thrombosierung, welche wiederum die Ischämieund den Zelluntergang unterstützt. Dauert die Isch-ämie länger an, sterben die Zellen in dem betroffe-nen Gewebe weiter ab und es kommt zur Nekrosen-bildung.

Im Eigenexperiment lässt sich dieser Me-chanismus durch folgenden Versuch nach-vollziehen: Wird eine Fingerkuppe fest ge-

gen ein Glas gedrückt, verfärbt sich nach kurzer Zeitdas Gewebe von zartrosa nach weiß. Lässt der Drucknach, ist der Finger aufgrund der lokalen reaktivenHyperämie innerhalb kurzer Zeit dunkelrot. Nachder durch den Druck hervorgerufenen Blutleere ver-

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253B A N D 4 Prophylaxen: Prävention in der Pflege

Abb. 12.2 In sitzender Position besteht die Gefahr der Bildungvon Scherkräften. Bei hochgestelltem Kopfteil kann die Pflege-empfängerin der Schwerkraft folgend nach unten rutschen, sodass die Gewebeschichten im Bereich des Sakrums gegeneinanderverschoben werden (siehe Pfeile)

12.1 Dekubitus

sucht der Körper durch eine sofortige Gefäßerweite-rung die Durchblutung zu verbessern und die zuvorbestandene Mangeldurchblutung auszugleichen.

Ohne Druck entsteht kein Dekubitus. Druckoder Druck in Verbindung mit Scherkräftenwerden als Hauptursache für die Entste-

hung eines Dekubitus angesehen. Hierbei könnenäußere Druckeinwirkungen durch die Auflagefläche(wie z.B. Matratze oder Stuhlfläche) und/oder innereDrücke durch Gegendruck fester anatomischerStrukturen (wie z.B. Knochen) eine horizontale Kom-pression aller Gewebeschichten bewirken.

ScherkräfteUntersuchungen haben ergeben, dass neben demDruck auch Scherkräfte bei der Entstehung eines De-kubitus in bedeutendem Maße mitwirken. WährendDruckkräfte senkrecht auf die Körperoberfläche ein-wirken, wirken Scherkräfte diagonal auf die Körper-oberfläche. Dabei verschieben sie die verschiedenenHautschichten gegeneinander, so dass es zu einerKomprimierung und Verdrehung der Blutgefäße undeiner Verminderung der Blutzirkulation kommt.

Scherkräfte treten gehäuft auf, wenn der Pflege-empfänger eine sitzende oder halbsitzende Positionim Bett oder im Sessel einnimmt. Rutscht der Körpernach unten, während z.B. die Haut des Rückens unddes Gesäßes an der Matratze „kleben“ bleiben, ver-schieben sich die einzelnen Gewebeschichten gegen-einander und es kommt z.B. im Bereich des Kreuz-beines (Sakrum) durch die Scherkrafteinwirkung zurGewebeschädigung (Abb. 12.2).

Kinder. Körperstellen, die lange Druck ausgesetztsind, sind auch bei Kindern dekubitusgefährdet. DerAuflagedruck bei kleinen Kindern zwischen 0 und 2Jahren, die flach auf dem Rücken liegen, ist am Hin-terkopf am stärksten. Deshalb ist der Hinterkopf beiNeugeborenen und Kleinkindern am häufigsten vonDekubitus betroffen. Mit dem körperlichen Wachs-tum verschiebt sich dieses Druckmaximum in denSakralbereich.

ZeitEin weiterer Faktor für die Dekubitusentstehung istdie Dauer der Druckeinwirkung. Zellen besitzen be-stimmte Reserven, um auftretende Versorgungseng-pässe eine gewisse Zeit zu überbrücken. Je nach ana-tomischer Beschaffenheit reagieren die Zell- bzw.

Gewebeschichten unterschiedlich auf die durchDruck ausgelöste Minderdurchblutung. NiedrigeDruckeinwirkungen auf das Muskelgewebe könneneine kurze Zeit verhältnismäßig gut toleriert wer-den. Wirken jedoch höhere Drücke auf das Gewebeein, kann die Zeit bis zum Eintreten irreversibler Zell-schädigungen sogar deutlich unter zwei Stunden lie-gen. Vor allem dann, wenn die Haut bereits vorge-schädigt ist oder individuelle Risikofaktoren vorlie-gen, die sich negativ auf die Ischämietoleranz des Ge-webes auswirken (S. 254).

Wird die Ernährung der Haut- und Gewebe-schichten weniger als zwei Stunden unterbrochen,können sich die Zellen i.d.R. wieder vollständig rege-nerieren. Bei länger andauerndem Sauerstoff- undNährstoffmangel sowie Anhäufung von Stoffwech-selabbauprodukten kommt es zum Absterben derZellen und zur Nekrosebildung.

Die Druckverweildauer ist im Schlaf länger als imwachen Zustand. Trotzdem ist der Körper mit 20–30Lageänderungen im Schlaf auch in der Nacht ständigin Bewegung. Der Anstieg von sauren Substanzen imGewebe und der im Schlaf meist unbewusst wahrge-nommene Druckschmerz löst beim gesunden Men-schen einen Reflex aus, der zu einer minimalen Be-wegung und Positionsänderung führt. Bei mobili-tätseingeschränkten Personen ist dieser Reflex häu-fig nur noch in abgeschwächter Form oder gar nichtmehr vorhanden, so dass nicht mit einer notwendi-gen Lageveränderung reagiert werden kann.

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254 Prophylaxen: Prävention in der Pflege B A N D 4

12 Dekubitusprophylaxe

Im Eigenexperiment legt sich eine Personmit dem Rücken auf eine harte Unterlageund versucht, so lange wie möglich ohne

jegliche Bewegung in dieser Position zu verharren.Das Sprechen sollte während der Übung eingestelltwerden. Schon nach kurzer Zeit lässt sich für die be-troffene Person gut nachvollziehen, wie unange-nehm es sein kann, wenn kein Lagewechsel nachWunsch vorgenommen werden kann.

Ursachen für Scherkräfte- und DruckbelastungEin Dekubitus entsteht durch das Zusammenwirkenmehrerer Faktoren. Druck, Druck in Verbindung mitScherkräften sowie die Dauer der Druckeinwirkungwurden als wesentliche Hauptfaktoren für die Ent-stehung eines Dekubitus ausführlich dargestellt. Ei-ne Einschränkung der Aktivität und der Mobilitätspielen hierbei eine bedeutende Rolle, da sie mit ei-ner erhöhten und/oder verlängerten Einwirkzeit vonDruck- und Reibungskräften einher geht (Experten-standard 2010, S. 23f, Tab. 12.1)

Einschränkungen der Aktivität und Mobili-tät sind maßgebliche Risikofaktoren für dieEntstehung eines Dekubitus.

Tab. 12.1 Ursachen für erhöhte und/oder verlängerte Einwirkung von Druck und/oder Scherkräften (DNQP, 2010, S. 23)

Einschränkungen der Aktivität

Definition: Ausmaß, in dem sich ein Patient oder Bewohner von einem Ort zu einem anderen bewegt.

Einschränkungen (Auswahl)Abhängigkeit von Gehhilfsmitteln oder personeller Unterstützung beim GehenAbhängigkeit beim TransferAbhängigkeit vom Rollstuhl bei der Fortbewegung im RaumBettlägerigkeit

Einschränkungen der Mobilität

Definition: Ausmaß, in dem ein Patient oder Bewohner seine Körperposition wechselt.

Einschränkungen (Auswahl)Abhängigkeit von personeller Unterstützung bei Lagewechseln im Bettkaum oder keine Kontrolle über Körperpositionen im Sitzen oder LiegenUnfähigkeit zu selbstständigen kleinen Positionsveränderungen (Mikrobewegungen) im Liegen oder Sitzen

Extrinsisch bzw. iatrogen bedingte Exposition gegenüber Druck und/oder Scherkräften durch (Auswahl):

auf die Körperoberfläche eindrückende Katheter/Sonden oder im Bett/auf dem Stuhl befindliche Gegenstände (z. B. Fernbedienung)bzw. Hilfsmittel (z. B. Hörgerät)nasale Tubenzu fest oder schlecht sitzende Schienen oder Verbände, Bein- oder Armprothesenunzureichend druckverteilende Hilfsmittel für die Lagerunglänger dauernde Operationen

Kinder. Eine besondere Häufung von Dekubitalulzerabei Kindern ist im Rahmen von Erkrankungen des Be-wegungsapparates zu verzeichnen (z. B. bei Rücken-marksverletzungen, Spina bifida, spastischer Hüft-dislokalisation, Myelodysplasie sowie bei Kyphosenund Kyphoskoliosen). Anormale Druckverteilung imSitzen und fehlende Sensibilität in betroffenen Kör-perregionen werden als Ursache für die Entstehungdieser Druckgeschwüre verantwortlich gemacht. Alsweitere Risikofaktoren gelten alle medizinischenoder therapeutischen Objekte, Geräte oder Instru-mente, die unmittelbaren Kontakt zum Körper desKindes haben, wie z.B. Sonden, Kanülen, Elektroden,Katheter oder Drainagen. Es ist darauf zu achten, dassdie Haut von Neugeborenen unter Blutdruckman-schetten, Pulsoximetern, Tuben, Sonden und Maskenregelmäßig inspiziert wird und keinem zu hohenDruck ausgesetzt werden darf.

Individuelle RisikofaktorenNeben den mechanischen Belastungen spielen zu-sätzlich individuelle Risikofaktoren eine Rolle, diedie Entstehung eines Dekubitus begünstigen. DieseRisikofaktoren können sich auf die körperliche Kon-stitution beziehen, krankheits- oder verhaltensbe-dingt (z.B. Nikotinabusus) sein oder durch ärztlicheTherapiemaßnahmen ausgelöst werden.

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255B A N D 4 Prophylaxen: Prävention in der Pflege

Abb. 12.3 Dekubitusgefährdete Körperstellen a in Rückenlage, b in Bauchlage, c in 90�-Seitenlage, d im Sitzen

12.1 Dekubitus

a Rückenlage b Bauchlage c 90° Seitenlage d im Sitzen

Kreuz-bein

Hinterhaupt-knochen

Schulter-blätter

Dorn-fort-

sätze

Ellen-bogen

Fersen

Stirn

Joch-bein

Schulter-gelenkeBrust-

bein

Rippen

Darm-bein-

stachel

Knie-scheibe

Fuß-spitzen

Ohr-muschel

Ellenbogen

großer Rollhügel

Knie-gelenk

Waden-bein

seitl. Knöchel

Sitzbein-höcker

Hinter-haupt

Joch-bein

Fersen

Dornfort-sätze

Schulter-blatt

Sitz-bein-höcker

Seiler (2002) nimmt folgende Einteilung vor:Primäre Faktoren: Hierzu gehören Faktoren, diedirekten Einfluss auf die Bewegung des Betroffe-nen haben wie z.B. eine Lähmung, eine Narkoseoder Medikamente, die Bewegungen verringern(z.B. Schlafmittel), oder psychische Erkrankungenwie Depressionen.Sekundäre Faktoren: Hierzu zählen krankheits-oder situationsbedingte Faktoren, die das Dekubi-tusrisiko des Patienten erhöhen, z.B. Durchblu-tungsstörungen verschiedener Ursache, Nähr-stoffmangel der Zelle (Mangelernährung) oderein schlechter Hautzustand.

Nach Aussagen des Expertenstandards (2010, S. 22)kann zum heutigen Zeitpunkt nach wissenschaftli-chen Erkenntnissen nicht eindeutig geklärt werden,welche Bedeutung diese zusätzlichen Risikofaktorenfür ein Dekubitusrisiko und für die Entstehung einesDekubitus haben. Ein starker Zusammenhang lässtsich zwischen hoher Pflegebedürftigkeit bzw. redu-

ziertem Allgemeinzustand und einem Dekubitusrisi-ko belegen. Je höher die Beeinträchtigung der Ge-sundheit und der dadurch bedingte erhöhte Bedarfan pflegerischer Unterstützung ist, desto höher dasDekubitusrisiko. Da eine Hautrötung ein wichtigesSignal für das Risiko eines Dekubitus darstellt, wirdim Expertenstandard die Beurteilung des Hautzu-standes als wichtiger Bestandteil der Risikoeinschät-zung angegeben.

12.1.2 Lokalisationen des DekubitusEin Dekubitus bildet sich meist an eindeutig dispo-nierten Stellen. Bevorzugt entsteht ein Druckge-schwür an Körperregionen über Knochenvorsprün-gen, die wenig durch Muskel- und Unterhautfettge-webe gepolstert sind. Diese disponierten Stellen sindlageabhängig (Abb. 12.3). In Rückenlage sind z.B. amhäufigsten Bereiche über dem Kreuzbein, dem Sitz-beinhöcker, den Fersen und den Ellenbogen betrof-fen. In Seitenlage sind die Rollhügel der Oberschen-kelknochen und die Knöchel besonders gefährdet.

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256 Prophylaxen: Prävention in der Pflege B A N D 4

Abb. 12.4 Einteilung der verschiedenen Dekubituskategorien mit ihren Kennzeichen (Fotos: Fa. Hartmann)

12 Dekubitusprophylaxe

Liegt die Wunde nicht über einem Kno-chenvorsprung, ist ein Dekubitus eher un-wahrscheinlich.

Kinder. Die meisten Dekubitalulzera bei Kindern ent-stehen im Sakralbereich und am Hinterkopf und amdritthäufigsten an den Fersen.

12.1.3 Einteilung der DekubituskategorienEin Dekubitus wird in Abhängigkeit vom Ausmaß desGewebedefektes in vier Klassifikationen eingeteilt(Abb. 12.4). Die NPUAP und EPUAP (2009) sprechennicht mehr von Dekubitusstufen oder Schweregra-den, weil diese ein Fortschreiten von I nach III oder IV

Kate-gorie I

Kate-gorie II

Rötung • umschriebene persistierende Rötung bei noch intakter Haut

• Teilverlust von Epidermis und Dermis• Abschürfung• Blasenbildung

• Schädigung von Epidermis, Dermis und Subkutis bis zur Faszie• Nekrosen- bildung• tiefes, offenes und nässendes Geschwür

• wie Katego- rie III• zusätzlich Schädigung von Muskeln, Sehnen und Knochen• tiefe Wund- taschen• ggf. septische Komplikati- onen

Epider-misDermis

Subkutis

Musku-laturKnochen

Kate-gorie III

Kate-gorie IV

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257B A N D 4 Prophylaxen: Prävention in der Pflege

12.1 Dekubitus

unterstellen, was jedoch nicht immer der Fall ist. Siehaben sich auf die neutrale Bezeichnung „Kategorie“geeinigt.

In Tab. 12.2 sind die Dekubitusklassifikationender ICD 10 von 2010 und die der Leitlinie Dekubitu-sprävention von EPUAP und EPUAP gegenüberge-stellt.

Dekubitus Kategorie IKennzeichen eines Dekubitus Kategorie I ist eineumschriebene Hautrötung bei noch intakter Haut,die auch nach Druckentlastung des betroffenenHautareals bestehen bleibt. Zur Diagnosestellungkann ein „Fingertest“ durchgeführt werden, in demmit der Fingerbeere die gerötete Stelle eingedrücktwird. Lässt sich die Rötung wegdrücken, in dem sichdie Hautstelle weiß verfärbt, handelt es sich nicht umeinen Dekubitus. Lässt sich die Rötung nicht wegdrü-cken, ist der Fingertest positiv und es liegt ein Deku-bitus 1. Grades vor. Bei konsequenter Druckentlas-tung klingen die Symptome in diesem Stadium nacheinigen Stunden bis Tagen i.d.R. folgenlos ab.

Rötungen, die sich nicht wegdrücken las-sen, führen bei einem großen Teil der Pa-tienten zu einem manifesten Dekubitus.

Werden frühzeitig Präventionsmaßnahmen getrof-fen, ist dies in den meisten Fällen zu verhindern.

Dekubitus Kategorie IIIn Kategorie II ist ein nässender und infektionsanfäl-liger Hautdefekt entstanden. Die Epidermis und dieDermis (Korium) sind geschädigt und stellen sich kli-nisch als Hautblase, als Hautabschürfung oder als fla-ches Geschwür dar. Diese Schädigung entsteht durchdie erhöhte Gefäßpermeabilität und die lang andau-ernde Gefäßkompression.

Laut Leitlinien sollen Gewebedefekte, wiez.B. verbands- und pflasterbedingte Haut-schädigungen, feuchtigkeitsbedingte Lä-

sionen, Mazerationen oder Abschürfungen nicht alsDekubitus Grad II bezeichnet werden.

Dekubitus Kategorie IIIHierbei kommt es zum Verlust aller Hautschichtenund zur Schädigung oder Nekrose (abgestorbenesGewebe) des subkutanen Gewebes. Diese Schädi-gung kann bis auf darunter liegende Faszien reichen,jedoch sind Knochen, Muskeln und Sehnen nichtsichtbar. Es können sich tiefe Wundtaschen gebildethaben. Der Dekubitus zeigt sich klinisch als tiefes, of-fenes und nässendes Dekubitalgeschwür.

Je nach anatomischer Lokalisation des De-kubitus kann die Tiefe des Druckulkus vari-ieren. So haben z.B. Nasenrücken und Ohr

Tab. 12.2 Dekubitusklassifikationen nach NPUAP, EPUAP, und ICD 10 (nach Kottner, 2010)

Kategorie NPUAP und EPUAP 2009 ICD-10-GM Version 2010

I nicht wegdrückbare Rötungbei intakter Haut hauptsächlich über Knochenvorsprüngen

umschriebene, persistierende Rötung

II Teilverlust der Hautes besteht ein teilweiser Verlust der Haut (-� flache, offene Wunde)und hellrotes Wundbett ohne Beläge; es kann sich auch um eine ge-schlossene oder offene seröse Blase handeln

HautdefektTeilverlust der Haut mit Einbeziehungvon Epidermis und/oder DermisAbschürfungBlase

III Verlust der HautZerstörung aller Hautschichtensubkutanes Fettgewebe ist möglicherweise sichtbar;Knochen Sehnen oder Muskeln nichtdie Wunde weist evtl. Beläge aufggf. sind Untertunnelungen vorhanden

Dekubitus mit Verlust aller Hautschich-ten

mit Schädigung oder Nekrose des subku-tanen Gewebes bis auf die darunter lie-gende Faszie

IV vollständiger Haut- oder Gewebeverlusttotaler Gewebsverlust mit freiliegenden Knochen, Sehnen oderMuskelnan manchen Stellen befinden sich Beläge oder SchorfUntertunnelungen sind häufig

Dekubitus mit Nekrosen von Muskeln,Knochen oder stützenden Strukturen(z. B. Sehnen und Gelenkkapseln)

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12 Dekubitusprophylaxe

kein subkutanes Fettgewebe, so dass Wunden derKategorie III sehr oberflächlich und Wunden adipö-ser Körperstellen sehr tief sein können.

Dekubitus Kategorie IVBei Dekubitalgeschwüren der Kategorie IV bestehtein totaler Gewebeverlust mit freiliegenden undsichtbaren Knochen, Sehnen oder Muskeln. DieWunde kann belegt oder verschorft sein und sich inMuskeln oder unterstützenden Strukturen wie Seh-nen und Gelenkkapseln ausbreiten. Häufig bestehentiefe Wundtaschen und Untertunnelungen. Es be-steht die Gefahr, dass sich eine Osteitis (Knochenent-zündung) entwickelt.

Ergebnisse neuerer wissenschaftlicher Un-tersuchungen weisen darauf hin, dass tie-fere Gewebeschichten geschädigt werden

können, ohne dass diese Gewebezerstörungen zu-nächst von außen sichtbar sind. Das heißt, dass sichein Dekubitus nicht zwingend von „oben nach un-ten“, sondern ebenso von unten nach oben entwi-ckeln kann.

12.1.4 DifferenzialdiagnostikReibungsläsionen, Feuchtigkeitswunden (Mazera-tionen) und oberflächliche lineare Läsionen, die oftdurch das Entfernen von Pflasterstreifen verursachtwerden, sind von Dekubitalulzera deutlich zu unter-scheiden. Sie erfüllen nicht die Kriterien der Dekubi-tusdefinition (nach NPUAP und EPUAP), die v.a. dieUrsachen der Hautschädigung und ihre Lokalisationbetont.

Reibungskräfte. Oberflächliche Hautschädigungenentstehen häufig durch Reibungskräfte, in dem es zuAbrieb von Epidermis oder Dermis kommt. Rei-bungskräfte entstehen z.B., wenn eine Person imBett hochgezogen wird, ohne dass das Gesäß von derUnterlage angehoben wird. Aus diesem Grund soll-ten Pflegebedürftige, die nicht die Kraft haben, sichabzustoßen und das Gesäß anzuheben, ausschließ-lich von zwei Pflegepersonen unterstützt werden.Gegebenfalls kann auch ein Hebe- bzw. ein Lage-rungstuch verwendet bzw. Lagewechsel mit Hilfekinästhetischer Prinzipien vorgenommen werden.Der Effekt der mechanischen Reizung kann verstärktwerden, wenn die Haut sehr feucht ist (z.B. durchstarkes Schwitzen, Urin- oder Stuhlverunreinigung).Demnach muss die Haut trocken gehalten und auf ei-ne gute Intimhygiene geachtet werden.

Mazerationen. Vor allem im Bereich des Gesäßeshandelt es sich nicht bei jeder Wunde um einen De-kubitus, sondern häufig um eine Mazeration. Maze-rationen entstehen durch eine anhaltende Feuchtig-keitsbelastung der Haut durch Urin, Schweiß oderandere Körperflüssigkeiten. Durch die Einwirkungder Feuchtigkeit quillt die Epidermis auf, wird weichund dann ggf. durch Reibungskräfte geschädigt. Beifeuchtigkeitsbedingten Läsionen handelt es sich alsoum Hautläsionen, welche nicht durch Druck oderScherkräfte verursacht sind.

Untersuchungen haben gezeigt, dass zweiDrittel der diagnostizierten Dekubitalulze-rationen keine Druckgeschwüre sind, son-

dern Mazerationen. Diese haben jedoch andere Ursa-chen und müssen entsprechend durch andere Maß-nahmen therapiert bzw. ihnen vorgebeugt werden.

Schröder (2010) fasst drei Kriterien zusammen, dieden Unterschied zwischen einem Dekubitus und ei-ner Mazeration belegen:

Lokalisation: Ein Dekubitus entsteht durch Ge-gendruck vornehmlich an Knochenenden wie z.B.am Gesäß in der Höhe des Kreuzbeines (Os sa-crum). Mazerationen hingegen entstehen v.a. inBereichen, in denen sich Feuchtigkeit ansammelnkann, wie z.B. zwischen Hautfalten (z.B. in derHöhe des Steißbeines, Os coccygis).Wundumgebung: Bei einem Dekubitus kann dieWunde scharf abgegrenzt werden. Bei einer Ma-zeration hingegen ist auch die Wundumgebungmeist durch die Feuchtigkeit weiß aufgequollen.Wundgrund: Die Wunde sieht bei einem Dekubi-tus schlecht durchblutet aus, kann trockene undfeuchte Nekrosen haben und – z.B. bei Grad IV –bis in den Knochen reichen. Die Wunde bei einerMazeration hingegen ist gut durchblutet und dieSchädigung betrifft die oberflächlichen Haut-schichten bis zur Dermis.

Bei der Dokumentation muss zwischen einem Deku-bitalgeschwür und einer Mazeration klar unterschie-den werden, da dies sowohl für die Häufigkeit desAuftretens eines Dekubitus (Prävalenz- bzw. Inzi-denzzahlen) als auch für die einzuleitenden Präven-tions- und Therapiemaßnahmen von Bedeutungsind.

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259B A N D 4 Prophylaxen: Prävention in der Pflege

12.2 Einschätzen des Dekubitusrisikos

Die Europäische Vereinigung für Dekubi-tusfragen (EPUAP) hat eine Internetseiteeingerichtet (http://www.puclas.ugent.be/

puclas/d/), mithilfe derer die Unterscheidungsmög-lichkeiten zwischen einer Mazeration und einem De-kubitus trainiert werden können.

12.1.5 Auswirkungen eines DekubitusEin Dekubitus zählt zu den chronischen Wunden undverursacht starke Schmerzen. Patienten mit Dekubi-tus kennen sowohl akuten als auch chronischenSchmerz und beschreiben diesen häufig als bren-nend, stechend, scharf beißend und kribbelnd.

Ein Dekubitus heilt extrem langsam und in man-chen Fällen überhaupt nicht mehr. Die Therapie (Ka-tegorie III und IV) ist aufwendig und nimmt häufigMonate in Anspruch. Die Entstehung eines Druckge-schwürs geht i.d.R. mit einer hohen Einbuße der Le-bensqualität einher. Eine Heilung bzw. eine Dekubi-tusrezidivprophylaxe kann in vielen Fällen nur er-reicht werden, wenn die Grunderkrankung erfolg-reich therapiert werden kann.

Dekubitus:Die Entstehung eines Dekubitus wird im Wesent-lichen durch die Faktoren Druck, Druck- undScherkräfte, Zeit und durch individuelle Risiko-faktoren begünstigt.Eine anhaltende Druckeinwirkung führt zurIschämie mit Azidose und einer Arteriolendilata-tion; infolge bilden sich Ödeme und der Blut-strom verlangsamt sich.Ein Dekubitus wird je nach Ausmaß der Gewebe-schädigung in vier Kategorien eingeteilt: 1. nichtwegdrückbare Rötung, 2. teilweiser Verlust derHaut, 3. Verlust der Haut und 4. vollständigerHaut- oder Gewebeverlust.Ein Dekubitus muss sich nicht zwingend von„oben nach unten“, sondern kann sich genausogut von „unten nach oben“ entwickeln.Reibungsläsionen, Feuchtigkeitswunden (Maze-rationen) und oberflächliche Wunden, die z.B.durch das Entfernen von Pflasterstreifen verur-sacht werden, zählen nicht zu den Dekubitalulze-ra.Ein Dekubitus ist häufig mit starken Schmerzenund Einbußen in der Lebensqualität des Betroffe-nen verbunden.

12.2 Einschätzen desDekubitusrisikos

Aufgrund der vielfältigen Einflussfaktoren, die zu ei-nem Dekubitus führen können, nimmt die Einschät-zung des Dekubitusrisikos im Rahmen der Dekubi-tusprophylaxe einen besonderen Stellenwert ein. Je-de Pflegefachkraft muss in der Lage sein, das Dekubi-tusrisiko für den jeweiligen Pflegeempfänger syste-matisch und sicher einschätzen zu können. Dennnur, wenn ein Dekubitusrisiko erkannt wird, könnengezielte Präventionsmaßnahmen einsetzen.

Die Einschätzung des Dekubitusrisikos sollte sys-tematisch erfolgen und sowohl als Erst- als auch alsVerlaufseinschätzung durchgeführt werden. Bei vie-len Patienten kann ein Dekubitusrisiko von vornhe-rein ausgeschlossen werden. Handelt es sich z.B. umeinen aktiven und mobilen Patienten, ist die Wahr-scheinlichkeit für das Auftreten eines Dekubitus ehergering. Eine Einschätzung muss aber immer dann er-folgen, wenn ein Risiko nicht sicher von vornhereinausgeschlossen werden kann.

Die Dekubitusrisikoeinschätzung sollte durch ei-ne Pflegefachkraft mittels klinischer Beurteilung undHautinspektion erfolgen. Hierbei wird auf der Basisdes Fachwissens der Pflegefachkraft der gesamte Ge-sundheitszustand, die Ressourcen des jeweiligenPflegeempfängers sowie dessen Hautzustand beur-teilt und überprüft, inwieweit Dekubitusrisikofakto-ren (s. Tab. 12.1) vorliegen. Dementsprechend wirddas Risiko eingeschätzt.

Ersteinschätzung. Das Dekubitusrisiko sollte unmit-telbar zu Beginn des Pflegeauftrages erhoben wer-den. Eine Zweiterhebung kann nach 24 bis 48 Stun-den nochmals sinnvoll sein, wenn der Patient vonseinem Mobilitätsverhalten im Tagesverlauf beob-achtet werden konnte. Durch die klinische Beurtei-lung der Pflegefachkraft in Verbindung mit einervollständigen Hautinspektion und ggf. der Nutzungeiner Dekubitusrisikoskala kann ein strukturiertesVorgehen gewährleistet werden.

Verlaufseinschätzung. Die Verlaufseinschätzung er-folgt immer dann, wenn sich der Zustand des Betrof-fenen ändert. Eine neue Einschätzung findet auf je-den Fall statt,

wenn sich die Aktivität eines Patienten verändert,z.B. wenn er bettlägerig oder vom (Roll-)Stuhl ab-

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260 Prophylaxen: Prävention in der Pflege B A N D 4

12 Dekubitusprophylaxe

hängig wird und/oder seine Körperposition nichtmehr selbstständig verändern kann;wenn Sonden, Drainagen, Schienen und Verbände(z.B. Gipsverband) angelegt werden, die druck-auslösend sein können;wenn sich der Zustand verbessert und sich ein zu-vor identifiziertes Dekubitusrisiko aufgehobenhaben könnte.

Wichtig ist, dass das Ergebnis der Dekubi-tusrisikoeinschätzung dokumentiert wirdund die Dokumentation allen an Pflege und

Therapie beteiligten Personen berufsgruppen- undsektorenübergreifend zugänglich ist, damit ein guterintra- und interdisziplinärer Informationsfluss ge-währleistet wird. Bei einem bestehenden Risikomuss nachvollzogen werden können, welche Risiko-faktoren festgestellt wurden und wodurch sich dasRisiko begründet.

12.2.1 Assessmentinstrumente anwenden

Es gibt unterschiedliche Formen von As-sessmentverfahren, mit denen Einschät-zungen pflegerelevanter Variablen und

Phänomene systematisiert und objektiviert werdensollen.

Assessment bedeutet einschätzen, beurteilen undinterpretieren. Am häufigsten sind nicht standardi-sierte und standardisierte Assessments. Nicht stan-dardisierte Verfahren sind inhaltlich offen und wer-den von der jeweiligen Pflegeperson individuell aus-geführt, wie dies z. B. bei der Erhebung der allgemei-nen Pflegeanamnese geschieht. Bei einem standardi-sierten Verfahren sind Einschätzungskriterien undmögliche Antworten vorgegeben und mit einemPunktwert versehen. Diese Messinstrumente, mitdenen die Einschätzung quantifiziert werden sollen,werden auch als Skalen bezeichnet.

So kann mithilfe einer Dekubitusskala ein Vorher-sagewert für das Entstehungsrisiko eines Dekubital-geschwürs bei einem Pflegeempfänger ermitteltwerden. In der Pflegepraxis stehen hierfür verschie-dene Skalen zur Verfügung.

Diese standardisierten Messinstrumente sollenmöglichst zuverlässig die jeweilige Zielgröße(Schmerz, Dekubitusrisiko usw.) erfassen und abbil-den. Durch wissenschaftliche Untersuchungen kanndie Validität und die Reliabilität eines Messinstru-mentes überprüft werden.

Validität („validity“ = Gültigkeit). Sie gibt an, wie gutein Instrument in der Lage ist, genau zu messen, wases zu messen vorgibt. Eine Dekubitusrisikoskala wirddann als valide bezeichnet, wenn sie auch tatsächlichdas Dekubitusrisiko des Pflegeempfängers misst undz.B. nicht den Grad der Immobilität.

Reliabilität (dt. = Zuverlässigkeit). Hiermit wird dieGenauigkeit verstanden, mit dem ein Instrumentmisst. Das heißt, es stellt sich die Frage, wie reprodu-zierbar sind die Messergebnisse unter gleichen Be-dingungen. Eine Dekubitusrisikoskala wäre dann re-liabel, wenn bei wiederholten Messungen immer dasgleiche Ergebnis reproduziert werden könnte.

Nach der Empfehlung des Deutschen Netzwerksfür Qualitätsentwicklung in der Pflege wird im „Ex-pertenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege“(2010, S. 25) kein spezifisches Assessmentinstru-ment zur Erfassung von Dekubitusrisikofaktorenempfohlen, da es keinen wissenschaftlichen Beweisdafür gibt, dass der Einsatz von Risikoskalen zu einerbesseren Vorhersagbarkeit für das Auftreten einesDekubitus einhergeht. So gibt es bei allen Skalen kei-ne endgültigen Belege für Validität und Reliabilität.Bei einer großen Anzahl von Personen kann auch oh-ne standardisiertes Beurteilungsverfahren ein Deku-bitusrisiko aufgrund von fehlenden dekubitogenenFaktoren ausgeschlossen werden.

Jedoch kann die Anwendung von Dekubitusrisi-koskalen die Aufmerksamkeit auf das mögliche De-kubitusrisiko eines Patienten lenken, so dass dieAnwendung von Dekubitusrisikoskalen (Abb. 12.5,12.6, 12.7) in Verbindung mit dem klinischen Blickund der fachlichen Expertise einer erfahrenen Pfle-gefachkraft für die Einschätzung und Dokumenta-tion ihre Berechtigung haben kann.

Bei der Durchführung der Risikoeinschätzungmüssen Pflegefachkräfte beurteilen, ob die aktuellzur Verfügung stehenden Assessmentinstrumentezur Erhebung des Dekubitusrisikos für ihre zu be-treuenden Patientengruppen auch tatsächlich geeig-net sind.

12.2.2 Dekubitusrisikoskalen einsetzenDekubitusrisikoskalen orientieren sich an Entste-hungsmechanismen und den möglichen individuel-len Risikofaktoren, die zu einem Druckgeschwürführen können. Einzelne Risikofaktoren werden sys-tematisch abgefragt und mit einem Punktesystembewertet. Mithilfe der ermittelten Punktezahl erfolgt

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