Ligeti Musica Ricercata Analyse

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Hans Peter Reutter: Wege durch das 20. Jahrhundert www.satzlehre.de 1 GYÖRGY LIGETI (1923-2006) Musica ricercata & 6 Bagatellen für Bläserquintett (1951-55) Die Suche nach einer eigenen Sprache im Schatten Bartóks György Ligeti stammt aus Siebenbürgen, sein Geburtsort gehört seit der Nachkriegszeit zu Rumänien, er ist aber Ungar aus einer jüdisch-stämmigen Familie. Nach dem Krieg, den er mit Glück überlebte (außer seiner Mutter kam seine Familie im KZ um), kam er zum Musik- studium nach Budapest. In der kurzen Phase vor der Unterwerfung Ungarns unter den Stalinismus herrschte ein kulturell offenes Klima, in dem der junge Komponist alle neuesten Strömungen wie ein Schwamm aufgesogen haben muss. Danach jedoch (ab 1946) wurde genau wie in der UdSSR die Kultur reglementiert und unterdrückt. Musikalisch war ein einfacher, realsozialisti- scher Stil gefordert. Selbst vom anerkannt größten ungarischen Komponisten Béla Bartók führte man nur wenige Stücke, hauptsächlich Volksmusikbearbeitungen auf. Der junge Ligeti folgte nach außen diesen Vorgaben, in Wirklichkeit suchte er aber nach einem neuartigen Stil, in dem Harmonik und Zeitverlauf weitestgehend ausgeschaltet waren. Die Stücke auf diesem Weg dahin konnten nur für die Schublade entstehen. So z.B. die „Mu- sica ricercata“ für Klavier. Der Titel ist eine Referenz an das Ricercar, die frühbarocke Form der Fuge (z.B. bei Girolamo Frescobaldi, auf den sich das 11. Stück bezieht), heißt aber auf deutsch auch treffend „suchende Musik“. In der Hoffnung, seine Musik doch aufgeführt zu bekommen, arrangierte Ligeti 6 Stücke aus diesem 11-teiligen Zyklus als die Bagatellen für Bläserquintett. Doch selbst dann wurde die 6. Bagatelle abgelehnt mit der Begründung, es kämen zu viele kleine Sekunden vor – dermaßen oberflächlich waren die Urteile über neue musikalische Werke. Da die Partitur bei der Flucht in den Westen zurückblieb, rekonstruierte Ligeti die Instrumentation 1969 für ein schwedisches Bläserquintett für die Gesamt-UA. In dieser Fassung wurde das Werk zu einem Klassikhit des 20.Jahrhunderts: Bläserquintette sind hungrig nach guten Stücken und – wann hat man schon einmal ein so eingängiges Werk eines berüchtigten Avantgardisten? Verges- sen wird dabei oft, dass es ein Originalwerk (die „10 Stücke für Bläserquintett“) aus den 60er Jahren gibt (also Ligetis anspruchsvoller Mikropolyphonie-Periode), das aber nie dieselbe Popularität erreichen konnte. Aber trotz der relativ traditionellen, Bartók-nahen Tonsprache zeigt Musica ricercata/ Ba- gatellen viele Aspekte, die für Ligetis Schaffen durchgängig typisch sind. 1. Formverlauf: Ligeti bevorzugt prozesshafte gegenüber entwickelnden Formen (im Gegen- satz zu Bartók). Das heißt: Form (und Harmonik) erscheinen ohne Kontraste oder gar statisch (siehe auch Punkt „Spielregeln“). Musikalische Parameter fließen in geradlinigen Übergängen ineinander über anstatt sich in Abspaltungen oder Fortspinnungen zu entwi- ckeln. Einfachstes Beispiel: das erste Stück der Musica ricercata über den einen Ton a ist im Prinzip ein Prozess des Schneller-werdens, erreicht durch echtes Accelerando und pro- zesshafte Verkürzung des rhythmischen Grundmotives bis zur fünfachtel langen Figur iii q ab Prestissimo. 2. Rhythmik: Diese Technik zeigt auch schon Ligetis bevorzugtes Verhältnis zu Rhythmik und Metrum: Taktstriche stehen zur Koordination, nicht jedoch aber im Sinne einer met- rischen Betonung. Schon in der Musica ricercata finden sich zahlreiche Stellen, wo rhythmische Prozesse taktübergreifend komponiert sind. Die aufeinander folgenden Quin- tolen, Sextolen, Septolen usw. sind dann ein auskomponiertes Accelerando. In späteren Werken findet sich dies auch als mikropolyphone Verschlierung in verschiedenen Werten gleichzeitig. 3. Intervallik: Die Melodieführung bevorzugt in vielen Stücken kleinen Ambitus (am häufigs- ten die kleine Terz), der in kleinen Intervallen ausgefüllt wird. Demgegenüber stehen Ausbrüche in großen Intervallen. Diese plötzlichen Gesten werden ebenso typisch für spätere Werke, wo es immer wieder zu Abstürzen, Ausbrüchen kommt – entweder als

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    GYRGY LIGETI (1923-2006) Musica ricercata & 6 Bagatellen fr Blserquintett (1951-55) Die Suche nach einer eigenen Sprache im Schatten Bartks

    Gyrgy Ligeti stammt aus Siebenbrgen, sein Geburtsort gehrt seit der Nachkriegszeit zu Rumnien, er ist aber Ungar aus einer jdisch-stmmigen Familie. Nach dem Krieg, den er mit Glck berlebte (auer seiner Mutter kam seine Familie im KZ um), kam er zum Musik-studium nach Budapest.

    In der kurzen Phase vor der Unterwerfung Ungarns unter den Stalinismus herrschte ein kulturell offenes Klima, in dem der junge Komponist alle neuesten Strmungen wie ein Schwamm aufgesogen haben muss. Danach jedoch (ab 1946) wurde genau wie in der UdSSR die Kultur reglementiert und unterdrckt. Musikalisch war ein einfacher, realsozialisti-scher Stil gefordert. Selbst vom anerkannt grten ungarischen Komponisten Bla Bartk fhrte man nur wenige Stcke, hauptschlich Volksmusikbearbeitungen auf.

    Der junge Ligeti folgte nach auen diesen Vorgaben, in Wirklichkeit suchte er aber nach einem neuartigen Stil, in dem Harmonik und Zeitverlauf weitestgehend ausgeschaltet waren. Die Stcke auf diesem Weg dahin konnten nur fr die Schublade entstehen. So z.B. die Mu-sica ricercata fr Klavier. Der Titel ist eine Referenz an das Ricercar, die frhbarocke Form der Fuge (z.B. bei Girolamo Frescobaldi, auf den sich das 11. Stck bezieht), heit aber auf deutsch auch treffend suchende Musik.

    In der Hoffnung, seine Musik doch aufgefhrt zu bekommen, arrangierte Ligeti 6 Stcke aus diesem 11-teiligen Zyklus als die Bagatellen fr Blserquintett. Doch selbst dann wurde die 6. Bagatelle abgelehnt mit der Begrndung, es kmen zu viele kleine Sekunden vor dermaen oberflchlich waren die Urteile ber neue musikalische Werke. Da die Partitur bei der Flucht in den Westen zurckblieb, rekonstruierte Ligeti die Instrumentation 1969 fr ein schwedisches Blserquintett fr die Gesamt-UA. In dieser Fassung wurde das Werk zu einem Klassikhit des 20.Jahrhunderts: Blserquintette sind hungrig nach guten Stcken und wann hat man schon einmal ein so eingngiges Werk eines berchtigten Avantgardisten? Verges-sen wird dabei oft, dass es ein Originalwerk (die 10 Stcke fr Blserquintett) aus den 60er Jahren gibt (also Ligetis anspruchsvoller Mikropolyphonie-Periode), das aber nie dieselbe Popularitt erreichen konnte.

    Aber trotz der relativ traditionellen, Bartk-nahen Tonsprache zeigt Musica ricercata/ Ba-gatellen viele Aspekte, die fr Ligetis Schaffen durchgngig typisch sind.

    1. Formverlauf: Ligeti bevorzugt prozesshafte gegenber entwickelnden Formen (im Gegen-

    satz zu Bartk). Das heit: Form (und Harmonik) erscheinen ohne Kontraste oder gar statisch (siehe auch Punkt Spielregeln). Musikalische Parameter flieen in geradlinigen bergngen ineinander ber anstatt sich in Abspaltungen oder Fortspinnungen zu entwi-ckeln. Einfachstes Beispiel: das erste Stck der Musica ricercata ber den einen Ton a ist im Prinzip ein Prozess des Schneller-werdens, erreicht durch echtes Accelerando und pro-zesshafte Verkrzung des rhythmischen Grundmotives bis zur fnfachtel langen Figur iiiq ab Prestissimo.

    2. Rhythmik: Diese Technik zeigt auch schon Ligetis bevorzugtes Verhltnis zu Rhythmik und Metrum: Taktstriche stehen zur Koordination, nicht jedoch aber im Sinne einer met-rischen Betonung. Schon in der Musica ricercata finden sich zahlreiche Stellen, wo rhythmische Prozesse taktbergreifend komponiert sind. Die aufeinander folgenden Quin-tolen, Sextolen, Septolen usw. sind dann ein auskomponiertes Accelerando. In spteren Werken findet sich dies auch als mikropolyphone Verschlierung in verschiedenen Werten gleichzeitig.

    3. Intervallik: Die Melodiefhrung bevorzugt in vielen Stcken kleinen Ambitus (am hufigs-ten die kleine Terz), der in kleinen Intervallen ausgefllt wird. Demgegenber stehen Ausbrche in groen Intervallen. Diese pltzlichen Gesten werden ebenso typisch fr sptere Werke, wo es immer wieder zu Abstrzen, Ausbrchen kommt entweder als

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    expressive Unterbrechungen der prozesshaften Verlufe oder als End- oder Wendepunk-te. In der Klavierfassung gibt es schon die sprechenden, programmatisch wirkenden Spielanweisung wie ferocissimo (sehr wild), minaccioso (drohend), wie in Panik, in-sistierend, trotzig, wie verrckt. Diese sind in der Blserfassung fast alle reduziert oder umgewandelt in relativ neutrale italienische Spielanweisungen (ein Zeichen fr die nchternen Avantgardejahre?), was den extremen Ausdruck aber nicht mildert.

    4. Spielregeln: Dieser Begriff gehrt nicht ganz in diese Reihe, bezeichnet aber vielleicht am Besten Ligetis Ansatz des Komponierens. Teilweise findet sich diese Haltung schon bei Bartk (siehe dazu meine Analyse der Musik fr Saiteninstrumente, Schlagzeug und Ce-lesta): einfache Grundvoraussetzungen schaffen komplexe kompositorische Zusammen-hnge. Denken wir an einfache Brettspiele: wenige Regeln und klare Spielziele (etwa Mhle und Dame) schaffen immer wieder andere und komplexe Spielverlufe. So auch in der Musica ricercata: Die grundlegende Spielregel ist extrem simpel gehalten. Die elf St-cke haben einen jeweils ansteigenden Tonvorrat: von zwei Tnen im ersten bis zu allen zwlf im letzten (wobei die Idee, den neuen Ton erst gegen Ende des Stckes einzufh-ren bereits ab dem 3. Stck aufgegeben wird). Bereits die Auswahl der Tne offenbart jedoch ein komplexeres Denken: es werden nicht etwa immer dieselben Tne verwendet, sondern aufeinander folgende Stcke verwenden einen mglichst kontrastierenden Ton-vorrat mit z.B. weit entfernten Grundtnen (siehe bersicht). Die Skalen gehorchen meist Punkt- oder Skalensymmetrien (auer in den eher mixolydischen Stcken 7+8 sowie den Stcken mit fast vollstndiger chromatischer Skala). Die kompositorischen Aufgaben, die sich aus geringen Tonvorrten ergeben, sind anspruchsvoll, teilweise sogar amsant: Wie gestaltet man ein interessantes Stck aus nur einem (zwei), drei oder vier Tnen? Oder welche Zusammenklnge ergeben sich bei Parallelverschiebungen in nicht-symmetrischen Skalen (6.Bagatelle)?

    Andere fr den spteren Ligeti typischen Techniken sind die ausgiebige Verwendung von ostinaten Bildungen (die spter allerdings permutiert, d.h. in der Abfolge verndert werden) und Kanon. Seine Clusterstcke der 60er Jahre sowie die polyrhythmischen Werke der 70/80er sind berwiegend in kanonischer Weise konstruiert. Ansonsten aber folgt Ligeti hier sehr hufig noch dem Modell Bartks (vor allem natrlich

    in der 5.Bagatelle, die dem Andenken des Vorgngers gewidmet ist): Entwicklungen werden bis an eine Grenze gefhrt, was dann einen neuen Formabschnitt hervorruft, es gibt traditio-nelle Hhepunkte. Er verwendet neben seiner persnlichen Art von Skalenbildung, die der bartkschen sehr hnlich ist, typische Satztechniken wie Borduntne und querstndige Har-monien (osteuropische Bluenotes), imitatorische Abschnitte sowie ungarische und bulgari-sche Rhythmen (umgekehrte Punktierungen und zusammengesetzte Taktarten in schnellem Tempo). Die 5.Bagatelle verwendet ein typisch bartksches Modell der Nachtmusiken, das der l-

    tere Komponist in Werken wie Im Freien, Musik fr Saiteninstrumente und Divertimento fr Streichorchester etabliert hatte. Kleine Motivformeln (die kleine Terz im ungarischen Rhythmus) bauen ber einem glockenartigen Bordunbass eine Entwicklung auf, die auf einen klagenden Hhepunkt hinzielt. Die Harmonik durchluft mehrere Aggregatszustnde von einstimmig ber milde Dissonanz T.10, schreiende Dissonanz T.18 bis zu geheimnisvollem Cluster T.24. Der Schluss mit seiner Wendung von d-Moll nach Cis-Dur ist ein Paradebeispiel fr die er-

    weiterte Tonalitt im Kleinterzzyklus, die Ern Lendvai an Bartk zu demonstrieren begann und auf der der ungarische Theoretiker Albert Simon eine neuartige Theorie der erweiterten romantisch-modernen Harmonik aufbaute: Nimmt man die Kleinterzachse cis-e-g-ais als To-nikaebene an (mit ihren Oberquinttnen gis-h-d-f), erfllt d-Moll die Funktion einer domianti-schen Sphre, was den Schluss als eine Art authentische Kadenz deuten lsst.

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    verwendete SkalenGyrgy Ligeti - Musica ricercata & 6 Bagatellen

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    Tne in Klammern treten recht spt im Verlauf des Stckes hinzu

    GGrundton

    1. Bagatelle

    4 5

    G

    2. Bagatelle

    (G)

    Ganzton-Halbton-Oktotonik

    G

    6 7

    G

    A-mixolydisch

    G

    3. Bagatelle

    F-mixolydisch/dorisch

    8

    (G)

    4. Bagatelle

    A-Dur/E-mixolydisch

    G

    9

    G

    5. Bagatelle

    10

    G

    6. Bagatelle